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Arbeiterinnenleben im Ruhrgebiet in der Nachkriegszeit

Am Beispiel von Herrenwäschenäherinnen in Recklinghausen

In seiner Schrift „Die Deutsche Bildungskatastrophe“ stellte Georg Picht 19641 fest, dass die ‚Katholische Arbeitertochter vom Land‘ im Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland zu den besonders Benachteiligten zählte. An ihr ließe sich eine Mehrfachbenachteiligung festmachen. Die katholischen Arbeitertöchter im Ruhrgebiet hatte er nicht im Blick. Nicht nur er, sondern auch der größte Teil der späteren feministischen Bildungsforschung hat sich kaum mit ihnen befasst.

Seit Beginn der 1980er Jahre gab es eine Fülle von Veröffentlichungen zur Bildungsbe(nach)teiligung von Mädchen und Frauen ebenso wie zu deren Erwerbssituation. Bei dem Versuch, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, stößt frau auf zahlreiche Forschungsergebnisse zu Lehrerinnen, Frauen in sozialen Berufen, Ärztinnen, Krankenschwestern und Akademikerinnen fast aller Fachrichtungen. Auch die Karrieremöglichkeiten in anderen Berufen wurden thematisiert.

Gemeinsame Blickrichtung fast aller Untersuchungen und Veröffentlichungen ist der soziale Aufstieg durch Bildung. Der verborgene Subtext lautet zugespitzt: Alle Frauen – selbstverständlich auch die katholischen Arbeitertöchter – sollten nach Möglichkeit mit Bildung und einer entsprechenden Berufswahl versuchen, dem ihnen drohenden Schicksal einer abgehängten und abhängigen Existenz zu entgehen.

Über die tatsächliche Lebens- und Bildungsrealität der Arbeitertöchter in der Nachkriegszeit gab und gibt es kaum Untersuchungen.2 Das war aber das Thema, das uns – den Arbeitskreis Recklinghäuser Frauengeschichte – besonders interessierte. Unser Augenmerk richtete sich auf diejenigen Mädchen und Frauen, die in der Nachkriegszeit im Ruhrgebiet in der Bekleidungsindustrie Ausbildungen und Arbeitsplätze gefunden hatten. Auch in Recklinghausen gab es entsprechende Erwerbsmöglichkeiten. Als wir mit unseren Recherchen zu diesem Thema begannen, war uns nur bekannt, dass es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in der Recklinghäuser Innenstadt mindestens eine Bekleidungsfabrik gegeben hatte, bei der vor allem Frauen beschäftigt waren. Nähere Informationen dazu gab es – auch im städtischen Archiv – so gut wie gar nicht.

Erst ab 2017 kamen wir über verschiedene Artikel in der Recklinghäuser Zeitung in Kontakt mit Zeitzeuginnen, die uns an ihren Erinnerungen teilhaben ließen und uns vor allen Dingen private Fotos, Zeugnisse und Dokumente zur Verfügung stellten. Wir führten zahlreiche interessante Gespräche mit lebensklugen und zupackenden Frauen, die – trotz widriger Bedingungen – ihr Berufsleben gemeistert, Kinder großgezogen und z. T. interessante Berufswege genommen hatten. Zehn der 15 von uns porträtierten Frauen3 möchte ich im Folgenden darstellen und ihre Gemeinsamkeiten herausarbeiten. Es handelt sich um: Margarete Kijak, geb. 1929, Ursula Westhues, geb. 1930, Edelgard Holtbrügge, geb. 1931, Christa Werdnik, geb. 1931, Maria Knicia, geb. 1934, Elisabeth Recktenwald, geb. 1935, Gisela Schiwkowski, geb. 1936, Maria Hettmer, geb. 1938, Christel Schlüter, geb. 1939 und Helga Töpfer, geb. 1942.

Familiärer und zeitgeschichtlicher Hintergrund
Die zehn hier vorgestellten Frauen gehören den Jahrgängen 1929 bis 1942 an. Alle sind Töchter aus Arbeiter- bzw. Handwerkerfamilien. Sieben von ihnen wurden in Recklinghausen bzw. Herten geboren, zwei in Pommern, eine in Polen. Die Hälfte der Zeitzeuginnen hatte als Kind bzw. Jugendliche Fluchterfahrungen, aufgrund von Evakuierungen im Zweiten Weltkrieg auch zwei der gebürtigen Recklinghäuserinnen.

Wie nachhaltig diese Ereignisse die Frauen geprägt haben, wurde in den Gesprächen mit ihnen deutlich. Ursula Westhues beispielsweise konnte noch sehr ausführlich ihre Erfahrungen bei der schwierigen und z. T. gefährlichen Rückreise von der Kinderlandverschickung in Bayern nach Recklinghausen schildern. Christel Schlüter flüchtete mit Mutter und Bruder von Danzig nach Dänemark. Dort wurde sie eingeschult. Auch bei ihr waren diese Erfahrungen noch sehr präsent. Erst ab 1947 lebte die Familie wieder zusammen mit dem Vater in Recklinghausen.

Die Schwierigkeiten der Nachkriegsjahre spiegeln sich insbesondere in den Berichten der ältesten Zeitzeuginnen wider. Margarete Kijak berichtet davon, dass die Familie dringend auf ihr Erwerbseinkommen angewiesen war. In der Erzählung von Christa Werdnik werden die Existenzsorgen daran deutlich, dass die Angst bestand, dass Flüchtlingskinder keine Lehrstelle bekommen würden. Dank der Tatsache, dass ihr Vater in einem Kaufhaus (Banniza) in der Innenstadt arbeitete, in dessen Räumen in der ersten Etage eine Bekleidungsfabrik (Textilfabrikation GmbH, später Turf) ihre Arbeit aufgenommen hatte, konnte sie dort 1947 eine Lehre als Herrenwäschenäherin beginnen.

Bildungswege und Berufswahl
Wie in der damaligen Zeit üblich haben alle Frauen die achtklassige Volkschule besucht. Das bedeutet, dass i. d. R. die Grundbildung mit 14 bzw. 15 Jahren abgeschlossen war. In allen Gesprächen – auch mit den hier nicht porträtierten Zeitzeuginnen – wurde deutlich, dass die Suche nach einer Lehrstelle für die Mädchen wie für ihre Familien eine Selbstverständlichkeit war. Bis auf eine Frau haben alle eine Ausbildung absolviert, allerdings nicht immer in dem von ihnen gewünschten Beruf. Frau Kijak machte eine kaufmännische Ausbildung. Nachdem sie diese Stelle verloren hatte, bewarb sie sich bei der Firma Povel und arbeitete dort als Plätterin und Hemdenlegerin.

Frau Westhues hatte gerne Lehrerin werden wollen, aber in den Wirren der Nachkriegszeit gab es keine Möglichkeit zu einem weiteren Schulbesuch oder einer entsprechenden Ausbildung. Da sie über die notwendigen Fertigkeiten verfügte, konnte sie in einem Handarbeitsgeschäft und bei einer Herrenausstattungsfirma arbeiten. Durch eine Anzeige wurde sie darauf aufmerksam, dass die Fa. Povel Näherinnen suchte. Im Januar 1949 begann ihre Beschäftigung in der Waldstraße. Sie hat keine Lehre gemacht, sondern wurde angelernt und hat dann Schürzen und Hemden genäht.

Vier der Frauen gaben an, dass sie gerne Schneiderin geworden wären. Edelgard Holtbrügge wollte Putzmacherin werden. Helga Töpfer wäre gerne Verkäuferin geworden, was sie nach der Familienphase (ab 1980) auch umsetzen konnte. Nur eine von ihnen, Maria Hettmer, absolvierte eine Schneiderinnenlehre. Bei ihr waren die familiären Beziehungen dafür sicher auschlaggebend. Ihre Tante, Frau Dodt, betrieb eine Schneiderei, in der sie schon als 12-jährige mitgeholfen hatte. Die wenigen kleinen Schneidereien in der Stadt konnten gar nicht so viele Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen, wie sie von den jungen Frauen nachgefragt wurden.

Das Ausbildungsplatzangebot für Mädchen mit Volksschulabschluss war in dieser Montanregion in der Nachkriegszeit insgesamt nicht sehr umfangreich. Da waren die Ausbildungsplätze für eine Anlernausbildung in den vor allem seit 1947 in Recklinghausen ansässigen Bekleidungsfabriken eine gute Möglichkeit. Sieben der zehn Zeitzeuginnen haben die eineinhalbjährige Ausbildung absolviert. Wichtig war, dass mit der Ausbildung im Anschluss an den Schulabschluss begonnen werden konnte.

Die Entscheidungen für einen bestimmten Ausbildungsberuf wurden in den Familien recht unspektakulär getroffen. Anzeigen oder Informationsveranstaltungen der Fabriken bildeten die Ausnahme. Bereits bestehende Arbeitsverhältnisse von Angehörigen ebenso wie Hinweise von Familienmitgliedern, Nachbarinnen und Nachbarn waren die Entscheidungsgrundlage. Hinzu kam die – im Verhältnis zu anderen Berufen für Mädchen und junge Frauen – relativ gute Bezahlung in den Bekleidungsfabriken.

Anlernausbildung
In Recklinghausen gab es ab Ende der 1940er Jahre vier mittelständische Betriebe mit 300 bis 500 Beschäftigten. Die Firmen: Wilhelm Laarmann Bekleidungswerk GmbH, Textilfabrikation GmbH (später Turf), Münsterländische Textilgesellschaft mbH (später Condor) und Paul Povel KG bildeten Herrenwäschenäherinnen aus. Die Lehrlinge arbeiteten dort unter Anleitung einer für die Ausbildung zuständigen Direktrice. Die Ausbildung zur Herrenwäschenäherin war eine duale Ausbildung, d. h. die Mädchen waren fünf Tage die Woche im Betrieb und gingen samstags in die Berufsschule. In manchen Fabriken gab es eine gesonderte Anlernwerkstatt, die von einer Direktrice geleitet wurde, in anderen sogenannte Storchenbändern, an denen die Lehrlinge und Schwangeren arbeiteten.

1954 schildert Magdalene Küper, Ausbildungsdirektrice bei der Fa. Povel in der Betriebszeitung die ersten Wochen der Ausbildung: „Zuerst mußten die Mädchen mit den elektrischen Maschinen vertraut gemacht werden. Manch schwerer Seufzer wurde dabei zum Himmel geschickt, und jede glaubte, das Maschinennähen nie zu lernen. Immer wieder mußte ich helfend einspringen und Mut machen. Nachdem wir die ersten Nähversuche hinter uns hatten und jede mit der Maschine umzugehen wußte, übten wir fleißig Nähte, Säume, Falten, Biesen usw. In der zweiten Woche gingen wir schon ein Schrittchen weiter. Da wurden Flicken eingesetzt, Knopflöcher ausgesteppt, Paspeln geübt, Kanten mit Schrägstreifen eingefaßt und Schlitzbesätze gesteppt. Und dann wurde die Arbeit schon interessanter (…). Zum Abschluß der ersten vier Wochen gab ich den Mädchen eine kleine Prüfungsarbeit. An einem Mustertuch sollten sie mir nun ohne Hilfe zeigen, was sie bisher gelernt hatten.“ (Küper 1954).4

Bei Christel Schlüter werden 1955 in ihrem Berichtsheft auch andere Seiten der Ausbildung bei der Fa. Turf erwähnt: „Meine tägliche Arbeit ist, morgens Staubputzen und wenn ich dieses verrichtet habe, darf ich nähen. Zuerst mußte ich gerade Nähte nähen üben, dann durfte ich Unterkragen nähen und Stäbchentaschen annähen. Dann durfte ich Kragen vornähen und sie an der Presse umdrehen und pressen. Am anderen Tag durfte ich die Kragen übersteppen und einnähen und Manschetten vornähen und übersteppen. Dieses aber war nur alles Übungsarbeit. Jetzt näh ich schon Kragen und Manschetten, die gebraucht werden. Das macht mir auch viel mehr Mut und ich streng mich auch viel mehr an, als bei den Übungsarbeiten, weil diese Sachen ja gebraucht werden müssen. Ich hoffe auch, daß ich nach meiner 1 1/2jährigen Lehrzeit erfolgreich weiterkomme.“5
Nachdem die Lehrlinge die Probezeit bestanden hatten, begann das Hemdennähen. Und mit zunehmender Sicherheit war „vorgesehen, dass die Mädchen zwischendurch auch im Nähsaal in der Produktion eingesetzt werden, damit sie die Bandarbeit gründlich kennenlernen“ (Küper 1954).

Ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung im Betrieb war das Führen eines Berichtsheftes, das alle sechs bis acht Wochen von den Chefs oder der Direktrice abgezeichnet werden musste und auch in der Berufsschule vorgelegt werden sollte. Nicht alle Auszubildenden haben diese immer so umfassend ausgefüllt wie es zu unserem Glück Gisela Schiwkowski (geb. 1936) und Christel Schlüter (geb. 1939) gemacht haben, deren Berichtshefte uns vorliegen. Manchmal finden sich Stichworte zu den Tätigkeiten der Woche, manchmal wurden die Arbeiten ausführlich beschrieben sowie Zeichnungen und Stoffproben eingefügt. Im Heft von Gisela Schiwkowski fand sich auch eine genaue Schilderung des Betriebsausflugs im Jahr 1953.

Der Berufsschulunterricht für die Herrenwäschenäherinnen fand samstags in der Berufsschule in die Kemnastraße statt. Leider liegen uns nur wenige Daten dazu vor. 1952 z. B. besuchten 354 Mädchen die Klassen im Bereich Textilherstellung und -verarbeitung. Das lässt vermuten, dass es außer den vier mittelständischen Herrenwäschefabriken noch andere Ausbildungsbetriebe gab, zu denen uns allerdings leider keine Daten bekannt sind.

Einige der Zeitzeuginnen haben sehr anschaulich über die Aufgaben bei der praktischen Lehrabschlussprüfung erzählt. Konkretisiert werden diese im Berichtsheft von Gisela Schiwkowski mit den „46 Schritten bei der Herstellung eines Herrenoberhemds“. Diese Arbeitsschritte mussten die angehenden Herrenwäschenäherinnen in eineinhalb Stunden erfolgreich abarbeiten, um die praktische Prüfung zu bestehen.

Mit diesem Prüfungsteil der Anlernausbildung und der ebenfalls erfolgten theoretischen Prüfung durch die Industrie- und Handelskammer6 war die Schulpflicht der jungen Frauen noch nicht beendet. Diese ging bis zum 18. Lebensjahr. Sie arbeiteten fünf Tage die Woche in der Fabrik und gingen am Samstag weiter zur Berufsschule. Wie man aus zwei uns vorliegenden Abschlusszeugnissen der Berufsschule ableiten kann, wurden sie in den nun folgenden Schuljahren vor allem auf ihre künftige Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereitet. Sie lernten u. a.: Gesundheitspflege, Säuglingspflege, Ernährungslehre und Nahrungszubereitung. Die berufsfachlichen Fächer entfielen.

Die Berichtshefte der Frauen und vor allem ihre Lehrverträge und IHK-Zeugnisse brachten zutage, dass es sich bei der eineinhalbjährigen Anlernausbildung um eine von der Industrie- und Handelskammer anerkannte und mit einem Zertifikat abgeschlossene Ausbildung handelte. Bisher war in der entsprechenden Fachliteratur davon kaum etwas zu erfahren. Erst mit der Berufsbildungsreform am Ende der 1960er Jahre wurde die Unterscheidung in Lehrausbildung (i. d. R. dreijährig) und Anlernausbildung (i. d. R. eineinhalbjährig) durch ein Stufensystem ersetzt. Der Begriff des „Angelerntseins“ muss daraufhin eine neue Bewertung erfahren. Den jungen Frauen wurden nicht nur wenige Tage bzw. Wochen die notwendigen Handgriffe gezeigt, sondern die Anlernausbildung war durchaus eine anspruchsvolle und in Praxis und Theorie die Auszubildenden herausfordernde Ausbildung. Sie waren nicht „nur“ angelernt, wie es vielfach genannt wurde.

Erwachsenwerden in der Fabrik
Die von uns befragten Frauen waren beim Beginn ihres Erwerbslebens noch sehr jung, da die Volksschule damals nur acht Schuljahre umfasste. Sie waren zwischen 15 und 17 Jahre alt, Helga Töpfer sogar 14 Jahre. Das bedeutet, dass sie die ersten Schritte ins Erwachsenenleben in der Bekleidungsfabrik verbrachten.

Für diese Jugendlichen war die Firma nicht nur Lern- und Arbeitsort, sondern sie bot ihnen auch das Erlebnis der Zusammenarbeit in einer Gruppe Gleichaltriger. In ihren Erzählungen betonten sie dessen Bedeutung dadurch, dass sie den Zusammenhalt unter den Kolleginnen hervorhoben, z. B. die gegenseitige Unterstützung bei Reklamationen. Manche trafen sich schon auf dem gemeinsamen Weg zur Arbeit, sei es zu Fuß, mit dem Fahrrad oder der Straßenbahn. Fast alle hatten eine Kindheit erlebt, die vom Krieg und dessen Auswirkungen geprägt war. Durch die Arbeit und das Zusammensein mit Gleichaltrigen ergaben sich neue Perspektiven und vor allem gemeinsame Unternehmungen.

Die meisten der Zeitzeuginnen erinnerten sich gerne an diese Zeit und berichteten von langjährigen Freundschaften unter den Lehrlingen. So sagte z. B. Maria Knizia: „Ich hatte eine wunderschöne Lehrzeit. Wir Lehrlinge haben auch nach der Lehrzeit noch viel zusammen gemacht.“ Fast alle erzählten sehr positiv über die jährlichen Betriebsausflüge und Betriebs- wie Weihnachtsfeste, z. B. Gisela Schwikowski über den Betriebsausflug: „Gegen 9:00 Uhr nachts waren wir wieder in Recklinghausen. Ein wunderschöner Tag lag hinter uns, an den wir immer wieder gerne zurückdenken.“7 Viele der Frauen haben über die Jahrzehnte Fotos von Lehrlingsgruppen, Festen und Ausflügen aufbewahrt, die deren persönliche Bedeutung unterstreichen.

Arbeit in der Herrenwäschefabrik
Ebenso wie es selbstverständlich war, dass die jungen Mädchen eine Ausbildung machten, war es selbstverständlich für die meisten Mädchen wie für die Betriebe, dass die Ausgebildeten übernommen wurden. Hermann Hamm, Inhaber der Fa. Turf betonte z. B. 1972 im Prospekt zum 25-jährigen Firmen-Jubiläum, dass an seinen Bändern ausschließlich gelernte Fachkräfte arbeiteten.

Der größte Teil der Frauen arbeitete als Näherin im Akkord am Band. Dort war die Bezahlung für alle gleich und richtete sich nach dem Akkordergebnis. Pro Stunde gab es eine fünfminütige Pause des Bandes, die als Pinkel- und Rauchpause vorgesehen war, von den Frauen aber vor allen Dingen dazu genutzt wurde, um kleine Reklamationen zu erledigen oder Verzug aufzuholen. Disziplin und Pünktlichkeit war bei diesen Pausen notwendig, denn das Band wurde erst wieder gestartet, wenn alle Frauen an ihrem Platz waren. Am besten bezahlt wurden die Kragennäherinnen, die vor dem Band arbeiteten. Etwas weniger verdienten die Armabwärtsnäherinnen. Am wenigsten erhielten die Abfädlerinnen, die heraushängende Fäden abschneiden mussten. So berichteten die Zeitzeuginnen.

Bevor die Näherinnen am Band beginnen konnten, fand die Arbeit der Zuschneiderinnen statt. Bei der Fa. Povel z. B. waren das oftmals Näherinnen mit einer Zusatzausbildung, aber auch gelernte Schneiderinnen, wie Maria Hettmer, die über die entsprechende Ausbildung verfügte. Wenn die Schnittmuster für alle Einzelteile auf dem Stoff lagen, musste mit dem Bandmesser der Stoff geschnitten werden. Diese Arbeit erforderte einiges an Präzision und war nicht ungefährlich. Die zusätzliche Qualifizierung erwarben sich die Frauen im zweimonatigen Abendkurs der Privatschule Müller und Söhne, den diese dreimal in der Woche abends in Recklinghausen anbot. Die Anforderungen dieser Tätigkeit korrespondierten mit der persönlichen Herausforderung der Zuschneiderinnen. So sagte Maria Hettmer dazu: „Es war mein Ehrgeiz, die Schnittmuster so hinzubekommen, dass möglichst wenig Verschnitt entstehen konnte.“8

Nach der Währungsreform und vor allen Dingen am Beginn der 1950er Jahre gab es in der Bundesrepublik einen Konsum-Nachholbedarf. Entsprechend steigerte sich die industrielle Bekleidungsproduktion, in Recklinghausen erkennbar am Ausstoß an Herrenoberhemden. Bei der Fa. Povel wurden Anfang der 1950er Jahre täglich bis zu 1.200 Hemden angefertigt. Die anderen drei Firmen standen dem in nichts nach. Ein Symbol für diesen Produktionserfolg ist das sogenannte ‚Jubiläumshemd‘. Nach unseren Recherchen wurde es 1952 aus Anlass der Herstellung des Millionsten Herrenoberhemdes der Fa. Paul Povel KG in Recklinghausen hergestellt.

Dieser Umsatzerfolg bedeutete, dass es reichlich Arbeit für die Beschäftigten gab. Da blieben extra entlohnte Überstunden nicht aus. Deren Bezahlung und die Akkordlöhne waren für die jungen Frauen, die sich gerade in der Phase der Familiengründung befanden, ein willkommenes Zusatzeinkommen. So konnte es geschehen, dass Ursula Westhues als Fabrikarbeiterin mehr verdiente als ihr künftiger Ehemann als Angestellter. Zusätzlich zur recht guten Bezahlung gab es für die Frauen noch die Möglichkeiten, günstig Stoffe zu erwerben. Da viele von den beschäftigten Frauen zu Hause für ihre Familien Kleidungsstücke nähten, wurde es ihnen nach Absprache erlaubt, Reststücke Stoff zu kaufen. Das war eine Gelegenheit, die die meisten von ihnen – wie sie erzählten – gerne wahrnahmen.

Wie auch schon beim Sprechen über ihre Erfahrungen in ihrer Lehrzeit waren die Berichte der Frauen über den Berufsalltag sehr positiv. Frau Kijac z. B. schrieb in ihren Erinnerungen9: „Es war eine harte Arbeit, ich war abends immer ziemlich geschafft (…). Die Arbeitszeit war von morgens 8:00 Uhr bis nachmittags um 17:00 Uhr. Wir hatten eine Stunde Mittagspause. Wer sich sein Mittagessen warm mitgebracht hatte, konnte es sich in den Behältern in einem Bottich mit heißem Wasser warm halten. Wenn wir morgens ankamen, mussten wir zuerst unsere Karte, die sich in einer großen Steckwand neben der Stempeluhr befand, abstempeln. Das gleiche geschah nach Feierabend. Alle die weiter weg wohnten, sind mit dem Fahrrad zur Arbeit gekommen, so auch ich. Jeden Tag ergab dies pro Weg, ob es regnete oder schneite, eine gute halbe Stunde Strampelei.“10

Auch Ursula Westhues erinnert sich sehr positiv an die Zeit: Dort „… zu arbeiten, war ein Geschenk. Das Allerschönste war das Verhältnis mit den Kolleginnen. Es war so ein herzliches Miteinander.“11

In den Firmen wurde – nach unserem Eindruck aufgrund der Gespräche und auch vorliegenden schriftlichen Unterlagen – viel Wert auf die Pflege des Betriebsklimas gelegt. Bei der Paul Povel KG gab es in den 1950er Jahren mehrere Ausgaben einer Betriebszeitung12, in der nicht nur über betriebliche Abläufe und Betriebsfeiern, sondern auch über Heiraten und Geburten ihrer MitabeiterInnen berichtet wurde. 1949 beteiligte sich die Fa. Povel an den öffentlichen Feiern zur Geburt der 100.000sten Einwohnerin Recklinghausens, der ‚Großstadt-Ilse‘, deren Vater einer ihrer Beschäftigten war.

Die Angaben über die Arbeitszeiten und deren Lage waren in den Gesprächen unterschiedlich. Der Zeitumfang betrug laut Tarifvertrag bis 1965 42 Stunden. Präzise Angaben zur Lage der Arbeitszeit liegen uns nur von der Fa. Turf vor. Dort wurde von 7:00 bis 15:45 Uhr gearbeitet, an zwei Tagen in der Woche bis 16:45 Uhr, mit 15 Minuten Frühstückspause und einer halben Stunde Mittagspause. Wie schon im obigen Zitat von Frau Kijac dargestellt, brachten sich auch in den späteren Jahren die meisten Frauen ihr Essen im Henkelmann mit. Bei Turf wurde 1964 eine Werksküche für die Frühstücks- und die Mittagspause der Beschäftigten eröffnet.

Auf einen wichtigen Gesichtspunkt müssen wir noch zu sprechen kommen, der auch in den nächsten Lebensgeschichten noch eine Rolle spielen wird: Die meisten in der Bekleidungsindustrie als Näherinnen oder Plätterinnen in der Produktion arbeitenden Frauen waren Arbeiterinnen. Im 21. Jahrhundert ist uns selten noch bewusst, wie wichtig damals die Unterschiede zwischen Arbeiterinnen und Angestellten in den Betrieben, aber auch in der sozialen Umgebung waren. Die Statusunterschiede spiegelten sich im betrieblichen Alltag, unterschiedlichen Kleidungsvorschriften, aber auch der sozialen Absicherung wider. Arbeiterinnen und Angestellte waren in verschiedenen Krankenkassen und Rentenversicherungen, hatten damit z. T. unterschiedliche Leistungsansprüche und vor allen Dingen unterschiedliche Kündigungsfristen. Welche Konsequenzen das hatte, werden wir an zwei nachfolgend geschilderten Beispielen sehen.

Heirat und Mutterschaft
Bis auf eine der von uns befragten Frauen, haben alle Anfang bis Mitte ihrer 20er Jahre geheiratet. Allerdings wissen wir nur von einer von ihnen (Edelgard Holtbrügge), dass sie auf den Wunsch ihres Ehemannes ihr Erwerbsleben beendete. Eher wurde die Berufstätigkeit nach der Geburt des ersten Kindes beendet. Manche Frau schilderte: „Als mein Kind geboren wurde, sagte mein Mann, jetzt brauchst Du nicht mehr zu arbeiten.“ Aufgrund der damals nur unzureichend verfügbaren Betreuungsmöglichkeiten für Kleinkinder blieb vielen der Frauen gar nichts anderes übrig. Nicht nur der Wunsch des Ehemannes und die nicht verfügbare Kinderbetreuung, auch das geltende Familienrecht (Bürgerliches Gesetzbuch § 135613) sah die Rolle der Ehefrau darin, „das gemeinsame Hauswesen zu leiten„. Allerdings spielte die Unterstützung durch die Großmütter in vielen Familien eine nicht unwesentliche Rolle, da die junge Familie auf das Einkommen durch die Arbeit in der Fabrik angewiesen war. Zumal aufgrund von Akkordarbeit dort mehr verdient werden konnte als z. B. im Einzelhandel.

Das bedeutet allerdings nicht, dass die Frauen sich für ihr ganzes weiteres Leben auf ihre Funktion als Ehefrau und Mutter beschränkten. Bis auf wenige von ihnen berichteten die Frauen von weiteren Berufsverläufen, die in anderen Bereichen stattfanden. Helga Töpfer hat nach ihrer Familienphase endlich ihren Traumberuf als Verkäuferin ausgeübt. Maria Hettmer hat als technische Zeichnerin gearbeitet. Christa Werdnik war als Haushaltshilfe tätig. Gisela Schiwkowski arbeitete als Verkäuferin im elterlichen Geschäft, das sie später übernommen hat. Die meisten von ihnen haben nach ihrem Ausscheiden aus der Fabrik ihre nähtechnischen Fertigkeiten dafür genutzt, für sich und andere Wäsche und Kleidung herzustellen und zu reparieren.

Auch die nicht stattgefundene Karriere von Maria Knizia will ich hier nicht vergessen. Die Münsterländische Textilgesellschaft mbH, bei der sie gelernt hat, produzierte Anfang der 1950er Jahre nicht nur Herrenoberhemden, sondern auch Damenblusen. Der damalige Chef entdeckte, dass die Auszubildende Maria sich gut als Mannequin (heute als Model bezeichnet) für die Blusen eignete und setzte sie dafür auf Messen und bei Präsentationen in der Firma ein. Er wollte sie gerne in dieser Funktion behalten und bot ihr eine einjährige Ausbildung zum Mannequin an, für die sie nach Düsseldorf hätte gehen müssen. Maria Knizia schlug, da sie bereits verlobt war, dieses Angebot aus. Wie sie uns aber erzählte, hat sie auch nach dem Verlassen der Firma noch manchmal in dieser Funktion gearbeitet.

Interessant ist in diesem Zusammenhang der Generationenunterschied. Die fünf in der Nachkriegszeit geborenen, von uns befragten Frauen sind mit einer viel größeren Selbstverständlichkeit nach dem Größerwerden ihrer Kinder über Jahrzehnte berufstätig gewesen, allerdings nicht in der Bekleidungsindustrie.

Weitere Berufsverläufe
Die Verweildauer der von uns befragten Frauen in der Bekleidungsindustrie erstreckte sich von zwei bis zu 39 Jahren. Nur zwei unserer Zeitzeuginnen haben fast ihr ganzes Erwerbsleben in den Bekleidungsfabriken verbracht. Elisabeth Recktenwald blieb ledig und arbeitete vom Beginn ihrer Ausbildung (1952) bis zur Schließung des Betriebes insgesamt 25 Jahre bei der Münsterländischen Textilgesellschaft mbH (ab 1967 Condor Herrenwäschefabrik GmbH) und anschließend noch zehn weitere Jahre in anderen Bekleidungsfabriken. An ihrem Erwerbsverlauf kann illustriert werden, welche Entwicklungsmöglichkeiten sich den Herrenwäschenäherinnen boten.

Nach der Lehre arbeitete sie zunächst als Näherin. Ihr innerbetrieblicher Aufstieg begann damit, dass sie nach sechs Jahren als Musternäherin eingesetzt wurde. In dieser Funktion verblieb sie fünf Jahre, um danach als Ausbilderin für die circa zehn Lehrlinge im zweiten Lehrjahr zuständig zu sein.

Dieser Wechsel ihrer Funktion hatte auch einen Wechsel ihres Status von der Arbeiterin zur Angestellten zur Folge. Deutlich sichtbares Zeichen war der weiße Kittel der Angestellten anstelle des bunten Kittels der Arbeiterinnen. Als Angestellte erhielt sie nicht nur eine bessere Bezahlung, sie wurde auch Mitglied einer anderen Krankenkasse und der Rentenversicherung der Angestellten. Der verbesserte Kündigungsschutz der Angestellten zeigte seine Wirkung als die Firma Condor Anfang der 1970er Jahre in finanzielle Schwierigkeiten geriet und Personal abgebaut wurde. Ein Effekt ihres Status als Angestellte war, dass Frau Recktenwald wegen langjähriger Betriebszugehörigkeit nicht so schnell gekündigt werden konnte. Daher wurde sie ins Gewebelager versetzt. 1977 durch den Konkurs der Fa. Condor GmbH endete nach 25 Jahren ihre Tätigkeit in der Bekleidungsindustrie in Recklinghausen. In Recklinghausen gab es keine neue Beschäftigung für sie. In Dortmund arbeitete sie vier Jahre als Nähsaalleiterin bei einer Firma für Arbeitsbekleidung, bis auch diese Konkurs machte. Eine weitere sechsjährige Tätigkeit als Nähsaalleiterin bei einer Hemdenfabrik in Essen endete ebenfalls mit deren Konkurs. Ende der 1980er Jahre gab es für sie keine entsprechende Vollzeitstelle in der Region. Für eine alleinstehende Frau reichte jedoch der Verdienst der ihr angebotenen Teilzeitstellen nicht aus. Die strukturellen Veränderungen der Recklinghäuser Bekleidungsindustrie hinterließen in der Biografie von Elisabeth Recktenwald ihre Spuren.

Von all unseren Zeitzeuginnen hat Christel Schlüter am längsten in der Bekleidungsindustrie gearbeitet, die meiste Zeit (1955–1994 mit einer kurzen Unterbrechung) in der gleichen Firma, der Turf-Herrenwäschefabrik GmbH. Am 1. April 1955 begann sie dort ihre Lehre als Herrenwäschenäherin. Sie hatte Schneiderin werden wollen, aber für diesen Beruf fand sie keine Lehrstelle. Nachbarschaftliche Beziehungen ermöglichten ein Bewerbungsgespräch. Zum Gespräch nahm sie einige ihrer Handarbeiten mit. Diese überzeugten sowohl den Chef als auch die Direktrice.

Nach Beendigung der Lehre arbeitete Frau Schlüter als Springerin. Sie war schon früh sehr ehrgeizig und wollte ihre beruflichen Möglichkeiten ausprobieren. Daher kündigte sie 1960 bei Turf. Im Zeugnis der Firma wird die Wertschätzung für ihre Arbeit deutlich: „(Sie) gehörte zu den besten Näherinnen unseres Betriebes. Aus diesem Grunde wurde sie als Springerin für alle Arbeitsgänge am Herrenhemd eingesetzt.14

Zusammen mit einer Freundin wechselte sie zur Firma Bauer und nach kurzer Zeit zur Firma Laarmann. Dort lief es aber nicht zu ihrer Zufriedenheit. Arbeitsbedingungen und Arbeitsabläufe entsprachen nicht ihren Vorstellungen. So kam es ihr 1961 sehr gelegen, dass sowohl der Firmeninhaber der Firma Turf als auch der Betriebsleiter und die Direktrice sich darum bemühten, ihre ehemalige Mitarbeiterin wieder für den Betrieb zurück zu gewinnen. Schon sehr früh begann ihr innerbetrieblicher Aufstieg. Als 22-jährige wurde sie erst Vorarbeiterin, dann Bandleiterin und Ausbilderin. Diese Funktionen übte sie fast 30 Jahre aus.

Nach der Heirat 1965 erfüllte sich ihr Kinderwunsch leider nicht. Wie schon Anfang der 1960er Jahre suchte sie nach einer Verbesserung ihrer beruflichen und vor allem auch finanziellen Möglichkeiten. Trotz ihres Aufstiegs hatte sie immer noch den Status einer Arbeiterin. Eine Bekleidungsfirma aus Herne wollte sie abwerben und bot ihr das Angestelltenverhältnis an. Das blieb der Direktrice der Fa. Turf nicht verborgen. Sie sorgte dafür, dass Frau Schlüter ins Angestelltenverhältnis eingruppiert wurde. Damit verbunden war eine erhebliche Verbesserung ihres Verdienstes auf circa 1.000 DM.

Die Fa. Turf wurde in den 1980er und später vor allem in den 1990er Jahren nicht verschont von den strukturellen Veränderungen, die durch internationale Arbeitsteilung und vor allem die Öffnung des Ostblocks hervorgerufen wurden. Bereits Anfang der 1990er Jahre wurde die Produktion umorganisiert. Auch ein Geschäftsführerwechsel beschleunigte die Veränderungen. Der größte Teil der Maschinen wurde nach Rumänien gebracht, um dort neue Produktionsstätten aufzubauen. Einige Mitarbeiterinnen von Turf waren bereits dort mit dem Aufbau beschäftigt. In dieser Phase war Christel Schlüter in Recklinghausen als Musternäherin tätig. Auch ihr Arbeitsplatz sollte nach Rumänien verlagert werden. Ihre dort schon tätigen Kolleginnen hatten ihr von den dortigen schweren Arbeitsbedingungen und der katastrophalen Unterbringung berichtet. Christel Schlüter stellte sich die Frage, ob sie sich dieses in ihrer gesundheitlichen Situation – nach zwei Krebserkrankungen – noch zumuten sollte und entschied sich dagegen. Sie wählte 1994 die Frühverrentung.

Wie auch andere Zeitzeuginnen hat Christel Schlüter – trotz eines wenig positiven Endes ihrer dortigen Tätigkeit – sehr positiv über ihre Arbeitserfahrungen, das – in der meisten Zeit – angenehme Betriebsklima, die regelmäßigen Betriebsfeiern (auch über das Ende der Beschäftigung hinaus) und den Zusammenhalt unter den Kolleginnen berichtet.

Resümee
Es war eine tolle Zeit mit den von uns interviewten Frauen. Wir haben im Zusammenhang mit der Ausstellung15 und manchen Veranstaltungen die Chance gehabt, uns wiederzusehen und interessante Gespräche zu führen. Vieles in den Gesprächen mit Schnittmusterzeichnerinnen, Herrenwäschenäherinnen und Plätterinnen hat uns immer wieder berührt und beeindruckt. Hervorzuheben ist ihr Durchhaltewillen und ihre Zielstrebigkeit. Wir haben Frauen kennengelernt, die in der bisherigen Frauenforschung kaum einen Platz gefunden haben und die auch in der regionalen Geschichtsschreibung bisher nicht angemessen gewürdigt worden sind.

Je mehr wir uns mit ihnen beschäftigt haben, desto mehr wuchs unser Respekt vor ihnen, ihrer zupackenden Art, ihr Leben zu meistern, ihrer Lebensklugheit und Energie. Wir erhielten Einblick darin, wie sie mit den eher traditionell vorgegebenen Frauenbiografien umgingen und ihren Weg fanden. All dieses motivierte uns, ihre verborgene Geschichte zum Leben zu erwecken und für Andere sichtbar zu machen. Wir bedanken uns bei ihnen für diese Erfahrungen.

Dr. Karin Derichs-Kunstmann, Arbeitskreis Recklinghäuser Frauengeschichte

Der vom AK herausgegebene Katalog kann über die Website des AK – www.frauengeschichte-re.de – für 12 € (+ 2,50 € Versandkosten) bezogen werden.




		
Zitation: Derichs-Kunstmann, Karin, Arbeiterinnenleben im Ruhrgebiet in der Nachkriegszeit, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/arbeiterinnenleben-im-ruhrgebiet-in-der-nachkriegszeit/

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Soula Palatianou

Soula Palatianou ist 1950 im Dorf Dafnoudi geboren, im Norden Griechenlands, nahe der Stadt Serres. Soula ist die Älteste von 3 Kindern. Schon als Mädchen von elf Jahren unterstützte sie ihren Vater Theofanis beim Anbau von Tabak. Das Einpflanzen im Mai war die schwierigste Arbeit, viele anstrengende Einzelschritte waren dafür nötig. Von einem Feld wurden die Setzlinge eingesammelt, um diese dann auf einem anderen, weit entfernten Feld wieder einzupflanzen. Das bedeutete viel Lauferei, Schlepperei, Plackerei.

Wir mussten alle auf die Knie. Wir fingen morgens um halb sechs an und arbeiteten bis neun oder zehn abends. Danach mussten wir dann noch eine Stunde zurück ins Dorf laufen.

Tabak

Im Juli bis September wurde geerntet. Auch die Ernte sei schwierig gewesen, erinnert sich Soula Palatianou heute. Immer habe ihr Vater sie und ihren jüngeren Bruder um zwei oder drei Uhr geweckt, er habe Kaffe gemacht, um die schlaftrunkenen Kinder aus dem Bett zu locken:

Wir hatten einen Esel und ein Pferd. Papa saß immer auf dem Esel, und wir beide auf dem Pferd, rechts und links in den Körben drin. Er hat uns da reingesetzt, und wir konnten nochmal schlafen. Bis zum Feld war es bestimmt eine Stunde. Manchmal schlief auch mein Vater auf dem Esel ein. Einmal sind mein Bruder und ich aus unseren Körben gefallen, da haben wir auf der Straße weiter geschlafen. Und unser Vater ist erst auf halbem Weg aufgewacht und hat gemerkt: da waren keine Kinder mehr! Damals gab es keine Autos, Gott sei dank!

Auf dem Feld erzählte der Vater seinen Kindern Märchen. Wie das der Stringla, einer Hexe oder Vampirin, die allen, die es mit ihr zu tun bekommen, Unheil bringt. Das Märchen war nicht kindgerecht. Aber es war spannend; und erfüllte damit seinen Zweck, die Kinder zur Arbeit zu motivieren.

Bis in die 1950er Jahre war die ganze Region von Makedonien, Thessalien und Thrakien vom Tabakanbau (auf dem Land) und von der Tabakverarbeitung (in den Städten) abhängig. Die Hafenstädte Kavala und Saloniki galten als Hauptumschlagplätze für den sogenannten „orientalischen“ Tabak.

Wie Soula stammen die meisten griechischen Auswanderer, die nach dem Anwerbeabkommen vom 30. März 1960 zur Arbeitsaufnahme nach Deutschland kamen, aus diesen nördlichen Provinzen. Als die griechische Tabakindustrie durch das Vordringen des amerikanischen Virginia-Tabaks nahezu vollständig zum Erliegen kam, hatte das für die ökonomische Situation in den „Armenhäusern“ der nordgriechischen Peripherie katastrophale Folgen. Vielen Familien blieb als letzter Ausweg nur die Migration. Wie auch in der Familie von Soula Palatianou.

So war unser Leben. Sehr arm, aber in der Familie ganz liebevoll. Im Sommer habe ich auf den Tabakfeldern gearbeitet. Im Winter habe ich das Schneidern gelernt. So war mein Leben, bis ich 21 Jahre alt war. Ich wollte weg von dem Dorf. Ich wollte weg von dieser Arbeit. Damals kam eine Bekannte ins Dorf, meine spätere Schwiegermutter. Sie lebte schon in Deutschland. Sie hat mich gesehen, und hat gesagt: Ach, das ist ein schönes Mädchen, es wäre gut, um ihre Hand anzuhalten. Ich kannte meinen späteren Mann überhaupt nicht. Man sagte mir einfach: Dann brauchst nicht mehr in den Tabak, dann hast du ein besseres Leben! So wurden wir von einem auf den andern Tag verlobt. So ging das damals, die Liebe kam mit der Zeit. Ein Jahr nach der Verlobung haben wir geheiratet, und er nahm mich nach Deutschland mit.

Migrantinnen in der Mehrheit

Soula ist die Vertreterin einer ganzen Generation griechischer Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, die zwischen 1960 und 1973 nach Deutschland kamen. Spätestens, als man Spaniens Wunsch nach einem Anwerbeabkommen stattgibt, sieht man sich von Seiten des Auswärtigen Amtes und des Bundeswirtschaftsministeriums außerstande, dem griechischen Drängen auf noch länger standzuhalten: Am 29. März 1960 wird das Deutsch-Spanische und am 30. März das Deutsch-Griechische Anwerbeabkommen unterzeichnet. In Athen wird die Germanikin Epitropin, die Deutsche Kommission Griechenlands eingerichtet. Die Außenstelle der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg soll im Auftrag der deutschen Unternehmen geeignete Arbeitskräfte rekrutieren, die berufliche und gesundheitliche Eignung der Bewerber feststellen und die Reise nach Deutschland organisieren. Anfang 1961 nimmt die so genannte „Außenstelle“ in Thessaloniki ihre Arbeit auf, bald schon werden hier aber wesentlich mehr Kräfte abgefertigt als von Athen/Piräus. An nur einem einzigen Tag stellen sich in Saloniki bis zu 6.000 Personen vor. Es sind die gesundheitlichen Eignungsprüfungen und die bürokratischen Hürden der deutschen Kommissionen, die vor den Augen der Migranten schier unüberwindliche Hindernisse aufrichten. Ein Teil der Bewerber darf direkt vor Ort den Vertrag unterzeichnen. Zeigt das Röntgenbild aber Lungentuberkulose oder einen Leistenbruch, so wird der Bewerber abgelehnt. Bekommen die Anwärter die „Prassini Karta“ (die „Grüne Karte“), dann dürfen sie passieren, und die legendäre Fähre Kolokotronis setzt sie von Piräus aus über in ein anderes Leben. Auch im Sonderzug Thessaloniki – München wird für viele von ihnen der Grenzübertritt zur „Weichenstellung“ fürs Leben. Wie für Soula Palatianou:

Mein Traum war es zu emigrieren. Ich wollte von der Landwirtschaft weg! Ich hatte immer nur im Kopf, eines Tages werde ich gehen, emigrieren und in einer Firma arbeiten. Mit vielen Menschen, nicht immer nur alleine.

In Thrakien und Mazedonien gab es kaum eine Familie, die nicht von dieser Migration betroffen war. Ein regelrechtes „Migrationsfieber“ brach aus, ganze Dörfer entvölkerten sich. Oftmals herrscht das Bild des männlichen Gastarbeiters vor. Doch bedarf dieses Klischee einer Korrektur: Bei der Deutschen Kommission in Thessaloniki, bei der deutsche Firmen Arbeitskräfte rekrutierten, bezogen sich von Anfang an viele der Anfragen auf Frauen. Im Mai 1961 waren es 58 % – ein Rekord in der gesamten Geschichte der organisierten Anwerbung. Hier in Thessaloniki wurde auch die Firma Johann Wilhelm Scheidt vorstellig, um das Personal für ihre Kammgarnspinnerei in Essen Kettwig anzuwerben. Man erwartete sich von handarbeitserprobten Frauen wie Soula Palatianou ein besonderes „Fingerspitzengefühl“, um sie als Spulerin oder Ringspinnerin einzusetzen.

Die Deutschlandbilder der griechischen Arbeitsmigrant*innen setzten sich aus unterschiedlichen Fermenten zusammen: aus persönlichen Erinnerungen über Greultaten der Deutschen während der Besatzungszeit 1941-44, die sie hier „I Katochi“ nennen. Aber ebenso aus idealisierenden Bildern vom „Wunder“ der deutschen Wirtschaft, wie es in der heimischen Kino-Wochenschau projiziert wurde: Die Deutsche Mark strahlte große Faszination aus, man spürte, dort, in „Europa“, ging etwas vor sich, und man könnte Anteil daran haben. Gleichzeitig war es auch ein Abenteuer, die Heimat zum ersten Mal zu verlassen. Die Hoffnungen auf ein besseres Leben waren groß, ebenso wie die Ängste vor dem Unbekannten, erinnert sich Soula Palatianou:

So schön war es am Anfang nicht in Deutschland. Es war ein schwerer Start. Wir wohnten in nur zwei Zimmern, gemeinsam mit den Schwiegereltern. Auch mit der Sprache hatte ich Probleme. All das machte mich traurig und krank.

Soula Palatianou möchte sich im Ruhrgebiet als Schneiderin selbstständig machen. Aber nach ihrer Ankunft ist das noch nicht möglich. So arbeitet sie zunächst für ein halbes Jahr in der Fabrik.

Ich wollte arbeiten, ich war gewohnt zu arbeiten, vor der Arbeit hatte ich keine Angst. Ich war so fleißig. Ich war immer schneller als die anderen. Genau wie im Dorf, so auch später in der Fabrik. Ich habe viele Überstunden gemacht, in sechs Monaten kamen zwei Monate Überstunden zusammen. Und der Aufpasser sagte zu mir: Soula, du musst ein bisschen langsamer machen, die anderen kommen nicht mit.

Zum magic moment zwischen Frauen und Männern aus Griechenland und Deutschland kam es nur selten. Das Volkslied in Griechenland warnte die Söhne seines Volkes eindringlich, sich in der „schwarzen Fremde“ nur nicht auf eine Frau einzulassen. Hätte ihn die fremde Frau erst einmal in ihre Netze verstrickt, wäre er für seine Heimat verloren. So blieben die meisten Griechinnen und Griechen unter sich und warben um einander. So entspannen sich im Ruhrgebiet unzählige Liebesgeschichten. Soula wurde schwanger, und sie bekam mit ihrem Mann Ioannis ihr erstes Kind, Dakis.

Trennungsgeschichten

Wie viele der damaligen Gastarbeiterinnen will sie sich für einige Jahre aufs Geldverdienen konzentrieren, so schickt sie ihren erstgeborenen Sohn nach Griechenland zu den Großeltern. Es war durchaus üblich, dass so genannte „Gastarbeiterkinder“ bei ihren Großeltern in Griechenland aufwachsen.

Um die Eltern, die zum Arbeiten in Deutschland sind, an der Entwicklung ihrer Kinder Anteil nehmen zu lassen, ließen Großmütter damals die Hände der Enkel und Enkelinnen auf Papier aufmalen. Und wenn die Mädchen die Sehnsucht nach ihrer Mutter überkam, dann gingen sie zu ihrem Kleiderschrank und atmeten den Duft ihrer Kleider ein. Häufig dauerten diese Trennungsgeschichten zwischen Eltern und Kindern über zehn Jahre. Soula hält es nicht so lange aus. Als die Fabrik schließt, holt sie Dakis wieder zu sich nach Essen Kettwig zurück. Und sie beginnt wieder zu nähen.

Ich fand eine kleine Näh-Tätigkeit bei einem Änderungsschneider, die ich daheim erledigen konnte.

Zur Zeit der Anwerbung der Gastarbeiter ist der Zenit der Industriearbeit paradoxerweise bereits überschritten. Die Struktur der Arbeitswelt hat sich seit der Mitte der Siebziger Jahre umfassend transformiert. Die Ära des blue collar-worker ist vorbei, Fließbandarbeit und Massenarbeit geraten in die Krise. Zahlreiche Griechen in Essen Kettwig machen sich in dieser Umbruchphase – die für viele von ihnen zugleich eine Phase der Niederlassung ist -, selbstständig, zunächst mit einfachsten Mitteln. Sie eröffnen Tavernen oder Schneidereien. Zunächst kommen Soulas Aufträge über eine Freundin. Dann bekommt sie selbst eine Anstellung in der Schneiderei. Zwei Jahre arbeitet sie hier und lernt das Schneiderhandwerk noch einmal von Grund auf.

Dabei wuchs in mir immer mehr der Wunsch, mich auf diesem Gebiet selbstständig zu machen. Es war sehr schwer, geeignete Räumlichkeiten zu finden, tatsächlich tat sich dann etwas auf. Mein Mann Ioannis ist handwerklich sehr begabt und hat meinen Laden ganz alleine eingerichtet. Er selbst arbeitete in der Wechselschicht bei Axel Springer und druckte dort die Bildzeitung.

Fünf Jahre arbeitet Soula nun als selbstständige Schneiderin. Doch als sie mit dem zweiten Kind schwanger wird, wird es selbst für die unerschrockene Frau immer schwierigier, ihr Leben zu meistern.

Ich war schwanger mit unserem zweiten Kind Maria. Dennoch musste auch der Betrieb meiner Änderungschneiderei weiter laufen. Ich hatte keine Hilfe beim Nähen, ich musste alles alleine machen. Selbst mit dem hochschwangeren Bauch kniete ich zu den Anproben auf dem Boden. Die Kunden liebten mich, und ich wollte niemanden enttäuschen. Aber das war einfach zu viel für mich.

Nur eine Wochen nach der Geburt ihrer Tochter war Soula Palatianou schon wieder an der Arbeit. Sie nimmt das Baby mit in die Schneiderei. Doch Maria will versorgt werden, und so wird es immer schwieriger, das Leben als Geschäftsfrau und Mutter zu vereinbaren. Am Ende schlagen die Schwierigkeiten in echte Verzweiflung um.

Einmal kam eine Kundin. Und ich hatte Maria im Arm, und das Kind weinte. Und ich weinte auch, ich war einfach total überfordert. Und da sagte die Frau: Wenn Sie wollen, ich kann Ihnen helfen. Ich kann das Kind mitnehmen. Ich fragte nur: Wo wohnen sie denn? Sie sagte da und da: Ich hab einen Wagen und ich nehme sie mit. Und dann hab ich ihr Maria einfach mitgegeben! Heute klingt es unglaublich! Später war ich mit meinem Mann dort, sie hatte ein schönes Haus, sie war Fotografin. Das hat sie dann ein paar Monate lang so gemacht. Hat sogar Sachen für Maria gestrickt. Für mich war das ein Gottesgeschenk. Er hat auf einen Schlag alle Sorgen von mir genommen.

Griechische Infrastruktur

Die Wanderungsbewegungen seit dem Zweiten Weltkrieg, die im Kontext der Neuordnung Europas, dem Kalten Krieg und dem „Wirtschaftswunder“ in Westdeutschland standen, haben unsere Stadtgesellschaften grundlegend verändert. Migration ist nicht Randphänomen der Verstädterung, sondern vielmehr einer ihrer eigentlichen Motoren. In Essen Kettwig wird die Migration aus Griechenland im Stadtbild sichtbar. Von der Migration zur „Einwanderung“ ist es ein weiter Weg. Es bedeutet Anspannung, sich in einem fremdsprachlichen Raum zu bewegen. Es kostet Anstrengung, neben und nach der Arbeit eine Sprache zu lernen. In der Begegnung mit den Einheimischen ist da immer ein Gefälle: Wo der eine stottert, um jedes Wort ringt, da zeigt der Andere sein Heimrecht schon allein, indem er die Sprache beherrscht. Aber allmählich gewöhnt man sich ein. Die Gewöhnung stiftet den Zusammenhang, macht aus den Gegenständen, die in der Umwelt lagern, einen Orientierungsraum: Einem Blinden gleich, der lernt in der vertrauten Umgebung ohne Stock zu gehen – und ohne Zögern. Eine Erfahrung, die mit der Zeit auch Soula Palatianou machte: Sie verstand immer mehr. Sie wurde mutiger. Machte Ausflüge in die Umgebung. Der vielleicht wichtigste Treffpunkt – und zugleich einer der zentralen Erinnerungsorte der Griechen von Kettwig – war die Ruhr. Hier am Ententeich verabredete man sich im Sonntagsstaat zur „Volta“. Hier machte man Picknick, spielte auf griechische Art mit Murmeln, las Zeitung oder schaute sich die Passanten an, die von Kettwig Vor der Brücke herüberkamen. Jedenfalls, wenn man bei all der Arbeit dafür die Muße fand.

Damals hatten wir noch nicht so viel Kontakt zu Deutschen. Was uns aber immer besonders gefiel war die Weihnachtszeit. Alles war so schön geschmückt, die Bäume und die Weihnachtsmärkte mit den vielen Lichtern waren wunderschön und uns nicht bekannt aus unserer Heimat. Auch meine Eltern kamen uns meistens zu dieser Zeit besuchen. Und der Sonntag war ein besonderer Tag. Da haben wir uns schön angezogen. Schöne Kleidung hat mir immer gefallen, schon seit ich ein kleines Mädchen war, und dann durch meine Arbeit als Schneiderin.

Die Religion der ersten Migrantengeneration ist eine „delokalisierte Religion“ – eine Religion, die in der Fremde wiedererrichtet wird. Die Kirchendiener der Orthodoxen sind anfangs mobile Einheiten, die im Bedarfsfall einer Hochzeit, einer Taufe oder einer Beerdigung zum Einsatz kommen. Die „sieben Sachen“ für die Liturgie haben sie im Auto, zelebriert wird überall, im Wohnheim, im Park, in gemieteten Sälen oder den Schwesternkirchen. Man improvisiert viel: baut Ikonostasen aus Kalenderblättern, der Waschzuber wird zum Taufbecken umfunktioniert.

Sonntags haben wir regelmäßig in Düsseldorf den Gottesdienst besucht. Auch da waren immer viele griechische Familien. Aber ansonsten gab es für uns nur Arbeit, Arbeit, Arbeit.

Das Projekt der Gastarbeiter*innen sieht vor, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld zu verdienen. Dieser Wunsch kollidierte bei Soula Palatianou mit dem eigenen Verständnis von Mutterschaft. In ihrer Geschichte ist diese Doppelbelastung spürbar. Und ihre Erzählung belegt, wie wichtig auch Zivilcourage war, um ihre Kinder in Deutschland „durchzubringen“.

Patatadiko in Essen Kettwig

Mit zwei Kindern konnte ich nicht länger in der Schneiderei arbeiten, während mein Mann seine Schichten fuhr. Eine Freundin hatte eine Pommesbude. Sie hat gesagt: Soula, wir gehen nach Griechenland zurück, und wir wollen verkaufen. Das ‚Patatadiko‘ haben wir dann übernommen. Um das Geschäft aufbauen zu können – wir hatten noch keine Unterstützung – habe ich dann auch Maria zu den Großeltern nach Griechenland geschickt. Das war sehr schwierig für mich, ohne meine Tochter Maria zu sein. Weihnachten hab ich sie schon wieder zurückgeholt. Da hatten wir einen zusätzlichen Mitarbeiter für die Pommesbude gefunden, und ich konnte bei den Kindern bleiben.

Mittlerweile gab es in Essen Kettwig eine gut vernetzte und weit verzweigte griechische Subkultur. Neben griechischen Ärzten und Anwälten fanden sich hier in den 1970er und 1980er Jahren auch griechische Lebensmittelgeschäfte, Schneider, Schuster, Versicherungen, Reisebüro, Kulturvereine, Cafeterias. Man besucht das „Kafenion“, versorgt sich in einer eigenen Videothek mit griechischen Filmen. Im Hexenberg-Kino gab es in regelmäßigen Sonntagsmatineen die Möglichkeit, griechische Heimatfilme zu sehen. Hier war es sogar erlaubt, die griechischen Sporia – Sonnenblumenkerne – zu knacken und zu kauen. So bot das Kino Unterhaltung und ein Gemeinschaftserlebnis der besonderen Art. Im Molin Rouge in der Altstadt, später in Akropolis umbenannt, konnte man abends seinen Ouzo trinken, oder deutsches Bier, und Karten spielen. Hier mussten Kinder ihre Väter abholen, dass sie nicht den ganzen Lohn verspielten. Hier steht auch eine Musikbox. „Nostalgia, Nostalgia, Nostalgia“ scheint in den frühen Jahren der Migration das alles beherrschende Motiv zu sein und Musik das Medium par excellence, ihr Ausdruck zu verleihen. Stelios Kazantzidis war die große Stimme der sehnsuchtsgetränkten griechischen Gastarbeiterballade: „Der Zug fährt ab und pfeift ständig, wie ein Klagelied, Trostlos beklage ich mein Schicksal, Warum kann meine Heimat ihre Kinder nicht ernähren, Sie haben uns verkauft, Hier, wo wir aus dem Leben ausgesperrt sind, Ich fühle eine schwere Müdigkeit in meinem Körper und im Herzen …“

Ich hatte aber immer auch Heimweh nach Griechenland. Wir haben auch jedes Jahr mit den Kindern Urlaub in Griechenland gemacht. 5-6 Wochen. Wir haben das immer sehr genossen mit unseren Eltern.

Soula Palatianou hatte Sehnsucht nach Griechenland. Ins Kettwiger Nachtleben zog es sie weniger. Für Unterhaltung dieser Art hatte sie keine Zeit.

Ich hab meinen Mann abgelöst [im Imbiss], damit er zu Hause Pause machen kann. Währenddessen habe ich immer mit den Kindern telefoniert, um Kontakt zu halten und zu hören, was sie machen. Einmal hat mein Sohn Dimokratis dann am Telefon gesagt, die kleine Maria hätte einen Pfennig in den Mund gesteckt und verschluckt. Jetzt könnte sie nicht mehr sprechen. Ich hab gesagt, er soll sofort seinen Vater wach machen. Mein Mann kam dann in den Laden, und ich bin schnell nach Hause. Ich habe Maria genommen, und wir sind zum Doktor Remi. Der hat sie gesehen und meinte, vielleicht sei sie nur erkältet. Ich hab gesagt, nein, sie hat eine Münze verschluckt! Geröntgt hat der Arzt sie trotzdem nicht. Er meinte, wir sollen sie zwei Tage beobachten, sonst sollen wir wiederkommen. Ich war dann einen Tag mit ihr zu Hause, hab ihr Essen gegeben, aber sie konnte es gar nicht herunter schlucke!. Ich hatte wirklich ein sehr ungutes Gefühl. Also bin ich wieder zu dem Arzt, dann hat er sie endlich geröntgt. Und gesehen, der Pfennig steckte quer in ihrem Hals! Da sagte er, das Kind muss sofort ins Krankenhaus. Und die Ärztin im Krankenhaus hat den Pfennig rausgeholt, ohne Operation, Gott sei Dank!

Später ging Maria in den Kindergarten, dann wurde es einfacher. Dann haben wir auch eine neue Wohnung bekommen, direkt neben dem Imbiss. Maria konnte in der Pommesbude ihre Schulaufgaben machen, so hatte ich sie in der Nähe. In der Pommesbude gab es eine Ecke mit Spielautomaten. Da kamen auch die Jugendlichen von der Schule, und Maria lernte lauter Worte, die sie eigentlich nicht lernen sollte. Ich war damals Anfang 30, und wurde zur Mutter für alle Kinder und Jugendlichen in Kettwig. Sie kamen in den Laden und riefen: ‚Mutter, gib mir eine Pommes, gib mir ein Schaschlik Spieß.‘ Der Laden lief gut. Von dem Geld konnten wir auch das alte Haus in Griechenland, mein Elternhaus, niederreißen und ein neues bauen, und ein weiteres Grundstück kaufen. Wir haben mit nichts angefangen, und dann doch etwas aufgebaut.

Anwesenheit und Abwesenheit

Im Familienalbum der Familie Palatianou finden sich Bilder der Anwesenheit und der Abwesenheit. Anwesend im Ruhrgebiet war die Familie, die Soula und ihr Mann gegründet hatten. Abwesend waren dagegen die Familien, denen sie selbst entstammten, die in Nordgriechenland geblieben waren. Wie Soula von der Selbstständigkeit träumte, so auch davon, ihre Familie über die Generationen eines Tages wieder zu vereinen.

Wir dachten immer, wir gehen nach Griechenland zurück. Wir haben nicht gedacht, dass wir hier in Essen Kettwig bleiben würden. Ich wollte immer meinen Eltern helfen, wenn sie alt sind. Wir hatten eine sehr gute Beziehung. Ich habe meinen Vater so lieb und er hat mich auch so lieb. Eines Tages wurde mein Vater plötzlich krank, 1989, Krebs. Das war ein großer Schlag für mich, für uns alle. Ich bin direkt nach Griechenland aufgebrochen, doch ich konnte es nicht ändern: innerhalb von nur einem Monat ist er gestorben. Damals hab ich gedacht, so ist das Leben, nur ein Monat, und alles kann vorbei sein. Danach war ich richtig angeschlagen, erschöpft, ängstlich – der Schock hat mich krank gemacht.

Der Tod des Vaters traf Soula Palatianou schwer. Doch in der Folge erlebte sie eine Art Erweckung – oder Bekehrung. War sie auch ihr Leben lang jeden Sonntag mit den Kindern in den orthodoxen Gottesdienst in Düsseldorf gegangen, hatte sie doch nie die Bibel gelesen, hatte nicht wirklich nach Gott „gesucht“. Das änderte sich nun:

Dann kam ich nach Deutschland zurück, und noch immer war ich unendlich traurig. Damals, 1993, hat Maria im Garten eine kleine Katze gefunden. Und wir hatten mit unserer deutschen Nachbarin Probleme deswegen. Wir hatten richtigen Streit, sie hat die Tür im Hausflur geknallt und meinen Sohn angeschrien. Das hat bei mir eine richtige psychische Krise ausgelöst.

Bis dann ein frommer Mann ins Haus kam, der Dr. Weiß von der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde, der wollte uns versöhnen. Unsere Nachbarin ging zu einer Seniorenstunde der Gemeinde. Ich hatte Kuchen gemacht, damit wir uns zusammensetzen und reden. Und Dr. Weiß hat dann angefangen mit uns zu beten. Da hat Gott irgendwie mein Herz aufgemacht. Ich wollte dann jeden Sonntag in die evangelisch-freikirchliche Gemeinde gehen und mehr von Gottes Wort hören. Maria nahm ich mit. Für mich ist der Glaube das größte Geschenk, das ich in Deutschland schließlich gefunden habe. Das Kostbarste. Etwas, dessen Wert sich gar nicht bemessen lässt.

Heute hat die Mehrheit der Griechen ihre Zelte in Essen Kettwig abgebrochen: Sie sind heute die Besitzer jener Bauten rund um den alten Dorfkern, Altersvorsorge in Beton gegossen. Andere wie Soula haben den Traum von der Rückkehr nie aufgegeben, aber immer weiter aufgeschoben. Im Alter können sie nicht mehr auf die Zukunft wetten, die Rückkehroption entpuppt sich als eine Illusion. Soula Palatianou ist heute mehrfache Oma. Ihr Sohn Takis hat eine Familie gegründet, ebenso wir ihre Tochter. Maria hat an der Folkwang Universität in Essen Design studiert und ihren Abschluss mit einem Buchprojekt über Begegnungsorte von Griechen und Deutschen gemacht, wie die Pommesbude der Familie eine war. Heute haben Soula Palatianou und ihr Mann die Pommesbude abgegeben. Soula macht gelegentlich noch Schneiderarbeiten von zu Hause aus. Und sie liest immer noch jeden Tag in der Bibel, verfasst sogar selbst kleine Predigten, die sie in Form von Sprachnachrichten an ihre Freunde schickt. Für diese spirituelle Berufung lässt die ehemalige Gastarbeiterin Soula Palatianou sogar mal ihre Arbeit liegen.

Dr. Manuel Gogos/ Geistige Gastarbeit

Zitation: Gogos, Manuel, Soula Palatianou, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/soula-palatianou/

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FLiP

„FLiP“ ist die Abkürzung für „Frauenliebe im Pott“, ein 1992 gegründeter Verein, der sich zu einem Kristallisationspunkt für Lesben im Ruhrgebiet entwickelte. Im Jahre 2022 feierte der Verein sein 30-jähriges Jubiläum: „Das hätten wir uns damals nicht träumen lassen. Damals, als wir unsere Flyer mit der Hand schrieben und sie mit Schere und Klebestift gestalteten, als wir eine Anrufbeantworterin hatten und die erste Compute Berta hieß, als wir heiß diskutierten, ob der männliche Heizungsableser unsere Räume betreten dürfe und ob eine Ehe für alle überhaupt erstrebenswert sei.“1 Wie  in einem Zeitraffer verdichtet diese Sequenz frauenbewegte, politische, gesellschaftliche, kulturelle und mediale Transformationen seit der Gründungszeit.2

Fast so wie die Lila Nächte in Damenclubs der Weimarer Republik

Nichts erschien Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre spießiger, als einen Verein zu gründen, so, wie Kaninchenzüchter oder  Briefmarkensammler, vor allem, wenn sich Frauen als Feministinnen verstanden und Vereine als typisch bürgerlich-patriarchale Organisationsformen ablehnten. Und doch gab es auch historische Anknüpfungspunkte an Vereine von Frauen und Lesben, so an die Lesbenszene der 20er Jahre: „Ich habe damals das Buch ‚Lila Nächte‘ gelesen, über die Lesbenclubs und Lesbenvereine in den 20er Jahren in Berlin. Die haben sich Räume geschaffen, wo sie sich als Lesben zu erkennen und so geben konnten, wie sie sind, und haben auch als Paar zueinander gefunden. Das hat mich sehr angesprochen. Und ich habe unsere Lesbenszene auch so wahrgenommen, dass es da einen Bedarf gab. Dass wir unsichtbar waren und ignoriert wurden. Die Unsichtbarkeit war aber das Entscheidende.“ 3 Die historischen Vorbilder4 machten Mut und nährten die Überlegung, feste Strukturen aufzubauen, um Sichtbarkeit und Anerkennung zu schaffen.

Wie in anderen Ruhrgebietsstätten entwickelte sich auch in Essen in den 1970er/1980er Jahren eine vielfältige Lesbenszene. Lesben gehörten zu den treibenden Kräften der autonomen Frauenbewegung, waren an der Gründung des ersten Essener Frauenzentrums 1976 maßgeblich beteiligt. Es gab eine Lesbengesprächsgruppe beim Mädchen- und Frauentreff PERLE, das Frauenzentrum in der Möserstraße, die SPINNEN in der Bäuminghausstraße. Für Studentinnen entwickelte sich der Frauenraum vom Frauen- und Lesbenreferat an der Universität-Gesamthochschule Essen zu einem ‚place to be‘.  Es gab Frauenschwoofs in der Schillerklause und in der Weuenschänke in Essen-Altendorf, der ersten Essener Frauenkneipe, die Ende 1978 als Kneipe von und für Frauen gegründet wurde und 1982 schließen musste.5 Lesben trafen sich in der Falle und im Quarterback. Der erste Frauenschwoof fand 1985 im Kulturzentrum Zeche Carl in Essen-Altenessen statt. Erinnert wird die Lesbenszene von den FLiP Gründerinnen als ein Netz von vielen Gruppen zwischen Sub-Lesben, Subkultur und ‚Schwarzem Block‘, die sich kleinteilig gegenseitig kleidungsmäßig, weltanschaulich und in ihren feministischen Positionierungen abgrenzten. Die Gruppen waren oft nur von kurzer Dauer. In dieser Situation entstand das Bedürfnis nach einer festen Vergemeinschaftungsform. Vielleicht wurde dieses bei den Essener Vereinsgründerinnen auch durch Erfahrungen aus dem  Studium der Sozialpädagogik und der Sozialen Arbeit genährt, das sie in Essen aufgenommen hatten und das sie in eine Berufstätigkeit im Sozialen Bereich geführt hatte: Sie wussten, wie wichtig Verbindlichkeit, Verantwortung, Zuverlässigkeit ist.

Die Gründerinnen stellten zudem einen Bezug zur Auflösung linker Politik nach 1989 her, die viele in Organisationsfragen erfahrene Aktivistinnen „heimatlos“ werden ließ. Diese Frauen waren gewohnt, sich konkret einzusetzen, anzupacken, zu organisieren.6 Die FLiP-Gründung eröffnete wieder einen Zusammenhang mit Strukturen: „Eine neue gute Sache, für die man sich einsetzen konnte.“ – „Vor allem für die eigene Sache.“ – „Es ging um unsere Interessen.“ – „Das haben wir dann auch gemacht. Z. B. Gruppen angeboten zum Coming-Out.“7

Interessen von Frauen, die Frauen lieben

Die Gründerinnen verstanden sich politisch als Feministinnen, gleichwohl nicht „extrem oder radikal“.8 Sie lehnten eine Opferrolle ab und forderten Rechte und Anerkennung. Im Vereinseintrag von 1992 heißt es: „Wir wollen uns einmischen, überall dort, wo unsere Interessen als Frauen, die Frauen lieben, betroffen sind. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher und individueller Ignoranz und Diskriminierung, mit sozialen und politischen Problemen. Dazu gehört auch, Erfahrungen auszutauschen, Informationen, Rat und Unterstützung anzubieten (…). Dazu gehört erst recht, gemeinsame Dinge zu tun, die einfach Spaß machen. (…) Wir möchten allen Lesben die Möglichkeit zum Mitmachen geben, unabhängig von ideologischen oder politischen Standpunkten und Zugehörigkeiten zu anderen Gruppen.“9 Es ging den Gründerinnen um die Schaffung eines lesbischen Lebenszusammenhangs, um Rat und Beratung, um Repräsentanz und Sichtbarkeit von frauenliebenden Frauen in einer Gesellschaft voller Diskriminierung und Sexismus. Äußerst sympathisch ist in den Vereinsstatuten der ausdrücklich festgeschriebene Verweis auf Spaß, der nicht zu kurz kommen sollte.

1995 konnte FLiP einen Raum in Essen-Schonnebeck anmieten, am 3. Oktober 1995 wurde er nach umfassender Renovierung und Einrichtung mit einem rauschenden Fest eröffnet. 10 Jahre lang konzentrierte sich die Vereinsarbeit im FLiP-Treff Kaldekirche. In den Räumen fanden die monatlichen Mitfrauenversammlungen, Spiel- und Videoabende, Frühstücke und Bruches, Feiern und Jubiläen, Stammtische, Koch- und Tanzkurse, politische Diskussionen, Gruppenabende zum Coming-Out statt. Die Kaldekirche 32 war ein geschützter Lesbenort und somit ‚männerfreie Zone‘, ganz im Sinne der feministisch-lesbischen Position, dass im Patriarchat auch die Lebenszusammenhänge lesbischer Frauen wie die aller Frauen von Männern gemacht und bestimmt werden. Und dies wollten sie ja schließlich im eigenen Lebenskontext und in der gesamten Gesellschaft ändern.

Im Gespräch erinnerte Sabine daran, dass FLiP – in Zeiten vor dem Internet – auch als ‚Single-Börse‘ wichtig war. Hier konnten Frauen bei unterschiedlichen Aktivitäten Frauen kennenlernen. „Beim Schwoof lernst du keine Frau kennen.“ Aber: „Das war auch das Problem für die Vereinskultur. Wenn sich Zwei bei FLiP kennengelernt hatten und ein Paar wurden, blieben sie weg und kamen erst zurück, wenn sie wieder Single waren“.10 FLiP war und ist auch immer auch ein Freizeitverein mit einer frauenbezogenen Geselligkeitskultur.

Das FLiP-Info

Der Verein FLiP e.V. gab in der Zeit von Mai 1993 bis August 2006 51 Ausgaben des FLiP-Infos heraus. Das Info erschienen im DIN A5 Format mit 12, später mit 36 Seiten in einer Auflage von 1.000 Exemplaren, die im Abo mit der Post verschickt wurden oder über Szenekanäle Verbreitung fanden. Eine Redaktion von 19 Lesben war über die Jahre mit Herstellung und Verbreitung befasst. Das Flip-Info kommunizierte die Vereinsaktivitäten in die Region hinein und machte FLiP weit über den Essener Raum bekannt.11 Diese Hefte sind ein ungemein reiches Zeitdokument zur Geschichte lesbischen Lebens im Revier und aller Themen, die dazu gehörten – Aktionen, Diskussionen, Beratungsangebote, Kleinanzeigen und Veranstaltungshinweise. So gab es 1993 allein 16 Schwoof-Angebote pro Monat zwischen Recklinghausen, Wuppertal und Düsseldorf.12

Alles kann – nichts muss!

Seit Beginn stand die Vereinsarbeit bei FLiP unter dem Motto „Alles kann – nichts muss!“ Dies zeigt eine große Offenheit, die von Freizeitaktivitäten über politische Arbeit für die Repräsentation von Lesben bis hin zum internationalen Austausch mit lesbischen und queeren Frauen reicht. Ein zentrales Prinzip der Arbeit besteht darin, dass jede sich mit ihren Kenntnissen und Interessen einbringen kann, sich dann aber auch aktiv um die Durchführung der Angebote kümmern muss. Kann sie diese nicht mehr aufrechterhalten, dann finden sie nicht mehr statt, ein äußerst erfolgreiches Prinzip für ein gelingendes, aktives Vereinsleben: „Wir müssen uns nichts vormachen: Das Gelingen aktiver Vereinsarbeit hat auch immer mit Personen und Persönlichkeiten zu tun.“13 Seit 1993 jedoch ist die Coming-Out Gruppe ein fester Bestandteil der FLiP-Arbeit und wird bis heute als geschützter Raum für Orientierung, Bewusstwerdung und Identitätsfindung weit über Essen hinaus geschätzt. In dieser Gruppe können Frauen Lesben mit ihren Lebenserfahrungen kennenlernen, es hilft zu wissen, dass diese Lesben alle eigene Erfahrungen mit dem Coming-out haben, es ist eine Stütze, mit ihnen laut durchdenken zu können, was könnten die nächsten Schritte und Strategien sein. Bedeutsam ist in diesem Prozess zudem, Frauen aus sozialen Berufen an der Seite zu haben, die bodenständig und professionell helfen. Denn: „Das Coming-Out ist kein Ereignis, sondern ein alltäglicher lebenslanger Prozess, solange Heterosexualität gesellschaftliche Norm ist.“14

Politische Arbeit

Lesben aus FLiP e.V. gehörten zu den Aktivistinnen, die ab 1995 die Gründung der Landesarbeitsgemeinschaft Lesben in Nordrhein-Westfalen (LAG Lesben in NRW)15 vorbereiteten. Die Idee einer überparteilichen Vernetzung, die in Essen mit FLiP bereits erfolgreich wirkte und die auf den seit 1974 stattfindenden Lesben-Pfingsttreffen – 1992  umbenannt in Lesben- Frühling, dann in Lesben-Frühlings-Treffen – immer wieder diskutiert worden war, wollten sie weiter ins Land hinein tragen, um verlässliche Strukturen für eine langfristige Interessensvertretung von Lesben in der politischen Öffentlichkeit zu schaffen, lesbenspolitische Aktivitäten von Vereinen, Gruppen und Projekten in NRW zu bündeln, den Erfahrungsaustausch zu moderieren und Förderstrukturen aus öffentlicher Hand für Vernetzungs- und Organisationsprozesse zu nutzen.16 Am 7. September fand ein Treffen statt, auf dem die Gründung der Landesarbeitsgemeinschaft Lesben in NRW beschlossen wurde. FLiP gehörte zu den Unterzeichner*innen des Gründungsbeschlusses. Martina Peukert, in den Anfangsjahren neben Katharina Junglas und Barbara Meyer Sprecherin der LAG Lesben in NRW, schrieb über die Zeit: „Als Gründungsfrau von ‚Frauenliebe im Pott‘ – kurz FLiP e.V. – lag mir die Vernetzung verschiedener Lesbengruppen sehr am Herzen. Vor 20 Jahren waren die einzelnen Gruppen ausgesprochen gut darin, zunächst einmal das Trennende zu betonen und auf keinen Fall das verbindende. Frau mag sich das heute nicht mehr so recht vorstellen können, aber FLiP wurde z.B. durchaus angefeindet, weil die Vereinsstruktur einigen Frauen als grundsätzlich patriarchal und damit untragbar erschien. Es herrschte auch ein gewisser Argwohn, dass eine LAG nach FLiP-Vorbild gestaltet werden könnte. Die Anfangszeit der LAG war geprägt von Misstrauen, endlosen Abgrenzungsdebatten und Diskussionen vor allem über das, was wir auf keinen Fall wollten, z.B. öffentliche Gelder und hauptamtliche Kräfte. Glücklicherweise hatten jedoch viele Frauen ein unglaubliches Standing, und so wurde aus der zum Teil wirklich zickigen Kleinkrämerei doch noch ein arbeitendes Gremium.“17Der Durchhaltewillen zeitigte nachhaltigen Erfolg. Im Jahre 2022 feierte die LAG Lesben in NRW ihren 25. Geburtstag im Düsseldorfer ZACK.

Zugleich  waren die Lesben von FLiP auch 1996 an der Gründung des Forum Essener Lesben und Schwule (F.E.L.S.) beteiligt. Sie entwickelten beständig öffentlichen und politischen Druck in der Stadt, so dass der Essener Stadtrat im Winter im November 1995 eine Resolution gegen die Ausgrenzung und Diskriminierung lesbischer und schwuler Menschen beschloss. Ein runder Tisch erarbeitete in Essen das bundesweit erste „Handlungsprogramm Gleichgeschlechtliche Lebensweisen – Ein Beitrag zur Vielfalt“, dem der Stadtrat zustimmte und das seitdem immer wieder weiter entwickelt wird. Sie drängten auch auf eine offizielle kommunale Stelle, die die Aktivitäten zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, für Akzeptanz und Sichtbarkeit und für eine emanzipatorische und gleichberechtigte Gesellschaft freier und gleicher Individuen koordiniert. Dies gehört 2022 zum Arbeitsbereich der mittlerweile Koodinierungsstelle Gleichgeschlechtliche Lebensweisen LSBTI* genannten Organisationseinheit bei der Stadt Essen.

Gesellschaftliche Liberalisierungsprozesse hin zu größerer Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Lebensweisen sind – dies zeigt unter anderem die politische Arbeit von FLiP – nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern mühsam in kleinen Schritten durch politisches Engagement und strategische Vernetzung auch von Lesben angestoßen worden.

Kreativität, Respekt, Liebe und Kunst

Das, was in Essen und NRW als Vernetzung und Austausch begann, entwickelte sich bei Kontakten mit dem Netzwerk Coalition of African Lesbians weiter, das sich seit 2004 für Menschrechte lesbischer und queerer Frauen einsetzt. Engagiert vorangetrieben durch Cornelia Sperling von FLiP wurden finanzielle Mittel für einen internationalen Austausch eingeworben, der 2018 mit einer Reise von sieben lesbischen Aktivistinnen aus NRW ins südliche Afrika begann. Sie suchten den Austausch mit „lesbischen und queeren Frauen in zivilgesellschaftlichen Gruppen, die sich für das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und für Gender Equality engagieren“.18 2019 reisten Aktivistinnen des Women’s Leadership Centre aus Namibia, vom Women’s Alliance for Equality, Friends of Rainka und dem Autonomy-Projekt aus Sambia und Lesben von H.E.R. – Health Empowerment Rights aus Botswana nach NRW und wurden in Düsseldorf, Köln und Essen von Initiativen und Institutionen willkommen geheißen. Im Februar und März 2020 konnten drei Diskussionsveranstaltungen in Sambia, Botswana und Namibia stattfinden, bis die Corona-Pandemie die Partnerschaftsarbeit erst einmal stoppte, die noch ausstehende Partnerschaftswoche mit Simbabwe in Dortmund 2020 musste abgesagt werden. Die Aktionswoche wurde im Herbst 2022 nachgeholt. Cornelia Sperling von FLiP stellte die Besonderheit dieser Vernetzung heraus: „Die Beteiligung von lesbischen Aktivistinnen an postkolonialen Allianzen und Eine-Welt-Vernetzungen ist neu in NRW.“19 Sie bringt aus diesem Projekt für die aktuelle, hiesige Diskussion um LGBT-inklusive Gesellschaften erste Überlegungen mit. So kritisiert die Coalition of African Lesbians (CAL), in der die Partnerorganisationen vom afrikanischen Kontinent vernetzt sind, die Formulierung besonderer LGBTI-Rechte, denn sie sehen sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität als Teil menschlicher Sexualität, die alle betrifft: „Im Rahmen der geopolitischen Auseinandersetzungen zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden sind LGBTI-Rechte mittlerweile zu einem Kampffeld geworden, auf dem der Norden seine Überlegenheit gegenüber dem Süden demonstriert. Es ist eine politische Strategie des Nordens, spezielle LGBTI-Projekte gegen Diskriminierung im Süden zu finanzieren. CAL kritisiert, dass schwul-dominante Gruppen oft auf der Identitätspolitik beharren, die ihre Finanzierung aus dem Norden sichert. Für die Lesben und queeren Frauen ist eine Verbindung mit dem Kampf für Frauen- und Menschenrechte strategisch wichtiger, um Selbstbestimmung von Frauen über ihre Körper und ihre Leben zu realisieren.“ Und sie kommt zu dem Schluss: „Die offiziellen entwicklungspolitischen Ziele zum LGBTI-Thema hören sich gut an, sind in der Umsetzung aber vorwiegend eurozentrisch und meist ignorant gegenüber der exzellenten Arbeit der afrikanischen AktivistInnen (sic!). Es ist wichtig, das zu ändern!“20

Wie gehen wir mit Unterschieden und Macht um? Wie kann das Spielfeld egalisiert werden?

Wie sich die Partnerorganisationen in Sambia, Botswana und Namibia den Austausch vorstellen, zeigen ihre konkreten Themen, Erwartungen und Wünsche, von denen hier nur einige referiert werden: „Gemeinsame Überlegungen über die Dokumentation und Schaffung von Narrativen über nicht-konforme Lebensformen, um die Akzeptanz und die Lebensbejahung zu fördern.“ „Was ist unsere, was ist eure Strategie, um Freiheiten zu vergrößern?“ „Grundsätze unserer Nord-Süd Partnerschaft: Wie gehen wir mit Unterschieden und Macht um? Wie kann das Spielfeld egalisiert werden?“ „Dokumentation unserer Geschichte und Lebenswirklichkeit – es steht an, unsere Geschichten zu sichern und zu veröffentlichen!“ „Wir erwarten von jeder Respekt und Wertschätzung gegenüber der anderen Kultur.“ Und: „Wichtigste gemeinsame Ressourcen: Kreativität, Respekt, Liebe und Kunst.“ Mit Blick auf die Lage in Europa und Namibia formulierte Irene // Garoës vom Women’s Leadership Centre aus Namibia: “As feminists I think we are always looking for new ways of building mouvements for change – at the end of the day we are fighting patriarchy and all oppressive systems.“21 Und Florence // Khaxas vom Young Feminist Movement Namibia verband mit ihrem vorgetragenen Gedicht ein komplexes Dekolonisierungsprogramm: „My poem praised the ancestors in remembrance of the Genocide: I expressed the need of a quer decolonization project which addresses such issues as violence, patriarchy, LGBTI movement building and solidarity.“22

Generationenfragen

Nalumino Likwasi von der Women’s Alliance for Equality aus Zambia (WAFE) zeigte sich vom Lesben*-Frühlings-Treffen sehr bereichert. Aus einem Land kommend, in dem einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen Erwachsenen kriminalisiert werden, war es für sie schön, unter so vielen älteren Lesben zu sein, die sie zu Hause mit WAFE  kaum erreichen kann. Sie fuhr mit einem Gefühl zurück nach Sambia, „that I can live a full, happy, and productive life even as a queer person.”23 Als frauenliebende Frau ein erfülltes, glückliches und produktives Leben zu führen, selbstbewusst, sichtbar und anerkannt, darum dreht sich die Arbeit von FLiP. Die Gründerinnengeneration möchte sich zunehmend zurückziehen und die Vorstandsarbeit im Verein an Jüngere weitergeben. Und so kamen zum dem Gespräch, das diesem Beitrag zugrunde liegt, zwei Generationen frauenliebender Frauen, Sabine und Isabelle, die von der Gründung, der Entwicklung und von aktuellen Herausforderungen erzählten.24Es sieht gut aus, dass die „lesbische Ruhrpottikone“ den Generationenwechsel produktiv vollziehen wird.

Isabelle, Jahrgang 1988, ist seit 2022 Vorstandfrau bei FLiP. FLiP war für sie eine wichtige Anlaufstelle während des Coming-Outs und nun will sie nicht nur Angebote „konsumieren“, sondern etwas zurückgeben und die Zukunft des Vereins mitgestalten: „Themen bleiben, zum Beispiel was die Sichtbarkeit von Lesben angeht, man weiß zwar, dass es sie gibt, dass sie da sind, doch in politischer Repräsentation gleichgeschlechtlicher Lebensweisen dominieren – wie in der gesamten Gesellschaft – immer die schwulen Männer.“ Für Isabelle gibt es noch viele Baustellen, denn trotz gesellschaftlicher Fortschritte wie die „Ehe für alle“ oder die zunehmende Akzeptanz von Regenbogenfamilien ist „Gendergerechtigkeit“ für gleichgeschlechtliche Lebensweisen nicht erreicht.

Sabine, Jahrgang 1961, ist seit dem Gründungsjahr dabei und sehr viele Jahre lang als Vorstandsfrau aktiv gewesen. Sie betont noch einmal die Bedeutung von Räumen für die Herausbildung eines Bewusstseins als Frauen und Lesben: Für sie war es der „Frauenraum“ an der Universität-GH Essen: „Wir verstanden uns als Feministinnen, vielleicht auch als lesbisch, wir wollten etwas Gemeinsames. Und das konnten wir am überzeugendsten dadurch zum Ausdruck bringen, dass wir uns im Frauenraum trafen, diskutierten, Veranstaltungen durchführten.“ Für Sabine hat sich ihr Lesbischsein aus der feministischen Bewegung heraus entwickelt. Eine Zusammenarbeit mit Männern kam für sie nicht infrage. Während  dies ihrer politischen Sozialisation in der Frauen- und  Lesbenbewegung entsprach, macht Isabelle auch ohne theoretische Hinführungen durch Feminismus und radikale Frauenbewegung die Erfahrung, dass überall, wo es um gemeinsame Projekte  der  Homosexuellenbewegung geht, schwule Männer um Macht- und Deutungshoheit kämpfen und Lesben an den Rand gedrängt werden. Es herrschen dort weiterhin männliche Rede- und Dominanzstrukturen. Deshalb ist es wichtig, weiterhin als Lesben – im Verein, im Verband, als Arbeitsgemeinschaft – für Sichtbarkeit zu kämpfen. Angesichts der herrschenden Homo- und Transfeindlichkeit gilt es selbstverständlich in der LSBTI*-Community zusammenzuhalten und immer wieder politische Bündnisse zu knüpfen, so, wie zum Beispiel bei F.E.L.S. – Forum Essener Lesben und Schwule – das FLiP mitgegründet hat, aber auch beim Ruhr CSD oder im lesbisch-schwulen Generationenprojekt. Doch zugleich ist es politisch zentral, den Anspruch auf eigene Repräsentation nicht aufzugeben.

Auf die Frage, ob in den 1980er Jahre die Lesbenbewegung mit ihren „Lesbenzentren“ in den Städten nicht wesentlich präsenter waren, als heute im Akronym LSBT und unter dem Label „queer“, rückt Sabine die historische Dimension gerade, die nicht zuletzt durch die Erzählungen von Zeitzeuginnen und die einsetzende Geschichtsschreibung mit Tendenzen zur Mythenbildung oft in eine Schieflage gerät „Also jetzt Mal: Lesbenzentrum. Wir hier in Essen hatten ein 60 Quadratmeter großes Ladenlokal, dort fand vielleicht zwei Mal in der Woche ein Angebot statt, sichtbar waren wir damit vielleicht für uns und in der Szene, aber in der politischen Kultur der Mehrheitsgesellschaft sicher nicht. Wir haben keine Werbung für das Zentrum gemacht, Anzeigen geschaltet oder so, wir haben uns getroffen – und da waren ja jetzt keine 80 Frauen, wenn wir 18 waren, waren wir viele.“25

Es hat definitiv Fortschritte bei der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen und der Einbeziehung von Trans*menschen gegeben, aber nun gilt es aufzupassen, dass diese Liberalisierungen nicht unter der Hand wieder zur Disposition stehen. Die FLiP-Frauen sehen sich dafür auch generationell gerüstet. Zur Vernetzung brauchen sie heute keinen 60 Quadratmeter großen Raum mehr oder eine Anrufbeantworterin, sondern das Wordwideweb, soziale Medien und Messenger-Dienste, über die sich alle Interessierten zum Tanzen, zum Diskutieren, zum Sport, zur Vorbereitung politischer Aktionen, zum Stammtisch, zum Kochen … verabreden können.

Dr. Uta C. Schmidt/ frauen/ruhr/geschichte

Orte:

https://www.flip-ruhr.de/
Kaldekirche 32, 45309 Essen-Schonnebeck

Zitation: Schmidt, Uta C., FLiP, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/flip/

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Irmgard Kroymann

Die seit 2011 in frauen/ruhr/geschichte publizierte Biografie zu Irmgard Kroymann und die Sequenzen aus dem Ton-Archiv wurden von der Redaktion aus dem Netz genommen. Im Januar 2023 erschien das Buch: Götz Aly, Unser Nationalsozialismus. Reden in der deutschen Gegenwart, Frankfurt a.M.: S. Fischer. Darin präsentiert Anne Prior ihre Forschungen zu Irmgard Kroymann in einem Aufsatz mit dem Titel: Eine Lagerwärterin mimt das KZ-Opfer. Wir werden uns mit diesen Forschungen auseinandersetzen.

In dem am 4.2.2023 in den Funke-Medien veröffentlichten Artikel „Die Lebenslüge der Irmgard Kroymann“ wird fälschlicherweise geschrieben, die Homepage frauenruhrgeschichte würde vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW herausgegeben. frauen/ruhr/geschichte wird ehrenamtlich unterhalten und projektförmig mit eingeworbenen Fördermitteln erweitert. So konnten wir im Jahre 2022 dank der Kulturförderung Ruhrgebiet Biografien im Rahmen des Projekts divers.postmigrantisch.kosmospolitisch. erarbeiten.

04.02.2023 Uta C. Schmidt

Zitation: Uta C. Schmidt , Irmgard Kroymann, Version 2, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/irmgard-kroymann-2/

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Sophie Marks

Die äußeren Daten dieser Frauenbiografie sind rasch erzählt. Es existiert von Sophie Marks weder Bild noch Text, und in den zahlreichen Lebensbeschreibungen über ihren Geliebten und Ehemann Alexander Haindorf wird meist nur ihr Tod erwähnt. Sophie Marks wurde im Jahr 1791 in Hamm als Tochter der Henriette Marks (geb. Hertz 1769-1823) und des Elias Marks (1765-1854), einem wohlhabenden Kaufmann, geboren.1Marks nutzte sein Vermögen immer wieder, indem er sich finanziell für die jüdische Gemeinde in Hamm engagierte. Seine Tochter Sophie war mit Alexander Haindorf (1784-1862) zunächst befreundet, seit 1810 mit ihm verlobt, seit 1815 mit ihm verheiratet. Haindorf erlangte gemeinsam mit Marks später überregionale Bekanntheit durch die Stiftung einer Bildungseinrichtung für jüdische Lehrer, Kinder und Handwerker. Im September 1816 starb Sophie Marks im Kindbett, als sie die gemeinsame Tochter zur Welt brachte, die – wie sie selbst – den Namen Sophie trug.

Glücklicherweise sind im Privatarchiv Loeb-Böhme-Wels noch einige, bis dato weder komplett transkribierte, geschweige denn publizierte Briefe erhalten geblieben, die Sophie Marks und Alexander Haindorf sich geschickt haben.2 Diese Briefe, geschrieben zwischen 1807 und 1816, sind praktisch die einzigen Zeugnisse, die die Persönlichkeit der jungen Frau greifbar werden lassen. Mit ihrer Hilfe nähere ich mich der Person im Folgenden gleichsam in einem historischen Psychogramm.

Der Alltag

Zu der Zeit, als der Briefwechsel anhebt, lebt Sophie als 16-jährige junge Frau mit den Eltern Elias und Henriette Marks, mit der kleinen Schwester Emma (Geburtsdatum unbekannt – 1812), mit der Hausdame Frau von Glaubitz (geb. von Pfuhl) sowie deren Tochter Jette und noch einigen weiteren Bediensteten in einer Hausgemeinschaft in Hamm an der Südstraße 6. Sophie pflegt Kontakte mit den Leuten, die ihre Eltern besuchen. Gelegentlich gibt es während der sogenannten Befreiungskriege Einquartierungen; so hat die Familie Marks etwa am 17. Februar 1811, 1813, und auch im Frühjahr 1814 französische Soldaten im Haus unterzubringen.3Immer wieder werden Wilhelm Salomon Kaufmann (1773 geboren) und seine Ehefrau im Markschen Haus empfangen. Er ist Arzt, sogar Medizinalrat, sie wird auch als Frau „Räthin Kaufmann“ oder als Kaufmännin bezeichnet.4 Die Räthin ist Sophies Tante Rose (geb. Hertz – 2.4.1817), Schwester der Mutter Henriette Hertz.5 Einer Frau Schulz ist Sophie sehr zugetan, aber über sie ist nichts weiter bekannt und der Allerweltsname Schulz lässt auch nicht auf Entdeckungen hoffen. Sophie schreibt über die Freundin Frau Schulz, „mit der ich so über alles was mein und ihr Leben betrifft spreche“. 6„Ich habe sie am liebsten von allen Bekannten, sie ist so eine gute brave Seele“. Mit Frau von Glaubitz startet Sophie verschiedene Unternehmungen und Verwandtenbesuche, auch wenn es beschwerlich ist: Die Familie reist schon mal nach Münster, um im Dom einem Konzert zu lauschen und beispielsweise die Sängerin Angelika Schlüter zu hören. Der Aufwand ist „nicht ohne“. Die Kutschfahrt nahm etliche Stunden Zeit in Anspruch. Doch waren in Hamm die kulturellen Angebote rarer. Wahrscheinlich gibt es hier zwar auch schon Theatervorführungen,7doch sicher in einem verhältnismäßig bescheidenen Rahmen im Saal einer Gaststätte oder im Komödienhaus.

Sophie Marks weiß sich aber auch anderweitig zu beschäftigen: Sie liest, malt, musiziert, doch eine aktive außerhäusliche Lebensplanung und -gestaltung ist für die weibliche Hälfte des Bürgertums in diesen Tagen nicht vorgesehen. Im Grunde ist Sophie Marks – wie andere Frauen aus Bürgertum und Adel auch – dazu verurteilt zu warten, bis der passende standesgemäße Heiratskandidat am Horizont auftaucht, um dann mit seiner Hilfe die Herkunftsfamilie zu verlassen und ein neues Familienkapitel aufzuschlagen. Das besondere Schicksal der Sophie Marks war es nun, dass der Heiratskandidat beizeiten gefunden war, dass aber beide, Sophie und Alexander, über Jahre hinweg nicht miteinander lebten.

Sophie Marks braucht sich um die Bestreitung des Lebensunterhalts keine Sorgen machen, als künftige Erbin des reichsten Manns der Stadt haben finanzielle Probleme keine Rolle in ihrem Leben gespielt. Allenfalls die ökonomische Asymmetrie zu ihrem Verlobten war gelegentlich nicht ganz leicht. Gleichwohl sind die Biografien der beiden jungen Leute nicht frei von Schwierigkeiten, denn sowohl die Familie als auch die Gesellschaft richten Erwartungen an sie, die sie zu erfüllen haben. Sophie ist zuallererst in ihre Rolle als Frau gedrängt, deren Lebensentwurf traditionell bei der Verehelichung und dem Muttersein endet. Allerdings ist der familiäre Hintergrund so komfortabel, dass ihr der Zugang zu Bildung unbeschränkt offensteht. Ob sie je die jüdische Schule in der Stadt besucht hat, wissen wir nicht. Frau von Glaubitz, die Hausdame, hat ein vertrautes Verhältnis zu der jungen Frau, und unterrichtet sie wahrscheinlich im Privatunterricht auch in englischer Sprache.8 Sophie Marks spricht mehrere Fremdsprachen, sie dilettiert auch in italienischer Sprache, sie musiziert, spielt beispielsweise das Pianoforte, sie liest und tauscht sich mit Haindorf über die Lektüre aus. Sie besucht Konzerte in Hamm, übt in einem Chor oder nimmt an einem Ball an der Ostenallee teil. Zwanglos streut sie Anspielungen aus der griechischen Mythologie in ihre Korrespondenz.9 Er sendet ihr auf ihre Bitten auch das eine oder andere Buch zu. Neben dem Zeichnen und Malen verrichtet sie traditionsentsprechend auch „weibliche Handarbeiten“, beispielsweise säumt sie Taschentücher für Haindorf.10 Ferner sammelt sie im Garten der Familie Beeren und kocht sie ein. Als der Tag der Hochzeit naht, erklärt sie ihrem Bräutigam sogar, sie wolle künftig in dem gemeinsamen Haushalt keine Köchin aufnehmen, sondern sich selbst an den Herd stellen und für sie beide kochen. Er werde schon genießen, äußert sie zuversichtlich, was sie zubereite, da es doch allemal besser munde, wenn etwas mit Liebe hergestellt sei.11

Insgesamt erscheint Sophie als intelligente, gebildete, gefühlsstarke, aber auch von Melancholie gedrückte Frau. Sie hat eine „vornehme“ Zurückhaltung, eine Vorsicht und Bescheidenheit. Bescheidenheit wird übrigens von Sophie und Alexander als positive Eigenschaft auch an anderen geschätzt, beispielsweise in der Begegnung mit Frau Schlüter. Hofrätin Angelika Schlüter, die Familie Marks bei einem Gesangsvortrag im Dom in Münster bereits erlebt hatte, sei eine „liebenswürdige, anspruchslose Frau“.12

Frauen für den Krieg

Im Jahr 1813, als viele preußische Männer in Scharen freiwillig zur Verteidigung des Vaterlands eilen, werden auch Frauen zur Pflichterfüllung aufgerufen. Und so finden sich in Hamm – aber auch in zahlreichen anderen Städten – Frauen aus den Kreisen des Adels und des Bürgertums zusammen, bilden Frauenvereine, um beispielsweise mit Handarbeiten, Verbandsmaterial und Spenden die Befreiung Preußens von den französischen Truppen unter Napoleon Bonaparte zu unterstützen. Auch Frauen des jüdischen Bürgertums beteiligten sich an den patriotischen Aktivitäten. Henriette Marks wird als Aktive in dem Verein namentlich genannt. Doch auch die Tochter Sophie ist dabei, wenn die Frauen sich treffen. Sie erwähnt in einem der Briefe an Haindorf, dass die Hammer Frauen ihre Arbeiten im Ritzgarten, einer renommierten Gastronomie an der Lippe, zum Verkauf anbieten und Spenden sammeln.13

„Ihre Freundin Sophie Marks“ – ein rätselhaftes Bild

Vor einigen Jahren hatte das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm das Glück, aus dem Kunsthandel ein Stickbild, das von Sophie Marks gearbeitet worden ist, erwerben zu können. Es zeigt in beige-braunen Farbtönen eine in Plattstichen ausgeführte Hütte, von Bäumen flankiert, und rückseitig mit einer Widmung versehen: „Bei dem jedesmaligen Anblick dieser ländlichen Hütte erinnern Sie mich an Ihre Heimat und an Hamm. Ihre Freundin Sophie Marks“. Das kleine Bild (maximal 15 cm breit) datiert vom 18. Dezember 1807. 14 Auf den Adressaten, dem diese hübsche Arbeit gewidmet ist, gibt es leider keinen Hinweis. Und die Wege des kommerziellen Kunsthandels sind zu verschlungen und meist so schlecht dokumentiert, dass sich die Provenienz nicht nachvollziehen lässt. Es liegt nahe anzunehmen, dass Sophie Marks ihrem Freund Alexander Haindorf das Bild als Souvenir an die Stadt Hamm und als Andenken an ihre Beziehung gefertigt hat. Zeitlich würde das passen, denn gerade im Herbst 1807 hat der junge Mann Hamm verlassen, um in Würzburg sein Studium anzutreten. Die Anrede „Sie“ wiederum spricht gegen diese Vermutung. In seinem ersten im Archiv Loeb-Böhme-Wels erhaltenen Brief an Sophie Marks bedient sich Haindorf schon des vertrauten „Du“. Das ist nicht als selbstverständlich vorauszusetzen, denn selbst zwischen Eltern und Kindern wird in dieser Zeit bisweilen das förmliche Sie genutzt. Auffällig in ihrer beider Korrespondenz ist, dass Haindorf die junge Frau stets mit Vornamen anspricht und duzt, während Sophie ihn in der Regel mit Haindorf adressiert. Offenbar ist es nicht unhöflich, Männer mit dem Nachnamen anzureden, wie auch aus anderen Briefwechseln hervorgeht. Nennt sie ihn Alexander, kann das als Ausnahme gelten, eher spricht sie ihn auch mit „lieber Freund“, „lieber Junge“, „geliebter Haindorf“ an. „O guter Alexander“, sagt sie angesichts des Todes ihrer kleinen Schwester Emma, und man hört sie förmlich seufzen. 15 Im Scherz spricht sie ihn auch einmal als „liebes Haindorfchen“ an. 16 Aus dem Jahr 1807 hat sich kein Schreiben von Sophies Hand erhalten, doch ist es unwahrscheinlich, dass sie ihn in etwaigen weiteren Briefen mit dem förmlichen Sie angesprochen hätte. Allerdings sendet Sophie Marks am 18. Juni 1812 ein Schreiben an Haindorf in Heidelberg, in dem sie ihn tatsächlich siezt. Es hatte eine Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden gegeben, und sie ist voller Verdruss: „Ihr ungerechtes Urtheil hat mich sehr geschmerzt“, hält Sophie ihm vor. Das lässt erkennen, dass die Enttäuschung über Haindorf die Ursache für ihren förmlichen Stil ausmacht, und zeigt, dass die Anrede flexibel genutzt wurde.

Bei dem Stickbild ist aber keine Distanz zwischen der jungen Frau und dem Beschenkten anzunehmen, also kann wohl auch nicht eine getrübte Stimmung der Grund für die Förmlichkeit sein. Letztendlich wissen wir es einfach nicht. Bedauerlich ist es, dass wir den/die Adressat:in des Stickbildes nicht kennen, erfreulich aber ist andererseits, dass wir neben den Briefen mit diesem Souvenir überhaupt noch etwas Weiteres von Sophie Marks in Händen halten können.

Eine Liebe in Briefen

Heutzutage ist es schwer vorstellbar, dass eine Freundschaft und eine Liebesbeziehung über Jahre hinweg im Wesentlichen nur durch schriftlichen Kontakt gepflegt wird, dass man auf diese Weise einander gewiss sein kann und der Austausch von Dauer ist. Die Briefe, die die beiden jungen Leute einander schreiben, erstrecken sich über den Zeitraum von 1807, als Alexander in Würzburg sein Medizinstudium aufnimmt, bis zum Jahr 1816, dem Todesjahr der jungen Mutter Sophie.

Nicht nur in der Widmung in seiner Heidelberger Publikation, auch in den Briefen an die Freundin und Braut sowie umgekehrt von Sophie an Haindorf tritt uns eine große Emotionalität entgegen, eine Gefühligkeit, die heutzutage völlig unbekannt ist und bei Außenstehenden beinahe eine Art „Fremdschämen“ hervorruft. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts ist die Literatur von „Empfindsamkeit“ geprägt. Und diese Art des Selbstausdrucks wirkt noch bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts nach. Der Ausdruck starker Gefühle gilt zu dieser Zeit nicht als peinlich oder unbeherrscht, sondern als angemessen für eine sittlich gute Existenz.

Die beiden Schreibenden tauschen sich über ihre alltäglichen Erlebnisse aus, zunächst noch in einem eher neutralen Ton, als etwa Haindorf der jungen Frau 1807 von den kulturellen Angeboten in Würzburg erzählt, dass er Shakespeares Hamlet gesehen oder eine Mozartoper gehört hat. Im folgenden Jahr 1808 zeigt der Schreibstil bereits, dass sie einander nähergekommen sind, Haindorf äußert beispielsweise große Anteilnahme „mit Deinem zartfühlenden Herzen“, ja, es ist ein liebendes Necken, wenn er auf einen milden Vorwurf ihrerseits schreibt: „Wie gerne wollte ich nicht nur meine Unart abbüßen, wenn ich nur beständig mit so lieben Briefen [von dir] bestraft“ würde. Sophies Gram – worüber sie sich geärgert hat, ist unklar – begegnet Alexander mit dem Gestus des erfahrenen Älteren: Er ist ist 24, sie 18 Jahre alt. Haindorf stellt fest, dass sie „über das Treiben der Menschen zu sehr reflectiret“ und sich Sorgen macht; dagegen rät er ihr: „Denke Dir nur recht lebhaft, daß ein jeder treibt, was er treiben muß“. Hier schon deutet sich an, dass Sophie mit großer Sensibilität auf die Umwelt reagiert und leicht zu kränken ist. Vieles nimmt sie – zu – schwer, so scheint es ihrem Freund jedenfalls. Und über den Verlust der kleinen Schwester Emma versucht Alexander sie mit philosophischen Grundsätzen zu trösten: „Tod und Leben […] sind so sehr miteinander verschwistert, daß ein tiefer Blick ihre Ähnlichkeit keinen Augenblick verkennen kann“.17 Sie möge trauern, aber nicht über das Warum? grübeln. Alexander hat leicht gut reden, geht er doch „hinaus ins feindliche Leben“, wie Schiller es 1799 in seinem Lied von der Glocke für die Männer vorsah: Er kann sich an den ihm gestellten Aufgaben beweisen und sich in Zerstreuungen verlustieren. Zumal als junger Mann hat er eine Fülle an Verhaltensoptionen, die Sophie nicht zu Gebote stehen – es sei denn, sie wollte völlig aus dem Rahmen fallen.

Sanft und engelsgleich ist Sophie für Haindorf und soll es auch sein. Die geliebte Sophie spricht er an als „holder Engel“, oder „Du lieber Engel“, aber auch „liebe Seele“.18 Ob sich Sophie bei der Anrede „liebes Kind“ hinreichend verstanden fühlte, wissen wir nicht.19 Dabei soll sie es an Verstand nicht fehlen lassen. Und Sophie ist auch keineswegs so gestrickt, dass sie gleichsam wie ein dekoratives Möbelstück nur ihm zu gefallen suchte und ihn ohne eigenen Anspruch erfreuen wollte. Haindorf ist immer wieder mit seinen empathischen Fähigkeiten gefordert, denn Sophie leidet [1.] mehr als Alexander unter den Trennungen, [2.] hat sie wohl unabhängig von der Beziehung zu Alexander mit melancholischen – heute würden wir wohl von depressiven sprechen – Stimmungen zu kämpfen, und [3.] quält sie immer wieder ein starker Kopfschmerz. Alexander Haindorf ist der Vertraute, dem sie diese Bedrückungen immer wieder vorträgt, vielleicht nicht in uferloser Breite, aber doch wiederkehrend, so dass er sich dazu verhalten muss.

Frauen und Männer

In einem Brief aus dem Jahr 1811 gibt Haindorf zu erkennen, wie er sich die ideale Frau vorstellt und welches Frauenbild er vertritt.20 An Sophie schätzt er die „ungekünstelten Briefe“, die über unverbindliche Plaudereien stets hinausgehen. „Gelehrte Frauen“ dagegen sind ihm ein Graus. Er hat in Heidelberg die Bekanntschaft einer Frau gemacht, die ihn sehr abschreckt: „Sie ist eitel und die Wissenschaft hat ihr das Herz geraubt, und so der ganze Zirkel gelehrter Frauen, der hier jetzt lebt“. In Heidelberg nämlich lebte damals vorübergehend Amalie von Helvig (geb. Imhof, 1776 Weimar – 1831 Berlin), eine Schriftstellerin, die sich eines großen Reichtums erfreute und sich unbekümmert ihren literarischen Ambitionen widmen konnte. Sie verkehrte hier im Romantikerkreis um Sulpiz Boisserée, einem Kunstsammler und Schriftsteller, ab 1816 lebte sie als Salondame in Berlin. Im Jahr 1799 legte Amalie die Dichtung „Die Schwestern von Lesbos“ vor, 182 Strophen in Hexametern. Sogar in Schillers Horen und in seinem Musenalmanach hat Amalie von Helvig, allerdings unter einem Pseudonym, ihre Gedichte veröffentlicht.21

Dann ergießt sich Haindorf im Folgenden über die Natur des Weibes: „Durch Anmuth und Liebe soll das Weib die Natur beherrschen“, sie nicht aber durch Gelehrigkeit „verderben“. Glücklicherweise, meint Haindorf, seien nicht alle Frauen in Heidelberg von der „Gelehrsamheitswuth befallen“. Manche trügen auch „die Wissenschaft, wie es sich gebühret, auf leichten Schultern“. 22 Immerhin gehören Lektüre und Bildung mit zum Kanon der Erziehungsinhalte für jüdische Frauen, alles in einem moderaten Maß und stets abgegrenzt von „männlicher“ Gelehrsamkeit. Es hat den Anschein, als wenn in jüdischen Kreisen Bildung, auch für Frauen, nicht nur erlaubt, sondern, in Grenzen, auch geboten war. Am 26. April 1814 berichtet Haindorf etwa aus Göttingen: „Die männliche Welt ist hier ungemein gelehrt und ernst, ohne doch mürrisch zu seyn; die weibliche dagegen zart u feingebildet“.23 Auch Dorothea Erxleben, die erste promovierte Frau und Deutschland, und Dorothea von Schlözer, die 1787 als zweite deutsche Frau einen Doktortitel erwarb, hätten Haindorfs Anerkennung gewiss nicht gefunden. Und dass einige Frauen als Männer verkleidet an den Kämpfen gegen die französischen Truppen teilgenommen haben, hätte er sicher als „unnatürlich“, weil gegen die Natur der Frau, verstanden.24.  Diese geschlechtsspezifische Bildungsverteilung dürfte nach Haindorfs Geschmack gewesen sein. Nur keine Extreme!

Nicht nur in der Korrespondenz, sondern auch in seiner wissenschaftlichen Publikation aus dem Jahr 1811 ist die Liebe ein Thema für den Doktor der „Arzney- und Wundarzneykunst“. Die Liebe nämlich, so Alexander Haindorf, „hebt zwar das Physische des Geschlechtstriebes nicht auf, aber sie verklärt und verherrlicht es durch ihre ideelle Form“, so der junge Mann, der damals noch keine 30 Jahre alt war.25 Die Liebe zeige sich bei Frauen und Männern ganz unterschiedlich. Bei jungen Männern, bei denen die „Liebe sich durch das freie Spiel [ihrer] Phantasie mit den Idealen offenbart“, erweitert sich das Gefühlsleben. Der Jüngling hat das Bedürfnis, „sich durch das Weib, als sein vollkommener Gegensatz, zu ergänzen“, so dass sein Egoismus gemindert wird. Wenn er endlich die Frau findet, die „dem Ideale seiner Phantasie entspricht“, wird er ruhiger und sanfter. „Es ist dieses eine der schönsten Perioden des Lebens, in welcher der Jüngling seine ganze Kraft fühlen lernt, und wo er gewaltig im Geiste und Gemüthe in das Leben mächtig eingreift und es beherrschen lernt.“26 Bei jungen Frauen wirke sich die Erfahrung der Liebe ganz anders aus, sie seien in „eine ernste, tiefe Gemüthsstimmung“ versetzt. Die Gefühle ließen sie praktisch die äußere Umgebung vergessen und bescherten „den tiefsten Seelenfrieden“.27

Spätestens diese letzten Schilderungen wird man als autobiografisch verstehen dürfen, denn die Liebe zu Sophie wird dem jungen Haindorf, neben allen Entbehrungen, auch Energie und Tatkraft verleihen haben. Die benötigte er auch, als er in den Jahren 1810 bis 1815 sein Studium, seine Publikationen, seine Ortswechsel und die frustrierenden Bemühungen um eine Professur durchzustehen hatte. „Mit der Eroberung der Braut“, heißt es bei Haindorf ungewöhnlich martialisch, ist „dem Jüngling auch die Eroberung der Welt“ gegeben.28

Die dichotomische Geschlechterordnung, die um das Jahr 1800 die heterosexuellen Beziehungen strukturiert, ist praktisch unhinterfragt: Die Frau gilt als empfangend – der Mann als aktiv, sie ist das Gefühl, er der Verstand, sie ist schwach, er ist stark, sie ist Materie, er ist Gott und so weiter. Besonders anschaulich werden die Geschlechtsrollenklischees in Schillers Gedicht von der Glocke, wo die „züchtige Hausfrau“ drinnen waltet, während der Mann hinaus ins feindliche Leben drängt. Auch für Haindorf sollen die Frauen „sanft und engelsgleich“ sein.29 Immerhin favorisiert Haindorf eine weniger strikte Polarität der Geschlechtscharaktere, er ist um Ausgleich bemüht und richtet sich gegen extreme Positionen. Wie seiner Dissertation der Versuch zugrunde liegt, Somatisches mit Seelischem zu verknüpfen, keine Exklusionen zu zementieren, sondern ein Sowohl-Als-Auch zu favorisieren, so verficht er kein grobes Männerbild. Er selbst zeigt sich immer wieder ausgesprochen gefühlvoll, bisweilen schwärmerisch, Diktate wie „ein Mann weint nicht“, wären ihm sicher völlig abwegig und fremd gewesen.

Eifersucht und Sorge

Persönliche Begegnungen der beiden Verlobten sind selten. Sophie sähe ihn gern bei sich in Hamm. Vor den Vorlesungen, die im November beginnen, hat Haindorf aber keine Zeit, also lädt er umgekehrt Sophie mit Frau von Glaubitz im März 1811 ein, ihn in Heidelberg zu besuchen: „Ihr sollt gewiß alle so gut bey mir aufgenommen seyn, als lebtet Ihr im Paradise“, verspricht er.30 Er bekennt, durchaus emotional, dass er unter der Trennung leidet. Sternstunden sind es für Sophie, wenn Haindorf aus seinem Studienort mal wieder in Hamm eintrifft und die Familie Marks besucht. Haindorf nennt Sophies Eltern „die Eltern“, steht also in einem vertrauten Verhältnis zu ihnen. Den „geliebten Haindorf“ tadelt Sophie beispielsweise wegen seines „unnatürlich langen Schweigens“.31Doch ruft sie sich auch selbst zur Disziplin, hat wohl ein kritisches Verhältnis zu ihren Bedürfnissen. Auch wenn jeder Brief von Haindorf ihr „das Leben verschönert“, 32 will sie künftig doch „vernünftiger sein und meiner Phantasie mehr Ruhe gebieten“ räumt sie ihm gegenüber ein. Sophie fühlt sich allein und beneidet „jede meiner Bekanntinnen [sic!], die eine liebende Schwester hat“, mit der sie sich über Liebesdinge austauschen kann. 33 Sophies Sorgen und ihre Trennungsängste werden dem Verlobten bisweilen zu viel, auch deshalb versucht die junge Frau die innere Dramatik zu drosseln, um seine Rüge nicht hören zu müssen: „Ich begreife durchaus nicht, wie Du ewig Dich von ängstigenden Stimmungen quälen läßt. Ich habe Dir ein für alle mal gesagt, daß mein Schicksal auch das Deine ist“. 34

Haindorf seinerseits hatte sich bei Sophie beschwert, dass sie an seinem „erlittenen Verlust“ nicht genügend Anteil genommen hätte, was Sophie wiederum schmerzt – was oder wen er verloren hat, ist unklar. Um aber gleichsam symbolisch den Raum zwischen ihnen zu überbrücken, hat Haindorf in Paris ein Porträt von sich machen lassen und auf die Post gegeben. Nachdem bereits ein erstes Bildnis von ihm auf dem Postweg verloren gegangen war, ist Sophie nun umso ungeduldiger, das Bild ihres Geliebten: „mit banger Sehnsucht erwarte ich es täglich“.35 Kurz darauf kann sie ihm aber bestätigen, dass sie das Bild aus Paris wohlerhalten in Empfang nehmen konnte.36 Ein Jahr später soll ein Ring, den er ihr schickt, die Beziehung stärken.

Schon um das Jahr 1800 hatte die Stadt Paris den Ruf, ein „Fest fürs Leben“ zu bieten. Hier hält sich der junge Arzt im Jahr 1812 und 1813 auf, um die Klinikorganisation der entstehenden Psychiatrie zu studieren.37 Sophie Marks wird durch die Abwesenheit Haindorfs und durch seinen Aufenthalt in Paris aber in Unsicherheiten gestürzt. Sie ist traurig und hat wegen Haindorfs Ferne in Paris „manche düstere Stunde“ zu durchleben. Sie versucht sich damit zu trösten, dass er sie in Zukunft „auch mal durchs Leben“ führen wird.38 Alexander Haindorf hat ihr versichert, dass „nicht Vergnügen noch Sinneslust“ ihn in Paris festhalten. Und sie ist tapfer und erklärt: „was ist schöner, als gegenseitiges volles Vertrauen?“ Es ficht sie nicht an, gibt sie ihm zu verstehen, wenn er in der französischen Hauptstadt Freude erlebt und vergnügt ist. Sophie blickt gleichwohl der näher kommenden Stunde seiner Rückkehr entgegen. Es scheint wohl klar, dass er nicht in Paris bleiben wird? Für seine Rückkehr haben sie den Herbst 1813 ins Auge gefasst. Bis dahin wird sie „überaus glücklich in meiner Phantasie leben“, beruhigt sie ihn. Oder vielleicht sehen sie sich schon im Sommer, so dass sie ihm bis Aachen entgegenfahren kann? Sophie hat Interesse an der französischen Metropole, soweit ihr das aus der Entfernung möglich ist. Sie hat von einem der einquartierten Franzosen erfahren, „daß die schlauen Pariser gewöhnlich den Fremden betrögen“. Sie hofft, dass ihm diese Erfahrung erspart bleiben möge.

Sophie Marks’ Geduld scheint aber auch einmal überstrapaziert gewesen und ein Ende gehabt zu haben. Sie beschwert sich über Haindorfs Abwesenheit, wie aus dessen Antwortschreiben zu schließen ist. Ihr „bittersüßer Brief“ habe ihn sehr betrübt, gesteht Haindorf ein, doch sei es „nun einmal der Männer Loos, […] nicht blos Gefühlen und Empfindungen zu gehorchen, sondern auch der Vernunft ihre Rechte einzuräumen – besonders bey Dingen, die das gemeine Leben betreffen“, entschuldigt Alexander Haindorf sich.39 Inständig erklärt er, dass die Vernunft hier den stärksten Gefühlen entgegenstehe und dass es, er wiederholt es nun, bei allem, was ihm „heilig“ ist, dass er nicht zum Vergnügen in Paris ist. Er habe ganz im Gegenteil sein „Leben frommer, ruhiger, stiller und arbeitsamer gelebt“ als man das vermuten würde. Sie tue ihm Unrecht. Doch für die Entbehrungen an Gemeinsamkeit, die sie ertragen müsse, würden die Götter sie reichlich entlohnen, tröstet er. Diese Hoffnung auf ausgleichende Gerechtigkeit sollte sich als trügerisch erweisen.

Angesichts der Erwartungen der Hammer Familie, dass er bald nach Hamm zurückkehren möge, wendet sich Haindorf brieflich auch an Elias Marks. Haindorfs Herz hängt an Paris und an der Arbeit dort. Im September 1813, als die so genannten Befreiungskriege in vollem Gange sind, fragt er die Eltern Marks, ob er angesichts der unruhigen Zeiten nicht doch besser in Frankreich bliebe und hier den Sturm abwarten sollte.40 Das freilich sehen die Eltern genau umgekehrt: Gerade wegen der unsicheren Zeiten solle er flugs nach Hause kommen.

 

Endlich zusammen: 1815 in Münster

Im Herbst 1814 haben die beiden Verlobten immerhin einmal vier Wochen miteinander verbracht. Sophie sagt, dass es ihr während dieser Zeit „überaus wohl war“, sie ist also nicht durchgängig bedrückt.41 Nur wenige Monate später, im Mai 1815, siedelt Haindorf von Göttingen nach Münster über und ist auch bereit, dort, in der Nähe von Hamm, zu bleiben. Acht Stunden brauchen sie zur Überwindung dieser Entfernung.42

Haindorf hat in Münster u.a. zunächst ein Logis bei der verwitweten Bürgermeistersgattin Vollbier, das er im Sommer 1815 aufgibt. Wann Sophie Marks ihren Verlobten heiratet, ist eigentümlicherweise nicht überliefert. Es fällt auch kein Wort in den Briefen darüber. Zum 10. Oktober 1815, so haben die Brautleute es ins Auge gefasst, wollen sie einen neuen gemeinsamen Hausstand begründen. Mag sein, dass dies auch das Hochzeitsdatum ist. Bis dahin macht sich Alexander Haindorf mit viel Freude daran, die Einrichtung der gemeinsamen Wohnung zu planen. Im Schlafzimmer möchte er ein Himmelbett, die Stube soll mit blauen Tapeten ausgekleidet sein, über die Art der Leuchter diskutieren die beiden in ihren Briefen. Selbst jetzt, da absehbar wird, dass sie ein gemeinsames reales Zusammenleben haben werden, ist Sophie nicht frei von Sorge, ja, sie bangt schaudernd, „daß der Tod uns trennen könnte“.43 Es sei ihr einfach nicht möglich, froh und ungetrübter Stimmung zu sein. Nur wenn er, Alexander, da sei, dann könne sie glücklich sein.

Bald führt Haindorf aber auch eine Praxis als Nervenarzt, die an der zentralen Salzstraße liegt. Wenn er im selben Haus wohnt und praktiziert, dann müsste das im Haus Nr. 45 gewesen sein. Für April 1816 ist Alexander Haindorf in Münsters Ludgeristraße aufgeführt. Wahrscheinlich ist dies die gemeinsame Wohnung von Sophie und Alexander Haindorf. Doch das Miteinander im realen Alltag, auf das die beiden so lange hingelebt hatten, sollte nicht lange währen. Denn: „In der mitternächtlichen Stunde vom 5. auf den 6. und im nämlichen Augenblicke, wo meine innigst geliebte Gattin die lang gehofften Mutterfreuden kurz und süß empfunden hatte, entschlummerte sie sanft zum bessern Leben im Alter von 24 Jahren. Gott sey ihrer Seele gnädig, und schenke meinem Kinde und mir Kraft, unser gerechtes Schicksal ertragen zu können.“ Die Todesanzeige inseriert Haindorf noch am Morgen des 6. September 1816. 44

Ausblick

Das Mädchen, das Sophie Haindorf am 6. September 1816 zur Welt bringt, hat an dem frühen Tod der Mutter auch in mancher Hinsicht zu leiden. Sie schreibt später für ihre Kinder: „Unter Unglück ward ich geboren, denn im Moment, wo mir das Leben gegeben ward, wurde es meiner Mutter genommen, und ein Kind, welches die Mutter nicht gekannt, dem ist das höchste Glück vorbehalten, wenn auch wie bei mir ein liebend Vater durch Alles sucht, die Lücke zu ersetzen.“ 45 Haindorf war durch die Tochter Sophie mit seiner verstorbenen Frau Sophie verbunden, was die Beziehung zwischen Vater und Tochter allerdings sehr belastete. „Mein Vater […] tat unendlich viel für mich, aber war maßlos heftig und alles ging im Sturm, ich ward gegen ihn viel zu verschüchtert.“ Als Sophie 14 Jahre alt ist, muss sie sich von den Großeltern Marks in Hamm, wo sie bis dahin aufgewachsen war, trennen und kommt zum Vater nach Münster. Sie ist oft sich selbst überlassen und findet eine Gelegenheit, einen Jungen kennenzulernen: Jakob Loeb. Fünf Jahre haben die beiden eine heimliche Beziehung, bis Alexander Haindorf das bemerkt und sich geharnischt dagegen wendet. Haindorf verbietet den Kontakt, selbst schreiben dürfen sich die beiden jungen Leute nicht. Dabei, meint Sophie, seien Verbote doch ganz dazu angetan, die „Leidenschaft“ anzustacheln. Dass sich ihr Vater gegen Jakob wende, sei reiner Egoismus gewesen: „er würde auch gegen einen anderen Bewerber gewesen sein, er wollte mich für sich behalten“.46 Eine Wende zum Besseren tritt erst ein, als sich Großvater Elias Marks vermittelnd einschaltet, so dass die beiden schließlich doch heiraten können.

Dr. Maria Perrefort

Orte:

Südstraße 6, 59065 Hamm
Ludgeristraße, 48143 Münster
Grab auf dem jüdischen Friedhof Münster, https://www.juedischer-friedhof-muenster.de/datenbankseite/?jlmid=378

Zitation: Perrefort, Maria, Sophie Marks und ihre Liebe in Briefen, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/sophie-marks/

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Dore Jacobs

Im „Bewusstsein eines sinnvollen Lebens“ – die Essener Sozialistin, Feministin und Gymnastiklehrerin

Debora, genannt Dore, war das älteste von drei Kindern der Frauenrechtlerin Berta Marcus und des Juristen und Kantforschers Ernst Marcus; geboren wurde sie am 27. Juni 1894 in Essen. Schon in der Kindheit und durch fachkundige Anleitung kam sie mit tänzerischer Gymnastik in Berührung, einem Lernfeld, das ihre Berufswahl und ihren Lebensentwurf wie kein anderes bestimmen sollte. Die von ihren Eltern erwünschte höhere Bildung blieb Dore jedoch zunächst versagt. Erst auf Druck des Vereins „Frauenwohl“1 und nachdem der Preußische Landtag 1908 Reformen beschlossen hatte, stimmten die örtlichen Behörden einer zweiten Mädchen-Gymnasialklasse zu.2 Dore durfte nach mehrmonatigem, von Lehrkräften erteilten Privatunterricht das Goethe-Realgymnasium besuchen, und sie bestand 1911, mit 17 Jahren, die Reifeprüfung.3 Zu diesem Zeitpunkt schwebte ihr nach eigener Aussage der Lehrerinnen-Beruf vor. Als sie ein Jahr lang Mathematik und Physik in Heidelberg studiert hatte, wechselte sie 1912 an die Technische Hochschule Dresden. Mehr als die beiden Fächer interessierte sie das Angebot der berühmten Bildungsanstalt des Tanzpädagogen Émile Jaques-Dalcroze4 in der Dresdner Gartenstadt Hellerau. In zwei Jahren erlernte sie die „Rhythmische Gymnastik“ und schloss mit einem Diplom ab. Ihr sei klar geworden, dass „nicht die Studienrätin mein eigentliches Anliegen war […]. Die Rhythmik hatte mich ganz in ihren Bann gezogen.“5 Im Jahr 1914 kehrte Dore nach Essen zurück und heiratete ihren langjährigen Gefährten und früheren Mathematik- und Physiklehrer Artur Jacobs (1880–1968). Ihr Studium, nun an der Universität Bonn, führte sie bis 1915 eher halbherzig fort. Sie konzentrierte sich zunehmend auf Bewegungsbildungskurse für Kinder und junge Frauen.


Engagierte Jugendgruppenleiterin

In Heidelberg, so Dore Jacobs in einem Erinnerungstext, habe sie erstmals über die „Judenfrage“ nachgedacht und sich während der Bonner Monate von Referaten des Religionsphilosophen und Zionisten Martin Buber inspirieren lassen.6 Sie übernahm die Idee einer jüdischen „Heimstatt“ und erwog sogar, nach Palästina auszuwandern. Mit Rücksicht auf ihre Familie – 1918 war Sohn Gottfried geboren worden – blieb sie in Essen und gründete zusammen mit ihrem Bruder Robert (1901–1978) und gemeinsamen Freunden eine lokale Gruppe des zionistischen Wanderbundes „Blau-Weiß“.7 Ihre Initiative war nicht nur politisch begründet, sondern auch angeregt durch „wilde“ Wanderungen in der freien Natur mit Artur Jacobs und ihren Eltern.8 Die erste Zusammenkunft der Jugendlichen hatte im Wohnhaus der Familie Marcus, Schubertstraße 11, stattgefunden. Nach dem Umzug von Dore, Artur und Gottfried in ein geräumiges Haus am Eyhof (1931 umbenannt in Am Dönhof) fand sich die Gruppe regelmäßig in einem der Kellerräume, ihrem sogenannten Heim, zusammen. Dort diskutierte man über Leseerlebnisse, hielt Referate und schmiedete Zukunftspläne. Sonntags trafen sich alle bei Wind und Wetter um halb acht am Hauptbahnhof und unternahmen ganztägige Ausflüge. In den Ferien ging der „Blau-Weiß“ wochenlang „auf Fahrt“: „Meine Gruppe war die einzige, in der Mädchen und Jungen zusammen wanderten. Wir waren unbegrenzt einsatzwillig. Schliefen wir im Hause, so wurden die Kleinen in die Betten gepackt, und die Großen lagen auf dem Boden. Und wenn wir, wie meist, im Wald schliefen, wurden ein Großer und ein Kleiner zusammen in einen Schlafsack gepackt. Wir waren in jeder Hinsicht radikal in unserem Wanderleben.“9

Das selbstbewusste Auftreten der jungen Leute ebenso wie Dore Jacobs´ erzieherischer Einfluss stießen in vielen Elternhäusern auf Kritik. Wenig Gegenliebe fanden zudem die auf den Aufbau eines jüdischen Staates gerichteten praktischen Berufswünsche. Dessen ungeachtet hielten die jungen Zionistinnen und Zionisten an ihren Zielsetzungen fest. Bestätigung erfuhren sie durch Hugo Hahn, seit 1923 zweiter Rabbiner der Jüdischen Gemeinde; er lud sie zu Festveranstaltungen in die Synagoge am Steeler Tor ein, wo sie Lieder in hebräischer Sprache vortrugen.10 Diese Wandergruppe bestand bis 1924. Ein Teil der „Blau-Weiß“-Mitglieder schloss sich nach der Auflösung dem pfadfinderischen „Kadimah“ an, ein anderer fand über Dore Jacobs den Weg zum „Bund. Gemeinschaft für sozialistisches Leben“11, kurz „Bund“ genannt.


Dore Jacobs und der „Bund“

Gleichgesinnte aus der „Freien Gruppe“ der Essener Volkshochschule12, sieben Frauen und zwei Männer zwischen 25 und 45 Jahren, hatten sich im Jahr 1924 zum „Bund“ zusammengeschlossen. Dore und Artur Jacobs bildeten darin den Mittelpunkt. Diese Gründer:innen blieben, soweit sie nicht in der NS-Zeit Deutschland verlassen hatten, noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Krieg der respektierte „innere Kreis“. Mitglieder wurden sorgfältig ausgewählt, d. h. ein Beitritt aus eigenem Entschluss war nicht vorgesehen. Der Kreis suchte diese in Jugendgruppen, bei den „Naturfreunden“, in linken Parteien und Gewerkschaften, in Sportvereinen sowie in der Verwandtschaft.13 Bis zum Verbot 1933 gehörten schätzungsweise 200 Frauen und Männer zum „Bund“, organisiert in mehreren örtlichen Gruppen im Rhein-Ruhr-Gebiet – keineswegs durchweg Akademiker:innen. Sie hatten sich mit ihrem Eintritt bestimmten „Gesetzen“14 untergeordnet, dazu gehörten Entscheidungen über politische und berufliche Wege, die Abkehr von einer Konfession, Alkohol-Abstinenz, Experimente wie die „Bewährungsehe“ und die Kollektiverziehung. Der Zusammenschluss verstand sich als ein (beitragspflichtiger) Orden15, dessen Streben auf eine Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse gerichtet war und der Vorstellungen eines „ethischen Sozialismus“ und einer „ausbeutungsfreien Gesellschaft“ anhing. Dabei war weniger von der Marxschen Lehre als von Kants Philosophie die Rede.16 Mit einem rituellen Gelöbnis ging jede/r Einzelne die Verpflichtung ein, sein Leben fortan ausschließlich und aktiv diesem Zusammenschluss zu widmen.17 Anders als in Vereinen üblich, verzichtete der „Bund“ auf einen Vorstand, Statuten und Mitgliederlisten. Beschlüsse kamen in ständigem Gedankenaustausch zwischen dem „Inneren Kreises“ und den übrigen Mitgliedern zustande. Dore Jacobs beschrieb diesen sehr eigenen Weg der Willensbildung so: „Selbstverständlich nicht durch Befehl und Gehorsam. Aber auch nicht durch Abstimmung. Vielmehr durch klärende Aussprachen, durch gemeinsames Ringen um Erkenntnis, durch Einsicht und Einigung.“18

Der „Bund“ lebte Teile seiner Zukunftsperspektiven ganz unmittelbar, unter anderem indem ein dichtes Lern- und Arbeitsprogramm aufgestellt wurde; dazu gehörten häufige Zusammenkünfte und unzählige selbst verfasste Schriften und Papiere. Zugleich sollte durch Einflüsse insbesondere auf sozialistische Jugendgruppen eine revolutionäre Umgestaltung in Gang gebracht werden. Exemplarisch für den Schwung der Anfangszeit ist ein von Dore und Artur Jacobs initiiertes überparteiliches „Kulturkartell“; es setzte mit Bewegungs-Chören, Lesungen, einem „Arbeiter-Trio“ und anderen Darbietungen auf die Erneuerung proletarischer Ausdrucksformen.19 Ein pädagogisches Projekt war darüber hinaus auch die 1924 politisch erkämpfte Freie Schule in Essen-Rellinghausen.20 „Bund“-Mitglieder unterrichteten dort hauptsächlich Kinder aus Bergarbeiterfamilien. Sie vermittelten Lebenskunde statt des an anderen Volksschulen vorgeschriebenen Religionsunterrichts, und Dore Jacobs´ Gymnastik gehörte ebenso zum Lehrplan wie vielerlei naturverbundene Unternehmungen. In den Jahren hoher Arbeitslosigkeit richteten Lehrkräfte und Mütter eine Schulküche und eine Nähstube ein.21


Die Essener „Bundesschule für Körperbildung und rhythmische Erziehung“

Dore Jacobs entwickelte in vorsichtiger Absetzung von Jaques-Dalcrozes Körperbildung eine eigene Bewegungslehre, die „organische Gymnastik“, die sie seit 1920 systematisch vermittelte und darin ab 1925 hauptberufliche Gymnastiklehrerinnen und -lehrer ausbildete.22 Ihr ging es darum, „Hemmungen fortzuräumen, die der Wiedergabe musikalischer Vorgänge durch Bewegung aus falschem körperlichen Verhalten erwuchsen.“23 Körperliches und Seelisches sollten zusammenfließen. Dabei legte Dore ihr Augenmerk auf die Beziehung zwischen der äußeren Bewegung und der „Innenbewegung“, der Atmung und dem Blutkreislauf.24

1926/27 errichteten „Bund“-Mitglieder in Essen-Stadtwald ein berghüttenähnliches Holzhaus als ständigen Ausbildungsort, an dem nun auch VHS-Kurse für Laien stattfinden konnten und der Wohnungen für Lehrerinnen bot. Das Gebäude, seine bescheiden zweckdienliche Ausstattung und seine Anmutung waren nicht zuletzt Ausdruck der von Dore Jacobs formulierten Ansprüche.25Die „Bundesschule“ lag nur einen Fußweg entfernt vom Wohnhaus Am Dönhof 18, in dem Dore, Artur und Gottfried mit Vertrauten aus dem „Bund“ kurzzeitig oder auch über Jahre zusammenwohnten.26 Nachdem die staatliche Anerkennung des Ausbildungsgangs für künftige Gymnastiklehrer:innen erteilt und das Blockhaus bezogen worden war, begann für die Beteiligten eine neue Schaffensphase. Dore bezeichnete diese verschiedentlich als eine besonders fruchtbare: „Wir waren glücklich, am Stadtrand nahe beim Wald zu sein und bei gutem Wetter auf der Schillerwiese unseren praktischen Unterricht und im eigenen Garten die Theoriestunden geben zu können.“27

Sie registrierte eine vermehrte Breitenwirkung ihrer Gymnastik sowohl durch die Kurse im Haus als auch durch ein Netz von mehr als zwanzig in der Region wirkenden Absolventinnen und Absolventen. Der Erfolg erlaubte es, erwerbslose Männer und Frauen kostenlos aus- und fortzubilden.


„Fragwürdigkeit des heutigen Frauendaseins“

„Bund“-Mitglieder standen den Zielen der bürgerlichen Frauenbewegung nahe, dem Streben nach umfassender Bildung und nach wirtschaftlicher Autonomie durch Berufstätigkeit. Ihre politischen Ziele adressierten sie gleichwohl in erster Linie an Frauen und Jugendliche aus dem Proletariat, geleitet vom Gedanken eines größeren emanzipatorischen Bildungszusammenhangs.28 In den VHS-Kursen von Dore Jacobs und anderen hatten „Frauen-Themen“ einen festen Platz, wiederkehrend beispielsweise „Die Lage der Frau in der heutigen Gesellschaft“ oder „Eheprobleme“. Für Vorträge und Arbeitsgemeinschaften zur Sexualerziehung und zur „Mädchenfrage“ warben sie in der Sozialistischen Arbeiterjugendbewegung; in dieser nahmen sie nämlich noch „Weibchenhaftigkeit“ und festgelegte Rollen wahr.29 Im „Bund“ dagegen waren Gleichheitsverhältnisse im Großen und Ganzen Realität geworden: Bezahlte pädagogische Kräfte übernahmen die Kindererziehung, und in den Wohngemeinschaften verrichteten Männer und Frauen die Alltagstätigkeiten zu gleichen Teilen.30 Grundsätze „moderner Haushaltsführung“ kamen in Bildungsveranstaltungen immer wieder zur Sprache, auch in den Mütterkreisen an der Freien Schule Rellinghausen. Die herkömmliche Arbeitsteilung sollte durch öffentliche Ernährung, Großhaushalte u.a. überwunden werden: „Die Forderung der berufstätigen Frau zieht unausweichlich grundsätzliche Folgen, tiefgreifende Umwandlung in Bezug auf Haushalt, Familie, Kindererziehung usw. nach sich. Hier gilt es: Nicht vor den Konsequenzen erschrecken! Nicht auf halbem Wege stehenbleiben!“31

Dore Jacobs vertrat schon während der Weimarer Republik eindeutig feministische Positionen, und erstaunlicherweise hing sie der noch kaum verbreiteten Auffassung vom Erwerben weiblicher und männlicher Eigenschaften an, dem Gendering, wie heute gesagt wird. Die „Bund“-Frauen insgesamt lehnten naturhafte Vorstellungen über jungen- und mädchenhaftes Aussehen und Verhalten entschieden ab; sie sahen in Erziehung und Sozialisation die maßgeblichen Faktoren. Das hieß: „Grundsätzlicher Verzicht auf jedes Streben nach männlicher oder weiblicher Eigenart – nicht aus Gleichmacherei, sondern gerade um der wahren Eigenart der Geschlechter willen, die sich nur in der Lebensluft völliger Gleichheit ungehemmt entfalten kann.“32 Wie weiblich oder männlich menschliche Wesen seien, sollte sich demnach im Verlauf des Aufwachsens herausstellen.


Unterrichtsverbot – illegale Arbeit – ein Hilfswerk

Der „Bund“, seit 1931 „Internationaler Sozialistischer Orden“ genannt, wurde, nachdem die SA das Blockhaus gewaltförmig inspiziert hatte, im September 1933 verboten. Auch hatten die NS-Machthaber Mitglieder vorgeladen, einige vorübergehend in „Schutzhaft“ genommen. „Bund“-Mitglieder, so behaupteten sie, leisteten „marxistischen Bestrebungen Vorschub“.33 Artur Jacobs hielt sich aus Furcht vor einer Verhaftung monatelang bei Verwandten in Wuppertal auf, auch andere verließen das Ruhrgebiet. Die VHS-Arbeit der „Freien Gruppe“ war seit dem Sommer untersagt, und die „Bundesschule“ musste ihre Arbeit Mitte 1934 einstellen. Einen Teil der Räume konnte Dore bis zum Ende der Naziherrschaft an die katholische Pfarrgemeine St. Lambertus vermieten. Geringe Einnahmen erzielte sie außerdem durch Privatunterricht, der sich zuletzt auf wenige jüdische Schülerinnen beschränkte. Ihr faktisches Arbeitsverbot gefährdete die Existenz der Familie, zumal Artur Jacobs aufgrund seiner politischen Überzeugungen Pensionsansprüche verloren hatte.34 Gottfried, mittlerweile 16 Jahre alt, verbrachte angesichts dieser Entwicklung mehrere Wochen in Hamburg bei seiner Tante Eva, Dores Schwester, bevor ihn nach Diskriminierungserfahrungen an Schulen im Harz und in Essen Verwandte in den Niederlanden aufnahmen.35

Nach dem Krieg schrieb Dore über den in vielerlei Hinsicht tiefen Einschnitt: „Im Äußeren war das ein schwerer Rückschlag. Unsere Arbeit hatte eben damals einen Höhepunkt erreicht, der es erlaubt hätte, die Schule nun auch nach der wirtschaftlichen Seite auszubauen. Alles das war abgeschnitten. Umso intensiver arbeiteten wir nach innen, im kleinen Kreise befreundeter Kollegen.“36
Der „Bund“ bemühte sich in jenen Jahren um Unauffälligkeit. Jede/r erwartete (zu Recht) Hausdurchsuchungen, Postkontrollen, Verhaftungen und Verhöre und hatte sich genauestens auf solche Situationen vorbereitet. Schriften, Papiere und Protokolle mussten vorsorglich versteckt werden. „In Rollenspielen übten Mitglieder, wie sie in bestimmten Fällen – zum Beispiel bei einem Verhör – reagieren würden, und wurden anschließend von anderen Gruppenmitgliedern kritisiert. Die für richtig befundenen Antworten wurden schließlich so oft wiederholt, bis alle sie im Schlaf aufsagen konnten.37 Gefahr drohte, wenn Nachbarn im Stadtwald der Gestapo „verdächtiges Verhalten“ meldeten, das meinte: häufiges Kommen und Gehen unkonventionell gekleideter Besucher:innen.38 Dem „Bund“ gelang es, einen wenngleich reduzierten Zusammenhalt zu bewahren. Politische Versammlungen fanden in „Bundhäusern“ statt, aber auch im Sauerland oder an der See, wo man Formen der Widerständigkeit beriet und verabredete. Das Wandern und die tänzerische Gymnastik gaben den Treffen einen harmlosen Anstrich. Auch dass Opposition und Widerstand in der NS-Gedankenwelt vornehmlich als männliche Verhaltensmuster galten, kam dem „Bund“ mit seinem hohen Frauenanteil zugute.39

Bereits vor der Machtübertragung an Hitler hatten die „Bund“-Genoss:innen Gefahren für Jüdinnen und Juden erkannt und Schutzmaßnahmen überlegt. Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 machte eine unmittelbare Bedrohung sichtbar, und der Vernichtungswille des Regimes zeichnete sich nach dem Überfall auf Polen und zwei Jahre später mit den ersten Deportationen aus dem Reichsgebiet unzweifelhaft ab. Als jüdischer Teil einer „Mischehe“ war Dore noch geschützt. Sie erlebte aber, wie von Entrechtung und Enteignung betroffene Freundinnen und Freunde Deutschland zu verlassen suchten oder, wenn dies misslang, in die Verfolgungs- und Mordmaschinerie der Nazi gerieten, darunter auch ehemalige Mitglieder ihrer „Blau-Weiß“-Gruppe.40 Sie und etliche „Bund“-Mitglieder hielten Kontakt zur jüdischen Gemeinschaft, halfen ganz praktisch bei der Flucht aus Deutschland. Auch schickten sie eine große Zahl von Briefen und Paketen an in Ghettos und Lager Verschleppte, u. a. nach Theresienstadt und Auschwitz. Durch Hilfsbereitschaft und Einfallsreichtum konnten außer Lisa Jacob, Marianne Ellenbogen und Dore Jacobs fünf weitere jüdische Menschen gerettet werden, meist mit falschen Papieren oder „untergetaucht“ bei „Bund“-Mitgliedern an wechselnden Orten (auch im Blockhaus in der Leveringstraße). In Nachkriegsberichten und sogenannten Auslandsbriefen bezeichneten sie ihr unglaublich stabiles Netz von couragierten Unterstützer:innen als „Judenhilfswerk“.41

Dore Jacobs floh im Frühjahr 1944 mit Artur von Wuppertal, wohin das Paar umgezogen war, nach Meersburg am Bodensee. Dore hielt sich bis zum Kriegsende in einer von „Bund“-Freundinnen betriebenen Pension auf, teils verborgen, teils unter falschem Namen gemeldet, zuletzt getarnt als „ausgebombte Arierin“. Sie entging so der im Herbst 1944 im Rheinland angeordneten Einweisung jüdischer „Mischehe“-Partner:innen in Arbeits- und Konzentrationslager.42 Ob Dore und Artur die Stadt aufgrund von Gerüchten oder Hinweisen rechtzeitig verließen, ist in Befragungen nach dem Krieg offengeblieben.43 Im Rückblick schrieb Dore über dieses nicht nur von Ängsten bestimmte Warten auf das Kriegsende: „Das trotz aller kleinen Nöte und großen Schicksale von Wesentlichem erfüllte und auf Übergeordnetes gerichtete Zusammenleben im letzten Kriegsjahr gab allen, die es miterlebten, ein Gefühl tiefer Verbundenheit und Zuversicht. Alles war Vorbereitung auf einen neuen Anfang, auf den wir hoffnungsvoll hinlebten.“44


Neubeginn mit Enttäuschungen

Im Herbst 1945 baute Dore Jacobs ihre Körperbildungsarbeit in Wuppertal auf, bevor sie ab 1947 wieder im Essener Blockhaus unterrichtete. Dore und ihre Mitstreiter:innen knüpften erneut (nicht immer ganz reibungslose) Verbindungen zu Volkshochschulen in der Region.45 Ihre Bildungsambitionen suchten sie nun unter dem Namen „Der Bund – Volkshochschulkreis e.V.“ zu verwirklichen.46 Es war geradezu selbstverständlich, dass sogleich Kurse für Hörerinnen stattfanden wie „Not und Aufgabe der Frau nach 12 Jahren Hitler-Zeit“ 1946 in der VHS Wuppertal, „Die Aufgabe der Frau im neuen Deutschland“ 1948 in Langenberg oder „Organische Gymnastik und Bewegungsschulung für Frauen“ 1948/49 in Mülheim.

Dore Jacobs´ ganzheitlich verstandene, vielen noch aus der Vorkriegszeit bekannte Gymnastik fand Zuspruch bei Erwachsenen wie in der jüngeren Generation, bei Laien und zukünftigen Gymnastiklehrer:innen. Die über 50-jährige, gesundheitlich geschwächte Dore blieb Lehrerin an der Schule, übergab die Leitung aber bald an ihre ehemalige Schülerin und Freundin Lisa Jacob (1899–1989).47 Die „Bund“-Zielsetzungen traten seither in den Hintergrund, was auch mit der staatlichen Anerkennung als private Berufsfachschule und der Notwendigkeit (partei)politischer Zurückhaltung zu tun hatte.48 Die Nachfrage stieg und erlaubte es, Schülerinnen und Schüler auszuwählen. Im Lehrplan der dreijährigen Ausbildung fanden sich nun deutlicher als zuvor Fächer wie Gesundheitsbildung, Pädagogik und Staatsbürgerkunde, und das Berufsfeld schloss nach und nach soziale Bereiche ein. Lisa Jacob leitete die Schule bis 1970; ihr folgte Karin Gerhard, die von Dore Jacobs und Lisa Jacob unterrichtet worden war.49

Nach 1945 hielt Dore Jacobs, wie alle im „Bund“, an Sozialismusvorstellungen fest, ebenso an forcierter Gleichstellungspolitik. Hinzu kam die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, welche Unterstützungs- und Wiedergutmachungsprojekte im In- und Ausland einschloss. Auch nahm der Verein Gesprächskontakte auf zur SPD, zu den Jusos, zur FDP, der Arbeiterwohlfahrt, den Quäkern sowie anderen ihm nahestehende Organisationen. Aber der erwartete Aufbruch blieb aus. Das lag zum einen an einer geringeren Mitgliederzahl – einige nach 1933 Geflüchtete waren nicht zurückgekehrt –, zum anderen an internen Debatten über Form und Inhalt der zukünftigen Arbeit. Trotz vieler Bemühungen, an denen Dore Jacobs aktiv beteiligt war, nicht nur mit einem fast 100-seitigen „Aufruf an die Jugend“, blieb die Resonanz verhalten – bis auf Gottfried, ihren Sohn, hielten auch die „Bund“-Kinder Distanz. Die Nachgeborenen scheuten, wie zu hören war, das Einhalten strenger Gebote.50 Auch ältere Mitglieder wollten ihr Leben nun nicht mehr völlig von „Bund“-Gesetzen bestimmen lassen. „Es stellte sich schließlich heraus, dass die Jahre unter dem NS-Regime nicht, wie gehofft, das Vorspiel einer Führungsrolle gewesen war, die man in einer Nachkriegsgesellschaft anstrebte, sondern seine Schicksalsstunde.“51 Der „Bund“ existierte dennoch bis in die 1990er Jahre hinein in Essen und an anderen Orten. Die nun mehrheitlich aus Älteren bestehende Gemeinschaft veranstaltete unbeirrt Tagungen, knüpfte und pflegte Verbindungen, spendete für politische und soziale Institutionen.

Ein Mensch mit Prinzipien

Dore Jacobs verstarb am 5. März 1979 in Essen. Ihr Nachlass enthält Erinnerungstexte, in denen sie auf ein gelungenes und „sinnvolles“ Leben zurückblickt.52 Ohne Zweifel war sie, stets begleitet von ihren Freundinnen und Freunden, Vorreiterin selbstbestimmter Lebensformen. Schon im Jugendalter registrierte sie die Benachteiligung von Frauen und trat vehement für Gleichberechtigung, Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten ein. Sie hatte, wie alle im „Bund“, ein weltbürgerliches Politikverständnis, hielt Verbindungen beispielsweise nach Belgien, Palästina/Israel, Südafrika, in die USA, dort auch zur schwarzen Bürgerrechtsbewegung, zur Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit. Die nach dem Krieg verfassten „Auslandsbriefe“ zeugen von diesen grenzüberschreitenden Kontakten. Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus bekämpfte Dore, solange ihr dies möglich war. Es gelang ihr, nachhaltige Strukturen zu schaffen: in mehreren Volkshochschulen, in der Jugendarbeit und vor allem an der Gymnastikschule, die lange nach ihrem Tod zu einem Essener Berufskolleg mit Körperbildungsschwerpunkt werden sollte und – ganz ihrer Denkrichtung entsprechend – Mädchen und Jungen aus allen Schichten Schulabschlüsse bis hin zur Hochschulreife ermöglicht.

In das Bild dieser schöpferischen Frau gehört auch ein aus heutiger Sicht irritierendes Elitekonzept, ein Denken in „organischen Rangordnungen“. Dore Jacobs schwebte einerseits eine klassenlose Gesellschaft vor, andererseits schrieb sie dem von strikten Regeln und hohen Ansprüchen getragenen „Bund“ eine Avantgardefunktion gegenüber den erwähnten Zielgruppen zu. Diese sollten nichts weniger als den Vorkämpfern reflektiert und bewusst nacheifern. Auch intern hat sie eine „klare Hierarchie“ (Mark Roseman) mitgetragen. Ausdruck fand diese in jenem „inneren Kreis“, bestehend aus den Gründer:innen und zentriert um Artur Jacobs. Dessen Autorität stellte, soweit bekannt, niemand infrage; er blieb bis in die 1960er Jahre hinein tonangebend in der Auseinandersetzung mit Gegenwartsfragen und in der Vorbereitung politischer wie lebensweltlicher Entscheidungen, die in allen Gruppen jeweils ausführlich diskutiert, nicht aber zur Abstimmung gebracht wurden. In diesem Sinn lehnte Dore das in anderen (linken) Zusammenschlüssen herrschende Prinzip der Mehrheitsentscheidung als „demokratische Gleichmacherei“53 ab. Widersprüchlichkeiten wie diese stellen ihr leidenschaftliches Engagement beim „Bau einer besseren Welt“, das bis in die Gegenwart ausstrahlt, schließlich nicht in Frage.


Erinnern, Lernen, Spurensuche

Dore Jacobs sei in ihrer Heimatstadt kaum bekannt, schrieb Mark Roseman vor zwei Jahrzehnten.54 Das sollte sich inzwischen geändert haben, denn neben anderen Autorinnen und Autoren stiftete er selbst mit imponierenden Veröffentlichungen Aufmerksamkeit für die „Bund“-Geschichte.55 Auch hat die Essener VHS bei verschiedenen Anlässen an die Kursleiter:innen aus dem „Bund“ erinnert und sie gewürdigt.56 Als wichtiger Multiplikator kann in diesem Zusammenhang das Dore-Jacobs-Berufskolleg gelten. Wer die Namensgeberin war und dass die Ausbildung mit den Schwerpunkten „Bewegung, Sport, Gesundheit“ auf Dores Pädagogik zurückgeht, erfahren die Schülerinnen und Schüler im Rahmen von Projektwochen oder Lerneinheiten. Eine Vielzahl von ihnen wird vermutlich nach einem berufsqualifizierenden Abschluss in entsprechenden Tätigkeitsbereichen etwas von dem erworbenen Wissen weitergeben. Für tiefergehende Einblicke in Dore Jacobs Lebenszusammenhang liegen Bücher und Aufsätze vor, vielfach von ihr selbst verfasst. Die Hinterlassenschaften umfassen ebenso Briefe, Broschüren und autobiographische Texte. Einen großen Schatz davon verwahrt die Alte Synagoge/Haus jüdischer Kultur in Essen. Archivalien finden sich darüber hinaus im Stadtarchiv/Haus der Essener Geschichte sowie im Dore-Jacobs-Haus in der Leveringstraße 30, das zu einem auratischen Erinnerungsort geworden ist.57 Auch Dore Jacobs´ langjährige Wohngemeinschaft mit Ehemann Artur, Sohn Gottfried und „Bund“-Mitgliedern wird im unzerstörten Gebäude Am Dönhof 18 vorstellbar. Und obwohl das ansehnliche, 1905 erbaute Haus in der Schubertstraße 11 nach dem Zweiten Weltkrieg durch einen schlichten Neubau ersetzt wurde: ein Spaziergang im Moltke- und Südviertel veranschaulicht, in welchem Umfeld die Geschwister Marcus aufwuchsen, auch die Nachbarschaft zur befreundeten Familie Levy in der Moltkestraße 28. Dore Jacobs´ letzte Ruhestätte auf dem Essener Südwestfriedhof allerdings existiert seit einigen Jahren nicht mehr.

Dr. Heidi Behrens

Zitation: Behrens, Heidi, Dore Jacobs, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/dore-jacobs-1894-1979/

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Alleinerziehende türkische sog. Gastarbeiterin

Erzähl‘ es ihnen1

„Söyle onlara. Onca muayneden geçtik, sağlıklıydık geldiğimizde hepimiz. Çoğu ölüp gitti. Baban da ölüp gitti. Bruckhausen ya da Meiderich, bugünkü şehir parkının etrafında bulunmuş olan yaşam alanları. Aslında yaşam alanları değillerdi. Bruckhausen, Meiderich, taşıyıcıları ve tekerlekleriyle kanlı canlı insanlardan mürekkep fabrikalardı. Bugünse fabrika borularının yerini minareler, camiler, artık kimseye yurt olmayan yurtlar ve kültür yerine hayatta kalma mücadelesi veren kültür merkezleri almış. İçerisi bembeyaz, dışarısı ise isten, zulümden kapkara. Sen sevgi dolu ailenin kanatları altında, bir kervana aitsin. Sana hep sahip çıkmış olan bir kervan bu. Biz diyerek. Aidiyeti eleme tehdidiyle koruyan bir sevgiyle. Şimdi biliyorum bunun böyle olduğunu. Gettolarda buna verilen ismi de. Biz mahalle derdik. Ve mahalle sevgi ve gurur ile ilgiliydi. Aidiyetle, isle. Her bir grup için böyleydi bu – öyle çoktu ki bu gruplardan, gerçekte hepsi birbirinin aynı olan.  Bu yüzden tüm Duisburg mahalle.“       

Erzähl´es ihnen: All die Untersuchungen mussten wir machen.  Beweisen, dass wir gesund waren, als wir hier ankamen. Die meisten sind gestorben. Auch dein Vater. Duisburg, Bruckhausen, Meiderich, Hochfeld waren keine Stadtteile, sondern Maschinen mit menschlichen Rädern und Trägerinnen aus Fleisch und Blut. Heute stehen dort nicht Fabrikrohre, sondern Kulturorte, in denen – sie sagen: Kultur drin ist. Jetzt stehen wir draußen.  In den Ghettos, wie sie hießen, wir nannten es Mahalle. Und es hatte mit Liebe zu tun. Mit Zugehörigkeit. Für jede Gruppe, denn es gab so viele von denen, die alle gleich waren im Grunde. Deshalb bleibt ganz Duisburg unsere Mahalle.

Von Ankara nach Deutschland

Ich bin in Ankara aufgewachsen. Meine Eltern habe ich mit 12 Jahren verloren. Meine vier älteren Geschwistern, besonders mein älterer Bruder haben die Geschäfte meines Vaters übernommen. Wir haben einen kleinen Einzelhandel geführt mit Lebensmitteln und Stoffen. Ich habe mich sofort in euren Vater verliebt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Wir haben geheiratet und sind kurz darauf nach Istanbul gezogen. 1970 standen wir am Haydarpaşa Bahnhof und haben ihn verabschiedet.

 Liegt im Anfang der Reise der Kern eurer Wut? Ist es die Reise? Der Anfang? Lag es an uns? Ist es meine Arbeit? Sein Tod? Den ersten Moment seiner Reise, den vergesse ich nie. Ihr anscheinend auch nicht. Obwohl Du ihn nur aus Erzählungen kennst. Ich stand mit Deinen Geschwistern am Bahnhof. Zwei waren dabei. Er war 6 als wir am Bahnsteig standen. ‚Weißt du noch, der Unfall…?‘, hatte Dein Bruder gesagt und es Dir erzählt, als Du sechs warst. Der Zug, in den Dein Vater gestiegen ist, hatte einen technischen Defekt und deswegen war ein junger Mann auf das Dach des Wagons gestiegen und dort muss er ein Kabel angefasst haben. Er ist vor unseren Augen verbrannt. Der Zug hatte stundenlang Verspätung. Das war der Zug nach Almanya in den er gestiegen ist, mein Mann.

Die Sorgen um alles, um den Tag, um den Abend, um das Morgen und das Gestern.

Dass ich euch meine Gefühle und meine Gedanken, Vorstellungen und Bedürfnisse nicht schon früher mitteilen konnte, tut mir wirklich leid. Die Sorgen um alles, um den Tag, um den Abend, um das Morgen und das Gestern. Unsere Integration, die ehemaligen Gastarbeiterinnen mit Migrationshintergrund, das Provokationslevel des systematisierten Teilhabedefizits, Denkmäler solltet ihr bekommen habt ihr gesagt. Ich verstehe das heute.

Mir bleibt keine andere Wahl, als zu verdrängen. Ich müsste viel zu viel erklären, die Türkei, Kohl, den Hass, die Baseballschläger hier, das Militär dort und auf meine kompromisslose Erziehung eingehend, um Verzeihung bitten oder, um Nachsicht zu bekommen, eine Welt der Erinnerungen aufbauen, in der das logisch erscheint, was wir gemeinsam erlebt haben.

Ich möchte noch sagen, dass ich eure Wut immer erkannt habe, ihr aber keinen Platz geben wollte. Aus dem ganz einfachen Grund, weil ich auch meiner Wut keinen Platz geben konnte, während ich jede einzelne DMARK umdrehen, festhalten berechnen und zurücklegen musste, damit ihr hier leben könnt. In Freiheit und Sicherheit. Der Ausländerbehörde habe ich gesagt: ‚Mein Mann arbeitete als Schweißer, Möbelbauer hatte er in der Türkei gelernt. Er wollte hier  in der Nachbarstadt eine Werkstatt aufbauen. Er führte Tagebuch und organsierte und schrieb für türkische Zeitungen. Sieben Jahre nach seiner Einreise gab es einen Betriebsunfall. Er und alle unsere Leute, sie trugen keinen Atemschutz – lediglich Stiefel, die sie selbst bezahlen bzw. mieten  mussten – so wie unsere Mülltonnen in der Arbeiterwohnung. Wenige Monate nach dem Unfall in der Schweißerei stirbt er an Krebs. Die Kinder gehen hier zu Schule. Ich muss arbeiten.  Ich musste ihm am Sterbebett das Versprechen geben, in Deutschland zu bleiben.‘  Es hat nichts gebracht. Ich habe umsonst erzählt. Erzählt ihr es ihnen.

Strategien des Überlebens

Die Aufenthaltserlaubnis, immer nur befristet. Immer diese Angst und Sorge im Nacken, im Schweiß. Das ich das nur bewerkstelligen konnte, weil ihr bis zur Einschulung in der Türkei wart, war es ein Fehler? Heute tut es mir leid. Keine Arbeit, keine Arbeitserlaubnis, keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, keine Unterstützung. Und so weiter. 

Du sollst wissen, dass es auch mich verletzt hat, schon vor Euch: ohne Euch zu sein, damit ihr hier sein könnt. Ich dachte, du würdest es heraushören, in den  leisen Stunden, wenn ich nachts das schneeweiße und nach Lavendel und Olivenölseife riechende Baumwolltuch um den Kopf gewickelt habe, locker doch? Leichtigkeit und Schutz lagen darin im Flüstern der Suren, im bedachten Umwälzen der schweren Seiten, die wie hauchdünne Holzschnitte kurz in der Handfläche liegen, bevor sie sich auf der nächsten Seite wiederfinden. Wie ich mit dem Finger den arabischen Buchstanden folgend immer für Euch gebetet habe. Immer auch deinen Vater informiert habe, mit ihm nachgedacht, gegrübelt, verzweifelt geweint, um mich dann wieder mit Dir beruhigen zu können.

Kulturelle Traditionen

Obwohl Du das Kopftuch geliebt hast, Du Dich in ilahis verliebt hast, sie Dir innere Ruhe – sei es auch kurz – geben konnten. Erst wolltest Du – Du warst 15 – mit dem hijab in die Schule. Ich habe es Dir verboten, so wie ich Dir verboten habe zu demonstrieren. Du hast es geliebt, tığ işi und beten. Du fandest Ruhe darin und dann… das Kommando Rolle rückwärts. Deine Distanz und Deine Wut erbitten sich Ähnlichkeit mit denjenigen, die Dich dazu veranlassen so wütend zu sein. Wie klärt man so etwas auf?

 Alle wichtigen Traditionen der Zusammenkunft waren dir dann, ab einem gewissen Alter zuwider. Wie genau kann ich den Zeitpunkt festmachen? War es dieses WIR? Ich suche noch. Ist es Deine sture Entscheidung, nicht über DEINE Herkunft zu reden? Du willst nicht dem Integrationsmarkt dienen –  das sei alles Deine Sache. Ist damit eine Distanz oder eine Nähe zu mir verbunden?“

Unerzählte Geschichten

Frauen, mit denen ich gesprochen habe, alleinerziehende Frauen, die in den 1970er Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind, keine von ihnen hat je die Öffentlichkeit gesucht. Sie haben inspiriert und gestärkt, im Schatten von Demonstrationen für ihr Recht gekämpft, indem sie ihre Kinder mit zur Arbeit brachten und sich von ihnen helfen ließen. Frauen, mit denen ich gesprochen habe, sind Witwen und aus diesem Grund alleinerziehend in Deutschland. Ihre Männer sind an den Folgen ausbeuterischer Arbeitsbedingungen verstorben. Es ist eine unerzählte Geschichte, die in den 1940er Jahren in Anatolien beginnt. Diese Frauen gehen auf Handwerksschulen oder in die Dorfinstitute in Ankara und Umgebung. Sie heiraten mit Anfang zwanzig. Sie bekommen Kinder und ziehen nach Istanbul. Von Istanbul aus bewerben sich die Männer als Arbeiter und steigen 1970 am Haydarpasa Bahnhof in die Züge Richtung Deutschland. Die Familien kommen innerhalb der nächsten 3 Jahre nach, was offiziell als Familiennachzug beschrieben wird, bis zum Anwerbestopp im November 1970.

Die Bundesanstalt für Arbeit richtete ab den 1960er Jahren eine Zentralkartei für nichtdeutsche Arbeitnehmer ein, in der diejenigen ausländischen Arbeitnehmer:innen geführt werden, die arbeitsrechtlich auffallen. Mittlerweile sind Belegschaften mit bis zu 90 Prozent Ausländeranteil entstanden. Arbeitsrechtlich auffällig sind all jene, die sich gegen die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen oder gerechtere Urlaubsverteilung äußern.

Die Lebenssituation alleinstehender Elternteile war stark davon geprägt, ob sie selbst erwerbstätig waren oder nur die Ehepartner und ob sie noch vor dem Tod der Ehepartner eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis hatten oder nicht. Denn nach dem Tod des erbwerbstätigen Partners gab es kaum Möglichkeiten, eine Arbeitserlaubnis und eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Die Toten wurden zurückgeführt. Es gab keine muslimischen Friedhöfe. Und die Sorge vor Grabschändung war und bleibt groß. Vor allem Mütter standen nach dem Tod ihrer Ehepartner alternativlos vor dem Problem, als Hausfrauen keine Kinderbetreuung zu erhalten und – im Gegenteil zu deutschen Frauen – keine Sozialhilfe beantragen zu können. Sie schickten ihre Kinder bis zum dritten oder siebten Lebensjahr zu Verwandten in die Türkei. Sie putzen in den Finanzämtern, Banken, Kulturinstitutionen den Dreck der Industrialisierung und des Aufschwungs weg. Zur Einschulung kamen die Kinder aus der Türkei zurück. Durch die Schulpflicht der Kinder wurde die Aufenthaltsgenehmigung – stets befristet –  verlängert.

Von Anfang an bestand der Bleibewunsch bei unseren Müttern und Vätern, auch wenn es die Ausländer- und Wirtschaftspolitik in den 1970er Jahren gänzlich anders sah:  Sie sind gekommen um zu bleiben.

Zur Geschichte der alleinerziehenden sog. Gastarbeiterin

Die Geschichte der alleinerziehenden sog. Gastarbeiterin aus der Türkei ist oftmals eine andere Geschichte, als die der maximalen Ausbeutung der „klassischen“ sog. Gastarbeiter der großen Firmen. Die Geschichte der alleinerziehenden sog. Gastarbeiterin aus der Türkei ist eine Geschichte von Arbeits- und Lebens-UN-bedingungen, der illegalen Arbeit, derjenigen Arbeit, die ohne Anstellung, ohne Sozialversicherung „unterm Radar“ erledigt wurde und deren Arbeiterinnen – und ihre Kinder – keine Rechte hatten. Es ist die Geschichte der Drecksarbeit und des Mangels an allem, was mit kapitalistischen Werten messbar wäre. Und folglich ist es auch eine Geschichte eines bedingungslosen optimistischen Überlebenskampfes in einem zutiefst patriarchalen Umfeld.

Halbes Brot

Kaum jemand hat sich der Geschichte von alleinerziehenden sog. Gastarbeiterinnen aus der Türkei und des Gedenkens an die Toten so angenommen wie der Schriftsteller Fakir Bayurt (1929-1999). Er ist aus unterschiedlichen Gründen zu nennen, wenn es um die Geschichte von alleinerziehenden sog. Gastarbeiterinnen aus der Türkei geht. Der Roman Yarım Ekmek (Halbes Brot) ist der letzte Band seiner Duisburg Trilogie. Er versammelt darin das absolutes Thema des Gedenkens und der Erinnerungskultur. Baykurt setzt mit diesem letzten Band der Trilogie ein Zeichen: Er schreibt nicht mehr ausdrücklich positiv über die Solidarität der Arbeiter:innen untereinander. Und es geht ihm detailliert darum, wie das geht: das Ankommen. Die Protagonistin des Romans, Kezik Acar, bringt die Überreste ihres in der Türkei begrabenen Mannes nach Deutschland zur Familie des Verstorbenen.

Baykurts Familiennachzug beschreibt genau das Gegenteil der deutschen Politik des Familiennachzugs, indem die Überreste eines Angehörigen aus der Türkei zu seiner Familie nach Deutschland geholt werden und zwar auch, um in Deutschland mit Ritualen an gesamtgesellschaftlichen Orten das Gedenken ausleben zu können.

Wichtig ist dabei – wie in allen Geschichten von Gruppen, deren Geschichte in der offiziellen Geschichtsschreibung bis zum Moment der Bearbeitung in der breiten Öffentlichkeit nicht präsent ist – dass jede noch so kleine Erzählung von Bedeutung ist. Dies gilt besonders, wenn dabei für unsichtbar erklärte Lebensmodelle erzählt werden, wie die der Witwen, der Alleinerziehenden.

Dr. Nesrin Tanç

Zitation: Tanç, Nesrin, Alleinerziehende türkische sog. Gastarbeiterin, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/alleinerziehende-tuerkische-sog-gastarbeiterin/

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Saadet Ikesus Altan

Die Opernsängerin Saadet Ikesus Altan verbrachte die Jahre 1935–1941 beinahe durchgängig in Deutschland. In ihrer Prominenz und Wirkung gilt sie als Schlüsselfigur in der Geschichte der türkischen Oper. Sie wirkte in der Spielzeit 1940/41 als Altistin an der Duisburger Oper. In dieser Funktion ist die Prägung Ikesus’ durch ihren Aufenthalt in Deutschland und ihr künstlerisches Engagement in Duisburg einer näheren Betrachtung wert.1 Ihre Biografie steht außerhalb der Arbeitsmigration, wie sie für die Geschichte des Ruhrgebiets zentral ist. Sie verweist auf das städtische Musik- und Kulturleben Duisburgs in den Kriegsjahren. Sie wird hier als konstitutives Merkmal und bewegendes Moment transkultureller historischer Prozesse gesehen: Ikesus’ Lebensgeschichte und ihr Engagement in Duisburg stehen im Kontext des Geflechts der beiden Bündnisstaaten Türkei und Kriegsdeutschland.

Kulturtransfer für die neue Republik Türkei

Fatma Saadet Ikesus wird am 3. März 1916 in Konstantinopel geboren und steht stellvertretend für eine Generation von Intellektuellen und Künstler:innen aus der Türkei, die in den 1920er und 1930er Jahren in Berlin, dem Hotspot der „Goldenen Zwanziger“ leben und studieren.  Ikesus steht ebenso für die neu gegründete Republik Türkei, die sich am europäisch-humanistischen Weltbild (samt Kriegsführung) orientiert.  Denn in der Zeit des Nationalsozialismus schickt die türkische Regierung Studierende nach Deutschland. In denselben Jahren steigt die Zahl der durch die nationalsozialistische Verfolgung ins türkische Exil nach Istanbul gelangenden Professor:innen und Akademiker:innen. Im Jahr 1935 sind um die 40 Wissenschaftler:innen im türkischen Exil.2 So auch Paul Hindemith. Seine Werke erhalten ab 1936 im Zuge der Kulturpolitik des NS-Regimes an deutschen Bühnen Aufführungsverbot. 3 Hindemith ist zwischen den Jahren 1935 und 1937 in Ankara am Konservatorium als Experte tätig und verfasst dort im Staatsauftrag „Vorschläge für den Aufbau des türkischen Musiklebens“.4 Ikesus ist 19 Jahre alt, als Paul Hindemith sie 1935 für die Musikhochschule Berlin vorschlägt. Die türkischen Auslandsstudierenden im Naziregime werden dabei mit staatlichen Stipendien aus der Türkei gefördert. Saadet Ikesus ist eine von diesen Studierenden.

Studienjahre in Berlin

Ikesus erhält das Stipendium der Türkischen Republik, um im „Konservatorium der Reichshauptstadt“ in Berlin Gesangs- und Bühnenunterricht zu bekommen.5   Sie lernt Wilhelm Furtwängler und Sigrid Onegin kennen, die ihrer Karriere einen erheblichen Aufschwung gewähren. 6 Aus persönlichen Briefen von Zeitzeug:innen an die Publizistin Ingeborg Böer werden die enge Verbundenheit und das gemeinsame gesellschaftliche Leben der Künstler:innen aus der Türkei mit der intellektuellen Elite der Vorkriegsjahre deutlich: „Und Furtwängler sagte nach ihrem Vortrag in solch einer Veranstaltung: ‚Sie wird es sein!‘“ 7 Einige Studierende, so auch Ikesus, wohnen im Zentrum Berlins, in der Nähe oder direkt am Kurfürstendamm „in den Wohnungen reicher deutscher Juden, die nicht an Deutsche vermieten durften“.8 Am 9. November 1938 erlebt Saadet Ikesus die Reichspogromnacht in Berlin. Sie beschreibt in ihrer einzigen autobiografischen Veröffentlichung – einem schmalen Buch, als Interview geführt und als Erzählband bezeichnet – die Reichsprogromnacht und die Auswirkungen des Krieges. 9 Sie verzeichnet darin, wie sie eine Mitgliedschaft in der Reichskulturkammer beantragt, doch die NS-Beamten ihr diese zunächst verwehren. Ein öffentliches kulturelles Leben ist zu Zeiten des NS Regimes ohne das Bekenntnis zur NSDAP, die ausschließlich nachweislich als „arisch“ einzuordnenden Personen den Zugang zu öffentlichen Institutionen gewährt, unmöglich. Folglich muss Ikesus, um auf deutschen Bühnen auftreten zu dürfen,  unbedingt Mitglied der Reichskulturkammer werde. 10 Die Reichskulturkammer gibt Ikesus’ Antrag auf Mitgliedschaft nur statt, weil sie zu dem Zeitpunkt bereits Anfragen für Radioauftritte beim Sender Radiokurzwelle für Hörer:innen in der Türkei arrangiert hat und diese abzusagen droht. 11 Als Ikesus im Februar 1939 im deutschen Radio auftritt, kann sie den Beginn des Zweiten Weltkriegs im September nicht ahnen. Sie baut weiter ihre Kontakte auf und beharrt auf ihrer Anwesenheit und ihrem Aufenthalt in Deutschland.

Im Sommer 1939 fährt sie mit ihrem Geliebten Helmut Henze, der im Konservatorium in der Dirigentenklasse studiert, zu den Wagner-Festspielen nach Bayreuth. Sie wollen heiraten, doch Ikesus kann Henze nicht heiraten, weil ihr wieder der damals „notwendige Ariernachweis“ zur Heirat mit einem Deutschen fehlt. 12 Am 20. August 1939, einige Tage vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, ergeht an alle Studierenden aus der Türkei die Aufforderung, unverzüglich die Heimreise anzutreten und auch Ikesus reist vorerst zurück. Wer Ikesus erneut zur Rückkehr ins Kriegsdeutschland einlädt, ist unklar. Jedoch kommt sie im Jahr 1940 nach Berlin.13 Sie wird ab Oktober 1940 Mitglied der Reichskulturkammer und erhält einen Vertrag für die Spielzeit 1940/41 an der Duisburger Oper.

Der Beginn ihrer Karriere: das Engagement an der Duisburger Oper

Saadet Ikesus beendet 1940 ihr Studium und ist vom 14. Oktober 1940 bis zum 3. September 1941 auf der Bauschenstraße 26 in Duisburg-Mitte – nur wenige hundert Meter von der Duisburger Oper entfernt – als Untermieterin bei Familie Schmöpf gemeldet. 1933 wird die Köhnenstraße in Bauschenstraße umbenannt. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Umbenennung in Bauschenstraße zu Ehren eines treuen NS-Funktionärs durchgeführt wurde. Die Bauschenstraße wird 1945 wieder in Köhnenstraße rückbenannt und trägt bis heute diesen Namen. 14 Ikesus’ erste Rolle ist die Magdalene im „Rigoletto‟ von Verdi. Insgesamt hat Ikesus im Spielplan 1940/41 der Duisburger Oper in ihren Rollen als Hänsel in „Hänsel und Gretel“, als Czipra, die Z***, in „Der Z***baron“ und in „Carmen“ brilliert. 15 In ihren Memoiren berichtet sie von Gastspielen als „Carmen“ in Düsseldorf, Essen und Regensburg. 16 Durch die Spielplanstatistik von Iris Melzer lässt sich rekonstruieren, wie viele Auftritte Ikesus in ihren Rollen an der Duisburger Oper durchgeführt hat. Nach Melzers Auflistung sind es 52 Vorstellungen, in denen Ikesus mitwirkt hat. 17 Ikesus durchschaut die nationalsozialistische Propagandamaschine, wie sich ihren Aufzeichnungen entnehmen lässt. So singt sie in den Duisburger Kasernen im Rahmen der „Kraft durch Freude‟-Kampagnen aus der Operette des jüdischen Komponisten Leo Fall „Die Rose von Stambul“ vor Wehrmachtssoldaten. Ikesus’ Erinnerungen an das Propagandaprogramm „Kraft durch Freude“ tragen eine – für heutige Leser:innen befremdliche – Leichtigkeit und Hingabe, wenn sie schreibt: „[…] es war unmöglich, sich vor diesem Auftrag zu drücken. Wir wurden in Militärlastwagen zu einer Kaserne gefahren. Eigentlich gefiel es uns, zu den Soldaten zu gehen. Sie applaudierten sehr herzlich und schenkten uns Wurst, Eier und sogar Strümpfe […]. Man empfing uns in der Kantine. Der General hatte erfahren, daß ich Türkin war, und rief mich zu sich. Er sagte: ‚Unser Heer läuft von einem Sieg zum andern. Auch wenn man es nicht im Radio hört: unser Sieg steht außer Frage. Selbstverständlich ist es mir nicht erlaubt, daß wir tanzen, während unsere Jungen an der Front ihr Blut vergießen. Aber wir können an diesem schönen Tag unsere Körper bewegen zur Musik, und ich nehme die Rose von Istanbul als Begleiterin und tanze voraus.‘ Ich glaube, daß der höfliche General nicht wußte, daß die Operette Die Rose von Istanbul das Werk eines jüdischen Komponisten ist.“ 18 Als Ikesus durch ihre Arbeit an der Duisburger Oper immer erfolgreicher und als „neue Diva“ bezeichnet wird, muss sie gegen ihren Willen zurück in die Türkei. Die türkische auswärtige Politik hält es für schädlich, dass eine Türkin als deutsche Diva gefeiert wird. So heißt es in ihrem Buch Kara Böcek: „Mein Start ins Berufsleben ließ Brillantes erhoffen, doch durch einen Befehl aus Ankara wurden meine Vereinbarungen mit der Duisburger Oper und die Vereinbarungen zwischen der Oper und unserer Botschaft unwiderruflich beendet.“ 19 Bis die Türkei dem Deutschen Reich im Februar 1945 den Krieg erklärt, bleiben Henze und Ikesus in Briefkontakt. Henze muss nach Kriegsbeginn als Soldat nach Russland. Nach Jahrzehnten wird es zwar ein Wiedersehen geben, beide sind dann allerdings bereits mit anderen Partnern liiert.

Als Sängerin von vielen in den Kriegsjahren an der Duisburger Oper hat Ikesus keinen Einfluß auf die Programmgestaltung. In der Türkei gehört Ikesus hingegen zur säkularen Kulturelite der neu gegründeten Republik.

Transnationale Ebenen

Es geht bei der Befassung mit Ikesus weniger um die Anerkennung ihrer gesanglichen Leistungen für die Duisburger Oper, sondern vielmehr darum, die Darstellung des Aufenthalts von Saadet Ikesus zu Kriegszeiten in Duisburg als Folie zu sehen, vor der eine Erinnerungskultur der Einwanderungsgesellschaft neu und ergänzend kontextualisiert und thematisiert werden kann:  In den meisten Ausführungen ist die Erinnerungskultur an die Vorfahren der Einwohner:innen gebunden. Das heißt, dass sie in einer bestimmten Region (oder Nation) historische Momente miterlebt oder sogar teilweise Ideologien mitausgeführt haben oder von bestimmten Ideologien geprägt wurden. 20 Dabei werden die transnationalen Ebenen, diejenigen, in der sich Staaten und Ideologien (Nationalsozialismus), Steuerungsmechanismen gesellschaftlicher Lebensweisen (Bildungsreformen) gegenseitig fördern, durch Austauschprogramme beeinflussen – wie im Falle von Ikesus – und miteinander kooperieren, nicht genug verdeutlicht. Die Geschichte von Saadet Ikesus in Duisburg weist keinerlei Gemeinsamkeit auf mit den bisher geschaffenen und geförderten Narrativen zum türkischen Leben in Deutschland oder zu einer Kultur, die in Verbindung steht mit dem kulturellen Leben und der Kulturgeschichte der Türkei. Eine Erklärung dafür ist, dass die Türkei und Deutschland eine andauernde historisch-politisch-kulturelle Verbundenheit haben, deren problematische Gewaltgeschichte im Bereich der Kulturpolitik auf beiden Seiten ausgeblendet wird. Ikesus Erinnerungen an das Kriegsdeutschland haben in der türkischen Rezeption bis heute keine Rolle gespielt.

 

Von Duisburg auf die Opernbühnen der Türkei

Nach ihrer Rückkehr in die Türkei baut Ikesus gemeinsam mit Carl Ebert die türkische Oper auf. Die Musikwissenschaftlerin Elif Güleç unterstreicht, dass Ikesus eine der ersten türkischen Opernsängerinnen ist, die auf europäischen Bühnen arbeitet und ihr Engagement an der Duisburger Oper als der Beginn ihrer Karriere angesehen wird.21 Sie wird zudem die erste Opernregisseurin der Türkei, bringt zahlreiche europäische Stücke auf die Bühnen der neu gegründeten Republik und fördert so die Implementierung der Kulturreformen.22 Ikesus wird in den wenigen Publikationen und Medienberichten, die zu ihr und ihrem Wirken vorliegen, als „Lehrkraft aller Lehrkräfte/Hocaların Hocası“ geehrt und somit stets in den Kontext der kulturellen Bildung der Zivilgesellschaft und der offiziellen Kulturpolitik gestellt.23 Saadet Ikesus ist in ihren persönlichen Ambitionen der westlichen Oper gegenüber ein Beispiel für den Kulturtransfer im Sinne der Formierung kultureller Identität.24

Ein Eklat zur Beerdigung

Saadet Ikesus Altan stirbt am 12. Dezember 2007 mit 91 Jahren in Ankara. Auch nach ihrem Tod wirkt sie noch wie ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse: Auf ihrer Beerdigung kommt es zum Eklat. Durch ihre säkulare Lebenseinstellung begründet, werden ihre Überreste nicht mit einem grünen islamischen Tuch bedeckt, sondern mit der türkischen Fahne. Das wird seitens des Imams der Trauerfeier boykottiert, so wie er ebenso zu unterbinden versucht, dass auf der Trauerfeier Schuberts Stück „An die Musik“ mit Applaus der Trauergemeinde begleitet wird. Es solle gebetet werden. Ikesus wird schließlich ohne das islamische Totentuch, lediglich mit einem grünen Tuch bedeckt, begraben. In diesem weiteren Kontext wird Ikesus’ Wirken für eine demokratisch-säkulare Gesellschaftsform in der Türkei in ihrer weitreichenden Bedeutung erneut greifbar.

Dr. Nesrin Tanç

Zitation: Tanç, Nesrin, Saadet Ikesus Altan, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/saadet-ikesus-altan/

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Hajra Dorow

Erinnerungen an ihre Kindheit in Kakanj1 in Bosnien-Herzegowina zaubern Hajra Dorow ein Lächeln ins Gesicht. Sie schwärmt vom Leben in einer Nachbarschaft mit vielen Kindern, in denen das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und verschiedener Religionen eine Selbstverständlichkeit war.

Um dies zu beschreiben, greift die 57-Jährige an ihrem Küchentisch in Bottrop zu Stift und Papier. Damit zeichnet sie „ihre“ Etage des Hauses, in dem sie aufgewachsen ist: Ein Quadrat mit einer Treppe an einer der Querseiten. Rechts der Treppe wohnte eine serbische, orthodoxe Familie mit zwei Kindern, daneben ein katholisches Paar aus Slowenien. In der nächsten Wohnung wuchs sie mit ihrem Bruder und der Mutter auf, der muslimischen Religion angehörend, aber atheistisch erzogen. Links der Treppe schließlich lebte eine Familie aus Österreich, die katholisch war.2

Multikulturelle Hausgemeinschaften

„In jeder der vier Etagen unseres Hauses gab es so eine Mischung. Ob es tiefreligiöse Orthodoxe waren oder genauso strenggläubige Katholiken; Moslems, die ihre eigenen Feste feierten – die Türen waren alle immer offen. Ich meine, nicht nur nicht abgeschlossen, sondern sie standen wirklich offen! Wenn ich etwas wollte, bin ich einfach direkt zu Tetta Elizabetha oder Tetta Rosalia in die Wohnung gelaufen“, erzählt Hajra Dorow. In drei baugleichen Häusern wohnten rund 60 Kinder, die zusammen spielten und zwischen deren Eltern ebenfalls Freundschaften bestanden. „Wenn Orthodoxe einen Feiertag hatten, gab es immer Spanferkel. Das habe ich geliebt, es war mein Lieblingsessen. Oder Griebenschmalz mit Zwiebeln und frischem Brot, auch sehr lecker!“, schwärmt Hajra und ihre Augen beginnen zu leuchten. „An unseren Feiertagen, zum Beispiel Ramadan, hat meine Mutter aus Tradition Kuchen gebacken, eine Tafel vorbereitet und die Leute zu uns eingeladen. So war das!“ Hajra legt den Stift aus der Hand und erzählt, diese Offenheit anderen Kulturen gegenüber habe sie geprägt. Eine Vielfalt, die sich auch in der Stadtgesellschaft von Kakanj widerspiegelte und die Daten aus der Volkszählung 1991 belegen: Von den 55.857 Menschen, waren 55 Prozent Muslime, 30 Prozent Kroaten, 9 Prozent Serben, 4 Prozent Jugowslawen und 2 Prozent „andere“. Der Stadtkern hatte damals 12 016 Einwohner.3 Im direkten Umfeld von Hajras Zuhause war diese Vielfalt deutlich sichtbar: Vor ihrer Haustür stand eine orthodoxe Kirche. 800 m weiter im Stadtkern lebten vor allem die kroatisch-katholischen Familien rund um ein altes Franziskanerkloster herum. Nur 200 m entfernt davon steht noch heute die älteste Holzmoschee in Bosnien. Während Hajras Kindheit wäre es jedenfalls unvorstellbar gewesen, dass die Nachbarn Jahre später zu Todfeinden werden könnten.

Beim Grubenunglück starb der Vater

Dieses gute Leben, an das Hajra sich so gerne erinnert, begann unter schwierigen Bedingungen: Sie wurde am 1. Juni 1965 als zweites Kind der Familie Alajbegović im Dorf Donji-Kakanj geboren, rund 50 km von der Hauptstadt Sarajevo entfernt. Nur wenige Tage später, am 7. Juni, ereignete sich in der Stadt Kakanj ein furchtbares Grubenunglück. Hajras Vater war einer der 128 Bergleute, die dabei ums Leben kamen. Nun lebte ihre Mutter mit ihrem zweieinhalbjährigen Sohn Almas und ihrer neugeborenen Tochter Hajra bei den Schwiegereltern, bis sie 1972 nach Kakanj zogen.
Nach der Bergbaukatastrophe hatte sich ein Verein gegründet, der die Witwen und mehr als 400 Kinder mit praktischen Hilfen und finanziell unterstützte. Hajras Mutter setzte sich hierbei aktiv für den Schutz der Witwen ein und begegnete auch hier Frauen aus verschiedenen Kulturen, denen sie ohne Ansehen ihrer Herkunft half. Für die Kinder ergab sich aus der finanziellen Unterstützung die Pflicht, Schule und Ausbildung zu absolvieren. Die Kosten für die Ausbildung wurden mit Erreichen eines Abschlusses annulliert. „Falls wir den nicht schafften, hätte unsere Mutter bezahlen müssen. Auch mit einer neuen Heirat hätte sie alle Ansprüche für sich und uns verloren. Sie blieb bis an ihr Lebensende Witwe“, zählt Hajra die Bedingungen und Konsequenzen der Unterstützung auf, die ihr eine gute Bildung ermöglichte. Nach der 8. Klasse wurden die Kinder aufgrund von IQ-Tests auf weiterführende Schulen, meist Internate, in ganz Bosnien-Herzegowina verteilt. Ihr Bruder lernte Elektrotechnik im 300 km entfernten Mostar und arbeitete später im dortigen Elektrizitätswerk. Da dies später auch kriegswichtig war, wurde er zum Glück nicht eingezogen. Er arbeitet noch heute dort. Hajra kam mit 15 Jahren in ein Internat in Sarajewo, machte eine Ausbildung zur Sekretärin und bekam eine gute Stelle als Chefsekretärin des Bergbaudirektors. In dieser glücklichen Zeit entwickelte sie sich auch zur erfolgreichen Sportschützin. Doch als sie 27 Jahre alt war, änderte sich mit dem Jugoslawienkrieg alles.

Nachbarn wurden zu Feinden

Im April 1992 begann der Bosnienkrieg mit der Belagerung der Hauptstadt durch die Jugoslawische Volksarmee und der serbischen Territorialverteidigung. Zuvor hatte die Europäische Gemeinschaft die Unabhängigkeit Bosniens und Herzegowinas anerkannt. Während große Teile der serbischen Bevölkerung in der jugoslawischen Föderation bleiben wollten und einen engen Verbund mit Serbien anstrebten, gab es insbesondere bei den Bosniaken den Wunsch, einen eigenen unabhängigen Staat zu bilden. Der Krieg sollte bis zum Dezember 1995 dauern, mehr als 100. 000 Tote fordern und über zwei Millionen Menschen in die Flucht treiben. Er reihte sich ein in mehrere Kriege, die den gewaltsamen Staatszerfall Jugoslawiens prägten und gilt als der grausamste Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.4 Innerhalb weniger Wochen veränderte sich der Alltag auch in Kakanj völlig. Bereits im Sommer 1992 litten die Menschen unter Hunger, gegenseitiger Verfolgung, Gewalt und Tod. „Die Propaganda gegen die jeweiligen Religionen war so stark, dass Nachbarn zu Feinden und Stadtgebiete aufgeteilt wurden. Die Mischung der Bevölkerung hatte ein Ende“, bedauert Hajra.

Ausgehend vom Stadtkern begann die Vertreibung der muslimischen Bevölkerung. Obwohl alle zuvor friedlich zusammengelebt hatten, zogen nun paramilitärische Organisationen durch die Straßen, bedrohten die Leute und töteten sie. Auch Hajra wurde von einem früheren Arbeitskollegen mit der Waffe bedroht, als sie ihm auf der Suche nach Lebensmitteln an einem Kontrollpunkt begegnete. Nur weil er sie erkannte, habe er sie nicht erschossen, vermutet Hajra.

Angst wirbelt durch ihren Kopf

Im Bergwerk gab es für sie nichts mehr zu tun. Deshalb schloss sie sich dem Roten Kreuz an, verteilte Lebensmittel und Bedarfsmaterial. In den Augen der Menschen begegnete ihr Angst, große Angst. Aus ihrem Wohnzimmerfenster sah sie ihre drei Cousins in den Krieg ziehen, erfuhr von furchtbaren Vergewaltigungen. Hajra entschied sich zur Flucht, in der Hoffnung, ihre Mutter und ihren Bruder nachholen zu können.

„Wenn ich an die Zeit zurückdenke, dann geht ein Wirbel durch meinen Kopf. Aus der Angst um mein Leben entwickelte sich die starke Triebkraft zu fliehen und mich zu retten. Umgekehrt hatte ich Angst, meine Mutter und meinen Bruder zu verlassen, nicht zu wissen, was aus ihnen wird. Und schließlich die Angst, allein loszugehen durch ein Kriegsgebiet. Ich bin in die totale Ungewissheit aufgebrochen“, beschreibt Hajra Dorow ihre Gefühle.

Am 27. Juli 1992 bestieg sie mit vielen anderen Frauen und Kindern einen organisierten Bus, in der Tasche einen Passagierschein mit der Erlaubnis, die Kampfgebiete zu durchqueren. Die Flucht ging Richtung Kroatien, doch das Land war nicht mehr offen für alle Flüchtlinge. Nur Christen hatten noch eine Chance, Muslime waren nicht mehr willkommen. Und so geriet Hajra an der Grenze zu Kroatien in eine gefährliche Situation. Muslime wurden aus dem Bus geworfen. Bis heute kann sie sich nicht erklären, weshalb sie und zwei weitere muslimische Frauen mit ihren Kindern im Bus bleiben durften.

Fliehen, aber wohin?

Dass Hajra entschied, nach Deutschland zu fliehen, lag an Verwandten und einer Freundin, die in Deutschland lebten und die sie früher bereits besucht hatte. „Ich empfand Deutschland immer als Wunderland, ein Land, in dem ich gerne leben würde. Die Sprache fand ich toll und hatte sie nach der Schule in einem Volkshochschulkurs auch schon ein wenig gelernt.“
Aber ihre Verwandten und Freunde konnten sie nicht aufnehmen. Nach einer lebensgefährlichen und abenteuerlichen Flucht landete Hajra schließlich in der zentralen Aufnahmestelle in Münster. „Ab da war mein Leben dem Zufall überlassen. Es war eine schwierige Situation, denn ich war schwer magenkrank und dadurch abgemagert. Natürlich kannte ich auch niemanden. Der erste Schock war, als ich erfuhr, dass in der vorherigen Nacht eine Frau vergewaltigt worden war, und dass man die Zimmertüren nicht verschließen konnte. In unserem Zimmer haben wir einen Stuhl unter die Türklinke geschoben“, erinnert sich Hajra.
Schließlich wurde Hajra nach Bottrop zugewiesen. Zusammen mit einer Familie aus dem Kosovo wurde sie vor dem Sozialamt abgesetzt und kam schließlich in einer Sammelunterkunft mit vielen Nationen an der Horster Straße unter. Dort lebte sie sozusagen in einer 1-Zimmer-Mädchen-WG mit zwei Frauen, eine aus dem Kosovo und eine aus der Türkei.

Sprachkenntnisse öffnen Türen

Ihre deutschen Sprachkenntnisse waren zu dieser Zeit noch rudimentär, aber sie öffneten Hajra viele Türen. Hajra bemühte sich, anderen Geflüchteten zu helfen und bei Behördenterminen zu übersetzen. So wurde sie immer häufiger von der Polizei als Dolmetscherin angefordert und bekam schließlich eine erste Stelle im Sozialamt für gemeinnützige Arbeit und 1,50 DM in der Stunde. „Es war eine herausfordernde Arbeit, der ich versuchte, mit meinem ,Indianerdeutsch‘ gerecht zu werden. Ich hatte auch Angst, ob ich richtig übersetze, aber letztendlich war es die beste Art, Deutsch zu lernen“, stellt Hajra im Rückblick fest.

Wie ehemaligen (?) Feinden begegnen?

Einmal wurde sie zu Beginn ihrer Zeit in Bottrop vom Sozialamt zur Registrierung einer Familie aus Bosnien bestellt. Bei der Aufnahme persönlicher Daten stellte sich heraus, der Mann stammte aus dem christlich geprägten Klosterviertel in Kakanj. In ihrer impulsiven Art zeigte Hajra ihre Freude, wieder jemanden aus der Heimat zu treffen: „Schön, dass Du da bist, ich komme auch aus Kakaj!“, begrüßte sie ihn. Der Mann fragte nach ihrem Namen und als er den muslimischen Frauennamen „Hajra“ hörte, zuckte er zurück, die Atmosphäre im Raum kühlte ab. „Da bin ich auf ihn zugegangen, habe gesagt: ,Hab keine Angst, ich bin neutral. Lass Dich nicht von meinem Namen beirren! Wir sind vielleicht zuhause verfeindet, aber alle, die hier sind, haben einen Grund zur Flucht gehabt. Wir sind jetzt aufeinander angewiesen, uns gegenseitig zu helfen. Ich will Dir helfen!‘“, berichtet Hajra.

Wie geht man mit Menschen aus dem verfeindeten Lager um, die man noch während des Krieges oder in den Jahren danach kennenlernt? Auch 27 Jahre nach Ende des Krieges ist es noch immer ein vorsichtiges Abchecken, wenn jemand seine bosnische Herkunft bekennt: Zu welchem Lager gehörst du? Wie gehen wir miteinander um? „Oft malt sich Vorsicht ins Gesicht, wenn jemand entdeckt, dass sein Gegenüber zur ehemals verfeindeten Gruppe gehört“, erzählt Hajra Dorow. Sie hat für sich eine Strategie entwickelt: „Ich gebe der Person eine Chance, damit ich erkennen kann, ob diese explizite Person gute Werte mit sich bringt. Es gibt Menschen, die schlechte Taten tun, die bereuen und sich wieder ändern.“

Auch in Deutschland nicht sicher?

Das Gefühl, in Sicherheit zu sein, verflog bereits ein Jahr später im Juni 1993. Die Bottroper Polizei warnte, man habe verdächtige Bewegungen vor ihrer Flüchtlingsunterkunft beobachtet. Dies war kurze Zeit nach dem rechtsextremistischen Mordanschlag auf das Haus einer türkischen Familie in Solingen, bei der fünf Personen ums Leben kamen. „Da haben wir Flüchtlinge mit dem Trauma leben müssen, auch in Deutschland zu Opfer werden zu können. Das war ungeheuerlich für mich. Ich entschied, nach Bosnien zurückzukehren, wollte lieber im Krieg sterben, als hier ein ,No-Name-Opfer‘ von Rechtsradikalen zu werden“, schildert die Bosnierin ihre damalige Einstellung. Bis dahin hatte noch keinen Kontakt zu ihrer Familie gehabt, wusste nicht, ob ihre Mutter und ihr Bruder noch leben, denn Bosnien war von der Welt abgeschnitten. Als es im Juli 1993 humanitären Organisationen gelang, Telefonverbindungen herzustellen, konnte sie ihrer Mutter ein Jahr nach der Flucht endlich ein Lebenszeichen geben.

Bei der geplanten Rückreise sollte ihr Uwe Dorow helfen, ein Kollege aus der Volkshochschule, in dessen Büro sie zwischenzeitlich arbeitete. Doch eine Rückkehr nach Bosnien war wegen des Krieges nicht möglich, Asyl in Deutschland aber auch nicht leicht zu erreichen. Der Antrag wurde abgelehnt, eine Klage dagegen führte zu einer Duldung. Da hatte sie sich längst in Uwe verliebt. Mit ihm gründete sie später eine Familie. 1996 kam ihr Sohn und 1998 ihre Tochter zur Welt.

Hajra beschreibt sich als eine Macherin, als Anpackerin. Ihr Schulabschluss wurde auf den Realschulabschluss herabgestuft, ihre Ausbildung zur Sekretärin nicht anerkannt. Aber sie biss sich durch, machte sich einen Namen als versierte und zuverlässige Frau. Man bot ihr immer neue Herausforderungen an. Nach der Erziehungszeit arbeitete sie viele Jahre in der Bildungs- und Teilhabebetreuung der AWO und heute in der Offenen-Ganztagsbetreuung der Fichteschule.

Besuche in Bosnien

Die Sommerurlaube bis zur Corona-Pandemie verbrachte die Familie Dorow in Hajras Heimat. Nach ihrer Heirat im Frühjahr 1996 reisten Uwe und Hajra zum ersten Mal nach dem Krieg dorthin. Bei der Erinnerung daran wird Hajras Stimme ganz leise: „Es war ein Schock, die Kriegsschäden zu sehen, die Gräber, zu erfahren, wer nicht mehr da ist, wer geflohen ist.“ Über die Jahre pflegt Hajra den Kontakt zu ihren Angehörigen in Bosnien. Die räumliche Trennung und die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in den beiden Ländern sind für die familiären Beziehungen allerdings manchmal eine Herausforderung. Diese Erfahrung teilt sie wohl mit den meisten Menschen, die über Länder- und Kulturgrenzen hinweg migrieren. Besonders bitter war für Hajra, dass sie nicht bei ihrer geliebten Mutter sein konnte, als diese nach einer Infektion mit dem Coronavirus starb.

Geprägt durch Flucht und Neubeginn

Sie empfindet eine starke Prägung durch die Flucht und den erzwungenen Neubeginn in Deutschland. Daher gibt es Werte, die sie selbst vermitteln möchte. „Menschen, die Leid, Krieg oder einen anderen Schicksalsschlag erlitten haben, wissen viele Dinge zu relativieren. Sie haben eine ganz andere Wertschätzung für das Leben und für die Freiheit, so zu leben, wie man möchte. Sie ist für mich das Größte, was man haben kann. Dies Menschen zu vermitteln, denen noch nie die Freiheit entzogen wurde, ist sehr schwierig. Dabei erweitert das freiheitliche, multikulturelle Zusammenleben erweitert den Horizont. Man geht ganz anders miteinander um. Für mich ist die multikulturelle Gesellschaft etwas Wunderschönes, weil sich der Horizont öffnet“, fasst Hajra ihre Grundanschauung zusammen.

Politisches Engagement für die Integration

So ist es wohl folgerichtig, dass die Bosnierin mit dieser Einstellung in der Kommunalpolitik aktiv ist. Als Vertreterin der SPD sitzt sie im Stadtrat und wurde vor zwei Jahren zur Vorsitzenden des Integrationsausschusses gewählt. Sie arbeitete mit daran, dass sich die Stadt Bottrop zum „Sicheren Hafen“ für Geflüchtete erklärt und unterstützt die Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine. Ihr Zielt ist, dass in den Bereich Kultur, Bildung und in der Stadtverwaltung Strukturen bestehen, in denen internationale Herkunftsgeschichten nicht im Vordergrund stehen. Sie beschreibt es als mühsamen Weg, Völkerhass und Ausgrenzung zwischen den Kulturen zu überwinden, nicht nach „Ihr“ und „Wir“ zu trennen. „Viele Probleme entstehen durch Vorurteile. Und diese basieren meistens auf Angst. Wir Menschen mit Migrationshistorie leben immer unter dem Druck, uns zu beweisen, zu signalisieren, dass wir keine negativen Leute sind. Ich möchte, dass wir das Beste versuchen, um friedlich miteinander in Bottrop zu leben!“, ist Hajra Dorow politisches Statement.5

Orte:

Donji-Kakanj// Kakanj // Münster // Bottrop

Zitation: Sommer, Gerburgis , Hajra Dorow, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/hajra-dorow/

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Fasia Jansen

Am 29. Dezember 2022 erinnerten Menschen aus der Friedens- und Frauenbewegung, aus Gewerkschaften, aus der afrodeutschen Community, aus antifaschistischen, feministischen und postkolonialen Initiativen an Fasia Jansen. Anlass war der 25. Todestag der Liedermacherin und Aktivistin. Fasia Jansen war eine der wichtigsten künstlerischen Stimmen der sozialen Bewegungen in Westdeutschland. Eine Befassung mit ihrem Leben und Werk führt hinein in eine bundesrepublikanische Zeitgeschichte als Bewegungsgeschichte. Sie wirft Fragen nach der Verortung von Wissen und dem Verhältnis von Erinnern und Vergessen für ein individuelles wie kollektives Geschichtsbewusstsein auf.

Fasia Jansen wurde am 6. Juni 1929 als Tochter des Kinderfräuleins1 Elli Emma Anna Jansen und des liberianischen Generalkonsuls in Hamburg, Momulo Massaquoi, geboren. Ihr Vater leitete die erste diplomatische Vertretung des afrikanischen Kontinents in Europa. Im selben Jahr kehrte er nach Liberia zurück. Mutter Elli ging mit der Neugeboren zurück in ihre Familie im Hamburger Hafenviertel und erlebte dort Gewalt und Rassismus, der in der Gesellschaft des Deutschen Reiches gegen Schwarze, uneheliche Kinder und ihre Mütter herrschte. Zu ihrem sozialen Vater wurde Albert Backlow, den die Mutter 1935 heiratete. Albert Backlow nahm sie als Tochter an. Als Kommunist und Internationalist war er davon überzeugt: Alle Menschen sind gleich.

In die sorgfältig recherchierte Biografie zu Fasia Jansen, die aus unzähligen nachgelassenen Dokumenten, Tonaufnahmen und Fotografien im Auftrag der Fasia Jansen Stiftung entstand, hat eine Begebenheit Eingang gefunden, die die gesellschaftliche Sinn- und Deutungskultur der späten Weimarer Republik wie in einem Brennglas zum Ausdruck bringt: Den Eltern wurde vorgeschlagen, die Schwarze Tochter abzugeben und stattdessen ein weißes Kind aus den ehemaligen deutschen Kolonien anzunehmen. 2 Die Nürnberger Gesetze von 1935 rassifizierten Schwarze wie Juden und Z*, sie wurden diskriminiert, verfolgt und in Konzentationslagern interniert. 1938 führten die Nationalsozialisten nach der Schule für deutsche Mädchen das sogenannte Pflichtjahr ein. Deutsche Behörden wollten arischen Familien nicht zumuten, Fasia Jansen bei sich zu beschäftigen. Stattdessen sollte sie in der  Munitionsfabrik Düneburg arbeiten, sie wurde jedoch auf Intervention ihrer Großmutter Augusta Bujacz 1944 einer Küchenbaracke zugewiesen, wo sie für Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen des KZ Neuengamme kochen und Essen austragen musste. Im Januar 1945 brach sie bei der Arbeit bewusstlos zusammen und wurde mit Herzproblemen in ein Krankenhaus eingeliefert, wo sie längere Zeit behandelt wurde. Ein Wiedergutmachungsantrag wegen „Schadens an Körper und Gesundheit“  wurde 1960 als unbegründet zurückgewiesen, da sie eine speziell „rassische Verfolgung durch nat.-soz. Gewaltmaßnahmen“ nicht nachweisen konnte. 3

Antikommunismus

Im kommunistischen Milieu sozialisiert fand Fasia Jansen mit ihrem Akkordeon und ihrer Stimme schnell Anschluss an Kulturgruppen der Freien Deutschen Jugendbewegung (FDJ), ein auch in Westdeutschland (und vor allem im Ruhrgebiet) aktiver Jugendverband. In seiner Gründungserklärung vom Dezember 1945 verstand er sich als antifaschistisch und parteipolitisch ungebunden und knüpfte an die fortschrittlichen Jugendbünde der Weimarer Republik an, bevor er 1951 durch die Bundesregierung als verfassungsfeindliche kommunistische Kaderorganisation verboten wurde. 4 Mit Volkstanzgruppen, Klampfenchören und Naturfreundesänger:innen reisten Jugendliche  1951 zum „Internationalen Festival der Jugend und Studenten“ nach Ost-Berlin in die Deutsche Demokratische Republik (DDR). Die „Weltjugendfestspiele“ genannten Ereignisse strahlten im zerbomten Nachkriegseuropa Weltläufigkeit und Völkerfreundschaft aus. Hier  trafen sich nach den verheerenden Verwerfungen der zwei Weltkriege Menschen von allen Kontinenten und bekundeten im interkulturellen, künstlerischen Austausch, dass eine andere Gesellschaft und eine Welt ohne Krieg möglich werden könnte. Fasia Jansen lernte in Ost-Berlin Anneliese „Anna“  Althoff aus einer antifaschistischen Oberhausener Familie kennen: Der Vater, Kommunist, unterhielt in der Weimarer Republik eine Druckerei, die Mutter verteilte als Katholikin 1933 kirchliche Flugblätter gegen die Nazis. 5 Anneliese Althoff wurde 1952 nach dem Verbot der FDJ angeklagt, „auch in der Bundesrepublik die kommunistische Gewaltherrschaft zu errichten“ und erhielt im antikommunistischen Klima der frühen Bundesrepublik eine siebenmonatige Haftstrafe ohne Bewährung. Diese wurde 1956 auf Intervention des Oberhausener Kaplans Otto Köhler vom Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen Rudolf Amelunxen – beide waren entschiedene Gegner des Nationalsozialismus und im KZ Dachau inhaftiert, nun waren sie Gegner der Wiederbewaffnung in der Bundesrepublik – in eine Bewährungsstrafe umgewandelt. Anneliese Althoff und Fasia Jansen wurden Freundinnen. Und so kam Fasia Jansen aus Hamburg ins Ruhrgebiet. Ihr Hamburger Dialekt klang fremd, es gab zwar im Ruhrgebiet viele Zugewanderte aus unterschiedlichsten Regionen der Welt, doch Zuwanderung aus Hamburg war höchst selten.6

Ihre Entwicklung als Musikerin und Aktivistin ist eingebettet in dieses politische Klima zwischen antifaschistischem Aufbruch und westdeutschem Antikommunismus. Fasia Jansen wurde trotz ihrer Sozialisation und der vielen Bezüge zum Kommunismus nicht Mitglied einer Partei, weder der Kommunistischen Partei Deutschlands, die 1956 verboten wurde, noch ihrer Nachfolgeorganisation, der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Sie fuhr trotz des sich verschärfenden Antikommunismus in Westdeutschland weiterhin mit Akkordeonkasten und ihrer Stimme auf Weltjugendfestspiele nach Moskau, Wien, Helsinki und nahm als Künstlerin Einladungen in sozialistische und blockfreie Länder an. 7

Ostermarschbewegung

Die Auseinandersetzungen mit der Remilitarisierung begannen in Westdeutschland bereits seit Ende der 1940er Jahre. Sie beruhten auf erfahrungsgestützter Angst vor einem neuen Krieg: „Wir wollen keine Ami-Waffen, wir wollen für den Frieden schaffen“, hieß es auf einer Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) 1955 in Herne. 8Doch schon bald gerieten die „Westdeutsche Frauenfriedensbewegung“ 9, die „Ohne-mich-Bewegung“ oder die Bewegung „Kampf-dem-Atomtod“ zwischen die Fronten des Kalten Krieges: Aktivitäten gegen die Remilitarisierung Deutschlands, gegen die Einführung der Wehrpflicht, gegen die Atombewaffnung, gegen die Notstandsgesetze oder gegen den Vietnamkrieg galten in Westdeutschland als kommunistisch unterwandert.101960 formierte sich das friedenspolitische Engagement in der Ostermarschbewegung: „Ich habe immer gesungen, im Chor und so. Singen war immer da. Aber sichtbar geworden bin ich, so richtig sichtbar geworden bin ich bei den Ostermärschen,“11formulierte Fasia Jansen. Auf den Ostermärschen wurde unterwegs und an den Kundgebungsplätzen mobil musiziert und gemeinsam gesungen, schnell stellte sich heraus, dass dieses Singen Kraft, Energie und Zusammenhalt schuf: „… eine Emotion, die etwas differenzierter war, als selbst nach einer guten Rede.“12 Anneliese Althoff und Annemarie Stern stellten in der Oberhausener Druckerei  Liederhefte im Hosentaschenformat her: Lieder gegen die Bombe.13. So konnte auf ein gemeinsames Repertoire zurückgegriffen werden. Darunter befanden sich von Beginn an Lieder von Fasia Jansen. Begleitet von Skiffle-Musik – bestehend aus Gitarre, Banjo, Ukelele, Bass und improvisierten Instrumenten wie Waschbrett oder Besenbass – sang sie Folksongs auf einem Jazzbeat. 14 Sie interpretierte den St. James Infirmary-Blues mit einem Text in deutscher Sprache: „Es war der erste Blues in deutscher Sprache“, heißt es.15 Im Laufe der Jahre erweiterte sich das Themenspektrum der Ostermarschproteste hin zur Kritik am Krieg der USA in Vietnam, an den Notstandsgesetzen, am Rechtsradikalismus und am Antikommunismus. 16 Transparente trugen Aufschriften wie: „Unsere Freiheit: Frieden. Demokratie. Soziale Sicherheit.“ Fasia Jansen sang zusammen mit der us-amerikanischen Folksängerin, Bürgerrechtlerin und Aktivistin Joan Baez. Ende der 1960er Jahre kam die Ostermarsch-Bewegung zunächst zum Erliegen. Die Gründe sind komplex, sie liegen u.a. in Auseinandersetzungen verschiedener politischer Flügel und in der Entwicklung neuer Protestformen.17 1980 führte die Bewegung für den Frieden zu einer Wiederbelebung der Ostermarschbewegung, auch  hier sang Fasia Jansen und traf bei einer Veranstaltung „Künstler für den Frieden“ 1981 die afroamerikanische Aktivistin und Bürgerrechtlerin Angela Davis, zu der sich eine politische Beziehung entwickelte.18Fasia Jansen war eine prominente Stimme in der politischen Protestkultur: Sie sang für soziale Bewegungen, für Gewerkschaften, auf evangelischen und katholischen Kirchentagen gegen den Vietnamkrieg und die Atomaufrüstung: „Gott hat die Bombe nicht gemacht“.19

Die Waldeck

Fasia Jansen steht mit ihrem Repertoire aus Folkmusik, Liedern des Widerstandes, der Bürgerrechts-, Gewerkschafts- und Arbeiter:innenbewegung für eine Redefinition des politischen Liedes nach der Zerschlagung emanzipatorischer Musiktraditionen durch den Nationalsozialismus. Ein Kristallisationspunkt dieser neuen politischen Musik war zwischen 1964 und 1969 die Burg Waldeck20, ein traditionsreicher Gedächtnisort der Wandervogel-Bewegung. Zu den Festivals auf der Burg Waldeck wurde auch Fasia Jansen eingeladen. Als Wolf Biermann 1965 kein Ausreisevisum aus der DDR zum Festival erhielt, schickte er seine Ballade vom Briefträger William L. Moore an Fasia Jansen. Sie sang die Ballade an seiner Stelle.

Fasia Jansen ließ sich weder politisch  noch musikalisch instrumentalisieren, wie in einem Brief an den Tenorsaxophonisten der Kölner Polit-Rockband Floh de Cologne, Theo König, deutlich wird: „Ich habe mich nun doch entschieden, meine original (sic!) Texte zu singen, weil ich der Ansicht bin, daß man seine Lieder, die für bestimmte Aktionen gemacht sind, auf einer Platte nicht anders singen sollte … Mein Schwerpunkt ist Westdeutschland und nicht die dritte Welt. Ich kann mich auch nicht identifizieren, was da alles an Losungen kommt.“ Und weiter heißt es: „Worüber ich traurig bin ist, daß ich als politische Sängerin noch kein Lied habe über die doppelte Ausbeutung der Frauen.“21

Die Stimme des Strukturwandels

Fasia Jansen begleitete im Strukturwandel (und darüber hinaus) den Kampf um den Erhalt von Arbeitsplätzen, aber auch gegen die Vernichtung von preisgünstigem Wohn- und Lebensraum. In den 1980er Jahren formierten sich im Ruhrgebiet allerorten Fraueninitiativen, die auf ihre Weise der Deindustrialisierung Widerstand entgegenhielten. Sie organisierten den Protest vor den Werkstoren und in den Städten – immer dabei auch Scharen von Kindern, die trotz Streiks, Demos und Solidaritätsaktionen weiterhin betreut werden mussten.

Im November 1980 begannen Frauen bei Hoesch in Dortmund mit Aktionen für den Erhalt der Westfalenhütte. In der politischen Kultur der Zeit war es umstritten, dass Frauen außerhalb der Werkstore eigenständig und „wild“ für Arbeitsplätze mobilisierten, vorbei an der Gewerkschaft IG Metall. Sie blieben gleichwohl mit ihr verbunden, da den (Ehe)Frauen der Vertrauensleute der IG Metall – eine Art Bindeglied zwischen den Werksangehörigen und den gewerkschaftlichen Funktionsträgern – eine wichtige Rolle bei der Organisation der Aktivitäten zukam. Der Frauenwiderstand stand massiv in der Kritik. Im patriarchalen Sinn- und Deutungshorizont der Zeit galten die Aktivistinnen als „Flintenweiber“22 und gefährdeten den Ruf und das Ansehen ihrer Männer, die ihre Frauen scheinbar nicht im Griff hatten.23

Dortmund und Gelsenkirchen

In der Nacht zum 5. Februar 1981 traten sieben Frauen vor Tor 1 der Dortmunder Westfalenhütte in einen dreitägigen Hungerstreik, um dem Kampf für  ein neues Stahlwerk zu unterstützen. Sie sind als ‚Hoesch-Frauen‘ in die Geschichte des Widerstands gegen die Deindustrialisierung eingegangen. In Dortmund sollte die Westfalenhütte am Borsigplatz schließen und stattdessen ein neues, moderneres Stahlwerk errichtet werden, das Arbeitsplätze für die Zukunft gesichert hätte. Doch der Hoesch-Vorstand zog sich im Oktober 1980 von diesen Plänen zurück. Unter der Parole ‚Stahlwerk Jetzt!‘ formierte sich ein stadtweiter Widerstand.24. Fasia Jansen unterstützte mit ihrer Gitarre die Hoesch-Frauen und ihren Hungerstreik: „Sie hat uns dazu gebracht, dass wir Dinge taten, die wir uns vorher nie zugetraut hätten. Reden halten, Pressekonferenzen geben, Auseinandersetzungen mit Leuten führen, die in Funktionen waren. Auch Frauen, die vorher nie einen Pieps gesagt hatten, lernten, öffentlich den Standpunkt zu vertreten, wie er in der Gruppe entstanden war … Sie selbst war das Modell für alle Frauen.“25 Sie schrieb für die Hoesch-Fraueninitiative Stücke wie: Stahlwerk Jetzt! oder In Dortmund steht ein Stahlwerk. In Dortmund entstand der Slogan: Stahlwerk bau’n, sonst machen es die Frau’n.26

In Gelsenkirchen mobilisierte 1981 die Fraueninitiative Thyssen Schalker Verein muss weiterleben in Gelsenkirchen die Öffentlichkeit, weil der Hochofen 4 des Schalker Vereins stillgelegt werden sollte. Über die Versammlung der Frauen vom 24. Juni 1981 in der Gaststätte Nachbarschulte ist ein beredter Bericht erhalten, der uns heute einen Blick auf das Geschlechterverhältnis der Zeit ermöglicht: „Fasia war auch gekommen. Als während der Versammlung unter einigen anwesenden Männern ein Streit darüber aufkam, was angemessene Aktionsformen im Kampf um den Erhalt des Schalker Vereins wären, und die damit die Veranstaltung beherrschten, beschlossen die Frauen kurzerhand, die Männer des Saales zu verweisen und die weitere Diskussion unter sich zu führen.“27 Im Juni zog die Fraueninitiative zur Aufsichtsratssitzung vor die Essener Hauptverwaltung von Thyssen. Fasia Jansen schrieb dazu einen Liedtext nach der Melodie Von den blauen Bergen kommen wir mit den Refrainzeilen: Der Ofen 4, ja der bleibt stehen, die Schalker Hütte darf nicht untergehn …28 Auf der Busfahrt nach Essen übte sie mit der Gelsenkirchener Fraueninitiative vom Schalker Verein den Text ein. Begleitet von ihrer Gitarre sangen die Demonstrantinnen ihre Protestlieder: „Das trug dazu bei, die kämpferische Stimmung zu stärken, die ohnehin vorhanden war.“ 29Am 23. Oktober 1981 begleitete Fasia Jansen mit ihrem Akkordeon die Fraueninitiative auf der Großdemonstration in Gelsenkirchen.

Besondere Aufmerksamkeit erhielten ihre Lieder Wir wollen gleiche Löhne, keiner schiebt uns weg oder Das Lied der Heinze Frauen, mit denen sie die Arbeiterinnen der Gelsenkirchener Fotobetriebe Heinze bei ihrem Kampf um gleiche Löhne unterstützte: „Die Foto-Heinze-Frauen/ die stehen nicht allen/ ihr Kampf der nutzt uns allen/ drum reihen wir uns ein“.30Am 9. September 1981 gewannen die „Heinze-Frauen“ in letzter Instanz vor dem Bundesarbeitsgericht in Kassel – „ein Meilenstein für die Rechtssprechung im Kampf um den gleichen Lohn“.31In der Bildüberlieferung zu den Arbeitskämpfen im Ruhrgebiet hat Fasia Jansen mit ihren Instrumenten und Zetteln mit Liedtexten einen festen Platz.32

Hattingen und Duisburg

Am 19. Februar 1987 verkündete das Stahlunternehmen Thyssen das „Aus“ für die Henrichshütte in Hattingen. 2.904 Arbeitsplätze sollten abgebaut und die Ausbildungswerkstatt mit 400 Ausbildungsplätzen geschlossen werden. Über zwölf Monate organisierte ein Zusammenschluss aus Vertrauensleuten und IG Metall, autonomen Initiativen, Kirchen, Vereinen, Organisationen, Zivilgesellschaft kreativen Widerstand. Auch hier gründete sich eine Fraueninitiative mit Fasia Jansen an ihrer Seite. Im Sommer 1987 begannen zwölf Frauen einen Hungerstreik, so, wie die Fraueninitiative bei Hoesch zuvor.33Der letzte Abstich des Hattinger Hochofens erfolgte am 18. Dezember 1987.34

Am 26. November 1987 verkündete der Krupp-Vorstand Gerhard Cromme die Schließung des Stahlwerks in Duisburg-Rheinhausen. Mit monatelangen Mahnwachen, Straßensperren, Besetzungen der Rheinbrücke Rheinhausen–Hochfeld – heute in Erinnerung an die Kämpfe „Brücke der Solidarität genannt“ – versuchte ein breites Bündnis im Winter 1987/1988, die Arbeitsplätze in Rheinhausen zu retten. Die Autobahn A 40 wurde blockiert und damit der Verkehr auf der wichtigsten Verbindung durchs Ruhrgebiet lahmgelegt, die Villa Hügel in Essen wurde gestürmt. Ganz Rheinhausen kämpfte um seine Zukunft. Tatort-Kommissar Horst Schimanski, alias Götz George, und weitere Künstler und Künstlerinnen solidarisierten sich. Auch in Rheinhausen bildete sich eine Fraueninitiative, mit zusammengeknüpften Bettlaken errichteten Familienfrauen Straßensperren. Fasia Jansen sang: Keiner schiebt uns weg und passte den Liedtext der aktuellen Situation an: „Sie hatte ja wunderbare Lieder, das war das Schöne, sie kannte herrliche Lieder, die sie uns auch beibrachte. Wir haben zusammen auf den Demos gesungen. Die Kollegen haben dann immer gesagt: ‚Irmgard, Ihr geht doch wohl wieder mit?‘ Weil wir die Lieder gesungen haben, die im Arbeitskampf so bekannt geworden sind. Die sind ja durch Fasia und die Fraueninitiative bekannt geworden.“ 35Zunächst war der Protest erfolgreich, fünf Jahre später wurde das Werk geschlossen.

Die Frauenfriedensbewegung

In den 1980er Jahren formierte sich in West- und Ostdeutschland eine neue Frauenfriedensbewegung, später bekannt als Frauen für den Frieden. Zur Halbzeit der 1976 ausgerufenen UNO-Dekade der Frau trafen sich in Kopenhagen Delegierte aus 145 Staaten, vier Delegationen mit Beobachterstatus, darunter Befreiungsbewegungen aus Südafrika und Palästina sowie Nicht- und Zwischenstaatliche Organisationen, um ein Aktionsprogramm zur Stärkung der Rechte der Frauen zu beschließen. Die Frauenfriedensbewegung organisierte im Sommer 1981 einen Frauenmarsch quer durch Europa von Kopenhagen nach Paris, marschierte 1982 von Berlin nach Wien, 1983 von Dortmund nach Brüssel. Fasia Jansen war als Aktivistin und Musikerin dabei. Wieder stellt sich angesichts ihres Engagements die Frage, welche Bedeutung ihre Stimme und ihre Musik für die Vergemeinschaftung als Bewegung spielte. Ellen Diederich, die mit Fasia Jansen in privater wie politischer Lebensgemeinschaft zusammenlebte, erinnerte sich: „ Von Anfang an war auch Musik bei den Frauenmärschen ein ganz wichtiges Element. Die Menschen auf diesen Märschen kamen aus vielen Ländern, alle hatten Lieder mitgebracht.“36Ellen Diederich und Fasia Jansen fuhren mit ihrem bunt bemalten Friedensbus quer durch Europa, stellten das „Friedenszelt“ – eine Idee von Fasia Jansen – auf, brachten Menschen in Gespräche miteinander, organisierten „Versöhnungscamps“: „ Die Dialoge waren nicht einfach. Dein Singen [gemeint ist Fasia Jansen, ucs] half. Wann immer eine brisante Situation entstand, und derer gab es viele, nahmst du die Gitarre und der Streit bekam eine Atempause. Das gemeinsame Singen löste Verkrampfungen und machte die Köpfe frei.“37Aber nicht nur in der internationalen Gemeinschaft, auch innerhalb der Bewegung musste vermittelt werden, gab es Streit und Spannungen.38 Fasia Jansen und Ellen Diederich fuhren 1985 zur Weltfrauenkonferenz in Nairobi, zu Abrüstungsgesprächen nach Genf, nach Reykjavik, Malta, Washington. Sie fuhren mit ihrem Friedensbus 1987 von Greenham Common in England, wo us-amerikanische Cruise Missiles stationiert werden sollten und Frauen für den Frieden zehn Jahre lang Widerstand leisteten, quer durch Europa, die Route führte von England über die Niederlande, die Bundesrepublik, die Deutsche Demokratische Republik, die Tschechoslowakei, Polen, die Sowjetunion, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Italien bis zum Europaparlament in Straßburg. „Wir spürten, wie tief der Krieg im Bewusstsein der Frauen Europas verwurzelt ist“,39schrieb Ellen Diederich zur dieser Reise, die den Routen des Zweiten Weltkriegs folgte und die Teilung der Welt in Ost- und Westblöcke für eine kurze Zeit durchlässiger zu machen schien, weil es um Kontakt zu Menschen, um Erfahrungsaustausch, um Friedensarbeit ging. 1987, als Fasia Jansen und Ellen Diederich nach Moskau zum Frauenfriedenskonferenz fuhren, kam auch Angela Davis in den bunt bemalten Friedensbus. Es ist ein Foto von ihr und Fasia Jansen überliefert. Als in den 1990 Jahren mit den Jugoslawienkriegen der Krieg nach Europa zurückkehre, organisierten Frauen um und mit Fasia Jansen und Ellen Diederich Hilfsaktionen für traumatisierte Frauen und Kinder in Flüchtlingslagern. Ellen Diederich: „Ich verlor die Lieder, konnte nicht mehr singen“.40

Ein „Ehrensold“ für ihr Engagement

Auf Vorschlag der Gewerkschaftskolleginnen erhielt Fasia Jansen 1991 das Bundesverdienstkreuz. Zuerst wollte sie die Auszeichnung nicht annehmen, denn unter den Ordensträgern und -trägerinnen befinden sich auch umstrittene Gestalten. Ellen Diederich schreibt, dass afrodeutsche Frauen Fasia darin bestärkten, als erste von ihnen diese staatliche Auszeichnung anzunehmen. Fasia Jansen war wohl die einzige Sozialhilfeempfängerin, der das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde, die Bewilligungsgrundsätze für zusätzliche Zuwendungen für Kleidung sahen zwar Konfirmation oder Goldene Hochzeit vor, nicht aber Sonderzahlungen für festliche Kleidung anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes. Später erhielt Fasia Jansen vom Land Nordrhein-Westfalen einen Ehrensold in Höhe von 600,00 Deutsche Mark. 1996 wurde sie mit der Ehrennadel der Stadt Oberhausen geehrt.41 In Oberhausen wurde eine Gesamtschule nach ihr benannt.

Fasia Jansen litt unter einer chronischen Herzinnenhautentzündung.  Der Verdacht steht im Raum, dass dies auf eine Injektion zurückzuführen ist, die sie als Elfjährige im Hamburger Gesundheitsamt erhalten hatte. Am Ende erkrankte sie an Brustkrebs. Am 29. Dezember 1997 starb Fasia Jansen in Oberhausen. Zu ihrer Beerdigung kamen mehr als 1.000 Menschen.

Blackness und Whiteness

Im Jahre 2020 schrieben Interkultur Ruhr und das Internationale Frauen*Film Fest Dortmund-Köln eine offene künstlerische Rechercheresidenz zu Fasia Jansen aus. Die Stipendiatinnen Princela Biyaa und Marny Garcia Mommertz begannen Ende Oktober 2020, sich aus eigener Schwarzer Positionierung heraus mit dem Leben und Wirken Fasia Jansens zu beschäftigen. Sie formulierten ihre leitenden Hinsichten zur Beschäftigung mit der Schwarzen Künstlerin, besuchten Weggefährt:innen und befragten Fasia Jansens Nichte Vivian Seton.42

In Archiven zu/ von Fasia Jansen als Überlieferungen einer weißen Frauen- und Friedensbewegung schien Schwarzsein keine explizite Rolle zu spielen. Princela Biyaa und Marny Garcia Mommertz nahmen Kontakt zur US-amerikanischen  Historikerin Tina Campt auf, die Fasia Jansen 1992 für ihre Forschungen zu Schwarzen Deutschen während des Nationalsozialismus interviewt hatte.43 Auf den Tonbandaufzeichnungen konnten die beiden Stipendiatinnen Fasias Stimme hören. Sie erzählt dort u.a., dass sie ihre Tagebücher verbrannt hatte. Für  Princela Biyaa und Marny Garcia Mommertz stellte sich die Frage: Wie sich einer Persönlichkeit nähern, wenn sie persönliche Überlieferungen zur Rekonstruktion ihres Lebens bewusst zerstört? Ausgehend von Fasia Jansen verschob sich ihr Focus hin zur wissenskritischen Frage nach Überlieferung, Archivieren, Erinnern und Vergessen, Narrativen und Objekten des Schwarzseins in Deutschland.44 In einem Beitrag für ZEIT-online formulierte Marny Garcia Mommertz, wie ihr die Auseinandersetzung mit Fasia Jansen half, ihre emotionale und oft schwierige Beziehung zu Deutschland neu zu verorten, auch dank stärkender intergenerationeller Dialoge mit anderen Schwarzen Frauen.45 Noch ein anderes Projekt befasste sich zeitgleich aus Schwarzer Perspektive mit Fasia Jansen: Alina Benecke und Nicola Lauré-al-Samarai formierten einen mehrheitlich Schwarz positionierten Chor, der Lieder von Fasia Jansen 2021 neu auf die Bühne brachte und der „das Singen dieser Protestsongs als Empowerment“ erprobte.46 In Hamburg eröffnete im Jahre 2022 die Fasiathek – eine Bibliothek aus Schwarzer Perspektive.47 Die kritische Hinterfragung der Überlieferungen zu und von Fasia Jansen aus afrodeutschen Perspektiven führte auf Seiten der weißen Bewegungsgeschichte und bei Weggefährt:innen zu einer Befragung der eigenen Erinnerung.48 Sowohl die Stipendiatinnen Princela Biyaa und Marny Garcia Mommertz als auch die Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft um Fasia Jansen begannen, ganz im Sinne geschichtswissenschaftlicher Grundlagen über jeweilige Erfahrungen, Interessen und Ideen als Faktoren ihres historischen Denkens zu reflektieren.49

 

Weiße Erinnerungsstränge

Wissen und Erkenntnisinteressen sind situiert.50 Wir haben Fasias Jansens Familiengeschichte wahrgenommen, gerade weil ihre biografischen Erfahrungen im Nationalsozialismus und im Nachkriegsdeutschland das eigene antifaschistische Engagement umso drängender legitimierten. Es macht für die Geschichtsschreibung einen Unterschied, ob wir mit jemanden auf der Straße singen, oder später Fragen zu einer Person stellen, die sich nur noch aus (autobiografischen) Aufzeichnungen, Dokumenten, Zeitungsausschnitten oder Tonbandprotokollen rekonstruieren lässt. Wir haben von ihrem Schwarzsein gewusst, doch  hat es in unserer politischen Bewegungskultur keine Rolle gespielt, weil wir von einer internationalistischen, humanistischen Perspektive auf eine Weltgesellschaft getragen wurden. Positionierungen über Hautfarben kam hier (noch) kaum Bedeutung zu.

Als Musikerin und Aktivistin war Fasia Jansen sichtbar – sie stand im Mittelpunkt großer öffentlicher Auftritte. Vielleicht haben wir die Farbe nicht gesehen, weil wir ihre Stimme, ihren motivierenden Gesang hörten. Haben wir – um mit Toni Morrison zu fragen – ihrem Schwarzen Körper nur „eine schattenlose Teilhaberschaft an dem dominierenden kulturellen Körper“ zugestanden?51Bildete das Milieu der Frauen- und Friedensbewegung, der Streiks und Prozesse um Lohngleichheit einen dominierenden kulturellen Körper? Fasia Jansen jedenfalls hat mit ihrer Stimme diesen Bewegungen als widerständige kulturelle Körper einen besonderen Ausdruck, Kraft und Energie verliehen.

Durch die Biografie Fasia – Geliebte Rebellin von Marina Achenbach zieht sich wie ein roter Faden die Befassung mit der Frage, was ihr Schwarzsein für sie und für uns bedeutete. Es wird nicht nur im ersten Kapitel thematisiert, sondern die Frage findet vielschichtige Antworten in Texten, in Fotografien, in Bildunterschriften und in den Erinnerungen von Weggefährt:innen, die diesem Buch beigefügt sind. So lässt sich zur Frage nach Schwarzsein der Hinweis lesen, dass Fasia Jansen 1962 bei der Vorbereitung auf den Ostermarsch „ihr“ Lied Black and White intonierte, das die Zeile beinhaltet: „Schwarz und Weiß bauen neu die Welt.“52 Oder: Im Programm der vom Deutschen Gewerkschaftsbund 1966 veranstalteten Jugendshow „Protest nach Noten“ wurde Fasia Jansen explizit als „farbige Sängerin“ angekündigt. Ihr zugewiesenes Schwarzsein versah das Programm mit einem internationalen Flair, schlug in einer speziellen historischen Situation eine Brücke in die USA, wo sich der Protest gegen den Vietnam-Krieg zunehmend lauter und auch aus der Bürgerrechtsbewegung heraus artikulierte.53

Es gibt in diesem Buch zwei beredte Stellen zum Schwarzsein in Deutschland: Walter Korowski beschreibt, wie es als Mann war, mit Fasia ein Lokal zu betreten: „Augenblicklich wurde es still. Es war ganz klar, dass alle, die da waren, etwas Sexuelles dachten: Wo hat er die her? Wie geht es da ab. Das war einfach so in den fünfziger und sechziger Jahren.“54 Und Fasia Jansen erklärt im Film von Christel Priemer: „Als ich wusste, was Sexualität ist, als ich meinen Körper gespürt habe, da war es verboten, eine schwarze Frau zu lieben. Und auch nach 1945: das steckte drin bei den Männern, dass es unmöglich ist, mit einer schwarzen Frau zu gehen, es sei denn, dass man sie eben mal so vernascht. Und da bin ich mir ein wenig zu schade gewesen, und habe mich also entschieden, so eine Art Liebe nicht zu leben.“55

Dr. Uta C. Schmidt/ frauenr/ruhr/geschichte

Orte:

Fabrik K 14 Oberhausen, Lothringer Str. 64, 46045 Oberhausen
Fasia-Jansen-Gesamtschule, Schwartzstr. 87, 46045 Oberhausen
Arbeitsgericht Gelsenkirchen, 1979, zur Zeit des Prozesses der Heinz-Frauen, im Hamburg-Mannheimer-Hochhaus, Ahstraße, 45879 Gelsenkirchen. Die begleitende Demonstration ging vom Marktplatz (heute: Margarethe-Zingler-Platz) über die Fußgängerzone Bahnhofstraße dorthin.
Werkstor Westfalenhütte, Oesterholzstraße 134, 44145 Dortmund
LWL-Industriemuseum Henrichshütte, Werkstraße 31-33, 45527 Hattingen
Denkmalgeschütztes ehemaliges Werktor 1 von Krupp Rheinhausen (Friedrich-Alfred-Hütte), 51° 24′ 5,65″ N: 6° 43′ 28,11″ O 51,40157°N: 6,72447°O
„Brücke der Solidarität“, Rheinbrücke zwischen Duisburg und Rheinhausen
Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, Grubenweg 5, 44388 Dortmund
Fasiathek: c/o Fux eG., ehemalige Viktoria-Kaserne, Zeiseweg 9, 22765 Hamburg

Literatur:

https://die-grenzgänger.de/programm/fasia-jansen-ihre-lieder-und-geschichten/
Fasia, Die Siebziger, CD Verlag 'pläne' GmbH, 1999

Zitation: Schmidt, Uta C., Fasia Jansen, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/fasia-jansen/

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Judith Neuwald-Tasbach

„Ich habe mir das so nicht vorgestellt. Der Job ist laut Satzung ehrenamtlich, aber als sie verfasst wurde, hat niemand daran gedacht, dass damit einmal so viel Arbeit verbunden sein könnte!“.1 Als Judith Neuwald-Tasbach im Jahr 2007 für die Repräsentanz der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen kandidierte, hatte sie weder damit gerechnet, am Ende zur Vorsitzenden gewählt zu werden, noch damit, wie nachhaltig dies ihr Leben verändern würde.

Geboren 1959, hatte Judith Neuwald-Tasbach hatte nach ihrem Abitur Verkehrsbetriebswirtschaft studiert, „Transportwesen, Bereich Personenbeförderung“, und danach in verschiedenen Jobs gearbeitet, „meistens im Bereich der Personenbeförderung oder in der Touristik, später auch einmal bei einem Automobilzulieferer, und schließlich bei einem Automobilclub“. Als Ende der 1990er/Anfang der 2000er-Jahre ihr über 90-jähriger Vater Kurt Neuwald erkrankte, entschloss sie sich, zunächst in Teilzeit zu arbeiten und dann vorübergehend ganz ihren Beruf aufzugeben, um sich um ihn kümmern zu können. Er wohnte in ihrer Heimatstadt Gelsenkirchen, sie zu diesem Zeitpunkt in Sauerland. Schließlich starb der Vater 2001, und eine hochbetagte Verwandte wurde pflegebedürftig, und auch hier übernahm Judith Neuwald-Tasbach die Betreuung.

In der Zwischenzeit wurde sie von der Gelsenkirchenerin Karin Clermont angesprochen, ob sie sich engagieren wolle bei den Planungen zum Bau einer neuen Synagoge in Gelsenkirchen. Neuwald-Tasbachs Vater Kurt war bis 1992 Vorsitzender der jüdischen Gemeinde gewesen. Auf der Trauerfeier nach seinem Tod, an dem auch NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD) teilnahm, sprach sein Nachfolger Fawek Ostrowiecki (1927–2017) erstmals öffentlich den Wunsch zur Errichtung einer neuen Synagoge aus, denn die alte von 1957/58 platzte nach der Zuwanderung zahlreicher Juden und Jüdinnen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion in den 1990er-Jahren aus allen Nähten. Judith Neuwald-Tasbach engagierte sich nun – obwohl sie weiterhin im Sauerland wohnte – gemeinsam mit Karin Clermont und weiteren Mitstreiter*innen in verschiedenen Gremien in und außerhalb der Gemeinde für die neue Synagoge und wurde später auch offizielle Beauftragte der Gemeinde für den Synagogenbau.2

Aber ihren Beruf dauerhaft aufgeben, dass wollte sie eigentlich nicht. Nach der Fertigstellung und Einweihung der Synagoge im Februar 2007 wollte sie in ihren Beruf zurückkehren. Doch nun trat der bisherige Gemeindevorsitzende Ostrowiecki bei den Gemeindewahlen nicht mehr an – und schließlich ließ sie sich „breitschlagen“. Ihr war schnell klar: „Das ist das Ende meiner beruflichen Pläne – aus dem Grund, weil ich Dinge immer nur ganz machen kann! Ich habe mir gedacht: Wir ziehen jetzt um in ein neues Gebäude und es wird wahnsinnig viel Arbeit sein, das alles einzurichten. Wenn du nebenher noch einen Vollzeitjob hast, wahrscheinlich auch mit vielen Überstunden, dann wird das für dich ganz schwierig, hier richtige Arbeit zu leisten“, erinnert sich Judith Neuwald-Tasbach. Sie übernahm das Amt als erste Frau und blieb über 16 Jahre lang bis Mai 2023 die Gemeindevorsitzende.

Finanziell möglich war dieser Fulltime-Ehrenamts-Job nur, weil sie 2002 geheiratet hatte und ihr Mann berufstätig war. „Mein Mann ist immer mein bester Berater, bis heute, muss ich sagen. Und ich bin dankbar und glücklich, dass er das alles mitträgt“, sagt Judith Neuwald-Tasbach. Eine Arbeitsteilung, die auf den ersten Blick traditionell klingt: er der „Ernährer“, sie ehrenamtlich tätig. Aber dieses Ehrenamt war ein von Verantwortung und Umfang her besonders herausragendes. Sie wurde eine Führungskraft ohne Bezahlung.

Die Herausforderungen waren groß. Mit der Zuwanderung von Juden und Jüdinnen aus den Nachfolgestaaten war die jüdische Gemeinde in Gelsenkirchen, wie viele andere Gemeinden bundesweit, erheblich gewachsen – von gerade einmal 79 Mitgliedern im Jahr 1989 auf 441 im Jahr 2005. Viele der neuen Mitglieder sprachen nur wenig Deutsch und hatten nach der Übersiedlung nach Deutschland beruflich nicht mehr richtig Fuß gefasst. Der Gemeinde verlangte dies einiges an Integrationsleistung ab und sie veränderte sich schließlich auch selbst strukturell von Grund auf, denn die wenigen „alten“ Mitglieder waren nun in der Minderheit.3

In Gelsenkirchen war es dem Engagement von Menschen wie Karin Clermont zu verdanken, die selbst keine Jüdin ist, dass nun die Chance ergriffen wurde, den Jüdinnen und Juden wieder einen sichtbaren Platz in der Stadt zu geben und ausreichend große Räumlichkeiten – was mit dem Bau der Neuen Synagoge inklusive Gemeindezentrum und Büros auch gelang. Schon der Tag der Einweihung der Synagoge zeigte Judith Neuwald-Tasbach, dass die jüdische Gemeinde fortan eine ganz neue Rolle in der Stadt spielen würde: „Wir wurden ja alle am Tag der offenen Tür nach der Einweihung von unglaublich vielen Menschen überrannt. 12.000 Menschen haben an dem Sonntag vor der Tür gestanden und da wurde mir klar, dass unser Leben ein anderes ist. Wir sind aus einem abgeschiedenen Hinterhof direkt in die Öffentlichkeit gekommen, an einen schönen Platz, der viel Bedeutung für uns hat, mit einem wundervollen Gebäude.“

Durch den Neubau war die Gemeinde trotz öffentlicher und privater Unterstützung hochverschuldet und musste jeden Cent umdrehen, wie Neuwald-Tasbach erläutert: „Das war eine ziemlich anstrengende Zeit und manche Nacht habe ich da nicht schlafen können, weil ich immer gedacht habe: ‚Wie wird das weitergehen?‘ Immer mit diesen Engpässen, wir mussten unsere Kredite bedienen, wir haben hier hohe Kosten. Am Anfang haben uns diese Kosten sozusagen erschlagen.“

„Mein Vorgänger im Amt [Fawek Ostrowiecki] hat einmal gesagt: ‚Als Vorsitzende der Gemeinde bist du nicht die Vorsitzende, sondern du bist die Dienerin der Gemeinde.‘ Und das habe ich immer berücksichtigt in meinem Leben, dass ich immer Gleiche unter Gleichen bin. Hier drinnen bin ich eine von vielen und nach draußen habe ich die Aufgabe, die Gemeinde zu vertreten. Aber ich stehe nicht über den Menschen, sondern ich bin hier mit den Menschen und das ist, glaube ich, eine ganz wichtige Erkenntnis für die Arbeit. Das ist wichtig, dass man das verinnerlicht.“

Mit Judith Neuwald-Tasbach wurde eine Frau Vorsitzende der Gemeinde, die auch aufgrund ihres familiären Hintergrunds in der Lage war, die Schnittstelle zu bilden zwischen der sich neu findenden Gemeinde mit Menschen, die sich wenig in den kulturellen und politischen Kontexten auskannten, und der Gelsenkirchener Gesellschaft und Politik. Ihre Eltern waren beide Holocaust-Überlebende.

Der Vater Kurt Neuwald wurde 1906 in eine Gelsenkirchener Kaufmannsfamilie geboren, die bereits seit 1880 ein Bettenfachgeschäft in der Innenstadt führte. Er war dessen Geschäftsführer und Mitinhaber, bevor es durch die Nazis verwüstet und durch die Behörden schließlich „arisiert“ wurde. Er heiratete 1939 die aus Essen stammende Rosa Stern. 1942 wurden er und seine Familie zunächst nach Riga, dann in weitere Lager deportiert. Seine Frau und 23 weitere Familienangehörige überlebten die Shoah nicht. Getrennt von seiner Familie durchlief Kurt einen Leidensweg durch verschiedene Konzentrationslager, er und sein Bruder überlebten schließlich die Zeit der Verfolgung und Vernichtung. Kurt wurde aus einem Außenlager des KZ Buchenwald befreit und kehrte im April 1945 nach Gelsenkirchen zurück.4

Mit anderen gründete er zunächst ein jüdisches Hilfskomitee, dann eine neue jüdische Gemeinde in Gelsenkirchen, deren Synagoge, Schule und weitere Gebäude 1938 während und infolge der antijüdischen Pogrome zerstört worden waren. Von den Juden und Jüdinnen, die 1945, nach der Befreiung, in Gelsenkirchen lebten, war Kurt Neuwald einer der ganz wenigen, der von dort stammte. Die meisten hatte es aus anderen Städten, Regionen oder Ländern nach Gelsenkirchen verschlagen, wo sie im nationalsozialistisch beherrschten Europa verfolgt worden waren, Familie, Freunde und Heimat verloren hatten.5 Darunter auch Cornelia Basch (geb. 1929), eine aus Ungarn deportierte Jüdin, die in einem KZ-Außenlager in einem Hydrierwerk in Gelsenkirchen-Horst Zwangsarbeit leisten musste und hier befreit worden war.6

Kurt Neuwald und Cornelia Basch heirateten, und eine ihrer beiden Töchter war Judith, die 1959 geboren wurde, kurz nachdem die neu gegründete Gemeinde eine kleine Synagoge im Hinterhof eines Gebäudes an der Von-der-Recke-Straße hatte bauen und eröffnen können.7 Etwa 117 Mitglieder hatte die Gemeinde zu diesem Zeitpunkt, doch trotz des Nachwuchses einiger Familien ging die Zahl in den kommenden Jahren immer weiter zurück – durch Wegzug (darunter Auswanderung nach Israel) und durch Überalterung.8

Judith Neuwald-Tasbachs Kindheit war von der Situation der nach der Shoah in Deutschland gebliebenen Juden und Jüdinnen tief geprägt: „Viele waren hier gestrandet, wollten aber ursprünglich gar nicht in Deutschland bleiben, sondern nach Israel. Sie hatten quasi die Koffer gar nicht ausgepackt. Dann kamen die Kinder in den Kindergarten und man verschob die Ausreise, sie kamen in die Schule und man wartete erneut. So schafften viele den Absprung nicht, einige gingen dann doch, wenn die Kinder groß waren, oder die Kinder selbst gingen als junge Erwachsene nach Israel.“ Ein anderer Teil der Juden „war hier fest angekommen und hat auch den Koffer ausgepackt, entschied sich zu bleiben. So war es bei meiner Familie. Das ist ein großer Unterschied in meiner Kindheit gewesen.“ Die Eltern bemühten sich, ihrer Tochter ein Leben mit Freundschaften auch zu nicht-jüdischen Kindern zu ermöglichen, aber das war keineswegs bei allen Gemeindemitgliedern üblich. „Es war immer ein reger Betrieb bei uns zuhause, ich brachte Schulfreunde mit, manchmal kamen auch Eltern zu Besuch. Wie schwierig dies war [gerade einmal 15 bis 20 Jahre nach Kriegsende, S.N.], bekam ich damals zuerst gar nicht mit, habe ich dann aber später begriffen. Meine Eltern mussten ja damit akzeptieren, mit Menschen an einem Tisch zu sitzen, die im Nationalsozialismus im besten Fall geschwiegen haben und passiv waren und im schlimmeren Fall aktiv mitgemacht haben bei der Verfolgung der Juden.“ Andere Gemeindemitglieder blieben entsprechend wesentlich misstrauischer gegenüber ihrer Umgebung, hier durften die Kinder keine Schulfreunde mit nach Hause bringen, sie konnten, so Neuwald-Tasbach, „niemals Normalität im Umgang mit anderen erleben“.9

Die Mutter starb 1969 mit 47 Jahren vermutlich an den Spätfolgen ihrer Deportation, Haft und Zwangsarbeit – Judith war zu dem Zeitpunkt noch keine 10 Jahre alt. Der Vater blieb bis ins hohe Alter Gemeindevorsitzender und engagierte sich auch überregional für die jüdische Gemeinschaft. So war er u. a. von 1963 bis 1994 Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe und gehörte von 1951 bis 1994 dem Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland an.10 Mit seinem Engagement für die jüdische Gemeinschaft in Judith Neuwald-Tasbach also groß geworden. „Hitler soll nicht im Nachhinein noch Recht bekommen, indem Deutschland ‚judenfrei‘ wird“, so sei seine Überzeugung nach ihrer Erinnerung gewesen. Dieses „Jetzt erst recht“ habe er auch seinen Kindern auf den Lebensweg gegeben.11

Anders als in der Zeit vor der Shoah, als es in Deutschland ein sehr vielfältiges Judentum mit orthodoxen, konservativen und mehrheitlich liberalen Gemeinden gab,12 waren die sehr kleinen Synagogengemeinden der Bundesrepublik bis 1989 überwiegend Gemeinden mit traditionell-orthodoxen Vorstellungen, aber aus pragmatischen Gründen keinen allzu strengen religiösen Vorschriften im Alltag. Man war froh, dass es überhaupt wieder Gemeinden, Synagogen und Gottesdienste gab.

Die Orthodoxie ist auch gegenwärtig noch die überwiegende Strömung innerhalb der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden, 2021 waren über 90 Prozent traditionell-orthodox ausgerichtet.13 So auch die Gelsenkirchener Gemeinde. In der Neuen Synagoge gibt es daher einen getrennten, aber nicht streng abgeriegelten Sitzbereich für Frauen, die im Rahmen der orthodoxen Gottesdienste keine Funktionen übernehmen dürfen. Gefragt, wie sie als weibliche Gemeindevorsitzende damit umgehe, sagt Judith Neuwald-Tasbach: „Für mich ist es kein Konflikt […] Wenn ich durch die Synagogentür gehe, dann sitze ich hinten bei den Frauen. Und ich sage mir immer: ‚Wichtig ist, dass man in den Herzen der Leute vorne sitzt.‘ Da spielt es keine Rolle, ob ich in der ersten Reihe vorne sitze oder ganz hinten an der Wand. […]  Judentum unterdrückt Frauen nicht, sondern Frauen haben eben keine Aufgabe in der Synagoge im orthodoxen Judentum. Aber wir haben Aufgaben im familiären und sozialen Bereich. Und wenn ich dann durch die Synagogentür wieder hinausgehe, dann bin ich natürlich eine sehr emanzipierte Frau, die sich auch früher schon in einer Männerwelt durchsetzen konnte.“

Judith Neuwald-Tasbach vertrat als einzige Frau im Vorstand ihre Gemeinde im Bund traditioneller Juden in Deutschland e. V. (BtJ), in dem Gemeinden Mitglied werden können, die „sich dem traditionellen Judentum, d. h. der jüdischen Religion und Lehre in ihrer über tausendjährigen Tradition des toratreuen Judentums in Deutschland, verpflichtet fühlen“.14 Knapp 30 Gemeinden wirken darin mit, die alle auch dem Zentralrat der Juden in Deutschland, der wichtigsten jüdischen Dachorganisation, angeschlossen sind. Auch in dessen Direktorium war Neuwald-Tasbach stellvertretende Delegierte für den Landesverband der jüdischen Gemeinden in Westfalen-Lippe.

In den vergangenen Jahren, nach der Einwanderung von Juden und Jüdinnen aus der ehemaligen Sowjetunion, beginnt wieder eine stärkere Ausdifferenzierung innerhalb des deutschen Judentums. So gibt es inzwischen eine Reihe liberal-progressiver Gemeinden, z. B. in Köln, Oberhausen, Unna und Bielefeld, die in der Union progressiver Juden in Deutschland und in einem entsprechenden Landesverband in NRW organisiert sind. Von 2015 bis 2021 amtierte Natalia Vezhbovska für den Verband als Rabbinerin, seit 2022 ist sie Gemeinderabbinerin in Bielefeld und damit eine von über zehn Rabbinerinnen in Deutschland.15

Judith Neuwald-Tasbach sieht dies in keiner Weise dogmatisch: „Im Leben meines Vaters gab es die Vorstellung nicht, dass eine Frau auch eine Rabbinerin sein kann, einfach, weil er es nie gesehen oder gehört hatte, obwohl es auch schon vor dem Dritten Reich Rabbinerinnen gab. Also ich persönlich denke, das Judentum ist eine wunderbare Religion mit so vielen Facetten, und es ist schön, dass auch Frauen Rabbinerinnen werden können oder Vorbeterinnen, Kantorinnen. Ich kenne auch einige und ich denke, es ist gut, dass es auch liberale Gemeinden gibt. Und ich bin auch froh, dass es wieder ganz orthodoxe Gemeinden gibt, die sich sehr intensiv dem Glauben widmen in sehr orthodoxer Hinsicht. Aber ich bin einfach dankbar, dass das Judentum wieder vielfältig ist, denn das ist ja das, was das Dritte Reich endgültig zerstört hat bei uns, es hat nicht nur die Menschen und die Gebäude hinweggenommen, sondern auch die Vielfalt im Judentum und das Wissen um das Judentum. Deshalb freue ich mich, dass wir heute wieder Vielfalt im Judentum haben, wobei meine persönliche Welt das traditionell orthodoxe Judentum ist.“

Die jüdische Gemeinde Gelsenkirchen ist Mitglied im „Interkulturellen Interreligiösen Arbeitskreis Gelsenkirchen“ und sucht darin den Kontakt zu Christ*innen und Muslim*innen. „Wir versuchen, im Interkulturellen Arbeitskreis miteinander die Dinge zu besprechen und mehr Gefühle füreinander zu entwickeln. Ich glaube, letztendlich ist das immer eine Sache des Kennenlernens, wenn man sich kennt, dann werden Vorurteile abgebaut. Es ist der eine einzige Weg zu begreifen, dass wir es nur miteinander schaffen werden“.

Umso mehr hat Judith Neuwald-Tasbach es als Rückschlag empfunden, als am 12. Mai 2021 eine Menge von überwiegend muslimischen Demonstrant*innen, die vorgab, sich mit den Palästinenser*innen in Israel und den besetzen Gebieten zu solidarisieren, vor der Gelsenkirchener Synagoge israel- und judenfeindliche Parolen rief, darunter auch „Juden raus“.16 „Ich habe mich noch nie so schlecht gefühlt in meinem Leben wie nach diesem schrecklichen Aufmarsch. Man muss hart daran arbeiten, dass man wieder Vertrauen fasst und Mut hat weiterzumachen und auch in die Öffentlichkeit zu gehen“, so schaut Judith Neuwald-Tasbach auf diesen Tag zurück.

Generell macht ihr der wachsende Antisemitismus große Sorgen. „Er hat sich verändert, er ist härter geworden, brutaler. Es ist so, dass er sich in den sozialen Netzwerken ausbreitet und manchmal wissen die Menschen gar nicht, warum sie das tun, aber sie tun es und sie begreifen nicht, was sie damit anrichten. Ich glaube, dass jemand, der einmal beschimpft oder angegriffen worden ist als Jude, der wird sein Leben lang ein Trauma haben, weil er sich einfach in einer Eigenschaft angegriffen fühlt, die man nicht ablegen kann. Man kann die Haarfarbe vielleicht verändern, aber man ist Jude und wenn man deshalb beschimpft wird, dann spürt man, dass etwas Grundlegendes in diesem Land nicht funktioniert, nämlich das Grundgesetz, dass uns ja alle schützen soll.“

Zwar werde in Gelsenkirchen viel getan gegen Antisemitismus, besonders in und mit den Schulen. Dennoch sieht sie die Gefahr, dass die antisemitische Stimmung auf Dauer den Schrumpfungsprozess vieler jüdischer Gemeinden verstärken könne. „Wenn die Leute immer Angst haben, von Jugendlichen in der Schule beschimpft zu werden, kommt der Moment, wo man sich nicht mehr als Jude outet, wo man sich von seiner Religion entfernt.“ Aufgrund der demografischen Situation ist in vielen Gemeinden sowieso ein Mitgliederrückgang zu verzeichnen. Nur in großen Städten wie Frankfurt, München, Berlin, Düsseldorf und Köln ist das anders. „Aber Judentum ist eine Religion, die ortsnah gelebt werden muss“, sagt Neuwald-Tasbach. „Ich bin der Meinung, dass man die vielen kleinen Synagogen erhalten muss, um den Menschen vor Ort jüdische Betreuung, jüdisches Leben und jüdischen Spirit zu geben. Das ist ganz wichtig, dass sie hier eine Anlaufstelle haben, sozusagen ihre jüdische Familie, wo sie hingehen können. Das würde ich sehr befürworten, dass man das so lange wie möglich aufrechterhält.“

Es ist also noch viel zu tun, und Judith Neuwald-Tasbach möchte sich auch in Zukunft engagieren – aber ab 2023 nicht mehr als Gemeindevorsitzende.17 Sie wird nicht mehr für dieses Amt kandidieren. Zuvor hat sie jedoch noch eine wichtige strukturelle Veränderung in ihrer Gemeinde auf den Weg gebracht: der oder dem zukünftigen ehrenamtlichen Gemeindevorsitzenden wird endlich ein*e Geschäftsführer*in zur Seite gestellt.

Die 22 Jahre Engagement für die Gemeinde kamen Judith Neuwald-Tasbach in der Rückschau wie 44 vor – eine extrem intensive Zeit, die sie nicht missen möchte. Die Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen, aber auch die Gelsenkirchener Stadtgesellschaft hat ihr sehr viel zu verdanken.18

Stefan Nies

Orte:

Synagoge Gelsenkirchen, Georgstr. 2, 45879 Gelsenkirchen

 

Literatur:

Ahrens, Jehoschua: Orthodoxes Judentum in Deutschland, Beitrag auf Website der Bundeszentrale für politische Bildung, 11.05.2021 https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/juedischesleben/329224/orthodoxes-judentum-in-deutschland/, Abruf 21.11.2022
Dritter Bericht der Antisemitismusbeauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen, Fakten, Projekte, Perspektiven, Berichtszeitraum Januar bis Dezember 2021, [Düsseldorf 2022], online: https://www.land.nrw/media/27883/download, Abruf 11.11.2022.
Goch, Stefan, Jüdisches Leben – Verfolgung, Mord, Überleben. Ehemalige jüdische Bürgerinnen und Bürger Gelsenkirchens erinnern sich, Essen 2004.
Nies, Stefan, Die Neue Synagoge und das Gemeindeleben bis zur Gegenwart, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust: Die jüdische Gemeinde Gelsenkirchen nach 1945, Essen 2021 (Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte – Materialien, 13), S. 126–151.
Nies, Stefan, Neubelebung des Judentums ab 1990, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust, S. 107–125.
Nies, Stefan, Juden und Jüdinnen in Gelsenkirchen nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust, S. 49–55.
Nies, Stefan, Der Neubeginn der jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust, S. 71–80.
Nies, Stefan, Auf gepackten Koffern? Jüdischer Alltag bis 1989/90, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust, S. 81–85.
Sobotka, Heide, Kurt Neuwald – Auf immer Vorbild. Erinnerungen zum hundertsten Geburtstag von Kurt Neuwald, in: Jüdische Allgemeine, 23. November 2006.

Zitation: Nies, Stefan, Judith Neuwald-Tasbach, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/judith-neuwald-tasbach/

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Johanna (Ruth) Eichmann

„Mischehe“, „Schutztaufe“, „Zwangsarbeit“ – diese Begriffe deuten einen dramatischen und wechselreichen Kontext bereits an, in dem sich das Leben der in Recklinghausen aufgewachsenen Ruth Eichmann abspielte. Und wenn noch die biografischen Stichworte Ordens-Oberin, Schulreformerin und Geschichtswerkstatt hinzutreten, wird es erst recht spannungsreich.

Ruth Eichmann wurde am 24. Februar 1926 in Münster geboren und wuchs in einer jüdisch geprägten mittelständischen Mehrgenerationen-Familie in Recklinghausen auf. Eine als Köchin gerühmte dominante Großmutter, ein patriotischer Großvater, eine der jüdischen Gemeinde sehr verbundene Mutter und ein katholischer Vater, der in einem Marler Möbelgeschäft arbeitete, bildeten die behütende Umgebung, die recht bald durch die Diskriminierungen der frühen NS-Zeit in Frage gestellt wurde. Ab 1932 besuchte sie, weil der Familie die lokale jüdische „Zwergschule“ nicht ausreichend erschien, eine katholische Volksschule. Als der städtische Schulträger im September 1933 die jüdischen Kinder aus den allgemeinen Schulen verwies, wurde beschlossen, das Kind taufen zu lassen – mit der katholischen Lehrerin als Patin, die wohl sehr besorgt war um die angemessene christliche Erziehung in einer so jüdischen Umgebung. Bezeichnenderweise wurde diese Zeremonie nichtöffentlich in der Sakristei der St. Petruskirche abgehalten.

Doch blieb und steigerte sich für Ruth unter den sich verschärfenden Bedingungen die Position einer Außenseiterin – „ich habe ungeheure Ängste gehabt“, bekannte sie 2004 in einem Interview.1 Was die Großeltern „Risches“ nannten, nahm merklich zu – mit antisemitischen Ausgrenzungen, Schmähungen, Pöbeleien der anderen Schüler*innen, den SA-Horden und ihren blutrünstigen Liedern auf den Straßen. Zwar gaben die „Schutztaufe“ und der ehedem als „Goi“ nicht ganz willkommene Vater nun, erst recht nach dem Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze 1935, der Familie einen unerwarteten Schutz. Aber das Gerücht von einer Schule, in der es anders zugehe, brachte die 10-Jährige auf die Idee, in das „Pensionat“ genannte Internat des Ursulinen-Ordens im benachbarten Dorsten zu wechseln; dessen Oberin genehmigte den Übertritt zu Ostern 1936.

Schonraum Kloster-Internat
„Das Leben im Pensionat war streng reguliert, aber es war angstfrei“ und „Endlich war ich wieder Kind unter Kindern“, erinnerte sich Ruth/Johanna Eichmann in ihren Memoiren.2 Die offene Atmosphäre, die sie dort empfand, verband sich bald auch mit diskreten Hinweisen der Lehrerinnen, dass ihre jüdische Herkunft kein Makel und kein Grund zur Scham sei. Die Klöster und ihre Einrichtungen gerieten zwar immer mehr unter den Druck nationalsozialistischer Schikanen, doch in Dorsten wurden weiterhin mehrere jüdische Kinder beschult. Dass unter den Dorstener Ursulinen hochgebildete und weitsichtige Frauen, wie z. B. die mit der Philosophin Edith Stein befreundete Oberin Petra Brüning, tonangebend waren, wird zu dieser klugen Resistenz beigetragen haben.

Die Ereignisse rund um den 9. November 1938 signalisierten sowohl ihrer Familie als auch den Schüler*innen in Dorsten, dass die schon lange verkündeten Nazi-Gewaltakte näher rückten. Die Wege ihrer Verwandten – etwa des Großvaters, ab Anfang 1939 im belgischen Exil und später deportiert und ermordet – müssen hier ausgeklammert werden.3 Doch auch der Schonraum von Kloster und Ursulinenschule schwand; die schon ab 1939 geplante Verstaatlichung der Schule wurde im Sommer 1941 mit Verspätung realisiert, eine „Nazisse“ als Leiterin installiert. Die schwierige Frage, ob eine „halbjüdische“ Schülerin jetzt noch haltbar sei, wurde zunächst vertagt durch einige Monate Landeinsatz bei ostwestfälischen Bauern. Doch im Herbst 1942 erfolgte der Schulverweis und warf die Frage nach Alternativen auf. Ohne klare Pläne absolvierte Ruth Eichmann dann an einer privaten Sprachenschule in Essen (dort wurde nicht nach dem „Ariernachweis“ gefragt) eine neunmonatige Dolmetscherausbildung in Französisch und nahm in der Essener Verwandtschaft auch die damals schon recht deutlichen Nachrichten über Deportationen „nach Osten“ wahr. Sie begab sich arbeitssuchend, eher zufällig einer Freundin folgend, nach Berlin.

Berliner Chaos 1943–1945
Die dortige Deutsche Arbeitsfront (DAF) sah sich für die Arbeitsvermittlung von „Nichtarierinnen“ nicht zuständig, Im „Commissariat général pour les travailleurs français en Allemagne“,4 einer der Pétain-Vichy-Regierung (und der DAF) verbundenen Agentur in der Nähe des Alexanderplatzes, die Zwangs- und Zivilarbeiter*innen betreute, wurde sie jedoch ab Dezember 1943 angestellt; hier ging es um Sozialbetreuung und Kontakte der nach Deutschland Verschleppten zu ihren Familien. In einem von Nonnen geleiteten Wohnheim fand sie Unterkunft und tauchte zugleich ein in die unübersichtliche, bereits von Bombardierungen und partiellem Kontrollverlust gekennzeichnete Großstadt, schloss Freundschaften mit anderen Marginalisierten wie z. B. ukrainischen Zwangsarbeiterinnen, sah lesbische Freundschaften in ihrem Wohnheim, machte ergreifende Theatererfahrungen. Auch ein Berlin-Besuch ihrer Mutter war im Sommer 1944 noch möglich. Doch im September dieses Jahres zerbrach der Schutz der „privilegierten Mischehe“: Martha Eichmann wurde in ein Lager der Organisation Todt in Nordhessen verschleppt und nach der Tochter wurde gesucht. Und auch die Arbeitsstelle beim Commissariat wurde gekündigt – nun waren auch dort „Halbjuden“ nicht mehr tragbar. Einige Wochen lang erprobte Ruth Eichmann das gefährliche „Untertauchen“, aber ihre Netzwerke waren zu labil und sie wollte ihre Freundinnen nicht weiter gefährden. Dann schickte die Deutsche Arbeitsfront sie zwangsverpflichtet in eine Tischlerei in Berlin-Weißensee, wo sie Hilfs- und Büroarbeit leistete. Ein Bunker in der Albrechtstraße, nahe der Weidendammer Brücke, war dann ihr gespenstisch-surrealer Aufenthaltsort der letzten Kriegstage im April 1945, wo sie auch die hysterischen Reaktionen von Nazifrauen auf den Tod Hitlers studieren konnte. Es gelang ihr nach der sowjetischen Eroberung Restberlins, sich zu ihren ukrainischen Freundinnen durchzuschlagen, die über ihre Beziehungen zur Künstler*innen-Bohème um Marianne Hoppe eine Villa in Halensee nutzen konnten.

„Heim“-Weg?
Als Verfolgte konnte Ruth Eichmann einen Passierschein zum Verlassen Berlins erlangen und auf verschlungenen Wegen – über Jüterbog, Leipzig, Erfurt und Bebra – bewegte sie sich nach Westen bis nach Recklinghausen. Nachbarn halfen ihr, die dort empfangene Nachricht zu verarbeiten, dass ein Paul Eichmann nun (von den Amerikanern ernannter) „Oberbürgermeister von Marl“ sei, und da in den letzten Kriegswochen auch Ruths Mutter aus der Zwangsarbeit befreit worden war, erlebte sie die Wiedervereinigung der Familie in Marl.

Was tun mit der abgebrochenen Schulausbildung? Weil die Neubelebung der Dorstener Ursulinenschule sich zu lange hinzog, besuchte sie einen sogenannten Förderkurs an einer Recklinghäuser Oberschule und legte im Oktober 1946 ihre Abiturprüfung ab. Übrigens nicht ohne Widerstände: die auf ihrem bisherigen Weg recht selbstbewusst gewordene junge Frau eckte bei den Lehrer*innen durchaus, auch politisch, an. Auf dem Zeugnis fand sich die Notiz „Ruth Eichmann will Journalistin werden.“

„ich vagabundierte…“
Schon zum Wintersemester desselben Jahres schrieb sie sich für die Fächer Publizistik und Romanistik an der Universität Münster ein und „vagabundierte durch verschiedene Fakultäten auf der Suche nach einem Faszinosum“, wie sie rückblickend vermerkte. So etwas fand sie dann eher bei den Philosophen und Germanisten, z. B. bei den Professoren Joachim Ritter und Benno von Wiese.5 1948 konnte sie ein Stipendium für ein Studienjahr in Toulouse/Frankreich erhalten; sie schaffte es auch, ungeachtet der eben erst beendeten Kriegs- und Besatzungserfahrungen, bei einer französischen Familie unterzukommen. Eine notdürftig möblierte und geheizte Garage wurde ihr asketisches Zuhause für dieses Jahr voll neuer Erfahrungen und Eindrücke in Frankreichs Süden. Ihr Staatsexamen legte sie dann Anfang 1952 in Münster ab.

„den Nonnenhut!“
Als sei es das Selbstverständlichste, verkündete Ruth Eichmann in diesem Frühjahr 1952 ihren Willen, dem Orden der Ursulinen in Dorsten beizutreten. Es war für ihre Eltern eine schockierende Wende, weil dies angesichts der damaligen Ordensregeln eine radikale Reduktion von Kontakten bedeutete; und auch andere Wegbegleiter*innen wunderten sich, dass sie nicht eher eine Promotion anstrebte. Attraktive Lockrufe ihrer nach Brasilien geretteten Verwandten konnten an dieser Entschlossenheit nichts ändern. Ihre Motive für diese Entscheidung waren wohl eine enorme Dankbarkeit gegenüber der Gemeinschaft der Ursulinen, aber auch die erfahrungsgesättigte Aussicht, an diesem Ort ihre jüdisch-christliche „Zwischenidentität“ entwickeln und leben zu können.6

Der Orden – damals noch charakterisiert durch eine Hierarchie von „Laienschwestern“ und „Chorschwestern“ – nahm sie am 1. November 1952 auf und verlieh ihr den neuen Namen „Schwester Johanna“. Abgesehen davon, dass die junge Frau diesen Schritt als Rückkehr in eine klare Zugehörigkeit empfand, glitt sie schnell in neue Rollen hinein, indem sie an den beiden vom Orden getragenen Schulen (Gymnasium und Realschule) Unterricht erteilte und pädagogische Aufgaben außerhalb des Unterrichts übernahm. Übrigens war sie zu diesem Zeitpunkt nicht die einzige „Exotin“ im 60-köpfigen Konvent, war doch bereits zwei Jahre zuvor die Künstlerin Tisa von der Schulenburg nach einem weltläufigen Bohème-Leben und zwei Ehen hier als Kunsterzieherin Schwester Paula eingezogen.

Seit Mitte der 1950er-Jahre und verstärkt mit dem II. Vatikanischen Konzil (1962–1965) wurden der Katholizismus und auch die Ordensgemeinschaft der Ursulinen von großen Modernisierungswellen durchgeschüttelt – in der Sprache des Vatikans ein „aggiornamento“. Die Neuerungen – weniger Hierarchie, mehr Hinwendung zur „Welt“, Reform der anachronistischen Ordenskleidung, Abschaffung der „Klassengesellschaft“ von dienenden und lehrenden Schwestern – wurden in Dorsten und auch von Schwester Johanna bejaht, ja als Rückkehr zu den eigentlichen Intentionen dieses Ordens angesehen, die mit der bisherigen nicht nur räumlichen, sondern auch „geistigen Klausur“ unvereinbar schienen. Die ursprünglich innerweltliche Laiengemeinschaft habe sich von kirchlichen Mächten wie dem Jesuitenorden zu Lebensformen drängen lassen, die die ursulinischen Gründungsabsichten – u. a. die einer umfassenden Mädchenbildung und einer Synthese von Aktion und Kontemplation – einschränkten.7 Die damalige Dorstener Oberin, die bald zur engen Freundin von Johanna Eichmann wurde, konnte als Beraterin am Konzil in Rom teilnehmen und die öffnenden Entwicklungen vorantreiben. Übrigens wagte dieses Konzil auch erste vorsichtige Revisionen der traditionellen katholischen Judenfeindschaft.8

Schule als Lebensaufgabe
Im Frühjahr 1964, als die Ordensschwestern noch entscheidend den Unterricht prägten, wurde die damals 38-Jährige überraschend zur Leiterin des Gymnasiums bestimmt. Sie fügte sich dem erwarteten Gehorsam, sollte jedoch bald unerwartete Schussfolgerungen ziehen, die zum zunächst abwertend gemeinten, später aber von ihr als Ehrentitel verstandenen Etikett „rote Johanna“ führten. Diese Etikettierung ist nur aus den bildungspolitisch überhitzten 1960er- und 1970er-Jahren zu verstehen – eigentlich ging es hier lediglich um pädagogische Neuerungen, die in der Luft lagen und wenige Jahre später quasi zum schulischen Allgemeingut wurden. Die insgesamt nicht erst seit 1968 in Bewegung geratende Gesellschaft ließ die Rufe nach Schulreformen allmählich lauter werden. Und die neue Direktorin, damals möglicherweise die jüngste Schulleiterin in ganz Nordrhein-Westfalen, wagte probierende Reformen: Dazu gehörten die Auflösung der Klassenverbände in der Oberstufe, eine partiell freie Fächerwahl und viele Arbeitsgemeinschaften, mehr Schülermitbestimmung, Förderung des Übergangs von der Realschule zum Gymnasium. Der Status der „Privatschule“ machte es möglich, mit solchen Experimenten lange vor den allgemeinen Schul- und Oberstufenreformen Ernst zu machen. Die im konservativ-katholischen Bürgertum der Stadt sehr umstrittene Öffnung der Mädchenschule für Jungen war ein weiterer revolutionärer Schritt.9 Auch in diesen Fragen dürfte Johanna Eichmanns immer wieder durchgearbeitete Rückbesinnung auf die autonomen Intentionen der Ordens-Gründungszeit beflügelnd gewirkt haben: „Ursulinen erziehen anders!“10

„Ich habe nie aufgehört, Jüdin zu sein“
Schon seit Mitte der 1960er-Jahre befasste sich Johanna Eichmann mit dem jüdisch-christlichen Dialog, auch inspiriert durch die päpstliche Enzyklika „Nostra aetate“ von 1965. Debatten mit Rabbiner Robert Raphael Geis, Tagungskontakte und eine erste Studienreise nach Oświęcim/Auschwitz, wo im August 1943 ihr geliebter Großvater ermordet worden war, waren erste Stationen eines von ihr als „Rückkehr zu den Wurzeln“ bezeichneten Weges. 1983, mit einer Ausstellung der ein Jahr zuvor gestarteten Geschichtswerkstatt „Dorsten unterm Hakenkreuz“, erfuhr sie den Anstoß zu einer intensiveren Auseinandersetzung. Sie wurde aktives Mitglied dieser kleinen, zunächst sehr misstrauisch beäugten Gruppe, die insgesamt fünf Bände zur jüdischen Lokalgeschichte der Nazizeit sowie zur lokalen Vor- und Nachkriegszeit publizierte. Der Beitritt der strengen Schulleiterin und hochgeachteten „Honoratiorin“ dürfte damals erheblich zum Abbau von Vorurteilen gegen die „Nestbeschmutzer*innen“ beigetragen haben. Und für sie wurde dieser Arbeits- und Freundeskreis zum Rahmen einer langen Selbstbesinnung, die ab 1988 auch ganz demonstrativ, in Zeitungsinterviews etc., eine Präsentation ihrer Doppel-Identität erlaubte.

Weitere Forschungen, Vorträge und Wanderausstellungen, Kontakte zu jüdischen Überlebenden in Israel und den USA führten in diesem Kreis zum nächsten Projekt: der Idee nämlich, ein kleines Dokumentationszentrum zur jüdischen Lokalgeschichte zu errichten. Bis zur Eröffnung und Etablierung des Jüdischen Museums Westfalen dauerte es dann noch einige Jahre, doch der 1987 gegründete Verein erfuhr nun so viel Unterstützung aus Lokal-, Regional- und Landespolitik sowie der Wissenschaft, dass 1991/92 ein Gebäude aus den 1890er-Jahren renoviert und im Juni 1992 eröffnet werden konnte. Die 1991 pensionierte Schulleiterin Johanna Eichmann übernahm die ehrenamtliche Museumsleitung und übte dieses Amt – gestützt von einem großen Team Freiwilliger – 14 Jahre lang aus. Dies war nicht nur eine dekorative Rolle – vielmehr leitete sie das gesamte Veranstaltungsprogramm, arbeitete am Lobbying und der Vernetzung der neuen Institution so erfolgreich, dass schon vor ihrem Ausscheiden eine allmähliche, aber deutliche Professionalisierung und Qualifizierung möglich wurde. Sichtbarstes Zeichen dieser Weiterentwicklung war ein 2001 eröffneter Neubau, in dem eine von Johanna Eichmann mitkonzipierte neue Dauerausstellung Platz fand, die endlich auch den anfangs etwas kühnen Anspruch erfüllte, die jüdische Geschichte Westfalens zu präsentieren. Die Funktion dieses Hauses, den während der Naziherrschaft in alle Welt Vertriebenen und ihren Familien einen Anknüpfungspunkt zum neuen Deutschland zu geben, war ihr überaus wichtig. Doch trotz dieser unbezweifelbaren Bezüge blieb ihr programmatisches Motto, wie sie 2003 in der Museumszeitung schrieb: „Im Blick von heute hat die Phase der Zerstörung jedoch nicht das letzte Wort.“

Themen ihrer publizistischen und Bildungsaktivitäten blieben der jüdisch-christliche Dialog, aber ebenso die Rolle jüdischer Frauen, die NS-Politik gegenüber den „Mischehen“, die Historie und die Wandlungen jüdischer Traditionen und Rituale. Als Zeitzeugin konnte sie nun ihre Familiengeschichte in Schulen, Volkshochschulen, Akademien, aber auch in muslimischen Gemeinden der Region vorstellen.

Frauen: Autonomie und Macht
Es ist unübersehbar, dass Johanna Eichmanns seit den 1980er-Jahren geführte Auseinandersetzungen mit den jüdischen Traditionen auch ein Ringen um die eigene Identität bedeutete. Weibliche Autonomie war dabei eines ihrer subkutanen Themen – nicht nur in der Wiederentdeckung ursulinischer Freiheiten in der Ordenstradition oder in der weiblich dominierten Museums-Gründungsgruppe, sondern auch im Judentum. So äußerte sie in einem Aufsatz 1996:
„Man wird der Stellung der Frau im traditionellen Judentum nur gerecht, wenn man sich die Hochachtung vor Augen hält, die ihr als Ehefrau und Mutter erwiesen wird. Gegenüber dem Mann als ‚Kult- und Kulturträger‘ mag sie zwar nach außen hin als Unter- bzw. Nachgeordnete erscheinen, tatsächlich ist aber sie die ‚Erschafferin, Gestalterin und Hüterin des jüdischen Heimes‘. Sie ist dessen Mittelpunkt schlechthin. Das Zentrum des jüdischen Lebens ist ja nicht die Synagoge, in der die Männer in der Regel das Sagen haben; das Zentrum des jüdischen Lebens ist das jüdische Haus, in dem die Frau das Sagen hat. Sie bestimmt die geistige Richtung der Familie, von ihr lernen die Kinder die ‚primären Prinzipien des Judentums‘; von ihr hängt es ab, ob das Haus ein jüdisches Zuhause ist, ob Jüdischkeit das Leben in der Familie prägt.“ 11

Solch zurückgewonnenes jüdisches Selbstbewusstsein, das im oft von Johanna Eichmann zitierten Titelmotto „Unser Rüthchen bleibt ein Jüdchen“, einem Ausspruch ihrer Großmutter, deutlich wird, machte es auch möglich, dass sie einzelnen jungen Frauen aus der Gruppe der „Kontingentflüchtlinge“ in den 1990er-Jahren informellen jüdischen Religionsunterricht erteilte.
Parallel dazu – von 1995 bis 2007 – bekleidete sie das Amt der Oberin des Dorstener Ursulinenkonvents. Viele Auszeichnungen – darunter die Ehrenbürgerschaften der Stadt Dorsten und des Vestischen Kreises Recklinghausen – erreichten sie. Besonders erfreut war sie über die Verleihung der Dr. Ruer-Medaille der Jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen, weil sie sich damit auch von jüdischer Seite „angenommen“ sah.
Johanna Eichmann verstarb am 23. Dezember 2019 in Dorsten; die Stadtgesellschaft bereitete ihr einen würdigen Abschied an ihren wichtigsten Wirkungsstätten Kloster, Ursulinenschule und Museum. Die Bildungs-Initiative „Zweitzeugen“12 bemüht sich um die anhaltende Vermittlung ihrer Lebenserfahrungen.

Dr. Norbert Reichling
Transparenz-Hinweis: Der Autor arbeitete 10 Jahre lang mit Johanna Eichmann im Trägervereins-Vorstand des Jüdischen Museums Westfalen zusammen.

Orte:

Ursulinenkloster und Gymnasium St. Ursula, Ursula-Str. 8-12, 46282 Dorsten
Jüdisches Museum Westfalen, Julius Ambrunn-Str. 1, 46282 Dorsten

Zitation: Reichling, Norbert, Johanna (Ruth) Eichmann, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/johanna-ruth-eichmann-1926-2019/

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Schwertes aufmüpfige Frauen

An einem Sonntag im Juli 1816 – die Quelle gibt kein genaues Datum an – versammelten sich in Schwerte vor dem Ostentor mehr als 100 „Weiber“, um ihre Kühe in den Kämmereiwald zu treiben, der in Schonung gelegt war. Im Juli 1816 wurde Schwerte von einem wahrlichen Frauen-Aufstand heimgesucht. In dem beschaulichen Städtchen im mittleren Ruhrtal lebten zu diesem Zeitpunkt 1.550 Menschen.1

Aktenkundig geworden sind von diesen aufmüpfigen Frauen Anna Catharina Rösener, Anna Maria Glaser und Anna Maria Sauerland.2Die Frauen starteten ihre Zusammenrottung am Sonntag, an welchem Ruhe und Stille zu herrschen hatte. Sie entheiligten den Sonntag durch „wildes Geschrei und ungehörige Äußerungen“. 3 Am nächsten Tag wiederholte sich das Schauspiel noch einmal und Bürgermeister Mitsdörffer (1849-1858) hielt fest: „Wer das wilde Geschrei gehört und das Durcheinanderlaufen der Weiber gesehen, konnte nicht anderes glauben, als sähe er eine Rotte Menschen aus dem rohesten Welttheile“.4 Bürgermeister Mitsdörffer stellte mit dieser Formulierung vom „rohesten Welttheile“ die Schwerter Frauen außerhalb mitteleuropäischer Zivilisation, schloss sie aus seiner Stadtgesellschaft aus und machte sie wahrlich zu Fremden. 5

Allmendewirtschaft

Seit Jahrhunderten hatten die in einzelnen Nachbarschaften organisierten Bürger diverse Nutzungrechte und bestimmte Hegepflichten in Bezug auf den Kämmereiwald: Er diente zur Schweinemast mit Eicheln und Bucheckern im Herbst, lieferte Holz  und Laub für den Brennstoffbedarf, Holz für den Hausbau oder die Renovierung. 6 Der Rechtsbegriff für dieses Gemeingut lautete Allmende. Diesem alten Rechtebegriff ist die Gemeinschaft freier Männer und ihre gemeinsame Verfügung über Wald und Wiesen bereits eingeschrieben. 7 Die Allmende ist als neudeutscher Begriff Common aktuell wieder in der Diskussion.8 Wegen des hohen Gemeinnutzes schützte die lokale Obrigkeit den Wald. Die Nutzung von Allmenden war seit langem genauestens geregelt. Im Rahmen nachhaltiger Waldbewirtschaftung wurden immer wieder bestimmte Abschnitte für Vieh gesperrt und aufgeforstet. Der Ordnung halber sei angemerkt, dass die Vorsitzenden der Nachbarschaften – in Schwerte nannten sie sich Schichtmeister und bildeten ein reines Männergremium, weil Frauen nicht in diese Funktion gewählt werden konnten  – einer Abtretung der Weiderechte am Wald 1814 zugestimmt hatten und seit 1816 der Staat Preußen die Forstaufsicht führte. 9 So war im gleichen Jahr der junge Eichenwald in Schwerte für das Vieh gesperrt worden.

Gegen diese Sperrung verstießen nun die mehr als 100 Schwerter Frauen, als sie sich vor dem Ostentor trafen, um ihre Kühe in den Wald zu treiben. Das Ostentor war das größte und bedeutendste Tor der Stadt, alle Bewegungen in Richtung Dortmund, Unna und den östlichen Hellwegraum mussten dieses Tor passieren. Zu vermuten ist, dass die Frauen mit ihrer Blockade auch ihren Protest gegen die Entscheidung der Schichtmeister hinsichtlich der Abtretung der Rechte auf die Waldweide kundtaten.

Das Jahr ohne Sommer

Doch handelten die Frauen aus Verzweiflung. Im Jahre 1816 herrschte – nicht nur – in Westfalen eine unglaubliche Hungersnot und Teuerungskrise. Die Chronik von Schwerte-Westhofen berichtet von einer großen Nässe, wodurch die Aussaat erstickte, die Kartoffeln verfaulten, das Heu verdarb und das Vieh krepierte. 101816 führten schwere Regen und Hagelschauer zu Überflutungen. Das nasse Klima vernichtete auch das in den Gärten angebauten Sommer- und Wintergemüse, das eine wichtige Nahrungsquelle in städtischen Gebieten darstellte. Schlacht- und Milchvieh litt unter dem Mangel an Futter und war in schlechtem Zustand. Ausreichende Vorräte konnten wegen der bereits kärglich ausgefallenen Ernten 1814/1815 nicht angelegt werden. Die besonderen Belastungen durch die Befreiungskriege von 1813 bis 1815, mit denen die französische Vorherrschaft unter Napoleon Bonaparte in Europa beendet wurde, hatten die Lage noch verschärft.11 Abziehende französische Truppen zogen seit 1813 auch an Schwerte vorbei, die Stadt musste Einquartierungen und Vorspanndienste leisten. „Die Menschen begegnen ihrem Schicksal nicht passiv, sondern interagieren mit ihrer Umwelt. Sie fällen Entscheidungen zur Linderung der Not, passen sich an die widrigen Verhältnisse an, versuchen die Ursachen zu bekämpfen und ihr individuelles Wohlbefinden zu verbessern.“ 12 So auch die Schwerter Weiber. Die Frauen trieben das Vieh in die Eichenschonung, weil das Gras überall schon abgegrast war. Mit ihrer in der Not geborenen Strategie durchkreuzten sie die auf Nachhaltigkeit angelegte forstwirtschaftliche Logik.

Turbulente Wetter

Bereits im viel zu kühlen Mai hatte es 1816 angefangen zu regnen – und es hörte einfach nicht mehr auf. Unter einer geschlossenen Wolkendecke und mit außergewöhnlich kühlen Temperaturen (nachts zum Teil nur noch 3 Grad Celsius im Mai) verging der gesamte Sommer, der bis in den September permanent Regen, Sturm und Hagel bescherte. Die katastrophale Missernte brachte eine flächendeckende Hungersnot. Die Preise für Brotgetreide stiegen ins Unermessliche, Straßen und Wege versanken im Morast, große Gebiete standen unter Wasser, die wirtschaftliche Infrastruktur brach zusammen.

Ein Vulkanausbruch

Dieses „Jahr ohne Sommer“ hatte eine präzise zu identifizierende Ursache, die ein Jahr zuvor am anderen Ende der Welt seinen Anfang genommen hatte: Am 10. April 1815 – auf dem Wiener Kongress teilte man gerade Europa unter den Großmächten neu auf und rüstete sich für eine letzte Offensive gegen den wieder an die Macht gekommenen Napoleon – brach auf der indonesische Insel Sumbawa der Vulkan Tambora aus. Er verursachte die schwerste vulkanische Eruption seit etwa 25.000 Jahren. Nach neueren Forschungen wurden zwischen 30 und 50 Quadratkilometer Magma herausgeschleudert.13 Zum Vergleich: Waren es im Jahre 79 u. Z. beim Ausbruch des Vesuv in Italien noch etwa drei Megatonnen Staub und Asche, unter denen die Städte Pompeji und Herculaneum begraben wurden, waren es im April 1815 150 Megatonnen, das sind 150 Milliarden Tonnen vulkanischer Auswurf. Sie lösten eine weltweite Katastrophe aus. 14 Klimatologische Auswertungen zum Vulkanausbruch zeigen, dass sich der katastrophale Sommer des Jahres 1816 „in ein ohnehin schon allgemein kühles Jahrzehnt einreihte.“ 15 Nach einer warmen Phase um 1800 sank die Temperatur deutlich und erreichte im Sommer 1816 einen Tiefpunkt, die Auswirkungen des Tamboraausbruches verschärften diesen Trend  noch. Die Wissenschaft vermutet als Ursache für die Abkühlung des Klimas einen Vulkanausbruch 1808 oder 1809, Vulkanerosole sind aus dieser Zeit in Eisbohrkernen abgelagert, sie konnten jedoch keinem konkreten Ereignis zugeordnet werden. 16 Die Dimensionen der Eruption waren ungeheuerlich: Die Schallwellen der Tambora-Explosion waren noch in rund 1.800 km Entfernung, in Benkulen an der Westküste Sumatras zu hören.17 Im Umkreis von 600 km herrschte Tage lang finstere Nacht. Eine gewaltige Staub- und Aschewolke machte sich in einer interkontinentalen Diagonale langsam auf den Weg Richtung Europa und verharrte über dem Nordatlantik. Dort setzte sie ab Frühjahr 1816 die sogenannte nordatlantische Oszillation außer Kraft, das ist das für das westeuropäische Klima maßgebliche Wechselspiel von Tiefdruckgebieten bei Island und Hochdruckzonen bei den Azoren. Während es in der Arktis taute und Eisberge bis vor die irische und schottische Küste trieben,18 veränderte sich das Klima über Europa und über Nordamerika für mehrere Monate: In den Alpen schneite es, Lawinen gingen im Hochsommer 1815 in der Nordschweiz ab, während Deutschland im Dauerregen versank und für Monate die Sonne nicht zu sehen war. Durch Kälte und hohe, zum Teil mit Hagel verbundene Niederschläge im Sommer bzw. während der Vegetationsperiode 1816 reiften viele Bestände landwirtschaftlicher Kulturen nicht aus, faulten oder wurden durch Überschwemmungen oder Hagelschlag geschädigt oder gar vernichtet. Folge waren Hungersnöte, die aber nicht allein auf die klimatischen Auswirkungen des Tamboraausbruchs zurückzuführen sind.

Die Bevölkerung in Schwerte verzehrte das für 1817 vorgesehene Saatgut und schlachtete sein Vieh. Dieses fehlte danach für die Milch- und Käseproduktion, aber auch als Zugtiere und die Äcker konnten nicht mehr gepflügt werden. Die Not  verschärfte sich immer weiter. Selbst Baumrinde und Blätter von Laubbäumen wurden ausgekocht und als Nahrung verwendet. Die allgemeine Sterblichkeit, vor allem unter Kindern, stieg deutlich an, immer größere Ansammlungen von Bettlern und „Vagabunden“ zogen übers Land und verursachten bei ihrer Suche nach Essbarem wachsende Unruhe bei der Landbevölkerung. In der geschwächten Bevölkerung brachen Typhus und Tuberkulose aus. Zur Behebung der größten Not gewährte Preußen zwei Millionen Taler zum Ankauf von Getreide für Westfalen und das Rheinland, geleitet von dem Gedanken, die Integration ihrer westlichen Provinzen in das Staatsgebilde zu fördern. Die Hilfslieferungen erreichten die Bedürftigen erst im Juli 1817. Weitere staatliche Regulationen lehnte Preußen jedoch aufgrund wirtschaftsliberaler Erwägungen ab. Zur Milderung der Not waren die Betroffenen vollkommen auf bürgerliche Wohlfahrtsorganisationen und die kommunale Armenfürsorge angewiesen, die jedoch hoffnungslos überfordert waren.19

Solidarität und Zusammenhalt

In Schwerte verliefen die polizeilichen Untersuchungen der Zusammenrottungen im Sande, weil die revoltierenden Frauen zusammenhielten, einander nicht verrieten und Unwissenheit vortäuschten. 20Selbst die Androhung einer zweijährigen Haftstrafe durch Bürgermeister Mitsdörffer konnte nichts bewirken. Der Schwerter Frauen-Aufstand lässt sich einordnen in eine Reihe von Tumulten, Protesten und Hungeraufständen, die fast überall in Europa  angesichts der Missernten und Preissteigerungen ausbrachen.21

Das Ende der Gemeinheiten

In Schwerte blieb die zentrale Frage nach dem gemeinwohlorientierten Kämmereiwald auf der politischen Tagesordnung, auch als sich die wirtschaftliche Lage entspannt hatte. Zeitgenössische Ökonomen plädierten im Sinne des Staates für eine Auflösung, da so der Wald besser bewirtschaftet und das Vieh besser versorgt werden könne. Wir würden heute Marktliberalismus dazu sagen. In Schwerte bildeten sich zwei Parteien – eine um den reichsten Schwerter Bürger Leopold Doerth – die andere um Magistrat, Bürgermeister Mitsdörffer und den Pfarrer, Arzt und Universalgelehrten Bährens (1765-1833), die sich für die Erhaltung des ungeteilten Waldes einsetzten. Bährens schätzte die Markenteilung äußerst negativ ein. So habe sie zu einer Halbierung des Viehbestandes in der damaligen Ackerstadt Schwerte geführt.22 Es begann ein langwieriger Prozess, der letztlich der Position des Magistrates mit seinem Pro für einen gemeinschaftlichen Kämmereiwaldes Recht gab. Dieser Prozess zog sich bis 1828 hin. 23Auch eine Revision bestätigte noch einmal den Erhalt des Kämmereiwaldes. Doch die preußische Regierung, die seit 1815 in ihrer Provinz Westfalen eine neue Verwaltungsstruktur eingeführt hatte, löste staatlicherseits ab 1821 grundsätzlich die Gemeinheiten auf. 24

Dr. Uta C. Schmidt / frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Kreuzung Ostenstraße/Bethunestraße, 58239 Schwerte

Zitation: Schmidt, Uta C., Schwertes aufmüpfige Frauen, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/schwertes-aufmuepfige-frauen/

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Aya Alalawi

Aya Alalawi klopft auf den freien Platz neben ihr auf dem Sofa. Die Ungeduld in ihrer Geste vermittelt die Botschaft: Es soll endlich losgehen mit dem Interview. Die 22-Jährige mit den verschleierten Haaren möchte ihre Geschichte erzählen; die Lebens-, Flucht- und Migrationsgeschichte einer Syrerin, stellvertretend für die Gruppe junger geflüchteter Frauen, die in Deutschland eine neue Heimat finden wollen.1

Kindheit und Krieg in Aleppo
Ayas Geschichte beginnt mit ihrer Geburt zu Beginn des Jahrtausends in Aleppo in Syrien. Sie beschreibt sich als wildes, ungestümes Kind, das ihre Haare am liebsten kurz trug und fast lieber ein Junge als ein Mädchen sein wollte. Angst vor Hunden, wie sie im arabischen Kulturkreis verbreitet ist, hatte sie nicht, genauso wenig vor Kamelen, auf denen sie gerne geritten ist. Ihr Mut gefiel auch ihrem Vater. Im Haus der Familie in Aleppo gab es in der unteren Etage einen Computerraum, in dem sich die erwachsenen Männer aufhielten. Dort war die kleine Aya oft dabei und spielte PC-Spiele. Ihre Kindheit beschreibt sie als glücklich und sorglos. Die Familie war reich, besaß ein Auto, hatte Geld.

2011 hatte sich aus dem Arabischen Frühling – der anfangs friedlichen Demonstrationen gegen die autoritär herrschenden Regime und die politischen und sozialen Strukturen in mehreren arabischen Ländern – in Syrien ein grausamer Bürgerkrieg entwickelt. Die Freie Syrische Armee (FSA) und Truppen der Regierung lieferten sich in der Millionenstadt Aleppo erbitterte Kämpfe. Aya war elf Jahre alt, als ihr Vater im Jahr 2012 durch eine Bombe tödlich verletzt wurde. Den Verlust ihres Vaters sieht Aya im Rückblick als Ende ihrer Kindheit. Sie war nicht mehr in der Lage zu spielen, sondern fühlte sich wie ein „verantwortliches Mädchen“, welches sich um ihre Familie kümmern muss. Sie ist die Älteste, ihr Bruder war drei Jahre, ihre Schwester erst ein Jahr alt.

Leben im Bürgerkrieg
Mit dem Tod ihres Vaters änderte sich auch die soziale und finanzielle Situation. Die 32-jährige Mutter versuchte weiterhin einen normalen Alltag zu organisieren, damit ihre Kinder die Abwesenheit des Vaters, der als Mechaniker das Geld für die Familie verdiente, nicht so sehr spürten. Zwei Brüder ihrer Mutter zogen ins Haus mit ein. Aya gab ihr Zimmer ab und teilte sich fortan eines mit ihrer kleinen Schwester. Nach etwa zwei Jahren war ihre Mutter gezwungen, nach und nach viele Dinge zu verkaufen. „Ich weinte jede Nacht. Ich vermisste meinen Vater und immer, wenn meine Mutter eine Sache verkaufte, war ich sehr traurig“, erinnert sich Aya und zuckt mit den Schultern, „ich war ein Kind.“

Inzwischen hatte sich der Bürgerkrieg zu einem Stellvertreterkrieg mit vielen Akteuren entwickelt. Obwohl die Einschränkungen im Alltag immer größer wurden, wollte Aya unbedingt weiterhin die Schule besuchen. „Ich konnte nicht einfach zuhause sitzen und nichts machen. Oft ging ich zur Schule mit dem Gedanken, dass ich heute vielleicht nicht mehr nach Hause komme, vielleicht einfach sterbe“, erinnert sich die 22-Jährige an Tage, an denen Kampfjets die Stadt überflogen und Raketen fielen. Dann erzählt sie von dem Tag, an dem sie eine Französisch-Klausur schreiben musste. Morgens schlug im Nachbarhaus eine Rakete ein, das Fenster ihres Zimmers zersplitterte. Trotzdem machte Aya sich auf den Weg zur Schule und schrieb die Klausur. Bis zur neunten Klasse gelang der Schulbesuch noch sporadisch, dann wurde es endgültig zu gefährlich, das Haus zu verlassen.
Der Alltag wurde immer schwieriger, Lebensmittelpreise stiegen rasant. Verwandte und Bekannte fielen Anschlägen zum Opfer, starben durch Raketen oder im Gefängnis, flohen in die Nachbarländer oder nach Europa. Als 2015 eine Bombe die eigene Wohnung zerstörte, ging nichts mehr. „Wer solche Situationen nicht selbst erlebt hat, kann sich nicht vorstellen, wie es ist, in Angst zu leben“, reflektiert Aya heute.

Flucht aus Syrien: „Sprechen Sie von uns als Überlebende!“
Die Familie rettete sich in die Türkei, hielt sich mit Gelegenheitsarbeiten in Istanbul über Wasser. Die damals 15-jährige Aya und ihre Mutter arbeiteten in einer Teefabrik. An einen Schulbesuch war gar nicht zu denken. „Wenn ich auf dem Weg zur Arbeit im Bus saß, sah ich durch die Scheibe oft, wie die Mädchen zur Schule gingen. Das gab mir ein schlechtes Gefühl. Deshalb habe ich sofort mit der Schule begonnen, als ich nach Deutschland kam“, erklärt Aya. Nach drei Jahren in der Türkei flog die Familie im Rahmen des Familiennachzugs zu den schon länger in Gelsenkirchen lebenden Großeltern. Eine lebensgefährliche Flucht übers Mittelmeer oder die Balkanroute blieb ihr so erspart.

Dennoch erforderte das Leben in einem neuen Land einen großen Einsatz und viel Energie. Es stellte damals und stellt auch heute noch ihre Identität infrage. „Wenn ich als Flüchtling bezeichnet werde, dann fühle ich mich nicht gut. Dann sehe ich die Gedanken in den Köpfen der Anderen, die mir sagen: ,Aja, du kannst nicht‘, ,du weißt nicht‘, ,du bist eine Frau mit Kopftuch‘, ,du bist eine Frau ohne Ziel.‘“, sagt Aya Alalawi. „Viele ahnen nicht, welche Schwierigkeiten wir durchgemacht haben. Jede Familie aus Syrien betrauert eine getötete oder vermisste Person, trotzdem sind wir mit voller Kraft, Optimismus und auch Erfolgen hier. Deshalb möchte ich bitten: Sprechen Sie von uns nicht von Flüchtlingen. Sprechen Sie von uns als Überlebende!“ Diese Worte äußert die 22-Jährige sehr bestimmt. Es ist ihr ein Anliegen, anderen Menschen von ihren Erfahrungen als Überlebende zu erzählen. Dazu zählt auch ihre Fähigkeit, sich auf Umbrüche einzustellen.

Leben und Lernen in Deutschland
So einschneidend die Veränderungen in ihrem Leben mit der Ankunft in Deutschland auch waren, Aya haben sie nicht so sehr erschüttert. „Ich bin ein neugieriger Mensch, deshalb lerne ich gerne neue Dinge kennen. Mit allen Sinnen habe ich das Neue und Ungewohnte aufgesogen. Ich habe einfach akzeptiert, dass mein altes Leben in Syrien vorbei ist und ein neues Leben in Deutschland beginnt“, erläutert Aya ihre Strategie, mit dem Kulturschock umzugehen. Aktiv zu sein, half ihr dabei. Direkt nach ihrer Ankunft im Grenzdurchgangslager Friedland in der Nähe von Göttingen wandte sie sich an die Sozialarbeiter und bot ihre Hilfe an. Schon in Istanbul hatte sie begonnen, Deutsch zu lernen. Ihre einfachen Sprachkenntnisse reichten aus, um zu übersetzen, den Neuankommenden das Camp zu zeigen und ihnen zu erklären, wie sie was organisieren müssen und wo der nächste Supermarkt ist. Anderen Menschen zu helfen, ist ihr eine Herzenssache.

Klassenfahrt und Schulwechsel
Und dann endlich, konnte Aya nach fast fünf Jahren erzwungener Pause wieder regelmäßig zur Schule gehen. Das erste Schuljahr in Deutschland sei gut gewesen, bewertet Aya, die damals als 18-Jährige in die Internationale Förderklasse an einem Berufskolleg aufgenommen wurde. Als Klassenbeste war sie ihrerseits in der Lage, ihren Mitschüler:innen zu helfen. In den nächsten beiden Jahren verlief der Spracherwerb schleppender, da sich ihre Klasse ausschließlich aus Jugendlichen anderer Länder zusammensetzte. „Wir haben viel Arabisch gesprochen, sogar während der Teamarbeit im Unterricht. Die Lehrer hat das nicht gestört. Sie haben unsere Fehler auch nicht korrigiert“, kritisiert die junge Frau. Allerdings bescherte die Schule ihr auch „die zwei besten Wochen meines Lebens“. Eine Fahrt mit einer Lehrerin und fünf weiteren Schüler:innen nach Bulgarien war eine völlig neue Erfahrung. Erstmals ohne Familie zu verreisen, außerhalb ihres Zuhauses in einem Hotel zu schlafen, Museen zu besuchen und in einem Projekt mitzuarbeiten und zu diskutieren, das hat ihr einfach gefallen.

Aber es gab auch Rückschläge. Als Aya gesagt bekam, dass sie mit ihren mangelnden Sprachkenntnissen kein Abitur erreichen könne, fühlte sie sich falsch eingeschätzt. Auch einigen ihrer Freunde und Freundinnen mit Migrationsgeschichte wurden geringere Lernkompetenzen zugeschrieben. In Schule und Alltag erleben sie immer wieder Formen von Rassismus, indem sie wegen ihrer Sprachkenntnisse und Herkunft abgelehnt und falsch eingeschätzt werden. Dabei hat Aya erfolgreiche Vorbilder: Syrerinnen, die sehr gute (Abschluss-) Noten erzielt haben. Und in ihrer Heimat Syrien hat Bildung einen ebenso hohen Stellenwert wie in Deutschland. Daher zieht sie im Sommer 2022 die Reißleine: Mit dem Realschulabschluss beendet sie ihre Zeit am Berufskolleg und wechselt zum Weiterbildungskolleg Emscher-Lippe, um sich auf ihr Abitur vorzubereiten. Hier verliert sie ihre Angst, mündlich am Unterricht teilzunehmen. „Ich liebe es, hier zur Schule zu gehen und habe wieder Lust, mehr zu lernen. Hier habe ich auch neue Freunde gefunden, z.B. aus Holland, Ungarn und der Türkei – und wir sprechen Deutsch miteinander!“, triumphiert sie mit strahlenden Augen.

Kinder und Jugendliche stützen die Familien
Auch in Ayas Familie fiel mit dem wachsenden Wortschatz die Entscheidung, im Alltag untereinander Deutsch zu sprechen. Wie viele Migrantenkinder, die die Sprache im neuen Land schneller lernen als ihre Eltern, begann die Jugendliche bei Behörden- und Arztbesuchen zu übersetzen. Aya sieht sich als wichtige Stütze der Familie, fördert ihre Geschwister, wo sie kann, ist stolz darauf, dass auch ihr Bruder sein Abitur machen wird und bereits Nachhilfe gibt. Sie ist verantwortlich für alle Papiere, regelt den Schriftverkehr und Austausch mit Behörden, Krankenkasse, Bank und Ärzten. Ihre Mutter vertraut ihr, deshalb gibt Aya sich besonders viel Mühe, alle Themen schnell zu verstehen. Viele Kinder und Jugendliche mit einer Migrationsgeschichte teilen diese meist ambivalente Erfahrung. Die nicht altersgemäße Beschäftigung mit existenziellen Fragestellungen wirkt oft verstörend. Aber es gibt auch Kinder und Jugendliche, die daran wachsen und stolz auf ihre Fähigkeiten sind.

Zukunft in Deutschland oder in Syrien?

Was hat Aya nach ihrem Abitur vor? Nach ihren Zukunftsträumen befragt, nennt sie drei Dinge: Sie will das Vollabitur sehr gut bestehen (und dann Ernährungswissenschaften studieren). Sie will sich weiterhin freiwillig engagieren und Kinder unterrichten („Ich fühle mich gut, wenn ich Menschen helfen kann, glücklich zu sein.“). Und: Nach dem Koran, den sie gerade auswendig lernt, will sie auch noch die Bibel lesen („Ich will andere Religionen kennenlernen und herausfinden, was unterschiedlich ist.“).

Den Gedanken, nach Syrien zurückzukehren, hat sie für sich verworfen. Solange Krieg herrsche, sei es nicht möglich und ihr Vater lebe ja auch nicht mehr. „Ich fühle mich als Teil der deutschen Gesellschaft. In Gelsenkirchen ist das leicht, finde ich. Hier sind so viele Menschen aus anderen Ländern“, beschreibt Aya ihr neues Heimatgefühl. Allein 8.790 Menschen mit syrischer Staatsbürgerschaft leben im Juni 2022 in Gelsenkirchen, dazu Bürger:innen aus weiteren 146 Nationen; die größten Gruppen bilden Menschen aus der Türkei und den Balkanstaaten.2 In ihrer Nachbarschaft in Rotthausen fühlt sie sich wohl, hat Kontakt zu deutschen Nachbarn und Menschen aus aller Welt. Die Familie hat sich die Traditionen ihrer Heimat wie das abendliche Beisammensein in der Familie, das Schmücken der Wohnung zum Ramadan und das Feiern von Eid bewahrt und ist gleichzeitig offen für das Leben in der neuen Gesellschaft: Aya nimmt Klavierstunden und lernt schwimmen. Außerdem betreut sie ehrenamtlich Kinder in einer Moschee in Essen.

Syrisches und muslimisches Leben in Gelsenkirchen
Der Glaube an Allah bestimmt einen Großteil ihres Alltags, ist Motivation und, in einem christlich geprägten Land, zugleich eine Herausforderung. Aya trägt einen langen dünnen Mantel und einen Hidschab, der Haare, Hals und Ohren bedeckt, selbstbewusst und als äußeres Zeichen ihrer Verbindung zu Allah. Ihr Gesicht ist dezent geschminkt, die Augen sind ausdrucksvoll betont. „Das Kopftuch ist wie ein Gebet für mich. Aber es ist für mich auch okay, wenn Frauen es nicht tragen. Das ist ihre persönliche Entscheidung“, legt Aya Wert auf Toleranz. Bruder, Opa und Onkel dürfen sie auch ohne Kopftuch sehen; also alle Männer, die sie aus verwandtschaftlichen Gründen nicht heiraten dürfte. Zuhause und auf Festen, wenn nur Frauen zugegen sind, trägt sie auch raffiniert geschnittene kurze Kleider.

Als junge Frau findet Aya es schon schwer, in Deutschland ihre Religion zu leben, weiß von Kritik an und Vorurteilen gegenüber Frauen, die aus religiösen Gründen ihr Haar bedecken. „Es ist für mich persönlich wichtig, dass mich die anderen respektieren, egal wo ich herkomme, egal, welche Kleidung ich trage, egal was meine Religion ist. Ich respektiere, wie Deutsche und Menschen anderer Nationen leben. Mir macht es Spaß, andere Kulturen kennenzulernen“, erklärt Aya.

Deshalb fühlt sie ein starkes Bedürfnis, ihre Gefühle mit anderen zu teilen und ihre Religion zu erklären. Dazu ein Beispiel: Am ersten Tag in der neuen Schule fragte ein deutscher Junge Aya aus, die an diesem Tag ein schwarzes Kopftuch trug: „Trägst Du das Kopftuch freiwillig oder zwingt Dich Deine Familie dazu?“, „Kannst Du auch eine andere Farbe tragen?“ Aya ging offen mit diesen Fragen um und erreichte damit Akzeptanz. Sie findet es nicht richtig, wenn Eltern bestimmen, dass die Mädchen eines tragen sollen, denn das geschehe dann aus traditionellen Gründen, aber nicht für die Religion. „Ich hoffe, die Art und Weise zu ändern, wie die Welt die Muslime sieht. Wir sind warmherzige und nette Menschen“, äußert sie einen Herzenswunsch.

Überlebende müssen stärker sein als andere
Da ist es wieder, das Erklärenwollen und um Verständniswerben, das Aya so wichtig ist. „Wir haben viel durchgemacht. Wir Überlebende müssen stärker sein als andere. Wir müssen unsere Meinung sagen, sonst werden wir überhört.“
Mit einer Botschaft möchte Aya Alalawi sich besonders an Überlebende von Krieg und Flucht richten: „Mach weiter, egal, was du erlebt hast, lerne weiter, mach deine Hobbys. Sage nicht, du hast keine Zeit, lege dein Handy weg. Deutsch zu lernen ist nicht schwer, man muss es nur Schritt für Schritt lernen. Hilf den Menschen. Wenn Du dies tust, macht es dich glücklich und es gibt dir Kraft.“

Gerburgis Sommer

Orte:

Aleppo
Istanbul
Gelsenkirchen-Rotthausen

Literatur:

Respekt: Rassismus im Schulalltag, Bayerischer Rundfunk, 09.03.2022, Zugriff am 21.10.2022 unter
https://www.br.de/extra/respekt/rassismus-schule-diskriminierung-chancengleichheit-100.html

Rassismus in der Schule. Rassistische Diskriminierung in Schulen: eine empirische Analyse, Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung DeZIM e.V., Berlin, Zugriff am 21.10.2022 unter https://www.rassismusmonitor.de/kurzstudien/rassismus-in-der-schule/

Marx, Ann-Kristin, Zuwanderung in der Metropole Ruhr. Wahrnehmung und Wirklichkeit, Regionalverband Ruhr, 2020, Zugriff am 21.10.2022 unter https://www.rvr.ruhr/fileadmin/user_upload/01_RVR_Home/03_Daten_Digitales/Regionalstatistik/03_Publikationen/2020-09_Regionalstatistik_Ruhr_Zuwanderung_in_der_Metropole_Ruhr.pdf

Ungleiche Bildungschancen. Fakten zur Benachteiligung von jungen Menschen mit
Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem, Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) GmbH, Berlin, 08. April 2020, aktualisierte Fassung, Zugriff am 24.10.2022 unter https://www.stiftung-mercator.de/content/uploads/2020/12/2020_Kurz_und_Buendig_Bildung_final.pdf

Zitation: Sommer, Gerburgis, Aya Alalawi, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/aya-alalawi/

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Veye Tatah

Energiegeladen, wortgewaltig, überzeugend, kommunikativ, mit einem herzhaften lauten Lachen gesegnet und immer tipptopp gekleidet – so lässt sich Veye Tatah kurz und knapp beschreiben. Sie ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau in den Bereichen IT-Beratung und Entwicklung, Projektmanagement und interkulturelle Kommunikation, Inhaberin der Firma „Africa Positive Catering und Events“, Netzwerkerin, Bildungs- und Integrationsexpertin, Familienfrau mit zwei Söhnen und vor allem: Kopf, Herz und Chefredakteurin des Magazins Africa Positive.

Veye Tath ist angetreten, unser Afrikabild nachhaltig zu verändern und das Bild von Europa auf dem afrikanischen Kontinent realistischer und vielschichtiger zu vermitteln. „Es entstehen positive wie negative Vorurteile, weil man kein differenziertes Bild entwickeln kann, hier das Land des Wohlstandsversprechen – dort der Kontinent des Hungers und Elends. Beide Bilderwelten bestärken sich in einer explosiven Mischung, die tief hinein in individuelle wie politische Haltungen und Entscheidungen wirken.“1 Deshalb hat sie aus einem inneren Antrieb heraus voller Überzeugung im Jahre 1998 das Magazin Africa Positive gegründet:  „Wenn ich wirklich überzeugt bin von einer Sache, dann bin ich bereit, ein Risiko einzugehen. Ob ich Geld verliere oder nicht, ist nebensächlich. Ich muss das machen. Das ist eine Frage des Charakters.“ 2

Von Nkambe über Bremerhaven …

Veye Tatah wurde 1971 in Nkambe im westafrikanischen Kamerun geboren. Sie gehört zum Volk der Nso aus dem Nordwesten Kameruns. Ihr Vater war Lehrer, später Zollbeamter, ihre Mutter Hebamme und Krankenschwester. Sie wuchs behütet in einer Mittelschichtsfamilie auf, die Wert auf die Bildung ihrer Kinder legte. Kamerun war von 1884 bis 1919 eine deutsche Kolonie.3Der Versailler Vertrag von 1919, der nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg die Abtretung aller Kolonien des Deutschen Reiches regelte, überführte Kamerun offiziell in die Hoheit des Völkerbundes, der Großbritannien und Frankreich ein Mandat zur Verwaltung des Landes übertrug. Kamerun war fortan in ein Britisch-Kamerun und ein Französisch-Kamerun aufgeteilt.

Veye Tatah gehört zur im Nordwesten des Landes lebenden englischsprachigen Minderheit. Sie besuchte dort eine katholische Internatsschule. Nach ihrem Abitur mit naturwissenschaftlich-mathematischen Schwerpunkt nahmen die deutschen Nachbarn ihrer Eltern sie als Au-pair-Mädchen mit nach Bremerhaven. Sie lernte im Alltag dieser Familie die deutsche Sprache. Im Wintersemester 1992/93 verließ sie Bremerhaven und schrieb sich an der Universität Dortmund für das gerade ganz neu entwickelte Fach „Angewandte Informatik“ ein. Auf die Frage, warum sie als englische Muttersprachlerin nicht nach Großbritannien zum Studium ging, sondern nach Deutschland, dessen Sprache sie erst lernen musste, antwortet Veye Tatah mit einem Schulterzucken: „Das Leben hat seine eigene Dramaturgie.“4

Mit Rassismus wurde Veye Tatah zum ersten Mal in Deutschland konfrontiert. In Kamerun hatte sie nur positive Erfahrungen mit weißen Lehrkräften gemacht und auch keine Diskriminierung durch die weißen Nachbarn ihrer Eltern erlebt.  Als sie in Bremerhaven hingegen dem Sachbearbeiter einer Behörde ihren Ausweis vorlegte, wechselte dieser sofort ihr gegenüber sein Verhalten, wurde unfreundlich und ablehnend, als er sie als Afrikanerin und nicht als schwarze US-Bürgerin identifizierte. „Dies war meine erste Begegnung mit Alltagsrassismus, der mir in Deutschland seitdem ständiger Begleiter ist“.5

Während ihrer ersten Zeit in Deutschland fällt ihr noch etwas auf: Der afrikanische Kontinent  wird in den Medien nur in Bildern von Krieg, Hunger, Krankheiten und Katastrophen vor- und dargestellt: „Als erstes fielen mir die Fernsehberichte und die schrecklichen Bilder von Schwarzen Menschen unangenehm auf.“6 Auch Plakate von Hilfsorganisationen arbeiten mit mitleidserregenden Gesichtern Schwarzer Kinder, um Spenden für das arme Afrika zu sammeln. Die Kameruner Studentin ärgert es zudem ungemein, dass sich Deutschland dem afrikanischen Kontinent wie einem Land nähert: „Was sagen Sie als Afrikanerin dazu?“ Dies zeugt von Nichtbeachtung oder Unkenntnis der vielen unterschiedlichen Nationen, Ethnien, Sprachen, Kulturen, naturräumlichen Gegebenheiten auf dem afrikanischen Kontinent.

… nach Dortmund

Für das Buch „Worauf wir uns beziehen können“ erinnerte Veye Tatah eine Begegnung, die einen verstörenden Eindruck gibt von dem Alltagsrassismus, mit dem Schwarze Menschen konfrontiert waren und sind: „Eines Tages fuhr ich in der Straßenbahn Richtung City und saß zufällig meinem Mathematik-Professor gegenüber. Die erste Frage meines Herrn Professors war, aus welchem Staat ich käme. Ich antwortete: ‚Aus Kamerun‘. Er fragte, in welchem Bundesstaat der USA Kamerun läge. Ich antwortete, dass Kamerun nicht in den USA sei, sondern in Westafrika liege. Da guckte er sehr verdutzt: „Sie sind Afrikanerin?“ Und ich bejahte. Dann fügte er hinzu: „Ich dachte, Afrikaner sehen komisch aus – nicht so, wie Sie.“ Dann fragte ich ihn, wie komisch Afrikaner denn aussähen. Dann fiel mir ein: Seine Sicht auf Afrika und dessen Bewohner*innen könnte durch die mediale Darstellung Afrikas entstanden sein. Der Professor hatte wohl einfach erwartet, dass ich als Afrikanerin abgemagert, hungrig und hässlich aussehen würde – also so, wie die Afrikaner*innen im Fernsehen. Für ihn konnte eine normal aussehende Schwarze Frau wie ich nur Amerikanerin sein.“7

Erfahrungen wie diese ließen in Veye Tatah den Entschluss reifen, etwas gegen dieses eurozentrische und koloniale Afrikabild zu unternehmen: „Ich muss positive Bilder über Afrika verbreiten“. Und zugleich wurde ihr deutlich, wie sich die Vor- und Darstellungen Afrikas in Europa und die von Europa in Afrika gegenseitig bestärken: „In Afrika sieht man nur die heile Welt Europa – das Paradies – , in Europa das chaotische Afrika. Es gibt nichts dazwischen“.8 Sie entschloss sich, ein Magazin herauszugeben, das seine Zielsetzung bereits im Name tragen sollte: „Africa Positive“ und das differenzierte Bilder der jeweiligen Gesellschaften und Staaten auf dem afrikanischen Kontinent kommuniziert.

Africa Positive

Doch war die Informatik-Studentin weder als Journalistin, noch als Verlegerin geübt. Sie hatte noch nie einen Artikel geschrieben. Niemand fand ihre Idee damals unterstützenswert: „Wer liest denn sowas?“. Doch Veye Tatahs Zielstrebigkeit führte zum Erfolg: Sie konnte sich Geld für den Start des Magazins leihen. Und sie fand Unterstützung durch Osman Sankoh, einen Studenten, der am Fachbereich für Statistik promovierte und bereits an seiner Universität in Sierra Leone für die Unizeitung geschrieben hatte. Er wusste, wie Zeitung gemacht wird. Für ihren allerersten Beitrag des ersten Heftes, brauchte Veye Tatah keine journalistische Ausbildung – sie schrieb sich aus dem Bauch heraus „Warum Afrika Positive?“ von der Seele.

Wenn sie von einer Idee überzeugt ist, dann ist Veye Tatah bereit, dafür alles zu tun, und auch die Konsequenzen zu tragen. Das ist für sie „Charaktersache“: „Ich war besessen. Ich musste was verändern in Deutschland“.9 Zur Zeit der Magazingründung war sie noch Studentin, bezog kein Bafög oder anderweitige Unterstützung und finanzierte ihren Lebensunterhalt durch diverse Aushilfstätigkeiten. Das Magazin entstand in ihrem Wohnzimmer. Die Zeitschriftengründung ging sie höchst professionell an, suchte sich mit dem traditionsreichen Lensing-Druck in Dortmund eine professionelle Druckerei und einen Vertrieb, der das Magazin in Buchhandlungen u.a. auch strategisch gut überlegt an Flughäfen brachte.

Im Jahre 2023 feiert Africa Positive sein 25-jähriges Jubiläum – es erscheinen vier Hefte jährlich mit Informationen zu Ländern, Menschen, Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport – Informationen aus Herkunftsländern und aus der Diaspora. Interessante Persönlichkeiten werden porträtiert, immer wieder auch Afro-Deutsche, die eine wichtige Rolle als Vorbild einnehmen können, wie Florence Brolowski-Shekete, Schulamtsdirektorin und Bestseller-Autorin10 oder Aminata Touré, Sozialministerin in Schleswig-Holstein.11 Hier bezieht sich Africa Positive auf Konzepte afrodeutscher Bildungsarbeit: Das positive Bild vom Menschsein entsteht im weißen Europa aus der Abwertung kultureller Ausdrucksformen von Menschen in anderen Teilen der Welt, deren Vergesellschaftungen, Sprachen, Religionen, Kunst im Vergleich mit der eigenen weißen Kultur und Gesellschaft abgewertet werden: „Schwarzen Kindern, die in Deutschland aufwachsen, wird durch solche Darstellungen ein positiver Zugang zu ihrer afrikanischen Herkunft erschwert. Ihnen werden subtil Gefühle von Unterlegenheit und Minderwertigkeit vermittelt, die sich hinderlich auf ihre Entwicklung eines positiven Weltbildes auswirken können (…).“12 Diesem kolonialen Muster entgegenzuwirken, Schwarze Kinder zu bestärken, darin sieht Veye Tatah eine ihrer zentralen Aufgaben im Rahmen postkolonialer Bildungsarbeit. Afrodeutsche wie Florence Brolowski-Shekete oder Aminata Touré, aber auch Künstler:innen, Wissenschaftler:innen und Unternehmer:innen vom afrikanischen Kontinent können in Subjektivierungs- und Bildungsprozessen Empowerment vermitteln und ein positives Selbstbild stärken.13

Blickwechsel

Äußerst informativ sind im Magazin Beiträge mit landeskundlichem Profil und zur Politik afrikanischer Staaten im Geflecht internationaler Beziehungen. Was mit „Blickwechsel“ gemeint ist, den Africa Positive vornimmt, verdeutlicht exemplarisch ein Beitrag zum Süßkartoffelanbau. Er springt deshalb ins Auge, weil während des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine am 31. Oktober 2022 Russland das Getreideabkommen aufgekündigt hatte, durch das Weizen aus der Ukraine zum afrikanischen Kontinent transportiert wurde. Afrika ist von Weizenlieferungen abhängig. Fernsehbilder zeigten am 31. Oktober 2022 riesige Massengutfrachter, die sich auf dem Marmara-Meer stauen, und Off-Kommentare sprachen von einer Hungersnot auf dem afrikanischen Kontinent. Unter der Überschrift „Afrika: Wie die Süßkartoffel verhindert, dass die globale Weizenkrise in Afrika Fuß fasst“ gab es einen Bericht von Dr. Maria Andrade in Africa Positive von den erfolgreichen Bemühungen um die Diversifizierung von Lebensmitteln und die Implementierung eines widerstandfähigen Nahrungsmittelsystem auf dem afrikanischen Kontinent, in dem der Süßkartoffel eine wichtige Rolle zukommt.14 Es geht um die Dekolonialisierung der Essgewohnheiten und des Nahrungssystems.

Der afrikanische Kontinent

In Veye Tatahs Büro hängt eine große Karte des afrikanischen Kontinents. Es ist für sie nicht hinnehmbar, dass der Kontinent in der deutschen Medienkommunikation wie ein Land dargestellt wird, in dem zudem nichts als Krieg, Seuchen, Armut, Krankheit herrschen, ein Bild, das  fatale wirtschaftliche Folgen für den gesamten Kontinent zeitigt. Sie findet klare Worte für die wirtschaftliche Ausbeutung Afrikas durch den Globalen Norden. Und zugleich kritisiert sie afrikanische Staaten, die ihre Politik nicht am Gemeinwohl, sondern an ethnischen Klientel ausrichten und mit ihrem „Tribalismus“ die während des Kolonialismus etablierten Strukturen des „Teile und Herrsche“ in  Gegenwart und Zukunft weitertragen: Im Tribalismus erfolgt Privilegierung nicht aufgrund von Hautfarbe, sondern aufgrund ethnischer Herkunft, ein starkes Herrschaftsinstrument in Ländern, in denen viele ethnische Gruppen zusammenleben – allein in Kamerun gibt es 250 ethnische Gruppen. Posten werden nicht nach Qualifikation, Können, Erfahrung, Leistung vergeben, sondern nach der Ethnie der Eliten. Und so appelliert Veye Tatah, die Forderung „Black lives matter“ endlich auch auf dem afrikanischen Kontinent Politik werden zu lassen.15

In ihren Editorials greift Veye Tatah immer wieder aktuelle Diskussionen auf, wie die um Rassismus in der Polizei, nachdem in Dortmund der 16-jährige Mouhamed Lamine Dramé aus dem Senegal bei einem Polizeieinsatz erschossen wurde: „Viele Menschen fragen sich unwillkürlich, ob dabei Rassismus eine Rolle gespielt hat. Wäre Mouhamed ein blonder suizidgefährdeter Junge gewesen, hätten die Polizisten auch dann so schnell tödliche Schüsse abgefeuert? Waren 11 Polizisten mit Maschinenpistole gegen einen psychisch Kranken überhaupt verhältnismäßig?“16 Sie klagt die Doppelmoral in Europa, in Deutschland bei der Aufnahme von Flüchtlingen an, die Menschen aus der Ukraine willkommen heißen, Menschen aus anderen Kriegsgebieten hingegen abweisen.17

Afro-Ruhr-Festival

1998 hat Veye Tatah mit Menschen afrikanischer und deutscher Herkunft den gemeinnützigen Verein „Africa Positive“ gegründet: Er organisiert Freizeitaktivitäten für Kinder und Jugendliche, Bildungsangebote für Personen aller Altersgruppen, interkulturelle Familientreffen, Antirassismustrainings und seit 2010 das jährliche Afro-Ruhr-Festival, bei dem auch weiße Bands mit afrikanischen Grooves und Tunes aufspielen. Dies führt unweigerlich zu der Frage nach kultureller Aneignung. Veye Tatah sieht in dieser kulturellen Aneignung afrikanischer Kulturen im positiven Sinne Formen der Auseinandersetzung, Anerkennung und Wertschätzung, die ganz in ihrem Sinne für Austausch und Kommunikation stehen.

Vielheit

Als Veye Tatah zum Wintersemester 1992/93 nach Dortmund kam, gab es kaum Schwarze Menschen auf Dortmunds Straßen. Einige wenige studierten. Nach ihrem Abschluss als Diplom-Informatikerin arbeitete sie sieben Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Dortmund. Als sie die Universität verließ, hatte sich das Stadtbild verändert. Schwarze Menschen wurden in der Stadt zunehmend sichtbar und forderten ihren Platz in der Gesellschaft ein. Veye Tatah reflektiert diese Transformation, so registriert sie, das offener Rassismus abnimmt, während struktureller umso schärfer hervortritt. Ihre Erfahrungen schildert sie in einem starken Beispiel: Wenn sie als Schwarze Frau hinter dem Lenkrad ihres Transporter sitzt und Catering ausfährt – hier fährt die Chefin persönlich – , dann signalisieren ihr Blicke, dass sie als Schwarze wahrgenommen wird, die einen Dienstleistungsjob macht – Schwarze Menschen machen eben schlechtbezahlte Jobs als Fahrer oder Köchin. Steigt sie hingegen auf dem Parkplatz gut gekleidet in ihren Sportwagen, dann werden Blicke böse und signalisieren: „Wie kann sie so ein teures Auto fahren?“. Blicke sprechen „Das steht dir als Schwarze Frau nicht zu!“ Sie wird als wohlhabend wahrgenommen. Und dies paßt nicht zum Klischee: „Sie erwarten, ich muss eine Putzfrau sei, ich muss Essen verkaufen, aber der Sportwagen, der steht mir nicht zu.“18 Blicke und Körpersprache drücken dies machtvoll aus. Für Veye Tatah äußert sich hier sinnenfällig das koloniale Dispositiv, das die Gesellschaft tief durchdringt, denn: „Schwarze Menschen müssen arm sein und wir hier, die Weißen, müssen ihnen Geld geben.“

Ehrungen aus Eisen und am Bande

Für ihre beharrliche Arbeit an diesen tiefsitzenden kolonialen Sinn- und Deutungsmustern erhielt Veye Tatah viele Ehrungen, wie den „Eisernen Reinoldus“, den ihr der Presseverein Ruhr 2015 verlieh. Er würdigte damit ihre journalistische und verlegerische Arbeit.

Am 25. Februar 2010 wurde Veye Tatah der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland,  das Bundesverdienstkreuz am Bande, verliehen.

Uta C. Schmidt /frauen/ruhr/geschichte

Zitation: Schmidt, Uta C., Veye Tatah, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/veye-tatah/

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Alessandra Cuppini Alberti

1987, dem Jahr zunehmender Fremdenfeindlichkeit in Westdeutschland, gründete Alessandra Cuppini Alberti zusammen mit Ismet Kosan und anderen Gleichgesinnten aus Gewerkschaft, Schule und Wissenschaft den Senioren- und Migranten- „Verein für Internationale Freundschaften“, ViF Dortmund e.V., im Dortmunder-Norden. Sie prägte jahrzehntelang die Vereinsarbeit. In ihrer aktiven Zeit war sie die Stimme der Migranten und Migrantinnen in der Stadtpolitik, egal welcher Herkunft: im Ausländerbeirat, Sozialausschuss, Kulturausschuss und durch ihre Mitarbeit am Integrations-Entwicklungsplan. Jahrzehntelang initiierte oder leitete sie mit anderen Mitgliedern soziale Projekte für Frauen, Mädchen, Jugendliche und vor allem für die älteren, arbeitslos gewordenen Stahl- und Bergarbeiter – ehrenamtlich. Alessandra Cuppini Alberti hat im wahrsten Sinne ihre Stadt  gestaltet.1

Argelato bei Bologna

Alessandra Cuppini Alberti wurde in der kleinen Gemeinde Argelato bei Bologna als jüngstes von sieben Kindern des Stadtbeamten Ugo Cuppini geboren. 1940 war Krieg, in Italien stand Benito Amilcare Andrea Mussolini (1883-1945) als Diktator an der Spitze des faschistischen Regimes. Im Juni 1940 war er als Verbündeter des faschistischen Deutschlands in den Zweiten Weltkrieg eingetreten. Alessandra Cuppini Alberti kann sich an deutsche Soldaten erinnern, die in dem Haus ihrer Eltern einquartiert waren, an Freunde der Familie und nächste Verwandte, die sich den Partisanen gegen Mussolini angeschlossen hatten. Krieg und Bürgerkrieg schreiben grausame Geschichten: So wurde ihr Vater von einem Kommando fremder, nicht ortsansässiger Partisanen ermordet, angezeigt von Neidern im Dorf, als sie knapp vier Jahre alt war. Ihr Vater war kein Faschist, aber als Angestellter des Staates war er auch kein Gegner. Sein Bruder hingegen war Kommunist und Kommandeur der Partisanen im Kampf um die Vertreibung der Deutschen und den Sturz Mussolinis, doch er konnte den Bruder nicht retten. Später wurde auch Alessandras Lieblingsbruder Guido ermordet. Die Familie verarmte und hielt sich durch Schneiderarbeiten der Frauen für die bäuerlichen Familien der Umgebung über Wasser: Mutter und Schwester Alessandras hatten immer von einem eigenen Modesalon geträumt.

Alessandra Cuppini erinnerte sich an ihre Tante Lena, die ihr von den Kämpfen der Landarbeiter und Landarbeiterinnen gegen die „padroni“, die Gutsbesitzer, Anfang des 20. Jahrhunderts erzählte. Eingegangen sind diese Erfahrungen in das  auch bei uns bekannte Protestlied „Bella Ciao“, das von den Arbeiterinnen im Reisfeld berichtet, „in risaia mi tocca andar“, die von morgens bis abends für einen „Hungerlohn“ unter sengender Sonne arbeiten mussten. Während der Arbeit war es verboten zu sprechen, und so sangen sie. Auch der von Bernardo Bertolucci (1941-2018) inszenierte Monumentalfilm „Novecento“ (1900) gibt einen Einblick in die Herkunftsregion Alessandras, der Emilia-Romagna, zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Bella Ciao

Während die älteren Schwestern heirateten und einer ihrer Brüder in ein Priesterseminar eintrat, bekam Alessandra die Chance, in Bologna zur Schule zu gehen, zu studieren und zu promovieren. Sie studierte Germanistik: „Ich hatte gute Erinnerungen an unsere einquartierten Soldaten. Einer war aus Österreich, er half uns und besorgte Dinge zum Essen. Am meisten hat mich der Strudel begeistert, den er für uns machte. Dabei schlug er immer auf den Tisch ein ‚zack und klatsch, peng‘ und rief dazu ‚das ist für Hitler!‘ Wir mussten viel lachen“, erzählte sie später. Sie liebte die deutsche Literatur und schrieb ihre Doktorarbeit über E.T.A. Hoffmann: „Das Ende der Romantik und der Einstieg in die Realität“. Zu Beginn der 1960er-Jahre kam sie mit ihrer Studienfreundin Fausta zum ersten Mal nach Deutschland, an die Universität Kiel. Beide praktizierten eine frühe Form des heutigen „Erasmus“-Austauschs und besuchten während ihres Germanistikstudiums einmal im Jahr einen Ferienkurs an einer deutschen Universität. Sie studierten in Hamburg, an der Universität Frankfurt am Main und schließlich 1968 an der Westfälischen-Wilhelms-Universität in Münster: „Da empfahl man mir einen Studentenvertreter, er sei Italiener, der im Ausländerreferat besonders aktiv mit den ausländischen Studenten zusammenarbeitete. Es stellte sich heraus, dass er zwar einen italienischen Namen trug, aber kein Wort Italienisch konnte.“ Das war Peter Alberti. Beide heirateten 1970.

Die Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit hatten auch die Biografie Peter Albertis geprägt: Kurz nach dem Krieg nach Schottland geschickt, kam er in der Nachkriegszeit zurück zu seiner Familie nach Kahla in Thüringen in der Deutschen Demokratischen Republik, wo er mit seiner englischsprachigen Sozialisation Misstrauen und Ablehnung erfuhr. Später flüchtete er mit seinem älteren Bruder über das Lager Friedland nach Westdeutschland und begann ein Lehramtsstudium. Alessandra und Peter heirateten und zogen nach Dortmund, wo Peter Alberti eine Stelle als Lehrer fand. Auch Alessandra Alberti arbeitete als Lehrerin: Mit ihren kleinen Sohn Christian ging sie als Lehrerin zurück nach Italien, nach  Riccione und Rovereto, denn als Kriegswaise erhielt sie staatliche Unterstützung, die sie in Italien (ab)arbeiten musste. Sie kehrte später zu ihrem Mann nach Dortmund zurück.

Alessandra Alberti begann als Schwangerschaftsvertretung muttersprachlichen Unterricht im Dortmunder Norden zu erteilen: Es gab kein Material, sie musste es „erfinden“. Sie sah, in welch ärmlichen Verhältnissen ihre Schützlinge lebten und begann zu helfen. Es blieb nicht bei wohltätiger Hilfe. Mit italienischen Arbeitern und Arbeiterinnen gründete sie den ersten politischen italienischen Verein in Dortmund.

Autonome Organisation der italienischen Gemeinschaft

Fremdenfeindlichkeit und struktureller Rassismus zeig(t)e sich in vielen Zumutungen: Alessandra Alberti suchte an ihrem Wohnort Dortmund den Kontakt zur italienischen Community, die sich unter dem Dach der Caritas traf. In dieser Organisationsweise zeigt sich eine Struktur, die bis auf das Jahr 1962 zurückgeht, als die Bundesregierung mit drei Wohlfahrtsverbänden – der katholischen Caritas, dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirchen und der AWO – Verträge zur Betreuung der ersten angeworbenen Arbeitskräfte aus dem Ausland abschloss. Die Betreuung der aus einem katholischen Land stammenden italienischen Gemeinschaft übernahm die Caritas. Schon bald kam es zu Spannungen, da die Caritas mit paternalistischem Gestus gegenüber der zu betreuenden Community agierte und eine selbstbestimmte Arbeit der Zugewanderten verunmöglichte. Der sonntägliche Treffpunkt für die italienischen Familien wurde geschlossen. Italienerinnen und Italiener gründeten daraufhin einen Verein, dem sie in Anlehnung an italienische unabhängige und selbstständige, d.h. nicht staatliche Vereinigungen den Namen „Autonomes Zentrum der Italiener in Dortmund“ gaben. Ihnen war das deutsche Verständnis von „autonom“ nicht bekannt: Sie hatten einen politisch höchst umstrittenen Namen gewählt, in Deutschland verwies in den 1970er Jahren  das „autonom“ auf klassenkämpferische, linke politische Praxen.2 Dieses „autonom“ im Namen hat die Vereinsarbeit erschwert.

Arbeitskreis deutsche und ausländische Mitbürger

Bereits 1974 traf sich Alessandra Alberti im Dietrich-Keuning-Haus im „Arbeitskreis deutsche und ausländische Mitbürger“, der sich gegen die in Dortmund aktive rechtsextreme Szene und für eine aktive Ausländerpolitik einsetzte. Nach einer Demo gegen Neonazi-Organisationen wie die „Borussenfront“ am Borsigplatz, der damals als Zentrum der rechtsextremen Szene in Dortmund galt, wurden die Aktiven massiv bedroht und im spanischen Zentrum überfallen. Auch Alessandra Alberti erhielt aufgrund ihrer politischen Arbeit massive Drohungen in Briefform – das hieß in den 1980er Jahren noch nicht „Hate Speech“ und spielte sich nicht in sozialen Medien ab, doch die rechte Gewalt war nicht minder bedrohlich als heute.

Verein für internationale Freundschaften

Die Vereinsgründung ging aus der 1985 gegründeten und bis heute aktiven gewerkschaftlichen Initiative gegen Rechtsextremismus und Rassismus „Mach meinen Kumpel nicht an“ hervor. Die abwehrende gelbe Hand übernahm die Initiative als Logo von der französischen Initiative „SOS Racisme“. 1986 hatte sich auch in Dortmund bei Hoesch durch Mitglieder der Industriegewerkschaft Metall ein Verein „Gelbe Hand – mach meinen Kumpel nicht an“ unter dem Vorsitzenden Ismet  Kosan gegründet. Dieser wurde 1987 zum „Verein für Internationale Freundschaften Dortmund e.V.“ (ViF), um den Aktionsradius zu erweitern. Am 19.11.1987 wurde amtlich der Vereinsname geändert und Alessandra wurde zuerst stellvertretende, dann Vereinsvorsitzende. Sie machte ViF zu dem, was er bis heute ist: zu einer politischen Stimme von Zugewanderten und zu einem unabhängigen Treffpunkt für Menschen unterschiedlicher Herkünfte.

Die Gründung des „Vereins für Internationale Freundschaften“ erfolgte im räumlichen Umfeld der Westfalenhütte in der Dortmunder Nordstadt und zu einer Zeit, als die Stahlkrise viele der angeworbenen Arbeiter der ersten Generation bereits als Frührentner oder Arbeitslose „freigesetzt“ hatte. Werkswohnungen rund um den Borsigplatz wurden verkauft, die Mieten stiegen. Rentnerinnen, Rentner und ältere Arbeitslose meist türkischer und marokkanischer Herkunft wurden hart getroffen. Der Produktionsstandort schloss endgültig 2001. Die Hochöfen, die Sinteranlage und das Warmbreitbandwalzwerk wurden nach China verkauft und dort wieder aufgebaut. Die Vorstellung, die „sogenannten Gastarbeiter:innen“3 würden wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren, erwies sich als Trugbild. Bis zum Jahre 2000 galt in der Bundesrepublik das Staatsangehörigkeitsrecht von 1913: „‘Ausländer‘ wurden als vorübergehende Erscheinung angesehen und – wenn sie politisch aktiv waren – als potentielle Unruhestifter.“4 Diese Erfahrung hatte Alessandra Alberti auch bereits mit dem „Autonomen Zentrum der Italiener in Dortmund“ machen müssen. In dieser gesellschafts- und sozialpolitisch bedeutenden Transformationsphase mit zunehmend gewalttätiger Fremdenfeindlichkeit nahm der Verein seine Arbeit auf. Sein Name „Verein für Internationale Freundschaften“ drückt die Zeitgebundenheit seiner Gründung aus, denn er verstand (und versteht) sich nicht identitätspolitisch, sondern als ein Zusammenschluss von/ für Menschen mit verschiedenen Herkünften im Sinne gegenseitiger Verständigung und gemeinsamer Gestaltung der Gesellschaft. In der Formulierung „internationale Freundschaften“ kommt ein individueller Beziehungsaspekt zum Ausdruck, aber auch eine transnationale Vorstellung von vertrauensvoller und gleichberechtigter Beziehung jenseits von Herkunft, Klasse, Geschlecht, Religion.

Die erste Phase des Vereinslebens war geprägt von Aktionen gegen die Fremdenfeindlichkeit und die ‚Ausländerpolitik‘ bzw. ‚Integrationspolitik‘, ViF organisierte Veranstaltungen zu politischen Themen wie Rassismus, Folter, Frauenrechte oder für die doppelte Staatsbürgerschaft. Die Mitglieder engagierten sich 2003 gegen  eine Beteiligung der BRD am Irak-Krieg und beteiligten sich am interreligiösen Dialog zwischen den Glaubensgemeinschaften. 1989 trat der Verein dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtverband (DPWV) bei.

Vom ‚Ausländerbeirat‘ zum ‚Integrationsrat‘

Vor allem aber forderten die Vereinsmitglieder einen direkt gewählten „Ausländerbeirat“ als eigene politische Vertretung auf kommunaler Ebene und setzten damit die Frage nach politischer Repräsentation auf die Tagesordnung, denn Eingewanderte und ihre Nachkommen waren weder im öffentlichen Diskurs vorgesehen, noch durften sie ernsthaft politisch mitbestimmen. Sie unterstanden einer Sondergesetzgebung, dem „Ausländergesetz“, und wurden darin de facto als „Menschen zweiter Klasse“ festgeschrieben.5In Dortmund trafen sich Ende der 1980er Jahre Menschen als „Ausländerbeirat“ – darunter Sandra Alberti, Pili Gonzales und Viktoria Walz als „Grüne in Aktion“ – , um Rechte für Mitsprache und Gestaltung für Zugewanderte auf Kommunaler Ebene durch ein demokratisch gewähltes Vertretungsgremium und eine offensive Antidiskriminierungspolitik zu  fordern.6Im November 1993 waren sie endlich erfolgreich: Auf Beschluss des Rates der Stadt Dortmund wurde erstmalig offiziell ein „Ausländerbeirat“ als Vertretungsorgan direkt von den ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Dortmund gewählt. Damit war Dortmund die erste Stadt in Nordrhein-Westfalen, die diese Forderung nach politischer Vertretung von Migrantinnen und Migranten in der Kommunalpolitik umgesetzte. Mit der Neufassung der Gemeindeordnung im Jahr 1994 wurden dann Gemeinden, in denen mindestens 5.000 ausländische Einwohner und Einwohnerinnen ihre Hauptwohnung haben, zur Bildung von Ausländerbeiräten verpflichtet. Im Zuge einer Änderung der Gemeindeordnung 2009 wurde aus dem ‚Ausländerbeirat‘ ein ‚Integrationsrat‘. Auch Dortmund vollzog die Namensänderung: In der Begrifflichkeit ‚Ausländerbeirat‘ wird die historische Dimension dieser politischen Repräsentation deutlich – in der Verschiebung hin zum ‚Integrationsrat‘ manifestiert sich die Entwicklung im Migrationsregime.

ViF – Begegnungsstätte an der Flurstraße

1993 erhielt der Verein für internationale Freundschaften Nutzungszeiten in den von der Arbeiterwohlfahrt genutzten Räumlichkeiten einer städtischen Begegnungsstätte auf der Flurstraße in der Dortmunder Nordstadt, in denen er bis heute wirkt (Stand 2022). In der ersten Zeit auf der Flurstraße schlug dem Verein und seine Mitgliedern nicht allzu große Sympathie entgegen, er fühlte sich als „ungern gesehener Gast“. Im Grunde erhielt er die Räumlichkeiten nur, weil die AWO unter Mitgliederschwund litt und von der Stadtverwaltung jemand zusätzlich für die Nutzung der Räumlichkeiten gesucht wurde. Niemand sonst wollte in die Schmuddelecke am Borsigplatz ziehen und so bekam ViF zwei Tage zur Gestaltung seiner Angebote. Es gab viel Ärger, denn es waren selbstverständlich immer die „Ausländer“, die die Fenster angeblich nicht geschlossen hatten oder Dreck machten. Doch ViF entfaltete dort beharrlich und nachhaltig Seniorenarbeit von, für und mit Menschen der ersten Gastarbeitergeneration. Von Anfang an lag ein Schwerpunkt auf dem Handlungsfeld „Älter werden in der BRD“.7 

Alessandra Alberti versteht die Vereinsarbeit „international, praxisbezogen, selbsthilfefördernd, altersübergreifend“.8 Sie ruht auf drei Praxisfeldern zwischen Sozial- und Kulturarbeit: Es gibt erstens Informationen und Hilfen bei Antragstellungen, Übersetzungen, Fachvorträge, einen Ort zum Austausch, zum Treffen und Feiern; Gemeinsam unternehmen sie zweitens gemeinschaftsstiftende Ausflüge zu Kulturorten in Stadt und Region, zu Museen, zur Universität, zu Stätten der Industriekultur, Orte, die die Teilnehmenden kaum allein bereist hätten. Und drittens pflegen sie als Verein die deutsche Sprache: „Deutsch sprechen gegen die Einsamkeit“, reden und diskutieren, nicht nur in der eigenen Community in ihrer Muttersprache, so dass das Deutsch schnell wieder verlernt wird. Alessandra Cuppini Alberti hat dabei eigene didaktische Konzepte einer Hilfe zur Selbsthilfe entwickelt, so etwa, wenn nach Informationsveranstaltungen zur Gesundheits- oder Sozialpolitik alle gemeinsam mit den vortragenden Fachleuten Problemlösungen inhaltlich wie sprachlich durcharbeiten und sich darüber fit machen für Behördengänge, Antragsstellungen, Hilfegesuche.

Geschlechtersensible Alten- und Kulturarbeit

In einem Vortrag 2001 stellte Alessandra Alberti die Probleme zur Diskussion, die sich bei einer Öffnung der Einrichtungen der Altenhilfe und Gesundheitsbildung für Migranten und Migrantinnen ergeben. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Begegnungsstätte des ViF auf der Flurstraße von Menschen zwischen 50 und 80 Jahren aus Chile, Deutschland, Spanien, Italien, Indonesien, Iran, Ukraine, Marokko, Russland und vor allem aus der Türkei besucht: „Zu uns kommen Buddhisten, Christen, Muslime, Juden und Atheisten, ArbeitsmigrantInnen und AsylbewerberInnen“.9 Die Senioren und Seniorinnen mit deutschem Pass, die die Begegnungsstätte zu AWO-Öffnungszeiten frequentierten, waren zumeist hochbetagt und an Freizeitbeschäftigungen wie Kaffeetrinken und Kartenspielen interessiert. Sie hegten Vorurteile, Misstrauen, Angst, Ablehnung. Eine gemeinsame, vertrauensvolle Altenarbeit konnte sich nicht entwickeln. Denn die Migrantinnen und Migranten, die zum ViF kamen,  verstanden sich als aktive, junge ‚Alte‘, die nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes den Kontakt zur deutschen Welt nicht verlieren. Trotz deutscher Sprachdefizite wollten sie weiter in dieser Sprache über soziale und politische Themen diskutieren und ihnen war mehr als bewusst, dass sie für ein angstfreies und gelungenes Leben als Seniorinnen und Senioren in der Bundesrepublik aktiv etwas tun mussten. Alessandra Alberti ließ keinen Zweifel daran, dass die Doppelnutzung mit der Altengruppe der AWO schwierig war und eine gemeinsame Arbeit angesichts der Vorurteile auf deutscher Seite sowie, fehlender finanzieller und personeller Ressourcen nicht zu realisieren war.

Seit Ende der 1980er Jahre setzte sich der Verein unter dem Motto „Älter werden in der Fremde“ mit Wohnformen für Seniorinnen und Senioren auseinander, besichtigte Heime, Tagespflegeeinrichtungen, Altentreffs in Dortmund. Noch waren die Angebote nicht auf Bedürfnisse von Menschen mit nichtdeutschen Herkunftstraditionen ausgerichtet. Wie die meisten Deutschen auch wollten die zugewanderten Männer und Frauen in den eigenen vier Wänden, in der vertrauten Umgebung alt werden. Doch gab es Unterschiede: So verfügten sie über einen schlechteren Informationsstand und waren bei Pflegeanträgen leichter abzuwimmeln, Familien lebten oft auf engstem Raum, Platz für besondere Pflegeein- oder Umbauten stand nicht zur Verfügung. Ständig stieg auch die Zahl der Alleinstehenden. Sie lebten zumeist in Altbauwohnungen, die bei Beeinträchtigungen  schlecht altengerecht umzubauen waren. Zudem trug die stetige Verteuerung von Mieten und Nebenkosten zur Verarmung bei. Wichtig war in diesem Zusammenhang für Alessandra Alberti auch die Gesundheitsbildung: Informationsdefizite und Ängste, nicht gehört zu werden, führten oftmals zu schwierigen Krankheitsverläufen. An diesen Aktionsfeldern Alessandra Albertinis wird deutlich, dass das, was wir heute für die Soziale Arbeit als Standards ansehen, mühsam und in kleinen Schritten von den Senioren und Seniorinnen mit Einwanderungsgeschichte selbst erarbeitet wurde und immer wieder eingefordert werden musste.10 „Die deutsche Mehrheitsgesellschaft hat immer noch die Vorstellung, die Arbeitsmigranten und -migrantinnen gehen im Alter zurück in ihre Herkunftsländer oder werden in ihren großen Familien versorgt. Das ist schon jetzt immer weniger der Fall, weil sich die Kinder wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten in alle Winde zerstreuen“, erklärte Alessandra Alberti in einem Interview 2005.11 Armut, Krankheit, Isolation im Alter nähmen nicht nur eine herkunftsspezifische Dimension an, sondern auch eine Geschlechterdimension: Sie beträfen Frauen in spezieller Weise. Viele aus der ersten Zuwanderungsgeneration lebten von minimalen Renten unterhalb des Existenzminimums. „Sie waren eigentlich gar nicht vorgesehen, als man Arbeitskräfte anwarb“. So verstand Alessandra Alberti ihre Arbeit ausdrücklich auch frauenpolitisch – Frauen stark zu machen, um als Migrantinnen Rechte einzufordern.

Geschichte(n) erzählen

Am Ende ihrer aktiven Vereinszeit prägte Alessandra Alberti die Biografiearbeit, die ViF im Sinne einer aktiven Erweiterung der Erinnerungskultur um Themen wie Migration und Zuwanderung begann. Die Lebensleistungen der Zugewanderten gehören in die Geschichte der Bundesrepublik. Der ViF begann mit den Lebenserinnerungen von neun jungen Männern, die 14-, 15-jährig aus der Türkei ins Ruhrgebiet kamen, und am 1. April 1965 eine Lehre auf den Zechen Hansa, Germania, Schwerin und Emscher-Lippe begannen. Sie legten erfolgreich ihre Knappen- und Facharbeiterprüfung ab und wurden schließlich Techniker, Ingenieure, Steiger und Betriebsrat. Untergebracht waren sie während ihrer Lehrzeit in Pestalozzidörfern, die die Zechen nach dem Krieg für jugendliche Lehrlinge errichtet hatten, die ohne Familie aus den ehemaligen deutschen Gebieten östlich der Oder geflüchtet waren und nun Arbeit im Bergbau suchten. Sie wurden im Ruhrgebiet dringend gebraucht. Nachdem immer weniger Jugendliche für den Bergbau rekrutiert werden konnten, wurden türkische Jugendliche angeworben, die dann in diesen Pestalozzidörfern durch eine erfahrene Bergarbeiterfamilie als „Hauseltern“ betreut wurden.12Das Buch über ihre Lebensverläufe „Glückauf in Deutschland“13 wurde ein großer Erfolg. Die Wanderausstellung, die daraus entstand, zog durch Museen und Rathäuser des Landes. Der Verein erhielt zahlreiche Preise für seine Geschichtsarbeit.14 Im Jahr des Auslaufens des subventionierten Steinkohlebergbaus 2018 in Deutschland schrieben sich die neun Kumpels mit ihrem spannenden Buch und der interessanten Ausstellung in die allgemeine Industriegeschichte ein.

Es folgte das Projekt „Wir hier oben – ihr da unten: Die Frauen an der Seite türkischer Bergleute der ersten Stunde erzählen“. Acht Ehefrauen sprechen von ihren persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen übertage. Es war – so in ihrer Rückschau – ein erfülltes und erfolgreiches Leben mit und in zwei Kulturen. Doch war der Anfang schwer. Frauen deutscher Herkunft konnten Ende der 1960er Jahre keinen türkischen Freund mit nach Hause bringen. Taschengeldentzug, Ausgehverbot waren die Folge. Ein türkisches Mädchen hingegen, dessen Traummann in Deutschland arbeitete, landete nach kurzer Verlobungszeit und einer Fahrt im Ford 17M in einer schmucklosen Junggesellenbude zwischen Zeche, Halde und Kokerei – ohne Unterstützung durch eine türkische Nachbarschaft, die erst langsam  in den Zechensiedlungen entstand. Auch diese Erfahrungen und ihr Selbstverständnis als Bergmannsfrauen gehören zur Geschichte dieses Landes.15

Mit einem dritten Projekt widmete sich die Geschichtsarbeit des Vereins der heute zweitgrößten Zuwanderungsgruppe, den Eingewanderten aus der ehemaligen Sowjetunion, darunter auch jüdische Emigranten als sogenannte ‚Kontingentflüchtlinge‘: „Oma, woher kommst du? Du singst so schön.“16 Sie hatten als Jugendliche oder Kinder Krieg, Vertreibung oder Flucht erlebt, so ist es ihnen auch ein Bedürfnis, gegen Krieg und Diskriminierung anzuschreiben. Sie verließen sie die unsicheren Zustände nach dem Zerfall der Sowjetunion und kamen in den 1990er Jahren als Familien in die Bundesrepublik. Unter den Frauen waren hochqualifizierte Ingenieurinnen, Technikerinnen, die auf dem geschlechtsspezifisch segregierten deutschen Arbeitsmarkt keine ihrer Ausbildung angemessene Beschäftigung mehr finden konnten. Während sie in der Sowjetunion als ‚die Deutschen‘ galten, wurden sie hier zu ‚den Russen‘ und erfuhren Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Ausgrenzung.

Eine Italienerin in Deutschland

Alessandra Alberti ist keine typische Arbeitsmigrantin. Sie kam als Akademikerin nach Dortmund. Doch auch die „Dottora“ in Germanistik erlebte in Deutschland Fremdenfeindlichkeit: Sie sprach Deutsch, doch sie wurde als „Fremde“ markiert. Sie wurde beklaut und betrogen, so, als man ihr für drei Schweinekoteletts in der Metzgerei 12 DM (Deutsche Mark) abnahm. Sie war aus Italien gewohnt, dass Lehrpersonen mit Respekt gegenübergetreten wurde. Und nun in Deutschland wurde sie zur Seite gedrängt und nicht ernst, nicht für voll genommen.17Das war für sie klar und deutlich Fremdenfeindlichkeit. Bei der Geburt ihres Sohnes lag sie in den Städtischen Kliniken zwar erster Klasse – ihr Mann war Beamter – aber ihr Schreien und bitteres Rufen half nichts, als unter der Geburt die Schmerzen unerträglich wurden und sie Angst bekam. Sie wurde nicht beachtet. Sie hörte eine Schwester sagen: „Die Südländer schreien immer und übertreiben gerne.“  Erst eine Ärztin kam ihr zur Hilfe und leitete die Geburt ein: „Ich werde meine Not und diese Angst, dass mein Kind vielleicht sterben könnte oder krank zur Welt käme, nie vergessen.“ Diese Erfahrung nennt man heute wohl traumatisch. Alessandra Alberti erzählte, dass ihr Sohn – blond und blauäugig – sie in der gegenüber Fremden feindlich eingestellten Öffentlichkeit immer intuitiv unterstützte, so sprach er laut italienisch, damit sie sich nicht alleine fühlte.  In einer anderen Situation mit ihrem Sohn, mit dem sie italienisch sprach, damit er in zwei Sprachen aufwuchs, bat ein Verkäufer an der Haustür: „Rufen sie doch bitte die Hausfrau, ich möchte etwas vorstellen“, als sei sie das Hausmädchen. Stereotype wie diese, in denen sich die Herkunft auf die Arbeit überträgt, die den „Anderen“ in der eigenen Gesellschaft  zugewiesen werden, fasst die Soziologie heute unter „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“.18

POSTSCRIPTUM

Während diese Biografie zu Alessandra Cuppini Alberti entsteht, lebt sie hochbetagt mit einer sehr schweren Form der Demenz in einem Pflegeheim der katholischen Kirche in Dortmund. Ljuba Schmidt, aktuelle Vorsitzende des ViF, kümmert sich um sie, so wie Alessandra sich um den Verein und um internationale Freundschaften gekümmert hat. Alessandra Alberti erkennt niemanden mehr und niemand weiß, was sie von ihrer Umwelt noch aufnimmt. So lassen sich einige biografische Hinweise für diesen Text nicht mehr vertiefen und Erzählungen konkretisieren. Zu einer bedeutenden Quelle wurden Gespräche, die sie anlässlich verschiedener Vereinsjubiläen mit Viktoria Waltz führte. In der WDR-Sendereihe „Erlebte Geschichte“ erzählte sie aus ihrer Zeit in Dortmund.19Ihr politisches (Vereins)Engagement lässt sich über die Vereinsunterlagen rekonstruieren, die sich mittlerweile im Dortmunder Stadtarchiv befinden.

Viktoria Waltz, ViF/  Uta C. Schmidt, frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Internationale Altenbegegnungsstätte, Flurstraße 70, 44145 Dortmund

Stadtarchiv Dortmund, Stadtarchiv Dortmund Märkische Str. 14, 44122 Dortmund

Dietrich-Keuning-Haus Leopoldstr. 50-58, 44147 Dortmund

Borsigplatz, Dortmund

Westfalenhütte, Eberhardstr. 12, 44145 Dortmund

Zitation: Waltz, Viktoria/ Schmidt, Uta C., Alessandra Cuppini Alberti, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/alessandra-cuppini-alberti/

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Liselotte Rauner

Unterdrückung, Ausbeutung, Rechtlosigkeit, Krieg waren ihre Themen, der Alltag im Ruhrgebiet ihre Basis. Rezensenten und Gratulanten nannten sie wiederholt eine „Mutter Courage des Ruhrgebiets“, die mit lauter und kraftvoller Stimme ihre Widerstandsverse vortragen konnte. Viele ihrer Gedichte reimten sich, gaben eine Melodie vor und fanden in den 1970er und 80er Jahren in der Musikszene nicht nur des Ruhrgebiets großen Anklang. Die Sängerin Brigitte Lebaan, die Jazz-Interpretin Inge Brandenburg und Friedensaktivistin Fasia Jansen, der Sänger, Sammler und Archivar Frank Baier, die Liedermacher Dieter Süverkrüp, Werner Worschech und Klaus Hoffmann interpretierten ihre Texte musikalisch, nachzuhören auf mehr als 20 Schallplatten.

Ihre Biografie beschreibt Liselotte „Lilo“ Rauner um 1968 einmal lakonisch so: Geb. 21.2.1920 in Bernburg/Anhalt, Realschule, kaufmännische Lehre, Gesangsausbildung, 2-jährige Mitgliedschaft am Stadt- und Landestheater in Bernburg, seit 1948 wohnhaft in Wattenscheid, verheiratet, keine Kinder. Schreibe seit etwa dem 18. Lebensjahr aus Passion, keine Veröffentlichungen, erstmalig im Januar d.J. [1968] in der literarischen Werkstatt in Gelsenkirchen mit Gedichten an die Öffentlichkeit getreten, seitdem mehrere Lesungen und Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften. Vorgesehen für einige in Kürze erscheinende Anthologien und Reproduktionen mehrerer Arbeiten durch Frau Ursula Herking.1

Die Gelsenkirchener Werkstatt des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt und der Direktor der Stadtbücherei Gelsenkirchen, Hugo-Ernst Käufer, förderten und begleiteten ihre literarische Arbeit.
Sie gehörte zu den wenigen Lyrikerinnen des Ruhrgebiets, sie verwahrte sich aber gegen eine Zuordnung zur „Frauenliteratur“. Sie schrieb politische Lyrik, ihr ging es nicht um private Verhältnisse.

Anerkennung fand ihre Arbeit 1986 mit der Berufung in den Internationalen PEN- Club und als erste Preisträgerin des Literaturpreises Ruhr, bereits vorher war sie Preisträgerin im Reportage-Wettbewerb des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt (1969), Stipendiatin des Landes NRW (1977), Trägerin des Bocholter Kulturpreises (1978) und des Josef-Dietzgen-Literaturförderpreises (1982).

Der erste Gedichtband erschien 1970 unter dem Titel Der Wechsel ist fällig, es folgten weitere Gedichtbände im Oberhausener Asso-Verlag. Nach dem Tod ihres Mannes Walter 1992 stellte Liselotte Rauner ihr Schreiben ein, ohne ihn schien es unmöglich, Alltag und Schreiben zu bewältigen. Selbst von Freunden schottete sie sich fast völlig ab und trieb bewussten Raubbau mit ihrer Gesundheit.

1998 trat sie mit der Gründung der „Liselotte und Walter Rauner Stiftung“ zur Förderung neuer Lyrik, nach eigener Aussage die einzige private Literaturstiftung in Nordrhein-Westfalen, noch einmal an die Öffentlichkeit.

Hugo Ernst Käufer und Rainer W. Campmann beschreiben in ihren Nachrufen Lilo Rauner aus verschiedenen, gleichwohl bewundernd-liebevollen, sich ergänzenden Perspektiven. Käufer erinnert an den letzten Auftritt Rauners 2004: Ein Beweis dafür, dass nur sie selbst ihren Gedichten zur vollen Wirksamkeit verhelfen konnte. Das wußte sie auch.2 Campmann erinnert sich an das widersprüchlich-symbiotisch verbundene Paar Lilo und Walter, und während Käufer „die poetische Kraft ihrer Sprachbilder rühmte“ dachte er an den immer vorhandenen und unerfüllten Traum Rauners, eine Prosaarbeit zu schreiben.3

Lilo Rauner wird nicht vergessen, ihre Gedichte und Aphorismen, ihre Stiftung, eine nach ihr benannte Talentschule in Bochum und der Nachlass im Stadtarchiv Bochum (NAP 123) machen Werk und Person sichtbar und zugänglich.

Garantien der Obrigkeit
Ihr dürft alles tun
was wir euch sagen
doch ihr sollt nicht sagen
was wir euch tun

Ihr dürft alles ändern
was wir wünschen
doch ihr dürft nicht wünschen
daß wir uns ändern

Ihr dürft überall gehen
wohin wir wollen
doch ihr dürft nicht wollen
daß wir gehen
(1969)4

Zum 100. Geburtstag der Lyrikerin Liselotte Rauner am 21. Februar 2020 richtet die noch von ihr selbst 1998 ins Leben gerufene Liselotte und Walter Rauner Stiftung einen Lyrikwettbewerb aus. Politisch pointierte und freche Texte sollen prämiert werden, die der wehrhaften, für die Rechte der Zukurzgekommenen kämpfenden Schriftstellerin gefallen hätten.

Hanneliese Palm, Selm

Orte:

Liselotte Rauner Stiftung, Westring 32, 44777 Bochum

Liselotte Rauner-Schule, Bochum-Wattenscheid

Literatur:

Hugo Ernst Käufer (Herausgeber): Liselotte Rauner: Kein Grund zur Sorge, Oberhausen 1985

Rainer W. Campmann, Hugo Ernst Käufer (Hrsg.): Augenblicke der Erinnerung, Oberhausen 1991

Was gültig ist, muß nicht endgültig sein, Essen 1992

Zitation: Hanneliese Palm, Liselotte Rauner. Eine politische Lyrikerin des Ruhrgebiets, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/liselotte-rauner/

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Louisa Catharina Harkort, geb. Märcker

Das märkische Sauerland bot der Industrialisierung früh einen fruchtbaren Nährboden: Von der hier vorhandenen Wasserkraft, dem Metall- und Holzvorkommen profitierten zahlreiche ländliche Unternehmen. Eines der bekanntesten ist das Familienunternehmen Harkort mit dem Stammsitz auf Gut Harkorten bei Hagen. Materielle Grundlage der sozial und wirtschaftlich hervorgehobenen Stellung der Harkorts war der große landwirtschaftliche Betrieb auf Gut Harkorten, das bereits im Schatzbuch der Grafschaft Mark von 1486 erwähnt wird.1 Dabei konzentriert sich das Interesse hauptsächlich auf Friedrich Wilhelm Harkort (1793-1880), den Begründer der Maschinenfabrik in Wetter. Dass er die unternehmerischen Ressourcen zur Gründung hatte, verdankte er aber auch seiner Großmutter, Louisa Catharina Harkort, geborene Märcker. Denn diese leitete im 18. Jahrhundert das Unternehmen nach dem Tod ihres Mannes während drei Jahrzehnten und sicherte so seinen Bestand für die Familie und Nachkommen. Im Gegensatz zu ihrem Sohn und ihrem Enkel verfügt sie aber bis heute über keine ausführliche Biografie.2

Wirtschaftliche und gesellschaftliche Voraussetzungen

Der Märkische Raum war im 18. Jahrhundert eines der führenden frühindustriellen Gewerbezentren in Deutschland. Neben ihrem großen Landgut mit Äckern, Wiesen und Wäldern im Ennepetal bei Hagen bewirtschafteten die Harkorts ab 1753/63 das Gut Schede bei Wetter. Zusätzlich betrieben sie mehrere Hammerwerke sowie ein Handelsunternehmen, das um die Mitte des 18. Jahrhunderts über mehr als 200 Handelspartner verfügte.3

Das Lebensumfeld der Märckerin aus sozialer Sicht war durch die bedeutende Stellung der Familien Harkort und Märcker geprägt. Als Pastoren und Richter hatten ihre Vorfahren und diejenigen ihres Mannes in der ständisch-verfassten Gesellschaft des 18. Jahrhunderts einflussreiche Positionen inne.4 Der Familienstammbaum der Harkorts lässt sich gesichert bis auf das Jahr 1560 zurückführen; das Gut Harkorten, das 1705 gut 13 ha Land umfasste, wurde erstmals 1486 erwähnt. Handel in einem größeren Umfang führten die Harkorts bereits seit dem frühen 17. Jahrhundert.51754 zählte das Handelshaus unter Johann Caspar Harkort III., dem Ehemann der Märkerin, neben dem Handelshaus seines Onkels Carl Johann Harkort (1691-1761) in Hagen,6 zu den „prinzipalsten Kaufleuten so in Eisen-Waren fast durch ganz Europa handeln, die Fabrikanten in Arbeit unterhalten und da von ihr soutien haben.“7

Trotz ihres ländlichen Wohnsitzes traten die Harkorts im Kreis der städtischen Kaufleute und Unternehmer von Dortmund, Iserlohn, Lüdenscheid gleichberechtigt auf; in ihrer engeren Umgebung zwischen Hagen und Schwelm waren sie politisch und wirtschaftlich führend, in der gesamten Grafschaft Mark meinungsbildend.

Elternhaus und Ausbildung der Märckerin         

Louisa Catharina Märcker wurde 1718 in Hattingen in geboren. Zur Geburt hielt ihr Vater fest: „Anno 1718 den 2ten octobris hat der Liebe Gott morgens zwischen 6 und 7 Uhr uns mit einer jungen Tochter gesegnet, welche wir den 8. darauf durch die Tauffe von Sünden abwaschen und Louysa Catharina benamsen lassen.“ Taufpaten waren „die Hochwohlgebohrene Frau von Heider, gebohrene von Bousch, Frau zum Cliff, meine liebe Mutter Catharina Margaretha Cramers, und mein Schwiegervatter Bernh. Casp. Reinermann. Gott lasse es zu seiner Ehre und unserer Freude aufwachsen!“8 Der Vater, Johan Christoph Märcker (geboren 1688) stammte aus Essen, hatte an der Universität Utrecht 1711 in Medizin promoviert9 und hielt sich zeitweilig als „Medicina Doctor, Märckischer Landfisicus und hochfürstlich Essendischer Hof und Leib Fisicus“am Hof der Fürstäbtissin in Essen auf. Am 3.10.1716 hatte er sich mit Charlotte Maria Reinermann von Schede verheiratet (geboren 1691, gestorben nach 1738)10, die auf Gut Schede bei Wetter an der Ruhr aufgewachsen war.11

Louisa hatte zwei jüngere Brüder. Der Jüngere, Johann Friedrich (1723-1791), lebte und arbeitete nach ihrer Heirat mit den Harkorts auf Harkorten. Der ältere, Johann Christoph, wurde wie sein Onkel Hoffiscal zu Cleve.12 In ihrer Jugend verkehrte Louisa am Hofe der regierenden Fürstäbtissin von Essen, Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach.13 In Essen wurde sie auch am 5. Oktober 1732 evangelisch lutherisch konfirmiert.14 Das Essener Damenstift war kein Kloster – so lässt sich erklären, dass die Märckerin als Protestantin sich hier aufhalten konnte.15 Nicht nur hatte sie am Hof Zugang zu vielfältiger Literatur, sie war auch Teil des höfischen Lebens, übte sich im stilsicheren, selbstbewussten Auftreten und konnte Kontakte knüpfen, von denen sie in ihrem späteren Leben profitierte.16

Der Umgang mit Menschen außerhalb ihres eigenen Standes schärfte ihr Gespür für Repräsentation (im Sinne von Vertretung und Wahrung der eigenen (Standes)Interessen, welche in der Ständegesellschaft für die höheren Stände ein wichtiges Mittel zur Distinktion und zur Darstellung von eigener Macht, Bedeutung und Einfluss war.17 Louisa erwarb am Hof der Äbtissin somit wichtiges soziales und kulturelles Kapital.18

Bedeutungsvoll für ihre spätere Tätigkeit ist die Synthese, die dieses Kapital mit ihrer Herkunft aus dem landsässigen Bürgertum einging. Bürgerliche Tugenden wie Fleiß, Sparsamkeit und Gewissenhaftigkeit verbanden sich mit stilsicherem Auftreten und Kontakten in die höchsten Kreise und bereiteten die Märckerin bestens auf ihren künftigen Lebensweg vor, auf dem sie u. a. als „Fabriquendeputierte“ des Amtes Wetter die Interessen aller Hammerbesitzer gegenüber der preußischen Regierung zu vertreten hatte. Darüber hinaus wird in der Literatur zudem ihre Schönheit gerühmt; die jungen Männer sollen, so wird berichtet, ein Spalier gebildet haben, um ihr auf ihrem Weg zur Kirche den Weg freizumachen und sie zu bewundern.19

Louisa Catharina heiratete erst vergleichsweise spät mit dreißig Jahren: Ob dafür ihre protestantische Religionszugehörigkeit ausschlaggebend war oder ihre hohen Ansprüche an einen Ehepartner, muss offenbleiben.20Ebenso schweigen sich Quellen und Literatur darüber aus, wie sie ihren künftigen Ehemann kennenlernte. Dessen Wohnsitz lag allerdings nahe beim Gut der Mutter der Mäckerin.

Heirat, Ehefrau und Mutter

Im Juli 1748 heiratete Louisa Catharina Märcker den zwei Jahre älteren Johann Caspar Harkort III.21 Johann Caspar III. hatte den Stammsitz und einen Eisenhammer nach dem Tod seines Vaters 1742 übernommen. Für ihn war es die zweite Ehe; seine erste Frau war 1747 im Kindbett gestorben. Aus der Ehe von Louisa und Johann Caspar gingen sieben Kinder hervor, die beiden ältesten starben bereits kurz nach der Geburt. Fünf Kinder des Ehepaars, die beiden Jungen Johann Caspar IV. und Peter Niklas, sowie die drei Mädchen, Caroline Friederike, Louise Henriette und Helena Christina, geboren zwischen 1753 und 1759, erreichten das Erwachsenenalter.22

1756 ließ das Ehepaar auf Gut Harkorten ein neues, großes und repräsentatives Haus errichten, das Kontor- und Lagerräume enthielt und genügend Platz für die Unterbringung der zahlreichen Gäste aufwies. Treibende Kraft für den Neubau scheint die Märckerin und ihr Wille nach Repräsentation gewesen zu sein: Das Haus, errichtet von Eberhard Haarmann,23 gilt noch heute als eines der bedeutendsten Barock-Denkmäler in Berg und Mark.24  Der neue Wohnsitz hob sich in Ausführung und Pracht deutlich von den bisherigen und weiter bewohnten Häusern auf dem Gut ab. Schieferumkleidet, mit geschwungenem Giebeldach, repräsentativer Freitreppe vor der Eingangstür und reichen Holzschnitzereien legte es Zeugnis ab für den raschen Aufstieg der Familie und ihren großen Reichtum, zu dem sie in den Jahren vor dem Siebenjährigen Krieg gekommen war.25 Gleichzeitig war es aber auch, wie Ellen Soeding betont, ein äußerst zweckmäßiges Kaufmannshaus:
„Jeder Winkel unter Treppen und schrägen Wänden war durch Wandschränke ausgenutzt; die schöne Eichentreppe nahm wenig Raum ein, und die gleichmäßige Aufteilung der Zimmer, Comptoirs und Lagerräume erschien übersichtlich und klar.“26

Insofern kann das Haus als Sinnbild für die Art des Wirtschaftens und des gesellschaftlichen Anspruchs der Harkorts betrachtet werden: Klar strukturiert und zweckmäßig, vertrat es dennoch deutlich den Willen zur Prachtentfaltung und Repräsentation.27

Auch die Natur unterwarf die Märkerin ihrem anspruchsvollen Gestaltungswillen. Sie legte auf Harkorten ein Parkwäldchen mit importierten und fremden Pflanzen und Bäumen an, das „Boskett“ genannt wurde und allein der Muße und Freizeit gewidmet war. Bis dahin hatte es auf dem Gut nur Obst- und Nutzgärten gegeben.28 Das Anlegen eines Gartens in Anlehnung an das prachtvolle Vorbild der französischen Könige entsprach der damaligen Mode in den gehobenen Ständen und diente dem Ausdruck des Reichtums und des gehobenen Lebensstils der Familie Harkort.

Einen solchen zelebrierte die Mäckerin auch durch eine aufwendige Haushaltsführung. Dabei lebte die Märckerin aber durchaus maßvoll, leistete sich Luxus nur nach Möglichkeit und vermischte so adligen und bürgerlichen Lebensstil. Sie bestellte z. B., wie aus den Geschäftsbüchern ersichtlich ist, erst nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) erstmals nicht nur lebensnotwendige Waren, sondern auch silberne Tafelleuchter und eine große silberne Kaffeekanne.29

Soeding beschreibt die Märckerin als eine hervorragende Gesellschafterin, mit höfisch geprägten gesellschaftlichen Umgangsformen: „Ja, immer hatte sie Gäste im Haus, die kluge und schöne Märckerin; Verwandte, Bekannte, zahlreiche Geschäftsfreunde ihres Mannes. Sie liebte die Geselligkeit, die aus geistreichen Tischgesprächen bestand, aus Spaziergängen durch das liebliche Land und aus gemeinsamem Musizieren. Auch sie hatte ihre ‚Tafelrunde‘, und diese wurde bald zum geistigen Mittelpunkt der führenden Männer in der Grafschaft.“30

Gut Harkorten entwickelte sich nach der Einheirat der Märckerin zu einem gesellschaftlichen Mittelpunkt der Region, ja zu einer der Keimzellen der entstehenden frühbürgerlichen Gesellschaft des bergisch-märkischen Raumes. Gäste waren nicht nur durchreisende Handelspartner, sondern die benachbarte Kaufmannschaft, die örtlichen Pfarrherren und aufgeklärte preußische Verwaltungsbeamte wie der Freiherr vom Stein, der 1784 Direktor des Bergamtes in Wetter an der Ruhr wurde und die Entwicklung des Bergbaus und des Hüttenbaus in den westlichen Gebieten Preußens vorantrieb.31 Zu Besuch kam auch die Fürstäbtissin von Essen32 – bestehende soziale Kontakte pflegte die Märckerin kontinuierlich. Und als König Friedrich Wilhelm II. die Provinz Westfalen 1788 besuchte und sein Sohn in Hagen Aufenthalt nahm, wurden zwei Enkeltöchter der Märckerin ausgewählt, um diesen mit einem Blumenstrauß in seiner Unterkunft zu begrüßen.33So pflegte sie eine eigentliche Salonkultur in der preußischen Provinz – denn ein typisches Merkmal der Salons des ausgehenden 18. Jahrhunderts war, dass darin Standesgrenzen verschwammen: Adel und Bürgertum trafen unbeschwert zusammen. Die reibungslose Übernahme der Geschäfte nach dem Tod ihres Mannes lässt darüber hinaus darauf schließen, dass die Gespräche an den Gesellschaften nicht nur schöngeistig gewesen waren, sondern mit Sicherheit auch geschäftliche Themen betrafen.

Über die Erziehung der Kinder liegen kaum Quellen vor. Ellen Soeding betont die große Liebe der Märckerin zu ihren Kindern: „Diese Frau die ebenso klug wie umsichtig und energisch die Güter Harkorten und Schede verwaltete, die das Handlungsgeschäft und die Hammerwerke führte, als habe sie niemals etwas anderes getan, diese Frau war ihren Kindern gegenüber so zärtlich, so warm und voller Liebe, dass sie alle ihr Leben davon zehrten.“34

Davon zeugen insbesondere die wenigen erhaltenen Briefe der Märckerin an ihre Kinder.35 Zu den Pflichten der Märckerin als Mutter gehörte die Ausrichtung der Hochzeiten ihrer Kinder, wobei sie nicht an Kosten sparte. Gleichzeitig notierte sie jede Ausgabe akribisch, um sicherzustellen, dass alle Kinder gleichviel erhielten.36

Unternehmerische Wirksamkeit

1761 starb Johann Caspar III. überraschend an, wie die Quellen es bezeichnen, „Flussfieber37 und ließ neben seiner Witwe fünf unmündige Kinder im Alter zwischen zwei und acht Jahren zurück. Ihrem tiefen Schmerz gab Louisa in der Todesanzeige vom 12. Februar 1761 Ausdruck: „Es ist mir unmöglich, die Empfindungen des Jammers und des Schmerzes zu erklären, welche den 10ten Februaris des Abends um 9 Uhr meine Seele und mein Haus erfüllet haben. Die allerheiligste Vorsehung riss mir und meinen fünf unmündigen Kindern den Herrn Johann Caspar Harkort, diesen besten Ehegatten und zärtlichsten Vater, in dem 45sten Jahr seines Alters und in dem 13ten unser zufriedenen Ehe, nach einer langwierigen Schwachheit, durch den Tod von der Seite. Ich weiss, bey diesem, für mich und meine vaterlosen Waysen unersetzlichen Verlust mich mit nichts, als mit dem heiligen Willen des Ewigen und dem ungemeinen Glauben an den Heyland der Welt aufzurichten, womit mein würdigster Freund in den Genuss der Seligkeiten übergegangen ist.“38

Hatte sich ihr Mann bereits durch Unternehmensgeist ausgezeichnet,39 so stand ihm seine Witwe nun in nichts nach. Während der folgenden 34 Jahre führte sie das Unternehmen unter dem Namen „Johann Caspar Harkort Seelig Witwe“. Bis 1780 tat sie dies mit Unterstützung ihres Bruders Johann Friedrich Märcker und des Handlungsgehilfen Johann Caspar Wienbrack. Von 1780 bis zu ihrem Tod 1795 waren ihre beiden Söhne und sie zu gleichen Teilen Teilhaber und führten das Unternehmen gemeinsam als Compagnie-Handlung.40 Während dieser Jahre sicherte und mehrte sie mit großem unternehmerischen Erfolg Besitz und Vermögen ihrer Familie.

Dass sie die Handlung unter dem Namen ihres Mannes weiterführte, war durchaus üblich und zielte darauf, das Vertrauen der Kunden und Lieferanten in die Firma zu erhalten.41 Das Wort der „Wittib Harkort“ hatte Gewicht im Kreis der Verleger und Reidemeister an der Enneperstrasse in Westfalen.42 Dies ist nicht nur auf die einflussreiche Stellung der Familie Harkort zurückzuführen, sondern auch auf Person und Leistung von Louisa Harkort. Sie erhielt zwar Unterstützung von Bruder, Handlungsgehilfen und Söhnen – eine solche Hilfe fiel in einem Familienbetrieb aber auch einem männlichen Oberhaupt zu. Sie führte die Firma unbeschädigt durch den Siebenjährigen Krieg (1756-1763), wozu ihre guten Beziehungen zur Fürstäbtissin, die ihr einen Schutzbrief der Franzosen vermittelte, wodurch das Gut vor Plünderungen verschont blieb, nicht unwesentlich beitrugen.43 Sie leitete die Gutsverwaltung, baute den Export aus und legte neue Hämmer an. Das Unternehmen verfügte über drei Standbeine – den Handel, die Herstellung von Metallarbeiten im Verlagssystem sowie den Betrieb eigener Hammerwerke. Um alle drei Bereiche, sowie um die Vertretung der Interessen ihrer Berufsgruppe gegenüber der Regierung und um die Verwaltung ihres Gutes kümmerte sich die Märckerin mit Engagement.

Das Handelsgeschäft

Das Handelsgeschäft bildete den Haupterwerbszweig und die Quelle des wachsenden Wohlstands des Harkortschen Unternehmens. Dabei war der Handel eng verbunden mit der Produktion von Metallwaren und die Expansion des Handels im 18. Jahrhundert ging einher mit einer engeren Einbindung der Produktion in die Firma der Harkort.44 Der Schwerpunkt des Handels im ganzen 18. Jahrhundert lag im Export von märkischen Metallwaren wie Sensen und Messer in den Ostseeraum, vor allem nach Lübeck und Rostock, wo eigene Lager unterhalten wurden.45 Die Lübecker Geschäftspartner vermittelten die märkischen Metallwaren weiter nach Skandinavien und ins Baltikum. An weiteren Gütern wurden v. a. Lebensmittel und Luxuswaren gehandelt, oft wurden diese als Rückfracht von den Handelsplätzen der Nord- und Ostsee in die Grafschaft Mark importiert.46

Das Harkorter Handlungsgeschäft lieferte auf Anfrage alles, was bestellt wurde. Bestellt werden konnte, nach einer Zusammenstellung der Märckerin: „Ambosse! Axen und Beile, Nagelbohren, Friedbohren und Billancen, Caffeemühlen und Feuer Confoirs, Draht in allen Sorten … Feuerstähle, Fingerhüte und Nähringe, Feilen nach Steiermärker Art, Goldwaagen, Kuchen- und Waffeleisen, auch Tafelmesser aller Arten, Mundharpfen, Pfannen und Pulver, Sensen und Futterklingen aller Art, Baum- und Kerbsägen, Hand- und Spannsägen. Aller Arten von Schafscheeren, Heckenscheeren, Danziger Spaden und Schüppen, Schlösser, Schrittschuh, Schahl, metallene auch Compositionsschnallen, grosse Waagebalken und Winden. Geräthe für Zimmerleute als Hobels, Beitels und dergleichen.“47 Neue Artikel wie Kaffeemühlen, Waffeleisen oder Schlittschuhe wurden schnell ins Sortiment übernommen und von den Schmieden im Auftrag angefertigt.48 Ab 1770 kamen Wandkaffeemühlen und „Convoirs“ in Mode, eine Art Stövchen, um Kaffee und Tee auf dem Tisch warmzuhalten.49

Transportiert wurden die leichteren Handelsgüter über Land, die schwereren auf dem Wasser. Mut und Innovationskraft bewies die Märckerin, indem sie sich als eine der ersten an der Schiffbarmachung der Ruhr, die ab 1780 bis Herdecke schiffbar war,50 beteiligte. Da sie seit 1780 auf Gut Schede einen neuen großen Hammer betrieb, konnte sie bei dessen Roheisenversorgung über die Ruhr erhebliche Kosten sparen. Ab 1783 unterhielt sie mit dem Herdecker Kaufmann Bockmöller ein eigenes Schiff, das in den Sommermonaten zwischen Duisburg und Ruhrort verkehrte und die Harkorter Hammerwerke mit Eisen versorgte.51 Ruhrabwärts wurde Kohle transportiert. Die Organisation kostete viel Mühe. 1785 schrieb sie in einem Brief an ihren Schiffer: „Mein werter Herr Caspar! An den Unkosten muss gesparet werden, sonst wird mir die Wasserfahrt leid. Ich bemerke ungern, dass ich das Ein- und Ausladen noch bezahlen soll und die Schiffer nur müßige Zuschauer dabei sein sollen! Sodann soll ich auch Armengeld, Zollknechts-Geld und wer weiß wie viele Sachen noch bezahlen. Lieber Herr Caspar! Wir können uns beiderseits entbehren – aber auch nützlich sein. Lassen sie uns doch im Einverständnis bleiben. Ich gönne Ihnen zwar ihren Nutzen und habe ihnen ja die 6 Stüber, so die Schiffer in Cöln nach Wiesdorf geben müssen, zugekehrt… Lassen sie mir nun auch einen kleinen Vorteil, der mir gebühret für meine viele Mühe, die ich in der Sache habe.“52

Ab 1794 verlieren sich die Quellen, vermutlich war das Geschäft unrentabel. 1803 wurde das Schiff verkauft.53

Stand die Märckerin in allen bisher gezeigten Geschäftsbereichen ihren Mann bzw. ihre Frau, so musste sie in einem Bereich passen: bei den für die Firma so wichtigen Geschäftsreisen. Bei regelmäßigen Besuchen der Geschäftspartner pflegte man bestehende Kontakte, suchte und erschloss neue Absatzmöglichkeiten. In den 1760er Jahren unternahm der Bruder der Märckerin, Johann Friedrich, regelmäßig die Reisen nach Norddeutschland, ebenso der Handlungsgehilfe Wienbrack. In den 1780er Jahren wechselten sich die dann erwachsenen Söhne darin ab.54 Für Frauen schickte sich das Reisen nicht, ebenso delegierten auch häufig die älteren, männlichen Familienvorstände diese eher mühevolle Aufgabe an ihre Söhne.

Die Produktion von Metallwaren in den Hammerwerken

Der zweite wichtige Geschäftsbereich war die Metallwaren-Produktion, welche in der Zeit, als die Witwe Harkort das Unternehmen leitete, kräftig expandierte. Johann Caspar III. hatte fünf Hämmer besessen, 1780 betrieb die Witwe Harkort bereits acht Hämmer, die in allen drei Stufen des Verarbeitungsprozesses tätig waren: In der Herstellung von Rohstahl, bei der Anfertigung eines Vorprodukts sowie bei der Herstellung von Endprodukten.55 Kaum ein anderer Unternehmer betrieb im Amt Wetter mehrere Hammerwerke.

Die Märckerin kannte sich in ihrem Metier gut aus: So schrieb sie einem Stahllieferanten, dass sich sein Material nicht verschmieden lasse: „Sehen die Stahlkuchen glänzend aus, sind voller Christalle (Spalk oder Sprengel) und leicht brüchig, so sind sie streng im Schmelzen, geben harten Stahl und vertragen viel Zusatz. Fallen die Stahlkuchen dagegen ins Graue und wollen ungern beim Schlagen zerspringen, so schmieden sie sich zu weich und vertragen wenig Zusatz.“ 56 Zum Wachstumsschub der Firma trug bei, dass die Märckerin flexibel auf den Markt und die Nachfrage zu reagieren verstand und neue Produkte anbot und vertrieb. 1774 erweiterte sie ihr Angebot an Sensen um ein steiermärkisches Modell,57 nachdem ihr nach einer Weile der Erprobung die richtige Herstellung geglückt war. Die steirischen Ganzstahl-Sensen waren von besserer Qualität als die märkischen Sensen, bei denen nur die Schneiden verstählt wurden.58 Bereits im folgenden Jahr lieferte sie allein nach Petersburg 1.300 Stück steirische Sensen.59 Da das Unternehmen einen steten und hohen Bedarf an gutem Rohmaterial hatte, wurde nach neuen Lieferanten permanent Ausschau gehalten, und bei Bedarf auch sofort gewechselt. Selbst einem wichtigen Lieferanten in der Bendorfer Hütte bei Koblenz drohte die Märckerin im Mai 1784 angesichts einer Preiserhöhung unverhohlen mit dem Wechsel zur Konkurrenz: „Wenn auch das Eisen gut ist, so kann selbiges doch auch zu hoch im Preis werden. Dieß ist ietzo so, daß ich mich sehr irren müste, wenn deßen ietzo aus hiesiger gegend viel zu dem neuen Preise sollte bestellet werden, zumahl da sich ietzo zu Ründerorth ein gantz neues äußerst ergiebiges und vielversprechendes Bergwerck gefunden hat.“60

Ihr Umgangston mit Rohwaren-Lieferanten und Produzenten auf den Hämmern war durchaus resolut. Soeding beschreibt sie als klug, umsichtig und energisch.61 Unter ihrer Führung wuchs die Zahl der für die Harkortsche Firma tätigen Handwerker: Zu Beginn der 1790er Jahre waren 296 Kleinschmiede für die Compagnie-Handlung im Verlagssystem tätig,62d. h. sie verarbeiteten das vom Unternehmer gelieferte Rohmaterial zu dem von ihnen festgesetzten Preis. Dies weist auf die große Bedeutung der Harkortschen Fabriquen für die Bevölkerung der Mark hin. Die Witwe Harkort und ihr Sohn wurden von den übrigen Hammerwerksbesitzern denn auch immer wieder als Deputierte gewählt, um die Interessen der Unternehmer gegenüber der preußischen Regierung wahrzunehmen.63

So setzte sie sich gegenüber dem König für die Werbefreiheit ein, wovon ein Brief zeugt, in dem sie sich 1763 bei ihrem Geschäftspartner Hülsenbeck in Rohstock für eine verspätete Warenlieferung entschuldigt. Viele ihrer Arbeiter seien in die Armee abgeworben worden und die Hammerwerke standen ohne Schmiede da. „Anjetzowürden schon alle für Euch bestimbte Waaren unterwegens seyn, wan nicht die diesen gantzen Winter betriebene rogorense Königl Werbungen der F[abrique] einen abermahligen Stoss beygebracht, indem nicht allein sehr viele Fabric[anten] enrollieret, sondern auch viele aus den Landen gewichen, und noch jetzo ist man unsicher. Gegenwärtig sind wir hier darüber aus, von S[einer] K[öniglichen] M[äjestät] die werbefreiheit wenigstens für die Fabriq[ue] zu suchen. Hoffnung haben wir, solche zu erhalten. Wan darunter nicht reussiren, so ist es binnen Wochen um hiesige Gegenden geschehen.“64 1776 wurde die Frau Wittib Johann Caspar Harkort zusammen mit Johann Heinrich Elbers zu Hagen und Johann Heinrich Fischer von den Reidemeistern, Sensenfabrikanten, Amboß-, Reck- und Breitschmeiden des Gerichts Hagen an erster Stelle als Deputierte bevollmächtigt, sich für die Werbefreiheit und Beibehaltung der Holzkohlepreise einzusetzen.65

In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zeichneten sich Veränderungen ab: Neben den wichtigsten Handelsdestinationen Lübeck und Rostock, wo die Firma eigene Warenlager unterhielt, große Mengen von Messern, Sensen, Schneidemessern, Stahl und Pulver, breite Waren (Pfannen, Sägen) und kurze Waren sowie Kleineisenprodukte (Nägel, Nadeln, Waagen) absetzte, trat zunehmend der Handel mit kleineren Städten in Schleswig und Holstein, in Mecklenburg-Schwerin oder Pommern. Die Harkorts lieferten vermehrt direkt an die dortigen Kaufleute, die die Produkte den Endabnehmern verkauften: Die Handelskette wurde somit verkürzt und Kundenwünsche konnten vermehrt abgefragt und damit auch umgesetzt werden. In der Firma führte diese Entwicklung zur Konzentration auf einige wenige Produktegruppen. In den 1790er Jahren wurden nur noch Sensen und Stahl nach Lübeck geliefert.66 Diese Beschränkung auf wenige Produkte bewirkte eine Annäherung der Firma an die Produktionssphäre, ein Weg, der im 19. Jahrhundert von den Harkorts mit der Errichtung der Maschinenfabrik in Wetter 1819, des Puddelwerks 1837 und der Gießerei und Maschinenfabrik 1839, in der nach 1842 erstmals der Einsatz von Dampfmaschinen bezeugt ist, weiterverfolgt wurde.67

Diese Entwicklungen, die auch für andere zeitgenössische Unternehmen belegt sind, sprechen für einen intuitiven Geschäfts- und Unternehmerinnensinn der Märckerin. Der relativ späte Zeitpunkt, zu dem sie ihre Söhne als gleichberechtigte Partner in die Compagnie-Handlung aufnahm – Johan Caspar zählte 27 Jahre, Peter Niclas 25 Jahre und sie selbst bereits 62 Jahre –, lässt auch darauf schließen, dass sie an der Geschäftstätigkeit durchaus Spaß hatte und das Erbe ihres Mannes nicht bloß verwaltete und für ihre Söhne sicherte.

Nach der Französischen Revolution begann sich ein europaweiter Krieg anzukündigen. Die Märckerin packte im Herbst 1794 einige Kisten von Wertsachen, Silber und Kleidern, um sie nach Lübeck zu verschicken.68 Im Frühjahr darauf starb sie im März im Alter von 76 Jahren. Das Vermögen wurde zu gleichen Teilen an alle fünf Kinder vererbt; die beiden Brüder führten die Handlung bis 1810 gemeinsam weiter. Dann trennten sie sich und Peter Niclas zog auf Gut Schede.69

Gründe für ihren unternehmerischen Erfolg

Louisa Catharina Harkort führte das Unternehmen mit Erfolg, Weitsicht, großer Selbstverständlichkeit, und genoss unter ihren Geschäftspartnern hohes Ansehen. Die Gründe für ihren unternehmerischen Erfolg sind mehrere. Zum einen war mit dem Fideikommiß von 1732 ein Rahmen geschaffen worden, der das Unternehmen zusammenhielt: Die Märckerin verwaltete nach dem Tod ihres Mannes die Firma, um sie ihrem ältesten Sohn zu erhalten. Familie und Firma bildeten in den vorindustriellen Handelshäusern eine unauflösbare sozial-ökonomische Einheit. Die Geschäftspartner blieben als Gäste im Haus, die Heiratspartner kamen zumeist aus Kaufmannsfamilien und waren mit dem Geschäft vertraut. So hatte bereits die Ehefrau von Johann Caspar Harkort I., Ursula Catharina Hobrecker, die Handlung während der winterlichen Geschäftsreisen ihres Mannes geleitet und nach seinem Tod im Jahre 1714 während acht Jahren alleine geführt.70 Auch die Schwägerin der Märckerin, Helena Margaretha Harkort (1710-1800), eine ältere Schwester Johann Caspar Harkorts III., die 1731 den aus Lennep stammenden Tuchfabrikanten Johann Christian Moll (1702-1762) geheiratet hatte,71 führte nach dem Tod ihres Mannes 1762 das Unternehmen in Hagen während Jahrzehnten; die Familien beider Frauen standen in regem Kontakt.72

Zweitens verfügte Louisa Catharina Harkort über ein bedeutendes unternehmerisches Geschick und fachliches Knowhow, welches vergrößert wurde durch ihre Bildung, ihr Auftreten und die sozialen Kontakte, über die sie aufgrund ihrer Erziehung am fürstlichen Hof in Essen verfügte. Drittens sind die zeitgenössischen Sozialstrukturen sowie die Verfassung der Grafschaft Mark zu erwähnen: Allgemein prägte die Schichtzugehörigkeit Leben und Handeln im 18. Jahrhundert noch stärker als die Geschlechtszugehörigkeit.

Im Besonderen ist zudem die Verfassung der Mark, von Kirchspiel und Gericht Hagen und der Gemeinde Westerbauer, in der Gut Harkorten lag, anzuführen.73 Die Harkorts amteten hier seit dem 17. Jahrhundert als gewählte Rezeptoren, die die Steuern nach den Umlagequoten einzogen, die auf den Versammlungen der freien Einwohner, den Erbentagen, beschlossen wurden. Sie verwalteten auch das genossenschaftliche Markenerbe und das Schulkapital und übernahmen eine Sprecherrolle in der regionalen Wirtschaftspolitik. Gegenüber der staatlichen Obrigkeit vermochten sie ihre Interessen nicht nur zu artikulieren, sondern konnten sie auch durchsetzen. Diese Voraussetzungen und Strukturen prägten auch Spielraum und Wirkungsfeld der Märckerin: Denn Frauen und Witwen waren in Unternehmen in ganz Europa zu dieser Zeit kaum vertreten.74

Um 1800 begann der Übergang von der Ständegesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft, die Industrialisierung setzte ein und bewirkte eine verstärkte Trennung von Arbeits- und Wohnraum. Im Zuge dieses Wandels bildeten sich geschlechtsspezifische Rollenvorstellungen und Arbeitsteilungen heraus, die standesübergreifende Geltung beanspruchten und einforderten.75 Dadurch profitierte die Demokratisierung der Gesellschaft. Gleichzeitig wurde damit aber auch der Spielraum beschränkt, der Frauen aus führenden sozialen Schichten vor 1800 noch offen gestanden hatte.

Dr. Alexandra Bloch Pfister, Münster

Literatur:

Alexandra Bloch Pfister, Louisa Catharina Märcker. Eine großbürgerliche Unternehmerin aus dem 18. Jahrhundert, in: Ellerbrock, Karl-Peter und Tanja Bessler-Worbs (Hg.): Industriepioniere, Wirtschaftsbürger und Manager. Historische Unternehmerpersönlichkeiten aus dem Märkischen Südwestfalen, Dortmund 2007, S. 57-61 (= Gesellschaft für Westfälische Wirtschaftsgeschichte v.V., Kleine Schriften H. 32)

Alexandra Bloch Pfister, Louisa Catharina Harkort (1718-1795) – die Märckerin. In: Märkisches Jahrbuch für Geschichte, Bd. 112. Dortmund 2012, S. 66-88.

Zitation: Alexandra Bloch Pfister, Louisa Catharina Märcker. Eine großbürgerliche Unternehmerin aus dem 18. Jahrhundert, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/louisa-catharina-harkort-geborene-maercker/

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Marianne Kaiser

Auf ins Ruhrgebiet

In den 1960er-Jahren folgten Frauen ihren Ehemännern dorthin, wo sich für ihn berufliche Perspektiven eröffneten. Das galt auch für die meisten Studentenpaare. Als der Historiker Hans Kaiser als Assistent seines Professors 1967 an die Historische Fakultät der neu gegründeten Ruhr-Universität Bochum (RUB) wechselte, zog auch Marianne Kaiser mit ins Ruhrgebiet. Sie erinnert den Umzug von der traditionsreichen Universitätsstadt Göttingen in das Ruhrgebiet als Schock. Zwar kannte sie Industriewerke aus ihrem Heimatdorf Langelsheim und aus Goslar, wo sie ihr Abitur absolviert hatte, auch Bergbau gab es dort: „Aber dass die Schwerindustrie in der Region derart schmutzig und übel riechend war und den städtischen Raum derart dominierte, war mir fremd und zuwider. Und dass die Städte völlig unübersichtlich ineinander wucherten, machte mich hilflos.“ Sie wohnte in Bochum-Querenburg auf einer Baustelle und schaute auf das Opel-Werk. Es bedrückte sie, wie erbärmlich die Natur in der Region litt. In ihrem bisherigen Umfeld stieß sie auf Mitleid, dass es sie in diese unwirtlichste Region der Bundesrepublik verschlagen hatte.

Marianne Kaiser sollte sich zu einer kritischen Beobachterin des Strukturwandels im Ruhrgebiet entwickeln, den sie auch mitgestaltete. Der setzte mit der entstehenden ersten Universität der Region und dem neu angesiedelten Automobilwerk vor ihren Augen gerade ein. In der Erwachsenenbildung tätig, trug Marianne Kaiser zu dem Wandel von der Montan- zur Wissensgesellschaft bei.

Kindheit, Jugend, Studium

Als Marianne Krause 1940 in Rostock geboren, rechnet sie sich zu den Kriegskindern. Sie wuchs in Berlin in einer kleinbürgerlichen Familie auf. Wegen zunehmender Luftangriffe auf die Stadt wurde sie mit ihrer Mutter 1943 zu Verwandten nach Treseburg/ Ostharz evakuiert. Ende 1944 kehrte der Vater dorthin mit einer doppelten Beinamputation von der Ostfront zurück. Als im Sommer 1945 amtlich wurde, dass der Ostharz Teil der sowjetischen Besatzungszone werden würde, fürchtete die Familie Vergeltungsmaßnahmen von russischer Seite und flüchtete in die britische Besatzungszone. Die Flüchtlinge wurden in das Dorf Langelsheim nahe Goslar/ Harz eingewiesen. Es blieb fortan Wohnsitz. Der Vater baute mit seinem Auto einen Mietwagen-Betrieb auf. Beide Eltern wurden 1948 Mitglied der im Ort starken Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Die Tochter ging zu deren Jugendorganisation, den „Falken“. Aktuelle Politik war Gesprächsthema in der Familie.

Angesichts der Schulleistungen seiner Tochter bestand der Vater darauf, dass sie das Mädchengymnasium in Goslar besuchen und später studieren sollte. Die Mutter hingegen hielt für ihre Tochter die Mittlere Reife, temporäre Berufstätigkeit und anschließende Familiengründung für angemessen. Die Entscheidungsbefugnis in Familienangelegenheiten aber lag damals, und laut Bürgerlichem Gesetzbuch, BGB, rechtlich bis 1976 beim Vater und dessen „Letztendscheid“. 1960 bestand Marianne das Abitur. Wertschätzend erinnert sie sich an ihre Klassenlehrerin in der Oberstufe, Fächer Latein und Geschichte. Diese Lehrerin las mit ihren Schülerinnen bereits in den 1950er-Jahren Dokumente zum Nationalsozialismus, organisierte eine Klassenfahrt zum Anne-Frank-Haus. Sie behandelte im Unterricht die Geschichte der Frauenbewegung, insbesondere ihre Forderungen nach Gleichberechtigung, befürwortete die berufliche Eigenständigkeit von Frauen und lebte frauenbezogen, wie Marianne Kaiser viele Jahre später zufällig erfuhr. Zu Hause hingegen erhob der Vater Einspruch dagegen, als die Mutter wieder berufstätig werden oder ein politisches Amt übernehmen wollte. Er verfocht die Hausfrauenehe, was der Tochter angesichts des politisch offenen Klimas in der Familie nicht einleuchten wollte: „Anfangs war es für mich eine Herausforderung, die unterschiedlichen politischen Orientierungen und Wertvorstellungen im Elternhaus und in der Schule zu begreifen und mich dazwischen zu bewegen.“

Die Klassenlehrerin schlug die begabte Schülerin als Stipendiatin bei der „Studienstiftung des deutschen Volkes“ vor. Marianne Krause wurde angenommen. Sie begann, in Göttingen Deutsch und Englisch zu studieren, mit dem Ziel, Studienrätin an höheren Schulen zu werden. In diesem Beruf ließe sich, so ihre Überlegung, Beruf und Familie vereinbaren. Für eine Studentin aus kleinbürgerlichen Verhältnissen in den 1960er-Jahren, so Marianne Kaiser im Gespräch, war der Widerspruch zwischen intellektuellen Begabungen, wissenschaftlichem Interesse und erfüllender dauerhafter Berufstätigkeit auf der einen Seite und dem Druck, die weibliche Rolle in Ehe und Familie auszufüllen auf der anderen Seite, allgegenwärtig: „Wir jungen Frauen hatten die gesellschaftlichen Rollenzuweisungen doch selbst verinnerlicht!“ Persönlich erlebte sie in der Folge diesen Widerspruch als nicht lösbar und gab 1974 den Wunsch der Familiengründung nach ihrer Scheidung und nach einer Krebserkrankung auf.

1965 orientierte sie sich um: In der sich gerade akademisierenden Erwachsenenbildung taten sich neue Berufsmöglichkeiten auf. Denn im Kontext der Bildungsreform wurde erwachsenenbildnerische Tätigkeit zum ersten Mal als disponierende Vollzeitaufgabe konzipiert. Trotz absolviertem „Pädagogikum“ samt Schulpraktika entschied sie sich gegen das Staatsexamen und für eine Promotion als Studienabschluss. Sie forschte zum protestantischen deutschen Schultheater in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, indem sie Dramen in ihre historischen Kontexte stellte und als Antwort auf gesellschaftliche Probleme – hier den vordringenden Absolutismus und dessen Bildungsideale – interpretierte. Das war ein neuer Ansatz in der Barockforschung. Die später in einem renommierten Wissenschaftsverlag publizierte Dissertation trug den Titel: „Mitternacht. Zeidler. Weise. Das protestantische Schultheater im Kampf gegen Absolutismus und höfische Kultur.“ Die Promotion erfolgte 1970.

1965 heiratete Marianne Krause den Historiker Hans Kaiser. Ihr Stipendium endete, aber ökonomisch war sie durch die Ehe abgesichert und sie unterstützte ihren Mann bei der Fertigstellung seiner Dissertation 1969. Die Konzentration auf ihre eigenen Forschungen geriet dabei zeitweilig ins Hintertreffen, zumal auch der Umzug nach Bochum 1967 viele neue Erfahrungen eröffnete. Sie beteiligte sich wie ihr Mann an den Reformbestrebungen der Studentenbewegung an der RUB, war jedoch – anders als er – nicht Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Gleichwohl sympathisierte sie mit den Anliegen der Frauen im SDS und dem historischen „Tomatenwurf“1 auf die patriarchalen „Eminenzen“ der Studentenbewegung. 1968, als im studentischen Milieu der RUB über Klassenkampf und Revolution diskutiert wurde, verließ sie die „Basisgruppe Germanistik“ und wurde an der Volkshochschule (VHS) Bochum Kursleiterin für das Fach „Literatur“ im Grundstudienprogramm. Der dafür verantwortliche Fachbereichsleiter machte sie 1970 darauf aufmerksam, dass an der VHS Gelsenkirchen die Stelle des Leiters des Fachbereichs „Gesellschaft und Politik“ frei wurde. Sie bewarb sich und sollte, bis auf einen Abstecher in die hessische Weiterbildungslandschaft zwischen 1974 und 1977, diesen Fachbereich an der VHS Gelsenkirchen bis zum Jahre 2000 prägen. „Ich galt als eine Frau in einem Männerberuf. Damit lernte ich umzugehen.“

In den 1970er-Jahren: Eine Frau in einem Männerberuf

Am Ort fand sie 1970 eine tragfähige Angebotsstruktur für Erwachsene und Jugendliche vor. Zum VHS-Fachbereich „Gesellschaft und Politik“ gehörte die örtliche Arbeitsgemeinschaft „Arbeit und Leben“ (DGB/VHS), eine nach 1945 von Deutschem Gewerkschaftsbund (DGB) und den Volkshochschulen institutionalisierte Kooperation. „Arbeit und Leben“ suchte durch politische Bildung demokratische Willensbildung in der Gesellschaft zu fördern sowie, der Name ist Programm, soziale Gerechtigkeit und Solidarität als Grundlagen für Arbeit und Leben zu stärken. Für die Erwachsenen gab es bei der VHS Internatskurse und Gesprächskreise zu gesellschaftlich aktuellen Themen wie Chancengleichheit, Kalter Krieg, Antiautoritäre Erziehung u.a. Von 1970 bis 1973 war Marianne Kaiser dabei auch zugleich Jugendbildungsreferentin. Teilnehmende im Jugendbereich waren OberschülerInnen und Lehrlinge, die meistens aus Arbeiterhaushalten kamen. Die VHS pflegte in Weiterführung der Weimarer Bildungsvorstellungen demokratische Formen der Mitwirkung bei Wochenendseminaren und Kursen, ein Kreis von „Teamern“ gestaltete mit der Leitung gemeinsam die Programmplanung und die Kurse.2

Ab 1977 war sie dann nur noch für den Bereich der Erwachsenen zuständig. Dass in der VHS die Teilnehmenden nur auf freiwilliger Basis kamen, machte für Marianne Kaiser immer den besonderen Reiz dieser Arbeit aus, denn dies bedeutete einen ständigen Austausch zwischen Teilnehmenden und Kursleitungen sowie eine permanente Entwicklung neuer Angebote im Kontext zeitspezifischer gesellschaftlicher Problemlagen und Lernbedürfnisse.

Lernen in der VHS

Die Volkshochschule bot auch der Erwachsenenbildnerin selbst anfangs ein besonderes Lernfeld: Allmählich erschlossen sich Marianne Kaiser durch ihre Arbeit die Strukturen der zunächst als unwirtlich erfahrenen Stadt mit ihrer politischen Vorderbühne, der Hinter- und Unterbühne: das Selbstverständnis der Gewerkschaften und der Parteien, die wirtschaftlichen und kommunalpolitischen Gegebenheiten.

Nach dem Ende der Zeche „Graf Bismarck“ im September 19663 – für viele im Ruhrgebiet ein Fanal – hatte nicht nur in Gelsenkirchen die Einsicht zu wachsen begonnen, dass man nicht in einer konjunkturabhängigen Kohlekrise steckte, sondern am Anfang vom Ende des Kohlenzeitalters stand: 4 „Gelsenkirchen darf kein Armenhaus werden“, lauteten die Transparente auf den Demonstrationen.

Die zugezogene Erwachsenenbildnerin erfasste, wie sehr die Stadt politisch von der SPD und den Gewerkschaften geprägt war, die ihr Hauptziel angesichts der Krisen von Kohle und Stahl darin sahen, Arbeiterinteressen zu verteidigen. Sie nahm wahr, wie tief der montanindustrielle Komplex die patriarchale Struktur der Ruhrgebietsgesellschaft bestimmte und die Rolle der Frauen im Modell Ernährerlohn/ Zuverdienst festschrieb. Sie erfuhr, wie wichtig es für die Familien war, Arbeitsplätze und gute Bildungschancen für die Kinder zu sichern. Sie erlebte das Ansehen, das Willy Brandt mit seiner neuen Ostpolitik in der Stadt erfuhr.

1971 wurde sie Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), wechselte dann 1977 zur Gewerkschaft für den öffentlichen Dienst (ÖTV). Sie trat auch der SPD bei, weil sie Willy Brandts Forderung „Mehr Demokratie wagen“ überzeugte, verließ aber die Partei wieder, aus Protest gegen die Politik der Berufsverbote. Denn sie hatte in der Bildungsarbeit in Gelsenkirchen Kommunisten kennen gelernt, die sie als Personen beeindruckt hatten, und war der Auffassung, dass man sich mit ihnen inhaltlich auseinandersetzen müsste, ohne ihre Existenz zu gefährden. Ihr politisches Engagement galt von da an vor allem der Gewerkschaftsarbeit.

Auch die beruflichen Kontakte, die sie zur „Literarischen Werkstatt Gelsenkirchen“ im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ unterhielt, halfen der eingewanderten Literaturwissenschaftlerin, die Geschichte, die Mentalität und den Habitus der Menschen im Ruhrgebiet mit ihrem direkten, manchmal drastischen Ton zu verstehen. Und allmählich gewöhnte sie sich auch an die Industrielandschaft.

Blütezeit der Weiterbildung

Marianne Kaiser fand in den 1970er-Jahren in Gelsenkirchen ein besonderes Klima für die Erwachsenenbildung vor: Dr. Ulrich Jung, seit 1970 Leiter der VHS Gelsenkirchen, gehörte zu den zentralen Akteuren des nordrheinwestfälischen Weiterbildungsgesetzes von 1975. Dieses etablierte die Weiterbildung zum ersten Mal in der Bildungsgeschichte der alten Bundesrepublik als „vierte Säule“ des Bildungswesens.5Damit entwickelte sich eine Perspektive, die Weiterbildung als dauerhafte, permanente, altersunabhängige und unabgeschlossene Aufgabe für alle festschrieb. In der Stadt Gelsenkirchen war man sich einig darüber, dass eine so konzipierte Weiterbildung für die Bewältigung der wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Transformation eine hohe Priorität besaß.

1972 entstand in Gelsenkirchen mit Mitteln der Strukturförderung des Landes ein neues Gebäude für die Volkshochschule, das „Bildungszentrum“. Seine markante Lage in der Stadt gegenüber dem Musiktheater setzte die gewachsene Bedeutung der Weiterbildung stadtplanerisch um und übertrug die zeitgenössische wissenschaftliche Diskussion, Weiterbildung für alle gut und zentral erreichbar zu gestalten, im Rahmen des Gelsenkirchener Stadtumbaus geradezu mustergültig. In diesem für Weiterbildung positiv gestimmten Umfeld entwickelte Marianne Kaiser von 1977 an bis zu ihrem dienstrechtlichen Ausscheiden aus der VHS im Jahre 2000 langjährig die Arbeitsschwerpunkte Frauenbildung, Stadtgeschichte, Perspektiven des Strukturwandels, Ost-West-Thematik, Europäische Integration.

Frauenbildung

1971 bot Marianne Kaiser im VHS-Programm zum ersten Mal einen Gesprächskreis „Politik für Frauen“ an, zu dem es ab 1973 auch ein Kinderbetreuungsangebot gab. 1972 hatte der Deutsche Gewerkschaftsbund auf Initiative der Gewerkschaftsfrauen das „Jahr der Arbeitnehmerin“ ausgerufen, in einer Zeit, als in Deutschland Vollbeschäftigung herrschte und die Industrie auf eine zunehmende Einbeziehung von Frauen in den Arbeitsmarkt drängte. Das „Jahr der Arbeitnehmerin“ sollte einerseits für Diskriminierung sensibilisieren, andererseits zielte es auf die Verbesserung von Lebens- und Arbeitsbedingungen durch Erhöhung weiblicher Bildungschancen, Lohngleichheit und eine vom Mann unabhängige Rentenversicherung als politische Ziele.6

Über diese Fragen wurde auch in der VHS diskutiert. Dies geschah unabhängig von den Aktivitäten der „autonomen“ Frauenbewegungen, die sich um 1968 formierten, doch zeitgleich in einer gesellschaftlichen Situation, in der vieles in Bewegung geriet. Das Thema der Lohndiskriminierung gewann dann in Gelsenkirchen einige Jahre später große Bedeutung.

„Wir wollen gleiche Löhne – keiner schiebt uns weg!“

Als politische Weiterbildnerin und Gewerkschafterin wurde Marianne Kaiser dabei eine Akteurin in einem berühmten Arbeitsprozess der Bundesrepublik um „Gleichen Lohn für gleiche Arbeit“: Das Ruhrgebiet hatte nicht nur Arbeitsplätze in der Montanindustrie. Als dicht besiedeltes Gebiet stellte es auch ein großes Reservoir an weiblichen Arbeitskräften für die Konsumgüterindustrie und den Dienstleistungssektor bereit. So siedelten sich nach dem Krieg im Raum Gelsenkirchen, Wattenscheid, Recklinghausen Firmen der Bekleidungsindustrie an und kalkulierten mit den Frauen und Töchtern der Bergleute und Hüttenarbeiter als Arbeitskräfte sowie dem finanziell starken Absatzmarkt Ruhrgebiet.7 Später folgte die Elektroindustrie und Firmen wie die „Fotobetriebe Heinze“, die über Nacht Urlaubsfotos entwickelten und damit warben, dass die Farbbilder mit Datumsangabe auf der Rückseite entwickelt wurden. Damit reagierten sie auf ein doppeltes Konsumbedürfnis: Auf die sich entfaltende Reisewelle und die sich massenkulturell ausprägende Disposition, diese Reisen auch fotografisch festzuhalten. 1978 wurde deshalb bei Heinze im Laborbetrieb die Nachtarbeit eingeführt. Und zum ersten Mal stellte die Geschäftsleitung in dieser bisher nur mit Frauen besetzten Abteilung auch Männer ein.

Alle machten die gleiche Arbeit und waren in der gleichen niedrigen Lohngruppe. Die Männer erhielten dabei aber, zusätzlich zu ihrer tariflichen Nachtzulage, eine außertarifliche Zulage, die ihren Grundlohn im Schnitt um 25 Prozent erhöhte. Als diese Praxis bekannt wurde, verlangten die Frauen eine Gleichbehandlung. Der Arbeitgeber bestand auf seiner Vertragsfreiheit, der Betriebsrat strebte zunächst Verhandlungen an. Dazu organisierte er vorab eine Belegschaftsversammlung mit der DGB-Kollegin Marianne Kaiser als Referentin zum Thema „Lohngleichheit“. Alles blieb ohne Erfolg. Deshalb gab es danach außerhalb der Arbeitszeit Treffen der Frauen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Marianne Kaiser war als Gast dabei und sie bot im Rahmen von „Arbeit und Leben“ Seminare als begleitende politische Weiterbildung an, als sich abzeichnete, dass 29 der Frauen ihre Forderung auf gleiche Zahlung der außertariflichen Zulage auch vor Gericht einklagen wollten.

Anfang 1979 gaben sie ihre Klage vor dem Arbeitsgericht Gelsenkirchen wegen Verstoßes gegen das Gleichbehandlungsgebot nach EU-Recht bekannt. Im Sinne betriebsnaher Bildungsarbeit wurden die anstehenden rechtlichen Fragen des Prozesses von da an in den Seminaren in Kooperation mit der Gewerkschaft IG Druck und Papier behandelt.

Mit ihren gewerkschaftlichen und beruflichen Kontakten trug Marianne Kaiser im Frühjahr dazu bei, dass das Anliegen der Arbeitnehmerinnen in die örtlichen Öffentlichkeit(en) getragen wurde. Die Klage fand großes Interesse in den Medien, gewerkschaftliche Frauenausschüsse, Betriebsräte, parteilich und religiös gebundene sowie autonome Frauenbewegungen solidarisierten sich. Nach Marianne Kaisers Wahrnehmung nahmen sich gewerkschaftliche und autonome Frauenbewegung in diesem Prozess zum ersten Mal offen und konstruktiv zur Kenntnis. Die Lohnungleichheit empörte auch diejenigen, die ihr Selbstverständnis in der autonomen Frauenbewegung entwickelt hatten, und die Gewerkschaftskolleginnen räumten ein, dass an der Kritik der autonomen Frauen am „Patriarchat“ gerade im Ruhrgebiet etwas Wahres dran sein könnte.8 Dem Sieg der Frauen vor dem Arbeitsgericht vor Ort im Mai 1979 folgte im September die Niederlage vor dem Landesarbeitsgericht in Hamm, das aber eine Revision vor dem Bundesarbeitsgericht in Kassel zuließ.

Noch während der Rückfahrt von Hamm entschieden sich die Frauen, mit Unterstützung ihrer Gewerkschaft und des lokalen Gelsenkirchener Netzwerkes vor das Bundearbeitsgericht nach Kassel zu gehen. Der Prozess dort fand zwei Jahre später im September 1981 statt. In der langen Zeit zwischen den Prozessen zog die öffentliche Resonanz zur Unterstützung der Kolleginnen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene immer weitere Kreise. Marianne Kaiser wirkte daran mit.

Begleitend zu den beiden ersten Gerichtsterminen hatten die Seminare bei „Arbeit und Leben“ in Kooperation mit der IG Druck und Papier stattgefunden. Dort war neben rechtlichen Aspekten auch zur Sprache gekommen, wie die Frauen den Verlauf ihrer Klage persönlich erlebten. Dabei waren Tonbandaufnahmen von den Diskussionen gemacht worden. Die Klage vor dem Bundesarbeitsgericht in Kassel hatte grundsätzliche Bedeutung und brachte für die Gelsenkirchener Arbeiterinnen aus „kleinen Verhältnissen“ gänzlich neue Erfahrungen. Sie mussten lernen, in einer medialen Öffentlichkeit zu stehen.

„Frauen sind keine Heinzelmänner“

Das in den Weiterbildungsseminaren aufgezeichnete Tonmaterial und andere Dokumente hatte Marianne Kaiser in Absprache mit den Kolleginnen und in Kooperation mit der IG Druck und Papier zu einem Manuskript verarbeitet.

Der Text sollte als Arbeitsmaterial für die weitere gewerkschaftliche Bildungsarbeit dienen. Doch dann kam ihr die Idee, es dem Rowohlt-Verlag für seine Reihe „Frauen aktuell“ anzubieten, was die prozessierenden Frauen billigten. Die Dokumentation wurde angenommen: „Wir wollen gleiche Löhne“ erschien 1980 und stellt heute eine wichtige Dokumentation zur Frauenbewegung der Bundesrepublik dar.

Angeregt durch das Buch entstand das Theaterstück im Auftrag der Ruhrfestspiele in Zusammenarbeit mit dem mobilen Rhein-Main-Theater „Frauen sind keine Heinzelmänner“, das 1980 Premiere in Gelsenkirchen hatte und danach im Festspielhaus am 1. Mai aufgeführt wurde.

1981 organisierte Marianne Kaiser mit, dass aus Gelsenkirchen vier Busse nach Kassel fuhren zu einer Großveranstaltung der Gewerkschaft Druck und Papier mit dem Motto „Solidarität mit den Heinze-Frauen“, die der Gerichtsverhandlung in Kassel einige Tage vorgeschaltet war und bundesweit für Aufmerksamkeit sorgte. Auch bei dem Prozess selbst am 9. September 1981 war sie wieder dabei. „Du hast uns immer bestärkt!“ dankten ihr die Kolleginnen noch Jahre später.

Der 5. Senat des Bundesarbeitsgerichtes gab den Klägerinnen Recht! Auch das Bundesarbeitsgericht bezog sich dabei auf Artikel 119 der Römischen Verträge, gleichsam das Gründungsdokument der Europäischen Union, in dem bereits der Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit festgeschrieben worden war.9 Das Urteil sollte Signalwirkung entfalten. Für die „Heinze-Frauen“ selbst blieb allerdings nur als Genugtuung, Recht bekommen zu haben. Denn kurz nach dem gerichtlichen Sieg stand die Firma Heinze vor der Insolvenz und konnte nicht zahlen. Für Marianne Kaiser zählt der Prozess „zu den wichtigsten Stationen meines Lebens. Er ist zu Recht in die Geschichte der Stadt und des Ruhrgebiets eingegangen.“

Gesellschaftlicher Wandel durch Bildungsangebote

1975 wurde nicht nur von der UN das „Jahr der Frau“ als Start für die „Dekade der Frau“ ausgerufen, sondern die Bewegungen gegen den § 218 intensivierten sich, nachdem das Bundesverfassungsgericht die 1974 vom Bundestag angenommene „Fristenregelung“ für verfassungswidrig erklärt hatte. Im Rahmen der allgemeinen frauenpolitischen Aufbrüche wuchsen in der VHS die Angebote für Frauen. Frauengesprächskreise, Tagesseminare, Wochenseminare fanden breite Resonanz bei Frauen, die in Erwerbs- und Hausarbeit standen. Türkische Frauen zeigten sich an Gesprächskreisen interessiert. Sie fühlten sich alle im Sinne des Mottos „Frauen können mehr“ angesprochen. Die begleitende Kinderbetreuung bei mehrtägigen preiswerten Seminaren von „Arbeit und Leben“ machte diese zusätzlich attraktiv. Die Teilnehmerinnen an den Frauenbildungsangeboten insbesondere bei „Arbeit und Leben“ kamen überwiegend aus dem Arbeiter- und Angestelltenmilieu und waren kaum mit den neuen Frauenbewegungen in Berührung gekommen. Dagegen hatten die zahlreichen Kursleiterinnen zumeist studiert und kannten Positionen der alten, der neuen wie auch der autonomen Frauenbewegungen.

Als wichtig erwies sich die Kontinuität der Angebote, für die das Weiterbildungsgesetz von 1975 die Strukturen sicherte, denn so wurden längerfristige Bewusstwerdungs- und Entwicklungsprozesse eingeleitet und begleitet. Marianne Kaiser erklärt dazu: „Zwischen 1978 und 1984 entwickelte sich die VHS zu einem Ort der Frauenöffentlichkeit in der Stadt und blieb es für lange Zeit.“ Seit 1985 kümmerte sie sich zwölf Jahre lang zusammen mit dem Frauenbüro um die Organisation einer jährlichen gemeinsamen Veranstaltung aller Frauenorganisationen in Gelsenkirchen zum Internationalen Frauentag. Diese Form der Kooperation trug dazu bei, dass Aktive verschiedener Organisationen miteinander ins Gespräch kamen und sich vernetzten.10

Unterstützt vom Frauenbüro initiierte Marianne Kaiser 1987 im Rahmen der landesweiten Aktion „Kultur 90“ zur Förderung beispielhafter Initiativen das Projekt einer „Frauengeschichtswerkstatt“, die Dokumente zu bemerkenswerten Frauen in der Geschichte Gelsenkirchens zusammentrug. 1992 veröffentlichten die Teilnehmerinnen ihre Dokumentation.11 Sie entwickelten Stadtrundgänge zur Frauengeschichte und auf dieser Basis entstand später eine weitere Publikation.12Damit gaben sie wichtige Impulse für eine Neuorientierung der Stadtgeschichte, die seitdem nicht nur in Gelsenkirchen nicht mehr ohne Frauen geschrieben werden kann.13

 „Am Ende meines Berufslebens habe ich es zu meinen positivsten Erfahrungen gerechnet, bei allen diesen frauenbewegten und frauenpolitischen Prozessen mitgewirkt zu haben,“ formuliert Marianne Kaiser und stellt einen Aspekt des Strukturwandels heraus, der so bislang kaum formuliert, diskutiert, geschweige denn systematisch untersucht worden wäre: „Die Frauenbewegung, die ich im Ruhrgebiet erlebt und in Gelsenkirchen mitgestaltet habe, verschränkte sich hier mit der Strukturkrise. Denn in dem Maße, in dem alte wirtschaftliche und soziale Strukturen wegbrachen und fragwürdig wurden, mussten die Frauen auch ihre eigene Situation neu denken und wagten mehr und mehr, sich mit der Beharrlichkeit patriarchalischer Haltungen auseinanderzusetzen und für sich neue Wege ins Auge zu fassen.“

Doch gehörten zu ihrem Programm von „Arbeit und Leben“ seit den 1970er-Jahren auch Studienfahrten, bei denen die Ost-West-Beziehungen vor Ort in Berlin, in der DDR und der UdSSR und Ungarn thematisiert wurden, ebenso wie Fahrten, bei denen es vor Ort in Brüssel, Luxemburg, Straßburg und in europäischen Nachbarländern um Prozesse und Formen der europäischen Integration ging.

Strukturwandel und Geschichtsbewusstsein

Die Bedeutung der Volkshochschulen für Individuen wie Gesellschaften lag und liegt darin, Wandel durch Bildungsangebote anzuregen und zu begleiten. In Gelsenkirchen bedeutete die Schließung von Bergwerken, Stahlwerken, Zuliefer- und anderen Produktionsbetrieben nicht nur den Verlust von Arbeit, Auskommen und Lebensperspektiven. Die ruhrgebietsspezifische Verknüpfung von Arbeitsplatz und Wohnung in Unternehmenshand führte auch zu einer Gefährdung günstigen Wohnraums, Nachbarschaften und sozialräumlicher Gewissheit, denn die Unternehmen suchten ihre Kolonien in frei verfügbares Bodenkapital zurück zu verwandeln. Der Abriss von Werksanlagen riss riesige Wunden in die Topografie der Stadt. Räumliche Orientierungen verschwanden. Im Austausch mit den Gewerkschaften plante Marianne Kaiser betriebsnahe Bildungsangebote, in denen die komplexen Probleme, die sich mit dem Ende der Montanindustrie einstellten, bearbeitet wurden: Thyssen Gussstahlwerk, Textilfabriken, Zeche Nordstern, Zeche Consol, Zeche Wilhelmine-Victoria, Zeche Hugo, Seppelfricke, Foto Heinze, Eurovia … – nach und nach schlossen Produktionsstätten mit traditionsreichen Namen.

Von 1981 bis 2000 dauerte das Ende des Werks „Thyssen Schalker Verein“, um dessen Erhalt in der ganzen Stadt vergeblich gekämpft wurde. Für Vertrauensleute und deren Frauen veranstaltete Marianne Kaiser Anfang der 1980-er Jahre Seminare im Rahmen von „Arbeit und Leben“. Sie schufen Bewusstsein, bereiteten Proteste vor und nach, setzten sich mit den Möglichkeiten und Grenzen des Erhalts auseinander und stärkten vor allem den Zusammenhalt.

Eine Möglichkeit, die immensen Verluste produktiv zu bearbeiten, stellten Geschichtswerkstätten im Rahmen der VHS-Arbeit dar. So bat, Jahre nach dem Ende des „Schalker Vereins“, der Teilnehmerkreis der Seminare Marianne Kaiser als Rentnerin, mit ihnen ein Buch über die Werksgeschichte zu erarbeiten.14 Sie reichte diesen Wunsch an ihre Nachfolgerin Brigitte Schneider weiter und beteiligte sich selbst mit einem Beitrag, in dem sie zusammen mit den Frauen deren Sicht auf das Ende des Werkes festhielt.

Bereits seit 1998 hatte sie einer Gruppe von Textilarbeiterinnen in Tagesseminaren bei „Arbeit und Leben“ Gelegenheit gegeben, Erfahrungen mit dem Niedergang „ihrer“ Industrie zusammenzutragen. Die Historikerin Birgit Beese half dabei. Seit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Bekleidungsindustrie in Gelsenkirchen eine wichtige Rolle gespielt, war dann über Italien und die Türkei nach Asien gewandert und völlig aus Gelsenkirchen verschwunden. Aus der Seminararbeit erwuchs das Buch „Arbeit an der Mode“, das mit seiner strukturellen wie erfahrungsorientierten Analyse bis heute eine wichtige Quelle zum Verständnis der Transformationen des Ruhrgebiets im Rahmen globalisierter Wirtschaft darstellt.15

Inwieweit diese Geschichtsarbeit als Kompensation des Verlustes oder als historisch-kritische Ermächtigung zu deuten ist, muss dahingestellt bleiben. In einer Stadt mit Strukturbruch wie Gelsenkirchen bot sie auf jeden Fall die Möglichkeit, ein Stück weit die Deutungshoheit über die eigene Biografie zurückzugewinnen und der Ohnmacht und Entmächtigung eigene Erzählungen entgegen zu setzen. Als Gutachterin bei diversen Wettbewerben des Forums Geschichtskultur zur Geschichte des Ruhrgebiets hat Marianne Kaiser diese überlebenswichtige Funktion von Geschichte herausgestellt und gegen die akademische Abwertung von Erinnerungen für eine Verschränkung von Erfahrungsgeschichte und Strukturgeschichte plädiert.

Ein weiterer früher und kontinuierlicher Schwerpunkt ihrer Arbeit war die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. Daraus entstanden neben vielfältigen Aktivitäten in der VHS, die nachhaltig in die Stadt hineinwirkten16, auch zwei Publikationen. 17

Marianne Kaiser stieß dabei auf die Geschichte der ungarischen jüdischen Mädchen und Frauen, die als Zwangsarbeiterinnen des Werkes Gelsenberg eingesetzt waren und 1944 bei Luftangriffen starben.18 Einige der Zwangsarbeiterinnen hatten, teils durch die Hilfe des Arztes Dr. Bertram, überlebt. Als sie 1995 Ehrengäste der Stadt anlässlich der Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag des Kriegsendes waren, erlebte Marianne Kaiser, wie Peri Hirsch aus den USA vom spurlosen Verlust ihrer älteren verwundeten Schwester Blanka im Jahre 1944 sprach. Für Marianne Kaiser verbindet sich damit eine bewegende Erinnerung an ihre Bildungsarbeit: Es gelang in der Frauengeschichtswerkstatt, insbesondere dank Marlies Mrotzek, durch Kontakte und glückliche Umstände, Blanka Pollaks Todesumstände und ihr Grab in Bottrop ausfindig zu machen.

Bis 1999 sorgte Marianne Kaiser dann privat in Kooperation mit der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit mit der Familie Hirsch dafür, dass der verschollenen Schwester Blanka Pollak ein Grabstein gesetzt wurde. Der wurde in Anwesenheit der Familie Hirsch bei einer würdigen Totenfeier in Bottrop geweiht. Peri Hirsch und Marianne Kaiser stehen seither in freundschaftlichem Kontakt.

Parallel zu dem Angebot geschichtsbezogener Themen machte Marianne Kaiser die VHS seit Mitte der 1980er-Jahre aber auch zu einem Ort, an dem immer wieder zukunftsorientierte Überlegungen zur Gestaltung des Strukturwandels öffentlich vorgestellt und diskutiert wurden. Dazu suchte sie die Kooperation mit dem Sekretariat für Zukunftsforschung, der Internationalen Bauausstellung, der Lokalen Agenda 21 und von StadtplanerInnen.

Wann gehört man dazu?

Als Fachbereichsleiterin, Kursleiterin, engagierte Gewerkschafterin, ehrenamtliche Personalrätin und Arbeitsrichterin erwarb sich Marianne Kaiser bei ihrer Arbeit in den Augen vieler Menschen Glaubwürdigkeit und Autorität. Hilfreich bei all dem war, so sagt sie selbst, ihre Fähigkeit und Freude daran, „zu kooperieren und Netzwerke zu knüpfen.“ Gleichwohl eckte sie in der lange Zeit SPD-geprägten politischen Kultur der Stadt Gelsenkirchen auch gelegentlich an, so z.B. als auf ihre Anregung hin der DGB-Kreisfrauenausschuss 1978 das Theaterstück zur Betriebsschließung der Textilfirma Eurovia „Zehn Jahre danach“ aufführen ließ19, in dem Oberbürgermeister Werner Kuhlmann in deutlichen Worten kritisiert wurde, oder als sie 1984 bei den Personalratswahlen mit Platz 1 auf der ÖTV-Liste der Angestellten die von der SPD favorisierten KandidatInnen überholte. Auch mit ihrer Kandidatur bei den Landtagswahlen 1985 für die „Friedensliste“, die in der Lesart der Sozialdemokratie als kommunistisch gesteuert galt, setzte sie trotz aller Kritik als Kriegskind Marianne20 ein Zeichen. Zuvor war sie in der Friedensbewegung aktiv gewesen.

Die Zugereiste entwickelte im Laufe der Jahre viel Zuneigung für das Ruhrgebiet und vor allem zu den Menschen und ihrer Mentalität. Die unermüdlichen Anstrengungen der Kommunalpolitik, den wirtschaftlichen Wandel voranzutreiben und ehemalige Industriestandorte für neue wirtschaftliche und kulturelle Zwecke weiter zu entwickeln, beeindruckten sie, wie sie im Gespräch betont. Doch diese positiven Veränderungen milderten die Wucht des Strukturbruchs nur partiell. Gelsenkirchen insgesamt tut sich mit wirtschaftlichen Erfolgsgeschichten schwer.

Auch nach dem Ende ihres Berufslebens blieb Marianne Kaiser in Gelsenkirchen, lebte aber auch bis 2004 teilweise aus persönlichen Gründen in der Toskana, wo sie 1985 ihren zweiten Mann gefunden hatte, ohne ihren Lebensmittelpunkt ganz dorthin zu verlegen. Denn sie hatte mittlerweile im Ruhrgebiet Wurzeln geschlagen. Die geschundene Natur der Industrielandschaft hatte sich unter einem blauen Himmel über der Ruhr21 erholt, nicht zuletzt, weil die „Tausend Feuer“ der Montanindustrie nicht nur in Gelsenkirchen verloschen sind. Und das Opel-Werk, das ihr in ihrer ersten Bochumer Wohnung den Blick auf die Natur versperrte, gibt es mittlerweile auch nicht mehr.

Uta C. Schmidt /frauen/ruhr/geschichte

Orte:

VHS Gelsenkirchen, Ebertstr. 19, 45879 Gelsenkirchen

Zitation: Schmidt, Uta C., Marianne Kaiser. Eine Erwachsenenbildnerin als kritische Begleiterin und Akteurin im Strukturwandel, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/marianne-kaiser/

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Hedwig Averdunk

Hedwig Averdunk stand kurz vor ihrem 43. Geburtstag, als sie bei der Wahl am 4. Mai 1924 in die Duisburger Stadtverordnetenversammlung gewählt wurde.1 Bis 1933 sollte sie als Stadtverordnete der erst im Dezember 1918 gegründeten Deutschen Volkspartei (DVP) die politischen Geschicke der Stadt mitbestimmen.2 Die damalige Oberlehrerin und spätere Oberstudienrätin, nach 1945 Leiterin des städtischen Übersetzungsbüros, kam aus einer Gelehrtenfamilie: ihre Eltern waren Alma und Heinrich Averdunk, der bekannte Duisburgers Gymnasialprofessor, Museumsleiter und Geschichtsforscher.3

Hedwig wäre bereit gewesen, bereits 1919 als eine der Kommunalpolitikerinnen der ersten Stunde in die Stadtverordnetenversammlung einzuziehen. Allerdings hatte ihr die eigene Partei Steine in den Weg gelegt: Die Liste der Wahlvorschläge der Deutschen Volkspartei (DVP) enthielt insgesamt 30 KandidatInnen, davon drei Frauen – alle auf hinteren Listenplätzen (Platz 9, 15 und 22). Hedwig Averdunk war auf Platz 9 positioniert und als sieben Kandidaten der DVP Einzug in die Duisburger Stadtverordnetenversammlung 1919 hielten, war keine Frau dabei.4

Die parteiübergreifende, durchweg schlechtere Platzierung von Frauen auf den hinteren Listenplätzen wurde im Duisburger General-Anzeiger am 20. Februar 1919 – drei Tage vor der Kommunalwahl am 23. Februar 1919 – in einem Kommentar pointiert aufgegriffen, in dem das schlechte Abschneiden der Frauen bei der Wahl zur Stadtverordnetenversammlung bereits prognostiziert und damit begründet wird, dass „die Parteien nicht sehr galant gegen ihre Damen waren, sondern sie ziemlich ins Hintertreffen votiert haben.“5

In der Realität allerdings wurde die Prognose des Duisburger General-Anzeigers noch überboten: Von den insgesamt 75 Stadtverordneten in Duisburg 1919 waren nur 4 Frauen (5,3 %)6, zwanzig weniger, als von den Parteien aufgestellt worden waren. Damit erzielte Duisburg hinsichtlich der Frauenquote das schlechteste Wahlergebnis der damals größten Städte im rheinisch-westfälischen Industrierevier, wo z.T. doppelt so viele Frauen in die Stadtverordnetenversammlungen Einzug hielten wie in Duisburg.7

„… auch die überparteiliche Zusammenarbeit mit den Frauen der anderen Fraktionen nannte sie ihre Arbeit.“8

Erst 1924 war es dann so weit: Hedwig Averdunk, zu diesem Zeitpunkt Oberlehrerin am Lyzeum mit Oberlyzeum und Studienanstalt zu Duisburg (das spätere Frau-Rat-Goethe-Gymnasium), schaffte es, als eine von acht DVP-KandidatInnen – diesmal positioniert auf Platz 5 der KandidatInnenliste – ein Mandat in der Stadtverordnetenversammlung zu erringen – als einzige Frau ihrer Partei.9

In der Stadtverordnetenversammlung arbeitete sie in insgesamt zehn Ausschüssen mit. Ihre Schwerpunkte lagen im Schul-, Kultur- und Jugendbereich. Es ist davon auszugehen, dass sie sich – ohnehin Mitglied im Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein (ADLV), Abteilung Philologinnen10 – als Mitglied im „Verwaltungs-Ausschuß der höheren Lehranstalten“ und in der Schuldeputation11für Mädchen- und Frauenbildung einsetzte. Dafür hatte sie wichtige Mitstreiterinnen in der Stadtverordnetenversammlung: Franziska Schumacher (Zentrum) und Margarete Pasie (Deutsche Demokratische Partei), allesamt Lehrerinnen und im Vorstand der „Arbeitsgemeinschaft der Frauenvereine Groß-Duisburgs“ aktiv.12

Im Vorfeld der Kommunalwahlen, die am 17. November 1929 stattfinden sollten, setzte sich Hedwig Averdunk in ihrer Vortragstätigkeit stark für kommunale Frauenpolitik in unterschiedlichen Zusammenhängen ein. Bereits im Oktober 1929 hatte die Arbeitsgemeinschaft der Duisburger Frauenvereine mit ihren 28 angeschlossenen Frauenorganisationen13 in einem offenen Brief unter der Überschrift „Wahlwünsche der Duisburger Frauen“ den Umgang der Parteien mit der Frauenpolitik auf das Schärfste kritisiert: Die Frauen(verbände) forderten vor allem die Einbeziehung der Kommunalpolitikerinnen in alle Politikfelder und darüber hinaus eine bedeutende Erhöhung des Frauenanteils (in der Wahlperiode 1924–1929 waren nur fünf Frauen unter den 63 Stadtverordneten) in der Stadtverordnetenversammlung. Vor diesem Hintergrund und angesichts „der großen Zahl weiblicher Wähler“, so wurde exponiert, „halten wir die bisherige zahlenmäßige Vertretung der Frauen im Stadtparlament nicht für ausreichend. Wir erwarten auf das Bestimmteste, daß die politischen Parteien, in deren Rahmen wir bereit sind zu arbeiten, sowohl Kandidatinnen an aussichtsreicher Stelle der Listen bringen, als auch die Gesamtliste viel stärker mit Frauennamen durchsetzen, als das bisher geschehen ist. Wird es gewünscht, sind wir bereit, Persönlichkeiten zu benennen.“14

Einen Monat später, zwei Tage vor der Kommunalwahl, prangerte Hedwig Averdunk explizit „die „Frauenfeindlichkeit einiger Listen“ an und unterstrich in diesem Kontext die Relevanz einer „überparteilichen Zusammenarbeit mit Frauen anderer Fraktionen.“15 Laut Pressebericht wies sie in ihrem Vortrag auch „auf die besondere Bedeutung dieser ersten Kommunalwahl des vereinigten Duisburg–Hamborn hin, die auch über die leitenden Posten der  neuen Großstadt entscheide“, und betonte die Notwendigkeit, dass „Frauen Plätze in der Kommunalverwaltung innehaben sollten.“16

Dies korrespondierte mit dem Wahlkampfprogramm der DVP aus dem Reichstagswahlkampf von 1919, wo es in Duisburger Wahlanzeigen u.a. hieß: „Frauen und Mädchen! Die Deutsche Volkspartei wirbt um Euch. Sie tritt ein für die Volle Gleichberechtigung der Frau! Zulassung der Frau zu öffentlichen Aemtern …“17

Während der gesamten Phase der Weimarer Republik kooperierten offensichtlich die weiblichen Stadtverordneten der bürgerliche Parteien: Diese waren neben Hedwig Averdunk von der DVP Friederike Heidkamp und Franziska Schumacher von der Zentrumspartei sowie Margarete Pasie von der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Für diese Politikerinnen, die im Übrigen alle als Lehrerinnen in unterschiedlichen Positionen und Schulformen tätig waren, besaß Frauenpolitik einen hohen Stellenwert, was nicht zuletzt daran zu sehen war, dass Pasie und Schumacher dem Vorstand der „Arbeitsgemeinschaft der Frauenvereine Groß-Duisburgs“ angehörten.

 

1910 – 1937: Berufliche Entwicklung

Hedwig Averdunks Ausbildung als Fremdsprachenlehrerin, begleitet durch verschiedene Auslandsaufenthalte18, verlief zielgerichtet, wie ihr Werdegang bis 1912 laut Angaben des „Königlichen Provinzial-Schulkollegiums“ im Kontext des Einstellungsverfahrens als Lehrerin19belegt: „Hedwig Averdunk, evangl. Konf., geb. 1881 zu Duisburg, besuchte die städtische höhere Mädchenschule zu Duisburg und das Lehrerinnen-Seminar zu Wolfenbüttel, woselbst sie Ostern 1901 die Lehrerinnen-Prüfung für höhere Mädchenschulen ablegte. Nach 2jährigem Aufenthalte im Auslande war sie als Lehrerin an der höheren Mädchenschule in Wolfenbüttel tätig. Darauf bereitete sie sich auf das Studium an der Universität vor, das sie nach bestandener Aufnahmeprüfung Ostern 1906 an der Universität Bonn begann. Im Sommer 191020 bestand sie das Oberlehrerrinnen-Examen in Englisch und Französisch, verbrachte darauf einige Monate im Auslande und folgte im Oktober desselben Jahres einer Berufung an das Lyzeum mit Oberlyzeum zu Crefeld. Zu Ostern 1912 wurde sie (als Oberlehrerin, d.V.) an das Lyzeum mit Oberlyzeum und Studienanstalt zu Duisburg (das spätere Frau-Rat-Goethe-Gymnasium, d.V.), gewählt.“

Das Duisburger Lyzeum mit Oberlyzeum und Studienanstalt zeichnete sich vor dem 1. Weltkrieg durch einen bemerkenswerten Geschichtsunterricht aus: So wurde ein „wahlfreier Kurs“ „Geschichte“ von Herrn Oberlehrer Dr. Knoke angeboten, in dem u.a. neben der Sozialgesetzgebung die „Rechtsverhältnisse und Stellung der Frau von der altgermanischen Zeit bis auf unsere Tage“ und „Bisherige Ergebnisse und Ziele der Frauenbewegung“ als Unterrichts-Themen behandelt wurden.21 Von 1929 bis 1937 arbeitete Hedwig Averdunk als Oberstudienrätin am Städt. Lyzeum in Ruhrort, der damaligen Kaiserin-Auguste-Viktoria-Schule22 – heute Aletta-Haniel-Gesamtschule.23

 

Frauen in Führungspositionen an der Schule?! – Männerprotest und Frauensolidarität

Die Lehrerin empfahl sich für Leitungsfunktionen: 1928 kam sie für die Position der Direktorin der Kaiserin-Auguste-Viktoria-Schule, des Städtischen Lyzeums in Ruhrort, ins Gespräch. Später sollte sie eine frei werdende Oberstudienratsposition als Stellvertretung des Schulleiters an dieser Schule besetzen. Die Wahl zur Direktorin des Städtischen Lyzeums in Ruhrort wurde verhindert. Als es um die Besetzung der Stellvertretung ging, opponierte der Elternbeirat dieser Schule erneut gegen die Besetzung einer Funktionsstelle mit einer Frau. Er argumentierte, „dass eine so große Schule wie das Lyzeum mit den ihm angegliederten zahlreichen Nebenstellen nur durch eine männliche Kraft geleitet werden kann“ und war der einmütigen Auffassung, „dass die Besetzung der freigewordenen Stelle des Stellvertreters ebenfalls nur durch einen Herren erfolgen darf …Weiterhin erscheint es aus sozialen Gründen wünschenswert, die höheren Bezüge eines Oberstudienrates eher einem Herrn als einer Dame zukommen zu lassen, da der Herr zumeist verheiratet und Familienvater ist.“24

Einer solchen Auffassung und Vorgehensweise traten die Duisburger Frauenverbände und die Lehrerinnen der Kaiserin-Auguste-Viktoria-Schule strikt entgegen: So forderte die „Arbeitsgemeinschaft der Frauen-Vereine Groß-Duisburgs“25 in einem Antrag vom 21. Mai 1928 nachdrücklich, nachdem „seinerzeit“ ihr „Antrag an die Stadtverwaltung, die freigewordene Direktorstelle an der Kaiserin-Auguste-Viktoriaschule mit einer Frau besetzen zu wollen“ nicht realisiert worden sei,  die Stadtverwaltung erneut auf, „nunmehr die durch diese Wahl erledigte Oberstudienratsstelle einer Frau zu übertragen“.26 Für das gleiche Anliegen setzte sich mit Schreiben vom 31. Juli 1928 eine weitere Gruppe von Frauen ein – nämlich (offensichtlich alle) 21 „seminarischen und akademischen Lehrerinnen der Kaiserin-Auguste-Viktoria-Schule“. Sie forderten mit einer „Eingabe der Lehrerinnen der  Kaiserin-Auguste-Victoria-Schule“ die Stadtverwaltung auf, „die Oberstudienratsstelle an unserer Anstalt zum Wohle der Schule und ihrer Schülerinnen mit einer Frau zu besetzen.“27

Am 14. November 1928 erklärte der „Personalausschuss der höheren Lehranstalten“, der bereits zuvor Hedwig Averdunk unterstützt hatte, einstimmig sein Einverständnis für die Besetzung der Oberstudienratsstelle mit Hedwig Averdunk. Diese Entscheidung führte zu einer erbitterten geschlechterdifferenzierten Kontroverse im Kollegium, das die Möglichkeit zur Stellungnahme erhalten hatte. Diese Gelegenheit ließ sich die „Gruppe der männlichen Lehrkräfte“ der Kaiserin-Auguste-Viktoria-Schule nicht entgehen und protestierte geschlossen gegen die Einstellung einer Frau in einer Führungsposition an der Schule generell – und zu Hedwig Averdunk ad personam. In dem Schreiben der männlichen Lehrkräfte an den Oberbürgermeister heißt es: „… Grundsätzlich wenden wir uns gegen die Ernennung einer weiblichen Lehrkraft auf diesen führenden Posten … Eine Kampfstellung zwischen einem weiblichen und einem männlichen Lager ist eine unerquickliche Erscheinung.  Wir haben sie bis vor wenigen Jahren an unserer Anstalt nicht gekannt. Dass es heute anders ist, geht wesentlich auf die Bestrebungen der in Frage stehenden Dame zurück; sie ist die Führerin einer Bewegung, die auch in unser Kollegium den Angriffsgeist hineingetragen hat …“28

Der damalige Oberbürgermeister Karl Jarres nahm umgehend dezidiert – und zwar am 1. Dezember – nach dieser Eingabe der „Gruppe der männlichen Lehrkräfte“ vom 29. November 1928  zu dieser Angelegenheit Stellung und setzte sich, in deutlicher Abgrenzung zu der frauenfeindlichen Haltung der „Gruppe der männlichen Lehrkräfte“ der Kaiserin-Auguste-Viktoria-Schule, für die Stellenbesetzung der Oberstudienratsstelle mit „Studienrätin Frl. Hedwig Averdunk“ ein, „nachdem sich der Verwaltungsausschuss einstimmig für die Berufung der äusserst tüchtigen und unter ihren Fachkollegen angesehenen Lehrerin ausgesprochen“ hatte.29 Am 16. April 1929 erhielt Hedwig Averdunk die Bestallungsurkunde als Oberstudienrätin.30 Sie hatte diese Führungsposition bis 1937 inne.

Die Auswirkungen des Nationalsozialismus auf Hedwig Averdunk

Beim Wahltermin am 12. März 1933 wurden 77 Abgeordnete in den Duisburger Stadtrat gewählt; darunter befand sich keine Frau mehr. Das nationalsozialistische Regime hatte die Stadtverordneten und explizit die Frauen durch dem „Führer“ Adolf Hitler ergebene Männer („Ratsherren“) ersetzt. 31

Ihrem Ausscheiden aus der Kommunalpolitik Anfang 1933 folgte im Juli 1937 ihre vorzeitige Pensionierung aus dem Schuldienst – „aus politischen Gründen“: Hintergrund war, dass sie am 25. Mai 1937 einen Antrag auf  „Versetzung in den Ruhestand“ gestellt hatte.32 Dass es sich hier um die „Zwangspensionierung“ – wohl notgedrungen auf eigenen Antrag – einer strikten Gegnerin des Nationalsozialismus gehandelt haben dürfte, wird durch ihre offensichtlich von Schule und Politik eingeforderte Erklärung auf einem Formblatt der Kaiserin-Auguste-Viktoria-Schule vom 2. Oktober 1935 deutlich. Hier gibt sie an,  dass sie dem Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein als Dach- und Berufsverband33, Abteilung Philologinnen bis zu seiner Auflösung 1933 angehört habe,34 dass sie bis zu seiner Auflösung 1933 Mitglied im Reichsbund höherer Beamten und ab 1933 im Philologen Verband gewesen sei. Außerdem führt sie auf, dass sie dem N.S.L.B. (Nationalsozialistischer Lehrerbund) vom 1. August 1933 bis zum 1. Januar 1934 angehört habe.35 Die Angabe zur Kürze der Dauer ihrer Mitgliedschaft im N.S.L.B. muss deutlich als Provokation empfunden worden sein. Ihre politische Einstellung geht auch aus ihrem Antrag auf „Anerkennung als Geschädigter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ vom 6. bzw. 12. Dezember 1952 hervor, wo sie exponiert, dass sie „im Mai 1937 aus politischen Gründen mit sofortiger Wirkung“ aus ihrem „Amt als Oberstudienrätin an der damaligen Kaiserin-Auguste-Viktoria-Schule in Duisburg Ruhrort entfernt und zum 1. November 1937 zwangspensioniert“ wurde. Nach intensiver Prüfung durch den „Kreis-Anerkennungsausschuss“ wurde sie per Beschluss vom 30. Juni 1953 offiziell als „Geschädigte der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ anerkannt, zumal sie „nach ihrer eigenen Erklärung weder Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen“ war „noch … jemals Antrag auf Aufnahme in diese gestellt“ hat.36 Wie Hedwig Averdunk von 1937 bis 1945 ihren Lebensunterhalt verdiente, ist nicht bekannt.

 Die „gebildete Dame“ und Duisburg im Wiederaufbau: 1945 – 1955 Leiterin des städtischen Übersetzungsbüros37

1945 wurde sie als Leiterin des städtischen Übersetzungsbüros (Dolmetscherbüros) vom damaligen Oberbürnach dem 2. Weltkrigermeister Dr. Weitz ins Rathaus berufen. Er bedankte sich ausdrücklich bei ihr, dass sie sich – immerhin im Alter von 64 Jahren – „liebenswürdigerweise dem Dolmetscherbüro der Stadtverwaltung zur Verfügung gestellt“ habe.38 Am 20. Juni 1945 verfügte er, dass „das Übersetzungsbüro unter der Leitung der Frau Oberstudienrätin Averdunk“ ihm „unmittelbar“ unterstehe und ferner: „Das Büro wird dem Besatzungsamt – 19/6 – als selbständige Dienststelle in personeller usw. Hinsicht angegliedert.“39

Offensichtlich hatte nach dem 2. Weltkrieg ihre Arbeit einen hohen Stellenwert beim Wiederaufbau der Industriestadt Duisburg und ihrem wirtschaftlich wichtigen Binnenhafen: Sie wäre, so berichtete die Presse anlässlich ihres 90. Geburtstags, als Dolmetscherin bei fast allen wichtigen Verhandlungen mit den Besatzungsmächten dabei gewesen und habe darüber hinaus „alle Anträge der Industrie zum Wiederaufbau der zerstörten Werke und auf Wiederaufnahme der Arbeit“ bearbeitet.40

Erst am 30. Juni 1954 schied Hedwig Averdunk, die „am 29. Mai 1946 das 65. Lebensjahr vollendet“ hatte, mit 73 Jahren aus dem Dienst der Stadt Duisburg aus und trat endgültig in den Ruhestand.41

Für Hedwig Averdunk hatte die Solidarität unter Frauen, so wie sie sie selbst im Kontext ihres Beförderungsverfahrens an der Schule und sicherlich im „Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein“ erlebt hatte, eine große Bedeutung. In der Politik allerdings lehnte sie „gesonderte Frauenwahllisten, wie sie in der einen oder anderen Stadt aufgetaucht“ waren, ab. Stattdessen propagierte sie die überparteiliche „Zusammenarbeit mit den Frauen der anderen Fraktionen“ und damit die  Durchsetzung von Fraueninteressen durch „fruchtbare Zusammenarbeit“ innerhalb der jeweiligen Partei.

Insgesamt gesehen hat sie mit ihrem beruflichen und politischen Wirken einen wichtigen Beitrag zur Verwirklichung von Frauenrechten in Duisburg geleistet und bereits in der Weimarer Republik wichtige Grundlagen gelegt.42

Doris Freer/ Duisburg

Orte:

Duisburg

Literatur:

Freer, Doris, Weibliche Abgeordnete in der Stadtverordnetenversammlung Duisburg 1919 – 1933, in: http://www.frauenbueros-nrw.de/images/ratsfrauen_pdf/Duisburg.pdf (Zugriff 20. Aug. 2019)

Ein ausführlicher Städtevergleich nebst einem Literatur- bzw. Quellenverzeichnis zu den befragten Städten findet sich in Freer, Doris, Die ersten weiblichen Duisburger Stadtverordneten 1919 – 1933, in: Duisburger Forschungen, Bd. 63 (2019) (in Druck).

„Frauen machen Geschichte. Materialien zur Duisburger Frauengeschichte“, hg. Stadt Duisburg/ Gleichstellungsstelle für Frauenfragen, Duisburg 1991.

Die Anfänge des Mädchenschulwesens – oder: Öffentliche versus private Bildung für Mädchen im 19. Jahrhundert. In: Arnold, Udo u.a. (Hrsg.): Stationen eines Hochschullebens. Festschrift für Annette Kuhn. Dortmund 1999, S. 330-346.

Zitation: Freer, Doris, Hedwig Averdunk, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/hedwig-averdunk/

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Elfriede Amelong

Es war bereits Nacht, etwa 1 Uhr früh am Sonntag, dennoch hatte sich unten auf der Straße eine größere Menschenmenge eingefunden. Sie beobachtete das Vorgehen im Haus. An der Wohnungstür versuchten mehrere angetrunkene Männer, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen. Aus dem 2. Stock heraus schrien zwei Frauen um Hilfe.

Ein Schuss fiel – wer auf wen schoss, wurde nie geklärt, verletzt wurde niemand.1

Durch die Hilferufe aufmerksam geworden näherte sich der Polizeioberwachtmeister Koch der Szene in der Göringstraße 10. Er sah, dass die beiden Frauen gewillt waren, aus dem Fenster zu springen. Um sie davon abzuhalten, versuchte er, in das Haus zu gelangen. Vor der Wohnungstür traf er auf etwa acht Männer, die – wie der Polizist später zu Protokoll gab – „durch lautes Stoßen und festes Rütteln an der Tür Einlass in die Wohnung” forderten. Als die Frauen erkannten, dass ein Polizist anwesend war, baten sie um etwas Zeit, um sich ankleiden zu können, und öffneten die Tür.

Im selben Moment bat Elfriede Amelong um polizeilichen Schutz gegenüber den SS-Männern. Mit vorgehaltenem Revolver verschafften sich die Eindringlinge Zutritt. Die Durchsuchung der Wohnung konnte der Polizist nicht verhindern, ebenso wenig, dass die Männer einige Gegenstände beschlagnahmten: eine Büste des verstorbenen Reichspräsidenten Friedrich Ebert, Protokolle der Stadtverordnetenversammlung, auch den den Nazis besonders verhasste Roman „Im Westen nichts Neues” von Erich Maria Remarque.

Zu den Eindringlingen zählten noch einige Handlanger, die Schmiere stehen sollten, sich aber in eine nahegelegene Wirtschaft zurückzogen, um sich weiteren Mut anzutrinken. Mit den Beutestücken unterm Arm, die beiden Frauen – neben Amelong wohnte ihre Freundin Ida Labonté in der Wohnung – zwischen sich, marschierten die SS-Männer sowie einige Gesinnungsgenossen von SA und Stahlhelm von der Göringstraße, der heutigen Bebelstraße, in Annen, zur SS-Wache im alten Wittener Rathaus. Dort wurden die beiden Frauen festgehalten, bis sie um 4 Uhr morgens entlassen wurden. Über die Vernehmung ist nichts bekannt. Labonté erlitt – so berichtete sie nach dem Krieg – einen Herzanfall.

Am nächsten Tag, dem 3. Juli 1933, sollten die Frauen erneut auf der SS-Wache erscheinen. Stattdessen aber entzogen sich beide dem Zugriff der Nazis durch die Flucht in das noch freie Saarland, wo Amelong und Labonté im Tagesaufenthaltsraum des Bergarbeiterverbandes Saarbrücken, dem „Heldenkeller”, Kontakt mit ihrem Freund, dem „roten Landrat” von Hörde, Wilhelm Hansmann, aufgenommen haben sollen.

Im Dezember 1933 kehrte Amelong zurück nach Witten, Labonté erst im März 1934. Offenbar hielten sie die Lage in Deutschland nicht mehr für gefährlich, während sie sich noch vor jenem Ereignis im Juli 1933 durch ständigen Wechsel des Aufenthaltsortes gegen die Übergriffe der neuen Machthaber zu schützen gesucht hatten. Auch eine dauerhafte Ausreise muss Amelong erwogen haben, denn im März 1933 hatte sie einen Auslandspass beantragt.

Elfriede Amelong wurde am 13. Februar 1895 in Berlin geboren. Die Eltern ihrer Mutter besaßen ein Gut in Schlesien. Ihr Großvater väterlicherseits arbeitete als Klempnermeister im pommerschen Stolp, ihr Vater als Metzgermeister. Ihre Eltern schickten sie nicht auf eine höhere Schule, sei es, weil sie ein Mädchen war, sei es, dass sie sich das Schulgeld nicht leisten konnten.

Nach der Volksschule besuchte sie für ein Jahr eine Höhere Handelsschule für Mädchen und arbeitete anschließend als Buchhalterin in verschiedenen Betrieben. Obschon sie zu Kriegsbeginn an einem Ausbildungskurs in der freiwilligen Kriegskrankenpflege teilgenommen hatte, war sie offenbar nicht als Krankenschwester tätig. Wenige Tage vor der Novemberrevolution 1918 zog sie nach München, wo sie sich neben ihrer Arbeit in den freien Gewerkschaften engagierte, sich insbesondere um die Frauenfrage im Handelsgewerbe kümmerte und – vermutlich an einer Einrichtung der Arbeiterbildung – Volkswirtschaftslehre und den Sozialismus studierte. Auch trat sie aus der Kirche aus.

Im Zuge ihrer Gewerkschaftsarbeit erkannte sie, dass ihre Talente auf einem anderen Gebiet lagen. In München – so berichtete sie – „hatte ich Gelegenheit, auf Vorschlag meiner Organisation [vermutlich der Gewerkschaft] und Bestätigung durch das Ministerium für soziale Fürsorge an einem Sonderlehrgang zur Ausbildung für die berufliche Wohlfahrtspflege vom 1. Juli bis 31. Dezember 1920 unter Erhalt von Stipendien teilzunehmen”. An der sozialen Frauenschule München wurde sie in allen Aspekten der Fürsorge unterrichtet, auch in Sozialversicherung, Sozialgesetzgebung, Arbeitsrecht und Erwerbslosenfürsorge.

Am 28. Juli 1921 bewarb sich Amelong auf die ausgeschriebene Stelle als Fürsorgeschwester in der kleinen Arbeitergemeinde Annen. Zwei Wochen später stimmte der „Arbeitsausschuss zur Schaffung eines Wohlfahrtsamtes” dem Vorschlag des sozialdemokratischen Gemeindevorstehers August Schlischo, Amelong vorläufig anzustellen, mit knapper Mehrheit zu.

Dass Annen 1921 eine Fürsorgerin anstellte, stand in dem größerem Zusammenhang der Modernisierung der Sozialpolitik in der Gemeinde. Anderswo, auch in Witten, bestanden zahlreiche sozialpolitische Einrichtungen schon länger, in den kleinen Bergbaugemeinden im Landkreis Hörde jedoch waren die Finanzen zumeist ebenso wenig vorhanden wie der politische Wille. Nach der Revolution 1918 versuchte der neue Landrat Hansmann, die Fürsorge im Kreis mustergültig auszubauen. Und die in Annen seit 1919 herrschende SPD nutzte die ihr gegebenen Möglichkeiten.

Aus unzusammenhängenden Einzelhilfen wurde binnen weniger Jahre ein System der Familienfürsorge geschaffen. Ein Wohlfahrtsamt sollte die Bemühungen koordinieren. Amelong arbeitete in der Säuglings- und Kinderfürsorge, der Mütterberatung und in der Lungenfürsorge.

Hier organisierte sie während der Ruhrbesetzung 1923 bis 1925 Transporte hilfsbedürftiger Kinder in das unbesetzte Gebiet. Außerdem überwachte sie die Volksküche. Nach der Eingemeindung Rüdinghausens nach Annen 1922 wurde mit Ida Labonté eine zweite Fürsorgerin eingestellt. Die beiden wurden Freundinnen und gingen – darauf lassen jedenfalls einige Quellen schließen – eine lesbische Beziehung ein.

„In der Familienfürsorge”, so beschrieb Amelong ihre Tätigkeit, „gilt der Hausbesuch der Fürsorgerin der ganzen Familie und nicht nur dem Säugling oder Schulkind oder nur dem lungenkranken Vater, oder nur dem kriminell gewordenen Jugendlichen, oder nur den im Haushalt als Sozialrentner lebenden Großeltern. Die Sorge des einzelnen Familienmitgliedes ist die Sorge der ganzen Familie. Die Fürsorgerin muss das Vertrauen der Familie besitzen, sie muss die sozialen Verhältnisse kennen und auch ihre Entwicklung würdigen.”

Mit der Eingemeindung nach Witten, so fürchtete Amelong zu Recht, könnten die sozialpolitischen Errungenschaften Annens verlorengehen. Vor allem aber würde die Stadt Witten weit weniger Mittel zur Verfügung stellen. Dass diese Befürchtungen eher untertrieben waren, war allerdings weniger dem mangelnden politischen Willen zuzuschreiben als vielmehr der katastrophalen Finanzlage der Städte im Zuge der Wirtschaftskrise ab 1929.

Amelong hatte 1921 die Annener AWO mitgegründet und nahm den Vorsitz ein. Nach der Eingemeindung Annens nach Witten stand sie dem AWO-Stadtverband vor. Auch in dieser Funktion bezog sie engagiert Stellung gegen die „Individualisierung der Fürsorge” und gegen die Einschränkung der Maßnahmen des Wohlfahrtsamtes.

Das dritte Standbein Amelongs war die Kommunalpolitik. Etwa zur selben Zeit, als ihre endgültige Anstellung anstand, trat sie der SPD bei. Und 1924 stand sie auf dem sicheren dritten Platz der Kandidatenliste der SPD für die Annener Gemeindevertretung. Nach der Eingemeindung wurde sie 1929 und 1933 auch in das Wittener Kommunalparlament gewählt, zuletzt stand sie hinter dem Magistratsmitglied Alfred Junge auf Platz 2 der Liste.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde ihr Mandat annulliert, da sie aufgrund einer Reichsverordnung als städtische Angestellte nicht gleichzeitig Kommunalparlamentarierin sein dürfe. Schließlich wurde sie aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” zunächst beurlaubt und schließlich entlassen. Vorausgegangen waren Beschuldigungen der Annener Ortsgruppe der NSDAP gegen Amelong und Labonté, die sich auch gegen den Strich gebürstet lesen lassen:

„Kam 1920 nach Annen [richtig: 1921], zerlumpt. Wurde vom roten Kreiswohlfahrtsdirektor Küch in Berlin aufgelesen [sie war in München]. Entwickelte sich hier zum ungeheuren Agitator der S.P.D. Als Fürsorgerin wurden von ihr die roten Kreise Minderbemittelter bevorzugt. Nach Dienst empfing sie in den Amtsräumen die Frauen der Freigeistigen Gemeinschaft usw. Diese wurden hier geschult und unterrichtet. Freundin von Hansmann und dessen Frau. Bis kurz vor seiner Verprügelung [er wurde überfallen und misshandelt] hat Hansmann der Amelong sehr oft Besuche abgestattet und bis Mitternacht ausgedehnt.

Die Nationalsozialisten wollte sie mit Stumpf und Stiel ausrotten. War bis zuletzt Stadtverordnete der S.P.D. Am 21. März [1933] hisste sie noch die schwarz-rot-gelbe Fahne [die Farben der Flagge der deutschen Republik waren und sind schwarz, rot und gold]. Diese wurde von S.A. entfernt. Revolverschnauze. Man vermutet, dass sie es mit Anstand, Sitte und Moral nicht genau nimmt. Große Gefahr für die Jugend. Wird sich nie im Sinne des neuen Staates betätigen.”

Erfolglos versuchte Amelong, sich gegen ihre Entlassung zur Wehr zu setzen. Sie sei, so verteidigte sie sich gegenüber dem Regierungspräsidenten, in die SPD nur eingetreten, weil diese „dem Wirken der Fürsorge, also dem schaffenden Volke helfen [zu wollen], wohlwollend zur Seite stand”. Bereits am 1. April 1933 war sie aus der Partei ausgetreten. Amelong wurde im März 1933 ein Auslandspass nicht genehmigt, sie sah sich somit zum Bleiben gezwungen.

Wie aber, so lautete die entscheidende Frage, konnte sie der unmittelbaren körperlichen Bedrohung durch die nationalsozialistischen Schergen entgehen? Ihre erste Strategie bestand offensichtlich darin, den Wiedereinstieg in ihren Beruf als Fürsorgerin zu versuchen, dazu aber musste sie den Makel der Zugehörigkeit zur sozialdemokratischen Partei abzustreifen und austreten. Doch auch dieser Weg blieb ihr verwehrt.

Die eingangs geschilderten Vorgänge um die Hausdurchsuchung in der Nacht vom 1. auf den 2. Juli 1933 sind allein deshalb so ausführlich bekannt, weil Amelong und Labonté 1935 den Mut aufbrachten, den Staat aufgrund der dabei entstandenen Schäden zu verklagen. Damit setzten sie umfangreiche Ermittlungen der Polizei in Gang, die die für die Nationalsozialisten peinlichen Begleitumstände ausführlich offenlegten.

Wortführer der SS war der Dachdecker Adolf D., der bereits 1926 wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe verurteilt worden war. Ein weiterer Teilnehmer, Erich R., wurde 1934 aus der SS ausgeschlossen, da er wegen Körperverletzung zu neun Monaten Gefängnis verurteilt worden war, was die NSDAP nicht hinderte, ihn in ihre Reihen aufzunehmen.

Der SS-Mann Karl D., den Amelong Anfang 1935 um die Herausgabe der gestohlenen Schreibmaschine bat, erschien bald darauf – so berichtete Amelong – „in der Uniform eines Polizeibeamten in meinem Geschäft und forderte in meinem persönlichen Interesse unter allgemein gehaltenen Drohungen mich zur Zurücknahme der von mir gestellten Behauptungen auf. Ich lehnte ab und wies ihn zur Tür hinaus.”

Selbst der Regierungspräsident hielt die Darstellung der beiden Frauen für glaubwürdig, erachtete aber „eine Erörterung der dem Anspruch zugrundeliegenden Vorgänge vor den ordentlichen Gerichten [für] untunlich”. Nicht zuletzt um die Begleitumstände der Machtübernahme nicht in der Öffentlichkeit der Gerichte bloßstellen zu lassen, hatten die neuen Machthaber 1934 ein Gesetz erlassen, das der Allgemeinheit die Lasten eines Ausgleichs der im Zuge der „nationalsozialistischen Erhebung und Staatserneuerung” entstandenen Schäden aufbürdete. 1936 schließlich entschied das Innenministerium in Berlin, den Frauen einen Ausgleich von 300 Reichsmark zu zahlen. Der unterzeichnende Staatssekretär Dr. Stuckart war derselbe, der sechs Jahre später an der berüchtigten Wannsee-Konferenz zur „Endlösung der Judenfrage” teilnahm.

Nach Amelongs Rückkehr aus dem Saarland im März 1934 eröffneten die beiden Frauen ein Lebensmittelgeschäft am Crengeldanz, Hörderstraße 4 – offenbar so erfolgreich, dass Amelong eine wirtschaftliche Ehrenurkunde mit der Unterschrift des Gauleiters der NSDAP erhielt. Dennoch waren sich die verschiedenen Behörden des Nazireiches nicht einig, wie sie ihre politische Zuverlässigkeit einschätzen sollten.

Während ein Gericht 1938 „einen günstigen Eindruck gewonnen” haben will, urteilte der NSDAP-Kreisleiter Weber 1937, sie „gilt im nat.-soz. Sinne als absolut unzuverlässig”, obschon sie zuletzt – „vielleicht aus Eigennutz” – dem Winterhilfswerk gespendet habe. Ihr Geschäft habe sie „offensichtlich tatkräftig entwickelt”, jedoch „[h]auptsächlich dadurch, dass eine größere Anzahl Gesinnungsgenossen von auswärts bei ihr ihren Einkauf tätigen”. Das Geschäft habe bis 1938 unter dem dauernden Boykott der Nazis gestanden, berichtete Labonté, das könnten Sozialdemokraten wie Albert Martmöller, Karl Rabenschlag oder Heinz Wallbruch bestätigen. Unklar bleibt allerdings, weshalb sich das Geschäft dennoch gut entwickeln konnte.

Seit September 1936 bemühte sich Amelong um den Kauf des Lebensmittelgeschäfts des jüdischen Kaufmanns Hugo Rosenthal in Stockum, Hörderstraße 326. Die Verhandlungen, so Amelong zwei Jahre später, seien jedoch wiederholt an dessen Ehefrau und am zu hohen Kaufpreis gescheitert. Amelong hielt auch den Kaufpreis, den Rosenthal 1938 mit einem Essener Kaufmann aushandelte, für zu hoch, wie sie in einem Gespräch mit einem Sachbearbeiter des Gauwirtschaftsberaters der NSDAP in Bochum am 24. Oktober 1938 äußerte. Einen Tag später wiederholte sie gegenüber der gleichen Stelle brieflich ihre Kaufabsicht und fügte hinzu, dass sie zuvor dem verlangten Kaufpreis und weiteren „Vergünstigungen, die mir mit der Einhaltung der Stellung zur Judenfrage als nicht erlaubt und annehmbar schienen”, widersprochen habe.

Rosenthal verkaufte schließlich an den Essener Kaufmann, der wiederum das Geschäft an Amelong vermietete. Ihre Äußerungen Rosenthal gegenüber sind nicht überliefert. Nutzte sie dessen Notlage aus, wollte sie nur ohne jede Rücksicht ein Geschäft erwerben oder versuchte sie ihm zu helfen, Deutschland so bald wie möglich verlassen zu können?

Amelong hatte bis 1933 im Haus Bebelstraße 10 gewohnt, das Joseph Rosenthal gehörte, einem Bruder Hugo Rosenthals. Denkbar ist daher, dass sie im Sinne Rosenthals handelte, und nur über den Kaufpreis konnten sie sich nicht einig werden. Oder hatte sich Amelong dem Nazi-Ungeist angenähert, war sie zur Antisemitin geworden? Der Sohn Rosenthals jedenfalls schilderte später, sie habe sich „wie eine ausgesprochene Judenfeindin nach Übernahme des Geschäftes” verhalten und ein Schild mit der Aufschrift „Juden werden hier nicht bedient” angebracht. Oder führte sie die Behörden vor, indem sie auf der Klaviatur der Nazi-Ideologie spielte und ihnen vormachte, sich im nationalsozialistischen Sinne zu verhalten?

Diese Fragen lassen sich mit den vorhandenen Akten nicht mehr klären. Eindeutig ist jedoch, dass Amelong wie auch der Essener Kaufmann nicht die akute Zwangslage der jüdischen Kaufleute unmittelbar nach dem Novemberpogrom 1938 ausnutzten. Weil den Nazi-Behörden der Kaufpreis am Ende immer noch zu hoch war, verschleppten sie Rosenthal und seinen Sohn Hans schließlich für sechs Wochen in das KZ Sachsenhausen, bis sie ihn mit der Maßgabe entließen, einen Teil der Kaufsumme den Nazis zukommen zu lassen. Anders als seinem Sohn gelang es Rosenthal nicht mehr rechtzeitig auszuwandern – 1942 wurden er und seine Frau Laura im Rigaer Ghetto ermordet.

1941 drohte der NSDAP-Kreisleiter Dedecke, Amelong die Handelserlaubnis zu entziehen, da sie den Kaufpreis für das Geschäft noch nicht an Rosenthal entrichtet habe. Sie rechtfertigte sich mit dem Hinweis, dass der Gauwirtschaftsberater ihr verboten habe, an Rosenthal zu zahlen. Der aber widersprach, er habe ihr lediglich empfohlen, den Kaufpreis auf ein Sperrkonto zu zahlen. Das hätte letztlich nur bedeutet, dass die Nazi-Behörden leichter auf das Vermögen Rosenthals hätten zugreifen können.

Wegen Krankheit gab Amelong 1941 beide Geschäfte an Labonté ab, die bald darauf den Stockumer Laden weiterveräußerte. Was Amelong zwischen 1941 und dem Kriegsende tat, lässt sich nicht rekonstruieren. Kurz nach der Befreiung im Frühjahr 1945 bemühte sie sich um die Wiedereinstellung in den öffentlichen Dienst, am 5. Juni 1945 stellte ihr der vorläufige Bürgermeister ein Zeugnis über ihre vor 1933 geleistete Arbeit aus. Seit 1948 wirkte sie im Gesundheitsamt, zuletzt als Leiterin der Verwaltung des Amtes.

Hier galt sie als „einziger Mann” unter den vielen Frauen, als eine harte Verhandlungspartnerin. Doch immer häufiger wurde sie krank und zur Kur geschickt, bis sie 1957 vorzeitig pensioniert wurde. Ihren Beruf hatte sie ohnehin nicht mit Neigung versehen, sie hielt ihre Aufgaben dort für „Kleinkram”. Aber von etwas musste sie ja leben, so sehr ihre Interessen auch auf der politischen Ebene lagen. Wie konnte die Verwaltung, die sich so perfekt in das Nazi-Regime eingepasst hatte, umfassend demokratisiert werden? Aber auch: Wie ließ sich der Wohlfahrtsstaat wiederaufbauen und ausbauen? Das waren die Fragen, mit denen sie sich beschäftigte. Und dazu nutzte sie ihre Verbindungen.

Amelong verfügte über gute Kontakte zu den britischen Besatzungsbehörden. Hetty Santorius, damals Vorsitzende des AWO-Ortsvereins Annen-Ardey, erinnerte sich später, dass sie zusammen mit Amelong von einem britischen Offizier eingeladen wurde: „Wir haben dadurch Nahrungsmittel, Kleider usw. zur Verfügung gehabt, um sie den ärmeren Leuten dann zu verteilen.” Die AWO, die 1945 wiedergegründet worden war, hatte unter Amelongs erneuter Leitung einen raschen Aufschwung genommen, von rund 800 im Jahre 1945 stieg die Mitgliederzahl bis Anfang 1948 auf rund 3.000.

Als Vertreterin der Frauen, später der AWO saß Amelong mehrere Jahre lang im Vorstand des Wittener Stadtverbandes und auch des Bochumer Unterbezirks der SPD. Anfang 1950 wurde sie nicht wieder aufgestellt und außerdem bedrängt, aus dem Unterbezirksvorstand freiwillig auszuscheiden.

Dem war eine immer wieder auftretende Kritik an ihr vorausgegangen. Mehrere Genossen warfen ihr vor, „innerhalb der AWO diktatorisch vorzugehen”. Andere, darunter Heinz Wallbruch, setzten sich für sie ein, sie müsse sich auf einer SPD-Versammlung nicht zu ihrem Verhalten in der AWO äußern. Offenbar – das zeigen die Protokolle mehrerer Stadtverbandssitzungen aus der frühen Nachkriegszeit – war das Verhältnis von Partei und Wohlfahrtsorganisation in einem Wandel begriffen.

Denn auch in Stockum weigerte sich 1950 die dortige AWO-Ortsgruppenvorsitzende, der Partei gegenüber Rechenschaft abzulegen. Der Aktionsausschuss der Wittener SPD diskutierte 1949 in Amelongs Abwesenheit über sie, dabei bezogen der Fraktions- und Stadtverbandsvorsitzende Walter Nowak ebenso wie die Frauenbeauftragte und spätere Bundestagsabgeordnete Alma Kettig sowie zahlreiche weitere Funktionäre gegen sie Stellung: „Allgemein wurde zum Ausdruck gebracht, dass die Genossin Amelong, obwohl sie hohe Funktionen in der Partei bekleidet, sich in jeder Hinsicht passiv verhält und dass sie wegen Vernachlässigung ihrer Aufgaben aus allen Parteiämtern entfernt werden muss.” Einer warf ihr gar vor, „ein wesentlicher Teil der im Arbeitsausschuss der A.-W. tätigen Frauen und der auf der Generalversammlung zugelassenen Delegierten sei von der Gen. Amelong geschmiert worden”.

Die Vorwürfe oder die Beschreibung der Diskussionen innerhalb der AWO zu überprüfen, ist nicht mehr möglich, da deren Protokolle nicht überliefert sind. Manches scheint an den Haaren herbeigezogen zu sein. Fest steht jedoch, dass Amelong ihre Prioritäten im Konfliktfall immer aufseiten der AWO setzte. In erster Linie war sie Sozialpolitikerin, ob als Fürsorgerin oder als Vorsitzende der sozialdemokratischen Wohlfahrtsorganisation. Ihre parteipolitische Anbindung war ihr hingegen letztlich zweitrangig. Auch nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt der AWO-Vorsitzenden blieb sie deren Ehrenvorsitzende.

Amelongs Beziehungen zu den britischen Militärbehörden blieben gut. 1949 wurde sie eingeladen, auf Kosten der britischen Regierung an einem sechswöchigen Kursus im englischen Wilton Park Educational Centre teilzunehmen, der im Rahmen der Re-Education-Politik deutsche Teilnehmer aus unterschiedlichen Bereichen mit der britischen Demokratie vertraut machen sollte. Hier wurden in zivilisierter Atmosphäre die brennenden Fragen der jüngsten Vergangenheit und auch der unmittelbaren Zukunft besprochen. War es eine Spitze gegen ihre innerparteilichen Kritiker? Jedenfalls schrieb sie am 29. November 1949 dem Wittener Stadtrat: „Die Arbeit in Wilton Park beruht auf freien, von Sachkenntnis getragenen Diskussionen, die auf diesem neutralen Boden ohne Leidenschaft geführt werden.”

Elfriede Amelong, die zeitlebens eine streitbare Persönlichkeit war, starb am 20. Oktober 1965 in Witten. Ihr Leichnam war der erste, der im neuen Krematorium des Hauptfriedhofs in Witten eingeäschert wurde.

• geb. am 13. Februar 1895 in Berlin

• gest. am 20. Oktober 1965 in Witten

• ledig, keine Kinder

• Konfession dissident

• seit 1921 Fürsorgerin in Annen, später Witten

• 1921 Gründerin AWO Annen

• 1921-1933 AWO-Vorsitzende Annen, später Witten

• 1924-1929 Gemeindevertreterin Annen (SPD)

• 1929-1933 Stadtverordnete Witten (SPD)

• 1948-1957 Verwaltungsleiterin Gesundheitsamt Witten


Dr. Frank Ahland /
Stadtarchiv Unna

Literatur:

Frank Ahland: Elfriede Amelong. Streitbare Sozialpolitikerin, in: Wittener. Biografische Porträts, hrsg. von Frank Ahland u. a. in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Witten, Witten 2000, S. 129-139

Zitation: Ahland, Frank, Elfriede Amelong, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/elfriede-amelong/

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Albertine Badenberg

Albertine Badenberg stammte aus einer gutbürgerlichen katholischen Familie: Ihr Vater war Landvermesser und Architekt, ihre Mutter kam aus einer Wiener Offiziersfamilie. Sie war die älteste von sieben Geschwistern, von denen die meisten später im Ausland lebten, und besuchte in Steele – eine Ortschaft an der Ruhr, die damals kaum mehr als 5.000 Einwohner zählte, und 1929 von der Stadt Essen eingemeindet wurde – die höhere Töchterschule. Mit 15 Jahren lebte sie eine Zeitlang, wie in bürgerlichen Kreisen üblich, zuerst in Belgien, danach in England.

Verein katholischer deutscher Lehrerinnen (VkdL)

Sie ergriff den für bürgerliche Mädchen typischen Beruf der Lehrerin und absolvierte ihre Ausbildung an dem Lehrerinnenseminar der Hildegardisschule in Koblenz, an dem sie 1885 die Prüfung für Mittlere und Höhere Schulen ablegte. Im selben Jahr wurde sie Mitglied des in Koblenz gegründeten Vereins katholischer Lehrerinnen für Hessen-Nassau, Preußen und Rheinland, der 1894 in Verein katholischer deutscher Lehrerinnen (VkdL) unbenannt wurde. 1894 gründete bzw. organisierte Albertine Badenberg in Frankreich und England Stellenvermittlungsstellen für katholische Lehrerinnen– sowohl Französisch als auch Englisch wird sie nach ihren Auslandsaufenthalten perfekt gesprochen haben. Dem Verein ging es – so eine Broschüre anlässlich des 100-jährigen Bestehens1 – um die „religiöse Vertiefung der persönlichen Lebenshaltung seiner Mitglieder“. Fräulein Badenberg – als Lehrerin unterlag sie dem sogenannten Lehrerinnenzölibat, d. h. dass ihr mit einer Verheiratung umgehend gekündigt worden wäre, eine Bestimmung, die in der Weimarer Republik für einige Jahre aufgehoben und dann bis 1951 Bestand hatte – spielte in dem Verband eine große Rolle. Dies kann man der Jubiläumsschrift entnehmen, wo ihr unmittelbar nach der Gründerin und langjährigen Vereinsvorsitzenden Pauline Herber (1852 – 1921) gleich eine ganze Seite gewidmet wurde.2

1886, mit knapp 21 Jahren, trat sie ihre erste Stelle als Lehrerin an der Laurentiusschule in Steele an und 1887 übernahm sie die Leitung der Deutschen Schule in Genua. Am 1. März 1888 starb jedoch ihr Vater, woraufhin sie nach Steele zurückkehrte und die Rolle des Familienoberhaupts übernahm. Rückblickend schrieb sie: „Ich musste also der Mutter zur Seite stehen und bin heute froh, sagen zu können, dass ich es geschafft habe, für die Ausbildung meiner Geschwister zu sorgen. …“3 Eine beachtliche Leistung, da die Brüder Ingenieure und die Schwestern Lehrerinnen wurden. Bis auf ihre Schwester Olga, die sich als Fotografin ausbilden ließ und mit ihrem Mann, dem bekannten Fotografen Waldemar Titzenthaler, später in Berlin lebte.4

Albertine Badenberg blieb zeitlebens dem Verein katholischer deutscher Lehrerinnen eng verbunden, der sich u. a. für eine qualifizierte Lehrerinnenausbildung und für die rechtliche und finanzielle Besserstellung der Lehrerinnen engagierte. 1907 trat der Verein für die Hochschulreife für junge Frauen ein – was in Preußen bis 1908 nicht möglich war –, ein Jahr später für eine bessere Besoldung der Lehrerinnen in Höhe von 75 bis 80 % der Männer sowie für Fortbildungsschulen für ungelernte Arbeiterinnen.5 Seit 1898 zählte Badenberg zu den Vorstandsmitgliedern des Vereins. Im Laufe der Jahrzehnte war sie u. a. an der Einrichtung einer Rechtsberatung, von Pensionszuschuss-, Studien- und Wohnungseinrichtungskassen sowie der Neueinrichtung der vereinseigenen Heime nach 1945 beteiligt.6

Frauenbewegung und Katholischer Deutscher Frauenbund (KDFB)

Früh habe sie sich mit der Frauenbewegung beschäftigt, so Badenberg in ihren in den 1950er Jahren verfassten Erinnerungen: „Es war die Zeit, in der sich der Bund Deutscher Frauenvereine mächtig entwickelte und besonders unter Helene Lange und Gertrud Bäumer auch in den Kreisen katholischer Frauen lebhaft kommentiert wurde.“ Um „die Organisierung der katholischen Frauen durchzuführen“ und zugleich den liberalen Ideen entgegenzutreten, die in der von Helene Lange herausgegebenen Zeitschrift „Die Frau – Monatsschrift für das gesamte Frauenleben“ vertreten wurden, habe sie mit anderen die ab 1902 erscheinende Zeitschrift „Die christliche Frau“ konzipiert.7 1896 hatte Helene Lange (1848-1930) vom Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein konstatiert: „Erst durch das Frauenstimmrecht wird das allgemeine Stimmrecht zu etwas mehr als einer blossen Redensart.“ Dies war eines der ersten Plädoyers für das Frauenwahlrecht in Deutschland8 und diese liberale und egalitäre Idee mochte Badenberg nicht teilen.

Geteilt haben wird sie die Überzeugung der in Hacheney (heute Dortmund) geborenen Hedwig Dransfeld (1871-1925), die ab 1905 verantwortliche Redakteurin der Zeitschrift: „Denn die Frau von heute weiß, daß sie als einzelne dem Volksganzen gegenüber für gewöhnlich ohne Macht und Einfluß ist; sie muß sich ihre Organisationen selber schaffen und durch sie Macht und Einfluß gewinnen. Das ist im wesentlichen auch erreicht worden.“9

Und so zählte Badenberg als Vertreterin des VdkL 1903 zu den Gründerinnen des Katholischen Deutschen Frauenbundes (KDFB), dessen vorrangigstes Ziel zu Beginn die Frauenbildung war.

Diese Initiierung einer eigenständigen katholischen Frauenbewegung in Deutschland wurde in der katholischen Männerwelt weitgehend abgelehnt. Für Frauen – so argumentierte der Theologe und Zentrumspolitiker Carl Joseph Mausbach (1861-1931) – sei „das Hinaustreten aus dem Hause in die Sitzungssäle und Wahlversammlungen ein sehr zweifelhafter Tausch.“ Die „sozialen Wünsche und Bestrebungen“ der Frauen seien in der Hand der Männer doch gut aufgehoben“.10 Der Katholische Frauenbund Deutschlands konnte daher wegen eines Einspruchs aus Rom erst ein Jahr später seine Arbeit aufnehmen, um dann drei Studienkommissionen für wissenschaftliche, soziale und karitative Belange einzurichten.11 Albertine Badenberg war zwischen 1910 und 1936 Hauptkassiererin des Katholischen Frauenbundes und hat – wie Jahre zuvor bei der Ausbildung ihrer Geschwister – finanziell sehr geschickt agiert und taktiert und über die Organisation von Lotterien u.a. den Bau eines Bildungsheims, einer Sozialen Frauenschule in Aachen und des Frauenbundhauses in Essen-West ermöglicht.12

1908 war das Jahr, in dem eine wichtige Forderung der bürgerlichen Frauenbewegung und damit auch von Albertine Badenberg erfüllt wurde: Mit der Mädchenschulreform konnten nun auch Mädchen in Preußen Abitur machen und wurden an Universitäten zugelassen. 1908 war zudem das Jahr, in dem Fräulein Badenberg in den Vorstand des Frauenbunds gewählt wurde, für den sie am 3. März 1909 in Steele einen Zweigverein gründete, dem umgehend 180 Frauen beitraten.13 Bis Mitte 1917 sollte es im gesamten Deutschen Kaiserreich 348 solcher Zweigvereine geben, nachdem im „September 1916 …überall eine lebhafte Propagandatätigkeit“ eingesetzt hatte.14

Wahlrechtsbewegung

Badenberg agierte für den Verein vor allem in schriftlicher Form und verfasste „Eingaben, Flugblätter … Broschüren“, die Themen wie Vereinsgesetzgebung, Versicherungswesen oder Alkohol behandelten. 1910 brachte sie einen Taschenkalender heraus, in dem sie über „den Stand der damaligen Frauenbewegung sowohl auf nichtkatholischer als auch auf katholischer Seite“ informierte. Da die katholischen Frauen „um die Zeit von 1911/12 … durch das Vorgehen der Stimmrechtsverbände wach geworden“ waren, diskutierten sie „ihrerseits ihre Haltung zu diesen Bestrebungen“. Viele hätten sich damals für das Frauenwahlrecht ausgesprochen, wobei sie ihre eigene Position in ihren Aufzeichnungen nicht konkret benennt.15

Eventuell teilte sie die Überzeugung vieler evangelischer Frauen, die im Deutschen Evangelischen Frauenbund organisiert waren und ein Frauenstimmrecht bei kirchlichen und kommunalen Gemeindewahlen forderten, jedoch die staatspolitische Gleichberechtigung im „Interesse des Vaterlandes“ ablehnten. Für diese Frauen war das politische Frauenstimmrecht angesichts der „innenpolitischen Verhältnisse und der noch vielfach mangelnden Reife der Frauen in absehbarer Zeit kein Segen für unser deutsches Volk“. Im Gegenteil: Sie sahen darin „eine im höchsten Grade bedenkliche Stärkung der staatsfeindlichen Parteien“.16

Das von Badenberg genannte Themenfeld „Vereinsgesetzgebung“ lässt vermuten, dass sie sich für den VdkL gegen das seit 1850 geltende Verbot der Mitgliedschaft von „Frauenspersonen“ – so das Gesetz – in politischen Vereinen aussprach. Wobei viele bürgerlichen Frauen nach Einschätzung der Historikerin Barbara von Hindenburg skeptisch waren, in den ausschließlich von männlichen Honoratioren besetzten Parteien mitzuwirken, die sich vor allem um den kommunalen Immobilienmarkt, die Infrastruktur und dergleichen kümmerten. Ihre eigenen Handlungsfelder, die im sozialen und karitativen Bereich lagen, konnten die engagierten Frauen besser außerhalb der Parteien verfolgen, sowie sie es bereits seit Jahrzehnten taten.17

Vermutet werden kann anhand ihrer Notizen, dass Badenberg vor 1918 das Frauenwahlrecht weder ablehnte noch befürwortete, stattdessen abwartete. Als ihr und allen Frauen ab 20 Jahren am 12. November 1918 vom sechsköpfigen Rat der Volksbeauftragten allerdings das Wahlrecht zugestanden wurde, stürzte sie sich – die seit 1917 das Generalsekretariat des Katholischen Frauenbundes in Köln leitete – beherzt in das politische Geschehen und mischte kräftig im Wahlkampf mit.

Engagement

Mit dem militärischen und politischen Zusammenbruch des Kaiserreichs sowie dem Ausbruch der Revolution standen alle Parteien vor der Aufgabe, sehr schnell einen Wahlkampf zu organisieren, denn von der Ausrufung des allgemeinen Wahlrecht für Männer und Frauen am 12. November 1918 bis zur ersten Wahl am 19. Januar 1919, es war die zur Nationalversammlung, lagen nur etwas mehr als acht Wochen. Kurz darauf, am 26. Januar 1919 folgten die Wahlen zur verfassungsgebenden preußischen Landesversammlung und Anfang März erfolgte dann die dritte Wahl, die Wahlen für die Stadtverordnetenversammlungen. Es galt, 17,7 Millionen wahlberechtigte Frauen, die Mehrheit der Wählerschaft, für sich zu gewinnen.

Hedwig Dransfeld warnte Ende 1918 vor der drohenden Alleinregierung der Sozialdemokratie. Hoch pathetisch sprach sie von „der größten Not des Vaterlandes“ und von „der Schicksalswende unseres deutschen Volkes“. Die Frauen seien „zur entscheidenden vaterländischen Tat“ aufgerufen und das Frauenstimmrecht hätte „den Charakter einer tiefernsten Pflicht erhalten.“ Man brauche daher neben „willensfeste[n] Wählerinnen“ diejenigen, „die auch in der politischen Betätigung ein hehres Ziel vor Augen haben“. Das Zentrum mit seinem Leitsatz „Freie Entfaltung der Mitarbeit der Frauen bei dem Wiederaufbau und der Pflege des deutschen Volkslebens unter voller Auswertung der weiblichen Eigenart“ sei die zu wählende Partei, wobei die Frauen „als vollberechtigte Staatsbürgerinnen“ nun „so gut wie die Männer die Verantwortung für die gesamte äußere und innere Ordnung unseres Vaterlandes [zu ]tragen“ hätten.18

Schaut man in die Quellen, so ist selbst 100 Jahre später noch die Aufgeregtheit der damaligen Zeit zu erspüren. In die ohnehin aufgeheizte Stimmung – hinter den Menschen lagen Kaiserreich, vier Jahre Krieg, große Entbehrungen (auch im Ruhrgebiet hatte es ab 1916 Hungertote gegeben), rückkehrende, zum Teil stark traumatisierte Soldaten, Frauen, die von jetzt auf gleich ihre Arbeitsplätze für die Männer räumen mussten und eine völlig ungewisse politische Zukunft – wirkte der Erlass von Johann Franz Adolph Hoffmann (USPD), der Ende 1918, Anfang 1919 preußischer Bildungsminister war, die kirchliche Schulaufsicht in Preußen abzuschaffen, höchst explosiv. Damit brachte er sowohl die Katholiken als auch die Protestanten gegen sich auf. Das Zentrum fand hierüber eine zündende Wahlkampfparole und die Deutschnationale Volkspartei wusste damit ihre protestantische Wählerschaft zu motivieren. So menetekelte das Westfälisches Volksblatt kurz vor der Reichstagswahl am 17. Januar 1919:

Wähler der Nationalversammlung
folgt ihr der Sozialdemokratie
dann droht der Kulturkampf!
dann entrechtet man die Kirche!
dann schließt man die Klöster!
dann hält Einzug die Simultanschule!
dann herrscht der Geist Adolf Hoffmanns!19

Auch Albertine Badenberg erinnerte sich an diesbezügliche Diskussionen innerhalb des katholischen Milieus. Selbst katholische Politiker hätten „die katholischen Schulen aufgeben wollten“, und nur die Androhung des Frauenbundes, eine eigene Frauenpartei zu gründen, habe dies abwenden können.20 „Durch die Schulung, die unsere Frauen im Laufe der Zeit erfahren hatten, wurde in unseren Reihen schnell begriffen, daß es im Wesentlichen von den Frauen abhängen würde, ob die neue Reichsverfassung christlich oder unchristlich sein würde. Im Westen organisierten wir eine Reihe geeigneter Persönlichkeiten, u. a. Studentinnen, die in zahlreichen Vorträgen die Frauen von der Notwendigkeit überzeugten, daß Wahlrecht auch Wahlpflicht sei. Ich glaube, man darf sagen, daß der Ausfall dieser Wahl im positiven Sinne ein Verdienst der Frauen gewesen ist. Männer wollten damals mutlos werden.“21

Das Wahlengagement von Albertine Badenberg und vieler bürgerlicher Frauen entsprang 1919 weniger dem Wunsch, Gleichheit in politischer und sozialer Hinsicht zu erlangen, wie es die SPD gefordert hatte, sondern dem Verlangen nach Aufrechterhaltung des klerikalen Einflusses. Und damit waren sie höchst erfolgreich, denn nicht nur in Steele errang das Zentrum mit 3.412 Stimmen und 18 Mandaten einen klaren Wahlsieg.22 Unter den Abgeordneten waren zwei Frauen: Fräulein Josefine Hülsebusch und Frau Katharina Schröder, beide vom Zentrum. In der Stadt Essen waren von 102 Stadtverordneten acht Frauen von fünf Parteien, drei für das Zentrum.23

Einstieg in Parteipolitik und Landtag

Und Fräulein Albertine Badenberg? „Nach dem Zusammenbruch im Jahre 1918, als den Frauen die politische Laufbahn eröffnet wurde, habe ich mich intensiv in diese Arbeit hineingestellt. Ich gehörte nicht nur dem Verband der Zentrumspartei für den Kreis Essen, sondern auch dem Vorstand für die Rheinprovinz und weiter noch dem Gesamtvorstand der Zentrumspartei für Preußen an. 1924 wurde ich als Abgeordnete in den Preußischen Landtag gewählt, wo ich 8 Jahre bis 1932 als Abgeordnete verblieb. … Hauptsächlich interessierten mich dort Fragen der Schule, Fragen der Gleichberechtigung, der Gehälter der Männer und Frauen, wobei ich aber immer stets den Grundsatz vertreten habe, das gleiches Gehalt nicht schematisch verstanden werden dürfte.“ Badenberg hatte sich bereits 1919 zur Wahl stellen lassen, doch war sie auf Listenplatz 6 nicht gewählt worden.24

Albertine Badenberg, die 1955 für ihr ehrenamtliches Engagement den Bundesverdienstorden erhielt, die höchste Anerkennung, die die Bundesrepublik für Verdienste um das Gemeinwohl ausspricht, war vermutlich keine aktive Befürworterin des Frauenwahlrechts vor 1918, engagierte sich aber sofort im politischen Raum, als Frauen dies ab 1919 möglich war. 1912 hatte sie in einem sehr nüchternen Text über „Das neue Versicherungsgesetz für Angestellte“ gefordert, dass Frauen bei der Wahl der Vertrauensleute „entschlossen und geschlossen vorgehen“ sollten. Stünden sie hier abseits, würden sie vornherein eine wichtige Position preisgeben und auf Jahre hinaus auf allen Einfluss verzichten.25

Eins ist gewiss: auf gesellschaftspolitischen Einfluss hat Albertine Badenberg zeit ihres langen Lebens nicht verzichtet.

Susanne Abeck frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Albertine-Badenberg-Weg, 45276 Essen

Literatur:

Elisabeth Prégardier: Engagiert. Drei Frauen aus dem Ruhrgebiet. Albertine Badenberg. Helene Weber. Antonie Hopmann, Annweiler 2003

Zitation: Abeck, Susanne, Albertine Badenberg (1865 – 1955), Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/albertine-badenberg-1865-1955/

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Elisabeth Zillken

Elisabeth Zillken wurde am 8. Juli 1888 in Wallerfangen an der Saar als das älteste von fünf Kindern von Anna und Engelbert Zillken geboren. Nach dem Abschluss der höheren Schule in Saarlouis begann sie eine Ausbildung an einer privaten höheren Handelsschule in Köln. Das Studium an der Kölner Handelshochschule schloss Zillken 1910 mit dem Diplom ab. Danach unterrichtete sie bis 1916 an den kaufmännischen Unterrichtsanstalten in Köln, Hannover und Düsseldorf.

Katholischer Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder

Elisabeth Zillken wurde wegen ihres sozialen Engagements Angnes Neuhaus empfohlen, der Gründerin und Vorsitzenden des Katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder (KFV) aus Dortmund.  Am 1. Oktober 1916 übernahm Zillken die Stelle der Generalsekretärin des KFV. Mit seinen sog. Rettungshäusern und Mutter-Kind-Heimen bot der Fürsorgeverein u.a. jungen alleinstehenden Müttern, insbesondere aus dem Arbeitermilieu, Unterkunft nach der Entbindung, Hilfen bei der Suche nach Arbeit sowie Pflegestellen für ihre Kinder an.

Von Agnes Neuhaus übernahm Zillken die Schulung der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und deren Einweisung in die jeweiligen Arbeitsgebiete. Mit der Errichtung einer eigenen Fürsorgerinnenschule in Dortmund Ende 1916 leisteten Zillken und der KFV einen wichtigen Beitrag zur Professionalisierung der Sozialarbeit bei. Aus diesen Anfängen entwickelte sich eine soziale Frauenschule, die 1927 die staatliche Anerkennung bekam. Im folgenden Jahr wurde die Leitung der Schule Dr. Anna Zillken, der jüngsten Schwester Elisabeths, übertragen.

Während des Ersten Weltkriegs galt das Engagement des Fürsorgevereins neben der Jugend- und Gefährdetenfürsorge auch der Kriegswohlfahrt. In den Anstalten des Vereins wurden Schneiderarbeiten für das Heer durchgeführt; gegen Kriegsende kam die gezielte Betreuung von ausländischen Gefangenen hinzu. Nach dem Krieg konzentrierte sich der KFV in Zusammenarbeit mit anderen karitativen Institutionen wie dem Deutschen Caritasverband auf die Linderung der sozialen Not unter der Bevölkerung.

Stadtrat und Reichstag bis 1933

Im Jahr 1919 wurde sie von der Zentrumspartei als Kandidatin für den Dortmunder Stadtrat aufgestellt und gehörte ihm fortan – mit Ausnahme der Jahre 1933 bis 1945 – als Stadtverordnete an. Als Agnes Neuhaus 1930 im Alter von 70 Jahren auf eine erneute Kandidatur verzichtete, kam Zillken als Vertreterin des Zentrums in den Deutschen Reichstag.

Über ihre Arbeit und die des Fürsorgevereins in der NS-Zeit schrieb Zillken: „Die Geheime Staatspolizei überwachte uns; sie verbot den Jugendämtern, uns zur Arbeit heranzuziehen, sie verbot uns die Adoptionsvermittlung und die Arbeit in den Gefängnissen.(…) Die Arbeit in den Gefängnissen haben wir trotzdem weitergeführt, weil sie von nationalsozialistischer Seite niemand tat. (…) Wir mußten uns manche Hausdurchsuchung und Aktenbeschlagnahme gefallen lassen. Ich mußte mich jeden Monat bei der Geheimen Staatspolizei in Dortmund-Hörde melden. Auch die Schule hatte erhebliche Schwierigkeiten. 1944 wurde Haftbefehl gegen mich erlassen, der aber wegen merkwürdiger Verkettungen nicht durchgeführt werden konnte.“ (Mein Leben -meine Arbeit, in: Elisabeth Zillken 1888-1980, hg. v. SkF, Zentrale Dortmund, [Dortmund 1981, S. 5-13.]

Der überparteiliche Frauenausschuss in Dortmund

Im Jahr 1944, nach dem Tod von Agnes Neuhaus, übernahm Zillken zusätzlich zu ihrem Amt als Generalsekretärin (bis 1958) den Vorsitz des Fürsorgevereins. Nach dem Kriegsende wurde sie von der englischen Militärregierung zum Mitglied des provisorischen Dortmunder Stadtparlamentes und des ersten nichtgewählten nordrhein-westfälischen Landtags bestimmt. Als CDU-Mitglied gehörte sie dem Landtag bis 1947 an. Als stellvertretende Vorsitzende der Frauenvereinigung in der CDU arbeitete Elisabeth Zillken in dem überparteilichen Frauenausschuss der Stadt Dortmund, der im September 1946 in einer konzertierten Aktion von ihr, Helene Wessel (Zentrum), Charlotte Temming (KPD), Elli Zey (SPD), der Oberfürsorgerin der Stadt Dortmund, Margarethe Hinsberg, Margarethe Faehre (CDU), Hertha Tüsfeld (KPD) und der Ärztin Dr. Paula Köster ins Leben gerufen wurde. In fünf Arbeitskreisen erarbeitete der Ausschuss, dem 20 bis 30 Frauen angehörten, praktische Vorschläge zur Bekämpfung der Not in der Nachkriegszeit, so zur Erfassung und Verteilung von Lebensmitteln, Organisation der Kohlenzuteilung, Instandsetzung von Schulen, Errichtung von Heimen für Flüchtlinge oder Einrichtung von Kindergärten, Waschküchen und Volksküchen.

Profilierte Sozialpolitikerin der CDU

Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre war Zillken u.a. an der Vorbereitung bzw. Novellierung diverser Gesetze beteiligt wie z.B. des Jugendwohlfahrtsgesetzes, des Gesetzes zur Vereinheitlichung und Änderung familienrechtlicher Vorschriften oder des Bundessozialhilfegesetzes.

Mit Ausnahme einer kurzen Unterbrechung in den Jahren 1950 bis 1953, in denen Johanna Schwering Vorsitzende des Gesamtvereins war, stand Elisabeth Zillken bis zu ihrem 83. Lebensjahr (1971) an der Spitze des Katholischen Fürsorgevereins, der sich 1968 den Namen Sozialdienst Katholischer Frauen (SkF) gab. Zudem war sie Vizepräsidentin des Deutschen Caritasverbands und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken sowie Vorstandsmitglied des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge. Sie starb am 28. November 1980 in Dortmund.

Dr. Ursula Olschewski / Dortmund

Orte:

Dortmund

Literatur:

Ursula Olschewski, Elisabeth Zillken - Leben und Wirken der Präsidentin des katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder, in: Lebensläufe im Sozialkatholizismus des Ruhrgebiets (Berichte und Beiträge 42), Essen 2003, S. 104-115.   Andreas Wollasch, Der Katholische Fürsorgeverein Mädchen, Frauen Kinder (1899-1945), Freiburg i.Br. 1991.  Sozialdienst Katholischer Frauen, Dortmund (Hg.), Elisabeth Zillken zum Gedächtnis, Dortmund 1980.

Zitation: Olschewski, Ursula, Elisabeth Zillken, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/elisabeth-zillken-1888-1980/

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Ida Noddack-Tacke

Ida Noddack-Tacke wurde am 25. Februar 1896 als Tochter des Lackfabrikanten Tacke geboren. Sie besuchte die „Höhere-Töchterschule“ in Wesel. Als sie erfuhr, dass seit 1908 auch Frauen zum Studium zugelassen wurden, beschloss sie, das Abitur abzulegen. Ihr Vater unterstützte ihre Ambitionen bereitwillig und finanziell großzügig, wenn auch mit dem Hintergedanken, Ida könne einmal die väterliche Fabrik übernehmen. Das Wesel nächstgelegene Mädchengymnasium war die St. Ursula-Schule in Aachen, das allerdings noch keine Prüfungsberechtigung hatte. Ida legte also ihre Abitur-Prüfung extern ab und ging anschließend nach Berlin an die Technische Hochschule. Als eine der ersten Frauen in Deutschland studierte sie von 1915-1921 Chemie. Sie war sich ihrer besonderen Rolle als studierende junge Frau bewusst und fand Kontakte zum „Verein studierender Frauen“. 1919 legte sie ihre Diplom-Prüfung ab. In diesem Jahr erhielt sie für eine weitere wissenschaftliche Arbeit den 1. Preis der Abteilung für Hüttenkunde der Technischen Hochschule Charlottenburg.

1921 promovierte Ida Tacke zum Dr. Ing mit einer Arbeit über Die Anhydride höherer aliphatischer Fettsäuren. Danach arbeitete sie rund zwei Jahre in der Wirtschaft. Als sich die Gelegenheit zur Rückkehr in die Forschung bot, gab sie ihre Stelle auf und widmete sich zusammen mit dem Chemiker Walter Noddack der Suche nach den noch unbekannten Elementen mit den Nummern 43 und 75 im Periodensystem. Die Forschungstätigkeit war mit harter körperlicher Arbeit und vielen Reisen ins Ausland verbunden, da das gesuchte Element nur im Gestein der Erdkruste vorkommt.

Drei Jahre später war dem Forscherpaar die Entdeckung der gesuchten Elemente, die sie Rhenium und Masurium nannten, durch die Analyse ihres Röntgenspektrums gelungen.
1926 heirateten Ida Tacke und Walter Noddack. 1926 hielt Ida auch ihren ersten wissenschaftlichen Vortrag vor 900 Chemikern. Der Vortrag kam einer Sensation gleich. Eine zeitgenössische Stimme dazu: „Heute hat bei uns zum erstenmal ein Mädchen geredet – und sie hat es sogar gut gemacht.“

Viel Staub wirbelte Ida Noddack-Tacke 1934 mit ihrer These auf, Urankerne könnten bei Neutronenbeschuss in größere Bruchstücke zerfallen. Lise Meitner, Otto Hahn und Fritz Strassmann gelang vier Jahre später die Kernspaltung! Ida Noddack-Tackes frühe Erkenntnis würdigte Otto Hahn – jedoch erst 1966 – mit dem Ausspruch: „Und die Ida hatte doch Recht“.

Das Ehepaar Noddack beschäftigte sich mit dem ubiquitären Vorkommen der Elemente. So gelang es ihnen, Spuren seltener Elemente in Meerestieren und in Meteoritengestein nachzuweisen. Mit dem Postulat von der Allgegenwart der Elemente schufen sie die Grundlagen für die Chemie der Spurenelemente und die Kosmochemie. Rund 50 Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften zeugen von Ida Noddack-Tackes wissenschaftlicher Produktivität. Zusammen mit ihrem Mann erhielt sie als erste und bislang einzige Frau die Liebig-Gedenkmünze des Vereins Deutscher Chemiker und die Scheele-Medaille der Schwedischen Chemischen Gesellschaft.

Das Ehepaar Noddack wurde zwischen 1932 und 1937 zehnmal für den Nobelpreis vorgeschlagen, verliehen wurde er ihnen nicht, wohl auch, weil man in Schweden keine Forscher aus dem nationalsozialistischen Deutschenland ehren wollte. Ida Noddack starb am 24. September 1978 in Bad Neuenahr.

Bärbel Reining-Bender/ Wesel

Orte:

Ida-Noddack-Straße 44, 46485 Wesel

Literatur:

Noddack, Ida, Über das Element 93, in: Angewandte Chemie, 47. Jg. (1934), S. 653–655.
Schubert, Fritz, Die "deutsche Marie Curie";  Serie in der Rheinischen Post (RP), Berühmte Niederrheiner, 36. Jg., Düsseldorf, 15. August 2009, S. B 6 (mit 3 s/w Fotos).

Zitation: Reining-Bender, Bärbel, Ida Noddack-Tacke, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/ida-noddack-tacke/

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Olga Eckstein

Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten wurde 2008/ 2009 zum Thema „Helden. Verehrt, verkannt, vergessen“ ausgelobt. Unter den 6.600 Schülerinnen und Schülern, die 1.831 Beiträge einreichten, befand sich auch Sarah Matern von der Christoph-Stöver-Realschule in Oer-Erkenschwick. Sie gewann einen Förderpreis mit ihrer Arbeit über die Kunst- und Turmspringerin Olga Eckstein.

Mit ihrer historischen Spurensuche hat Sarah Matern eine nahezu vergessene Person des öffentlichen Lebens in die lokale Traditionsbildung und Erinnerungskultur zurückgeholt: Ihre Arbeit regte als ein weiteres Ergebnis eine Ausstellung an, mit der sich Oer-Erkenschwick im Jahr der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 präsentiert und ihr Profil als Sportstadt weiter schärfen kann. Dabei hatte es Sarah Matern schwer, überhaupt eine Person aus der relativ jungen Geschichte der eigenständigen Stadt Oer-Erkenschwick zu finden, die sich zur Bearbeitung als „Heldin“ anbot: Weder ihrem direkten familiären Umfeld, noch dem obersten städtischen Vertreter fielen auf Anhieb Namen ein. Nur der Hartnäckigkeit von Sarah Matern und der ernsthaften Förderung ihres Erkenntnisinteresses durch Schule, Stadtarchiv und Lokal-Presse ist es zu verdanken, dass die Sportlerin Olga Eckstein wieder in das öffentliche Bewusstsein dringen konnte.

Olga Eckstein wurde in eine saarländische Familie hinein geboren, die dem Ruhrbergbau in die Region folgte. Entdeckt wurde Olga Eckstein 1935 im Alter von 15 Jahren bei einer Schul-Schwimmstunde im Oer-Erkenschwicker Hallenbad. Als die Klasse die Aufgabe bekam, vom 3-Meter-Brett zu springen, glitt sie so geschickt ins Wasser, dass der Leiter des Hallenbades und Schwimmtrainer Walter Bach auf sie aufmerksam wurde. Dieser Anfang einer Erfolgs-Geschichte verweist erstens darauf, dass sich die Kommune ein Hallenbad leistete, was in den schnell gewachsenen Städten der Bergbauregion nicht als selbstverständlich galt; zweitens verweist er darauf, dass dieses Hallenbad mit einem 3-Meter-Sprungturm ausgestattet war, auch dies war nicht selbstverständlich; und er setzte voraus, dass Schwimmen zum Schulsport gehörte.

Von nun an ging Olga Eckstein regelmäßig in den Sportverein SV Neptun, um unter Walter Bach zu trainieren. Bereits ein Jahr später wurde sie zu Vorbereitungslehrgängen des Deutschen Schwimm-Verbandes eingeladen. Zu den Trainingsstunden kamen immer wieder Neugierige, die die Sportlerin bei ihren faszinierenden Sprüngen beobachteten. Auf einer Internetseite der Stadt Oer-Erkenschwick erinnerte sich ein Zuschauer: „Sie war eine schöne Frau: Eine durchtrainierte frauliche Figur, das Gesicht wirkte von der Seite klassisch römisch, ihre dunkeln Augen zum schwarzen Haar ließen uns von ihr schwärmen.“

1937 erreichte Olga Eckstein den dritten Platz bei den Deutschen Meisterschaften im Turmspringen. 1939 in Hamburg, 1940 in Berlin, 1941 in Wien, 1942 in Hirschberg, 1943 in Erfurt und 1947 in Frankfurt holte sie jeweils Gold bei den Deutschen Meisterschaften. In den Jahren 1944, 1945 und 1946 fanden kriegsbedingt keine Wettbewerbe statt. Bei einem Länderwettkampf zwischen England und Deutschland im Jahre 1939 konnte Olga Eckstein die amtierende Europameisterin Slade im Turmspringen schlagen.

Weitere internationale Erfolge, vor allem die Teilnahme an Olympischen Spielen, blieben ihr wegen des Zweiten Weltkrieges verwehrt. 1952 versuchte sie – vergebens – eine Qualifikation für die Olympischen Spiele in Helsinki zu erreichen. Danach gab sie ihre aktive Karriere auf, widmete sich jedoch weiterhin der Vereins- und Jugendarbeit im SV Neptun. Sie brachte in VHS-Kursen älteren Menschen das Schwimmen bei. Die Stadt Oer-Erkenschwick verlieh ihr dafür die Goldene Ehrennadel.

Olga Eckstein war im Betriebsrat der Zeche Ewald Fortsetzung als Sozialberaterin angestellt. 1954 zog sie mit dem Boxer Günter Strangfeld zusammen, den sie bereits 1942 auf dem Bahnhof in Recklinghausen kennen gelernt hatte. Erst 1995 legalisierten sie ihre „wilde Ehe“ durch einen Trauschein. Kurz nach der Heirat erkrankte Olge Eckstein an schwerem, aggressivem Darmkrebs und fünf Jahre hoffte sie, die Krankheit zu überstehen. Am 9. März 2000 starb Olga Strangfeld–Eckstein. Der Schwimmverein Neptun Erkenschwick e.V. formulierte in seinem Nachruf: „Durch ihren Sport wusste sie, wann ein Wettkampf beendet ist.“

Sarah Matern forschte so intensiv über Olga Eckstein, dass sie am Ende das Gefühl hatte, sie noch persönlich gekannt zu haben. In ihrem „Fazit“ greift sie das Wettbewerbsthema noch einmal auf und schreibt: „Ich habe während der Erarbeitung dieses Projektes gelernt, dass ein Held nicht immer viel Geld haben oder weltberühmt sein muss, um ein Held zu sein. Ein Held kann für mich persönlich auch einfach eine Person mit einer starken Persönlichkeit sein, die vieles durchhalten musste und trotzdem nicht aufgegeben hat. Meiner Meinung nach kann jeder von uns für jemanden eine Heldenperson werden. Man muss Individualität beweisen und sich in nichts hineinreden lassen.“

Uta C. Schmidt/ FRAUEN.ruhr.GESCHICHTE.

Orte:

Die Arbeit von Sarah Matern sowie Zeitungsausschnitte und Bilder zu Olga Eckstein sind im Stadtarchiv Oer–Erkenschwick einzusehen.

Literatur:

Matern, Sarah, Helden. Verehrt – Verkannt – Vergessen: Olga Hoffmann–Eckstein, unveröffentlichter Wettbewerbsbeitrag zum Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 2008/2009, [Oer–Erkenschwick], [2008/2009]. 

Zitation: Schmidt, Uta C., Olga Eckstein, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/olga-eckstein/

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Die „Radbod“-Witwen

Es war der 12. November 1908, als sich in den frühen Morgenstunden auf der Zeche Radbod in Hövel bei Hamm in 850 m Tiefe eine schwere Schlagwetter-Explosion ereignete. Trotz schnell eingeleiteter Rettungsmaßnahmen fanden 350 bzw. 351 Bergleute den Tod. Etwa 1.150 Männer verloren durch das Unglück ihren Arbeitsplatz.

Nachdem durch eines der größten deutschen Grubenunglücke viele Frauen und ihre Kinder den Ernährer verloren hatten, begann für diese ein Leidensweg, der Not und Elend mit sich brachte und viele an den Rand ihrer Existenz trieb. Betroffen waren vorrangig Witwen, aber auch Familien, deren Väter durch das Grubenunglück arbeitslos wurden.

Nach dem Stand vom 5. April 1909 hatten 235 Witwen, 626 Halbwaisen, neun Vollwaisen und neun Aszendenten (Eltern, Großeltern, Pflegekinder) einen Angehörigen bei dem Grubenunglück verloren. Die Hinterbliebenen erhielten ab dem 19. November 1908 ein Sterbegeld i.d.R. in Höhe von 80 Mark und eine kleine Hinterbliebenenrente aus der Gewerbe-Unfallversicherung. Sie durften zunächst in den gemieteten Zechenhäusern wohnen bleiben. Viele Witwen mussten nun dazu verdienen.

Eine Welle der Hilfsbereitschaft ging nach dem Unglück durch ganz Europa. Es wurden zahlreiche Hilfsaktionen durchgeführt. Das Kronprinzenpaar initiierte die „Sammlung des Kronprinzenpaares“. Kaiser Wilhelm II. bewilligte 25.000 Mark aus seiner Privatschatulle. Mit der Verteilung der Spenden wurde ein Zentralhilfskomitee beauftragt. Die im Rahmen der sogenannten Radbodspende gesammelten Gelder beliefen sich am 22. Januar 1909 auf 1.574.669 Mark. Hieraus gewährte das Zentralhilfskomitee in Münster Zusatzrenten in Höhe von 150 Mark pro Witwe, 75 Mark für jede Halbwaise und 150 Mark für jede Vollwaise.

Die Meldungen in den Zeitungen erweckten immer wieder Hoffnung auf rasche Unterstützung bei den Hinterbliebenen. Nachdem bis Ende 1908 zwar immer wieder die Verteilung der Spendengelder in den Komitees angesprochen wurde, aber keine konkreten Informationen bekannt wurden, kam es am 8. Januar 1909 zu einer ersten Protestversammlung der „Witwen von Radbod“ in Hamm. Emma Osterwinter übernahm den Vorsitz der Versammlung. „Die Witwen wünschten, endlich einmal zu hören, wie und wann das Geld, das lediglich für sie und ihre Kinder gesammelt wurde, verteilt werden soll.“ Sie forderten die direkte Verteilung der gesammelten Gelder. Die Witwen verfassten eine Resolution, in der es u.a. heißt: „Zirka 200 Frauen und Mütter, deren Ernährer auf Zeche \Radbod\ zu Tode gekommen sind, verwahren sich dagegen, dass das Zentral-Hilfs-Komitee, welches ausschließlich aus … Personen besteht, die von der Lage der Arbeiter und deren Frauen gar keine Ahnung haben, uns zumutet, die von der Oeffentlichkeit für uns gespendeten Gelder nicht verwalten zu können. Es ist eine Rohheit, die seinesgleichen sucht, dass man das, nachdem unsere Ernährer auf dem Schlachtfelde der Industrie zu Hunderten dahingemordet, uns auch noch solche Beleidigungen ins Gesicht zu sagen wagt, wie – ‚wenn ihr das Geld auf einmal bekommt, bringt ihr euch ja um\.“

Weiter wurde von den Witwen ausgeführt: „Die Kleidungsstücke usw., welche man von den gesammelten Geldern gekauft und uns für uns und unsere Kinder gegeben, hätten wir, wenn wir das Geld dafür bekommen, bedeutend vorteilhafter kaufen können. Wir haben auf dem Rathause und im Lutherhause Sachen bekommen, die von den Motten derartig zerfressen waren, dass man sie keine drei Tage anziehen konnte. Man hat sich nicht einmal gescheut uns zu sagen, – \und was wollen Sie denn, Sie sind doch so jung, Sie können doch bald wieder heiraten.\“

Im März 1909 reichten sechs Witwen – Franziska Maly, Franziska Dora und Amalie Krawanja aus Hövel, Theodora Spirat aus Bockum, Franziska Waterkotte und Emma Osterwinter aus Hamm – eine Zivilklage gegen die Mitglieder des Lokalkomitees in Hamm ein. In der Klageschrift wurde beantragt, einen Teil der Spenden anteilig zu verteilen und den Rest für Renten zu verwenden, die so gestaltet sind, dass nach Ablauf der vermutlichen Lebensdauer der Hinterbliebenen das gesammelte Kapital aufgezehrt ist.

Auf Grund dieser Klage forderte das Hammer Lokalkomitee „dass alle Leistungen aus der Spende an die Klägerinnen und diejenigen Witwen, welche sich nicht ausdrücklich mit den vom Zentralkomitee aufgestellten und vom Lokalkomitee angenommenen Verteilungsgrundsätzen einverstanden erklären, bis auf weiteres eingestellt werden.“

Während des Prozesses veranlasste die Zechendirektion am 23. April 1909 folgende Pressemeldung: „Aus der Kolonie Radbod u.a., es sei interessant zu hören, dass sich die ruhiger denkenden, besonneren Witwen der Kolonie durch das agitatorische Vorgehen der Frauen Dora und Karawanja derartig abgestoßen fühlten, dass sie der Direktion mit der Bitte nähergetreten seien, man möge beiden Witwen kündigen, da andernfalls keine Ruhe in die Kolonie wieder einziehen könne. Nach der Ruhe aber sehne man sich endlich. Dieser Protest der besonnenen Witwen lasse erkennen, dass der ganze Prozeß, der die Begriffe Wohltätigkeit und Dankbarkeit jedem menschlichen Empfinden zum Trotz auf den Kopf stelle, von der Mehrheit der Witwen nicht gutgeheißen werde. Die Direktion der Zeche habe dem geäußerten Wunsche entsprochen und den beiden genannten Witwen die Wohnung gekündigt.“ Ob tatsächlich Witwen aus der Kolonie bei der Zechenverwaltung vorgesprochen haben, ist nicht nachzuweisen.

Am 1. Mai 1909 zogen die Initiatorinnen der Klage, die in der Kolonie Radbod wohnten,„in auffälliger Aufputzung von der Kolonie zur Stadt Hamm. Die Witwen trugen schwarze Trauerkleidung und Hüte mit wehendem Flor, dazu auf der linken Brustseite eine kreuzweise verschlungene kleine rote Schleife, während sie um die Taille eine 2 m lange und 20 cm breite Schleife von rotem Tuch geschlungen hatten. In Hamm wurden sie der Polizeiverwaltung zugeführt, wo die Schleifen beschlagnahmt wurden.

Die Klage der „Radbod-Witwen“ auf Auszahlung der eingegangenen Spendengelder wurde am 13. Mai 1909 vor der Zivilkammer des Landgerichts Dortmund abgewiesen. Wegen ihrer Demonstration am 1. Mai 1909 wurden die Witwen vom Amtsgericht Hamm „wegen Verübung groben Unfugs mit je 25 Mark ev. 5 Tagen Haft bestraft.“

Eine der klagenden Witwen war Franziska Dora. Sie wurde 1879 in Ueckendorf geboren und lebte seit dem 5. Oktober 1908 mit ihrem Mann Adolf und ihren sieben Kindern in Hövel. Ihr Mann starb bei dem Grubenunglück. Aufgrund einer Zwangsvollstreckungssache kam es zu einer Räumungsklage, die am 21. Mai 1909 vollstreckt wurde. Dabei wurde sie des Meineides verdächtigt und verhaftet. Ihre Kinder im Alter von vier Monaten bis 14 Jahren kamen in das katholische Waisenhaus Vorsterhausen in Hamm. Ihr ältester Sohn August floh und fand eine Bleibe bei August Ruppel im Hammer Norden, wo auch seine Mutter nach ihrer Haftentlassung einige Zeit lebte. Nach der Quellenlage durfte Franziska Dora ihre sechs jüngeren Kinder nicht mehr bei sich aufnehmen.

Als in den 1920er Jahren die Zusatzrenten aus dem Spendenfonds ausblieben und sich die gesetzliche Hinterbliebenenrente kaum veränderte, wuchs die Not. So bat die Witwe Hedwig Walensiak in Nychy um zusätzliche Unterstützung. Sie schrieb im Oktober 1924: „Mein Ehemann ist verunglückte in der Zeche Radbod und hat mich und ein Kind unter einem Jahre in ein großes Unglück gestürzt, denn unser Brotgeber und Versorger ist tot. Die Knappschafts-Berufsgenossenschaft … hat uns eine monatliche Rente um 27,55 Mark festgesetzt. Gegen diesen Bescheid habe ich Protest erhoben und geltend gemacht, daß ich bei 1,81 Mark täglichem Einkommen doch nicht mit dem Kinde bei den hiesigen teuren Zeiten durchkommen kann, da ich noch 42 Mark Wohnungsmiete zahlen muß.“

Im Dezember 1929 wandten sich einige der Radbod-Witwen in einem gemeinsamen Brief nochmals an die Verwaltung der Radbod-Spende in Münster: „Da wir seid Jahren nichts mehr von dieser Spende gesehen haben sind wir doch begierig zu wissen was mit diesem Gelde gemacht worden ist. Wie Ihnen bekannt sein dürfte ist damals von einigen Radbod-Witwen ein Versuch gemacht worden das ganze Geld ausbezahlt zu bekommen es ist Ihnen gesagt worden wir sollten auf unsere alte Tage was haben was haben wir jetzt Hunger und Elend aus allen Winkeln deshalb wäre es sehr angebracht wenn uns die Herren mit ein anständiges Weihnachtsgabe beschenken wollen. Das Geld ist und kann nicht alle sein es sind uns doch nur immer die Zinsen ausbezahlt worden. Und verfallen ist es auch nicht das lass ich mir nicht mehr vormachen da ist auf alle Fälle mit gearbeitet worden und wir müssen jetzt hungern und darben dafür. Das Geld war doch für Witwen und Waisen gespendet da hatte nimand ein Recht ohne unser Wissen und Willen mit dem Gelde zu arbeiten oder es verfallen zu lassen, deshalb müssen wir darauf dringen das wir von dem Gelde mal endlich was in die Finger bekommen wir haben die Jahre grade genug Elend gehabt.“

Der Vorstand der Radbod-Spende aber stellte alle Zahlungen ein, ohne die Empfänger aktiv zu informieren. Er reagierte nur noch auf Anfragen und Anträge. Als Begründung wurde angegeben, dass infolge der Inflation kein Geld mehr in der Stiftung „Radbodspende“ vorhanden sei. Nach einer Aufwertung von Vermögenspapieren war es möglich, kleinere Restsummen an die Hinterbliebenen auszuzahlen. Im Dezember 1932 erhielten sie aus der „Radbodspende“ den Betrag von 31,72 RM als Schlusszahlung.

Ute Knopp/ Stadtarchiv Hamm

Orte:

Ehrenfriedhof Bockum-Hövel, Ermelinghofstraße/ Fritz-von-Twickel-Weg, 59075 Hamm

Zitation: Knopp, Ute, Die "Radbod"-Witwen, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/die-radbod-witwen/

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Gerta Overbeck

Gerta Overbeck wurde 1898 in eine großbürgerliche Dortmunder Familie hineingeboren, die eine künstlerische Atmosphäre pflegte und die musischen Neigungen ihrer Kinder förderte. Ihre Mutter Hedwig war die Tochter des Oberbürgermeisters Schmieding, ihr Vater Julius entstammte einer im Brauwesen erfolgreichen Familie. Um 1900 zog die Familie nach Selm-Cappenberg, wo bereits der Großvater ein Haus als ländliches Refugium hatte erbauen lassen. Gerta Overbeck verbrachte dort den Großteil ihrer Kindheit und Jugend.

Nach dem Abitur studierte sie von 1915 bis 1918 am Zeichenlehrerseminar der Kunstgewerbeschule Düsseldorf und schloss die Ausbildung mit dem Examen ab. Elementares Zeichnen war seit 1872 in Preußen obligatorisches Unterrichtsfach und der Bedarf an guten Zeichenlehrern wuchs. Die Ausbildung bot auch Frauen eine berufliche Perspektive. Nach dem Examen absolvierte Gerta Overbeck zunächst ein Probejahr als Zeichenlehrerin am Goethe-Lyzeum in Dortmund. Im Herbst 1919 schrieb sie sich jedoch an der Kunstgewerbeschule in Hannover ein, um sich künstlerisch weiterzuentwickeln. Dafür erhielt sie insbesondere in der Grafikklasse von Fritz Burger-Mühlfeld (1882–1969) entscheidende Impulse.

Fritz Burger-Mühlfeld lehrte die Gestaltungsprinzipien abstrakter Komposition im Zusammenspiel mit figürlicher Bildgestaltung. Ihm ging es weniger um die Nachahmung der Wirklichkeit als vielmehr um Konstruktionen von Wirklichkeit. „Ich selbst hatte mein Zeichenlehrerexamen in Düsseldorf gemacht und sehnte mich nach künstlerischer Ausbildung. Burger-Mühlfeld war ein äußerst anregender Künstler und Lehrer. Bei ihm konnte ich die Köpfe und Töpfe, die Schmetterlinge, Eichenblätter und Zigarrenkisten, überhaupt die ganze Perspektive vergessen, die man mir in Düsseldorf auf dem Seminar beigebracht hatte“, erinnerte sich Gerta Overbeck später. Gemeinsam mit Studienkollegen und -kolleginnen suchte sie Bildthemen und Sujets im Alltag, bei den kleinen Leuten und ihren Nöten. Im Mittelpunkt ihres malerischen Interesses standen der Mensch und die Komposition. Gestalterisch verband sie in ihren frühen Arbeiten expressionistische, konstruktivistische wie auch kubistische Stilelemente.

Mit voranschreitender Inflation musste Gerta Overbeck aus materieller Not das Studium 1922 aufgeben. Sie ging zurück nach Dortmund und unterrichtete bis 1931 als Kunsterzieherin an verschiedenen Lyceen. Ihre engen, freundschaftlichen Bindungen in Hannover, insbesondere zu den Künstlern Grethe Jürgens (1899–1981) und Ernst Thoms (1896–1983), blieben jedoch bestehen: „In Dortmund wohnte ich, in Hannover war ich beheimatet.“ In ihrer unterrichtsfreien Zeit zeichnete und malte sie intensiv weiter. Zu den Milieustudien und Genreszenen kamen Baustellen- und Industrieansichten mit Zechen, Halden, Hochöfen und Stahlwerken. In Bildern wie „Stahlwerk“ (1925), „Industrielandschaft“ (1927) oder „Dortmunder Norden“ (um 1932/33) verbildlichte Gerta Overbeck die industrielle Arbeitswelt des Ruhrgebiets eindrücklich. In Werken wie „Im Café“ (1923), „Jazzkapelle“ (1925), „Sechtagerennen“ (1926) oder „Im Kino“ (1927) gab sie vielschichtige Einblicke in die gesellschaftlichen Entwicklungen der Weimarer Republik. Die Gouache „Im Cafe“ beispielsweise zeigt eine Frau ohne Begleitung in einem Kaffeehaus, heute ein Topos der selbstbewussten und unabhängigen Neuen Frau der Zwanziger Jahre. Sie ist zudem interessant, da bisher dieses Bildthema in der Malerei erst ab 1925 nachgewiesen werden konnte. Gerta Overbeck griff es aber schon 1923 auf – vor Otto Dix oder Ernst Thoms. Künstlerinnen wie sie verkörperten selbst den neuen Frauentyp, den sie in ihren Bildern immer wieder thematisieren und in seinen vielschichtigen Beziehungen zur Moderne reflektierten.

Nach neunjähriger Lehrtätigkeit entschloss sich Gerta Overbeck 1931 – trotz Weltwirtschaftskrise – als freie Künstlerin zu arbeiten und ging zurück nach Hannover. Sie arbeitete an der von Grethe Jürgens herausgegebenen Kunstzeitschrift „Der Wachsbogen“ mit und nahm an einer Reihe von Ausstellungen teil, wie etwa an der großen Sonderausstellung „Die Neue Sachlichkeit in Hannover“, wo sie mit der hohen Anzahl von 17 Arbeiten vertreten war. Das Jahr 1933 bildete zunächst keine Zäsur, die Hannoverschen Neusachlichen unterlagen keinem direkten Ausstellungsverbot. Die sich bis 1937 verfestigende NS-Kunstpolitik zwang sie jedoch zunehmend zu harmloseren Sujets und unverfänglichen Themen.

1937 brachte Gerta Overbeck ihre Tochter Frauke zur Welt und heiratete kurz darauf den Vater des Kindes, den Schriftsteller Gustav Schenk (1905–1969). Die Ehe bestand bis 1940. Noch 1937 verließ Gerta Overbeck Hannover und ging für mehrere Monate nach Worpswede. Anschließend kehrte sie zusammen mit ihrer Tochter ins Elternhaus nach Selm-Cappenberg zurück.
Ein für sie schwieriges, eher zurückgezogenes Leben begann. Von ihrer Kunst konnte sie nur sehr bescheiden leben. Sie leitete Zeichen- und Malkurse an der Volkshochschule in Lünen. Künstlerisch blieb sie der realistischen Bildsprache verbunden. Die Menschen und die Umgebung ihres Wohnortes standen nun im Mittelpunkt ihres Interesses. Außerdem setzte sie sich mit religiösen Themen auseinander. Zudem experimentierte sie mit weiteren künstlerischen Techniken wie etwa der Glasmalerei. Von 1958 bis 1961 besuchte sie die Klasse für Glasmalerei an der Werkkunstschule in Braunschweig.

Als in den sechziger Jahren die Neue Sachlichkeit wiederentdeckt wurde, rückte auch Gerta Overbeck in den Focus der kunsthistorischen Aufarbeitung. Sie erfuhr endlich die verdiente Anerkennung und Würdigung. Am 2. März 1977 starb Gerta Overbeck in Lünen.

Werke von ihr befinden sich im Sprengel Museum in Hannover, im Museum der Stadt Lünen und im Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund. Viele aber auch in privaten Sammlungen. In den Städten Hannover, Lünen, Selm-Cappenberg und Wolfsburg sind Straßen nach ihr benann

Olge Dommer / LWL-Industriemuseum

Orte:

Werke von Gerta Overbeck im Museum der Stadt Lünen, Schwansbeller Weg 32, 44532 Lünen
Werke von Gerta Overbeck in der Sammlung und in der ständigen Ausstellung „Die Neue Stadt“ im Museum für Kunst- und Kulturgeschichte, Hansastraße 3, 44137 Dortmund
Gerta Overbeck Straßen in den Städten Lünen und Selm-Cappenberg sowie Hannover und Wolfsburg

Literatur:

Almus, Georg (Autor), FORUM KUNST, Kunstverein Lünen, Gerta Overbeck - Lünen/ Selm - Gerta Overbeck, Veröffentlichungen zu Kunst- und Kulturschaffenden, Kunst- und Kulturförderern des Raumes Lünen, mit Texten von Frauke Schenk, MArie-Luise Huster, Fotos von Anneliese Kretschmer, Lünen 2012.
Dommer, Olge:„Und sehnte mich nach künstlerischer Ausbildung“. Zum Leben und Werk von Gerta Overbeck (1898-1977), in: Heimat Dortmund, 1/ 2008, S. 14–17.
Fuhrmeister, Christian (Hg.),„Der stärkste Ausdruck unserer Tage“, Neue Sachlichkeit in Hannover, Ausstellungskatalog Sprengel Museum Hannover, Hildesheim 2001.
Lehnemann, Wingolf, Gerta Overbeck, Informationen aus dem Museum der Stadt Lünen, Nr. 26, Lünen 2002.
Mensch und Menschenwerk im Blick der Verschollenen Generation. Ausgewählte Werke der Sammlung Brabant, Ausstellungskatalog Schloss Cappenberg, hg. v. Kreis Unna/ Thomas Hengstenberg, Bönen 2006.
Reinhardt, Hildegard: Gerta Overbeck (1898–1977), in: Britta Jürgs: (Hg.): Leider hab ich‚Äôs Fliegen ganz verlernt. Portraits von Künstlerinnen und Schriftstellerinnen der Neuen Sachlichkeit, Berlin 2000, S. 124–139.
Zielke, Sigrid: Mit Cappenberg eng verbunden. Gerta Overbeck-Schenk und die Neue Sachlickeit, in: Jahrbuch des Kreises Unna 2010, Band 31, hg. v. Kreis Unna/ Der Landrat, S. 80–84.

Zitation: Dommer, Olge, Gerta Overbeck, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/gerta-overbeck/

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Erna David

Erna David wurde 1904 in Dortmund-Kley als Tochter des Bergmanns Hermann David geboren. Sie besuchte die Volksschule im nahen Eichlinghofen und verließ diese mit 14 Jahren nach den üblichen acht Schuljahren im Frühjahr 1918. Im selben Jahr schloss sie sich der Arbeiterjugendbewegung an. Nach dem Ersten Weltkrieg expandierte der Dienstleistungsbereich, und immer mehr Frauen fanden in dieser Branche Beschäftigung. Auch Erna David erhielt in Dortmund eine Anstellung als Kontoristin bei einer Buchdruckerei, bei der sie einfache Büroarbeiten erledigte. Nach drei Jahren verließ sie den Betrieb auf eigenen Wunsch, um sich 1924 sozialdemokratischen Organisationsarbeiten zuzuwenden, für die sie sich autodidaktisch und durch Kurse vorbereitet hatte.

Im Sozialdemokratischen Verein für den Wahlkreis Dortmund-Hörde war Erna David als Hilfssekretärin tätig, verließ aber auch diese Stellung nach einem Jahr, um sich, mit 21 Jahren mittlerweile volljährig, in Wohlau (Niederschlesien) zur Krankenschwester ausbilden zu lassen. Dass sie für die Ausbildung nach Schlesien ging und nicht in Dortmund blieb, könnte mit der generell in dieser Zeit einsetzenden Abwanderungsbewegung zusammenhängen. Viele verließen das Ruhrgebiet, da es u.a. durch den passiven Widerstand während der Ruhrbesetzung durch die Franzosen im Jahr 1923 zu einer hohen Erwerbslosigkeit gekommen war. Auch die sich abzeichnende Krise im Ruhrkohlenbergbau mit Zechenschließungen und Massenentlassungen sowie die extreme Wohnungsnot veranlasste zahlreiche Menschen, dem Revier den Rücken zu kehren. 1927 legte Erna David in Wohlau das staatliche Examen zur Krankenpflegerin ab.

Von Schlesien verschlug es Erna David nach Berlin, wo sie zunächst als Krankenschwester in Neukölln arbeitete und ab Oktober 1929 für zwei Jahre die Wohlfahrtsschule der Arbeiterwohlfahrt (AWO) besuchte. Dieser Verband war im Dezember 1919 von Marie Juchacz, eine von 37 Frauen in der Weimarer Nationalversammlung (und die erste weiblich Rednerin im Parlament) gegründet worden. Während ihrer Zeit bei der Wohlfahrtsschule war Erna David als Geschäftsführerin der Abteilung Lotterie im Büro des Bezirksausschusses der AWO Berlin tätig. Im September 1931 legte sie ihre staatliche Abschlussprüfung als Wohlfahrtspflegerin mit dem Hauptfach Gesundheitsfürsorge ab. Um die staatliche Anerkennung als Wohlfahrtspflegerin zu erlangen, musste sie eine einjährige praktische Tätigkeit in hauptamtlicher wohlfahrtspflegerischer Arbeit nachweisen. Zur Jahreswende 1931/32, als sich die verheerenden sozialen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auch in der Reichshauptstadt weiter verschärft hatten, übernahm Erna David die Leitung der Bezirkswinterhilfe in Neukölln.

Im Januar 1933, eine Woche vor der Machtübernahme durch Adolf Hitler und die NSDAP, reichte sie schließlich den Antrag auf die Erteilung der staatlichen Anerkennung als Wohlfahrtspflegerin ein. Bereits im Februar wurde dieser Antrag zurückgewiesen, da die von ihr bisher ausgeübten Tätigkeiten „nicht auf einem umfassenden Gebiet der Gesundheitsfürsorge“ gelegen, sondern „vielmehr vorwiegend der wirtschaftlichen Betreuung hilfsbedürftiger Personen“ gedient hätten. Um die staatliche Anerkennung dennoch zu erlangen, musste sich Erna David in Form eines Aufnahmeantrags an den Reichsminister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung wenden. Dieser genehmigte dann drei Jahre (!) später im Frühsommer 1936 die staatliche Anerkennung als Volkspflegerin (Sozialarbeiterin).

Während der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Behörde, wurde Erna David, die zu dieser Zeit als Angestellte in der öffentlichen Verwaltung im Bezirksamt Neukölln arbeitete, im März 1933 im Zuge der unverhohlen als „Säuberung“ bezeichneten Entlassung „nichtarischer“ bzw. nicht regimetreuer Personen des öffentlichen Lebens von der Stadt Berlin gekündigt. Im Kündigungsschreiben war von „Rücksicht auf den von der Reichsregierung vertretenen Standpunkt, dass Fremdständige in der öffentlichen Verwaltung nicht zu beschäftigen sind“, die Rede. Die Nationalsozialisten hatten vermutlich hinter dem für sie alarmierend klingenden Nachnamen eine Person jüdischer Herkunft vermutet. Doch dieser Irrtum schien sich bald aufgeklärt zu haben, denn es ist überliefert, dass Erna David von 1932-1945 beim Gesundheitsamt Neukölln als Fürsorgerin beschäftigt war.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zog es die inzwischen 42-jährige Erna David zurück ins Ruhrgebiet. Sie wollte in ihrer Heimatstadt Dortmund arbeiten, wo in den ersten Nachkriegsjahren – ebenso wie im übrigen Deutschland – die Bevölkerung um ihr Überleben kämpfen musste. Erna David engagierte sich beim Wiederaufbau der AWO in der stark zerstörten Ruhrgebietsstadt. Von 1946 bis 1967 war sie geschäftsführende Vorsitzende des dortigen Bezirksausschusses Westfalen-West der AWO, einer der ersten im Nachkriegsdeutschland. In den darauf folgenden zwei Jahren war sie Geschäftsführerin des Kreisverbandes der Wohlfahrtseinrichtung in ihrer Heimatstadt. Im Frühjahr 1969 wurde Erna David pensioniert, blieb jedoch Ehrenmitglied des Vorstandes des Kreisverbandes der AWO in Dortmund. 1979 erhielt Erna David die Marie-Juchacz-Plakette. Diese höchste Auszeichnung der Arbeiterwohlfahrt und wird an die Mitglieder verliehen, die besonderes Engagement für den Verein gezeigt haben und politisch für die Belange der AWO einstanden. Zehn Jahre später konnte die inzwischen 85-jährige Erna David noch miterleben, wie ein AWO-Seniorenzentrum in Dortmund-Brünninghausen nach ihr benannt wurde. Erna David starb drei Jahre später am 19. Mai 1992 in Dortmund.

Die bisher eher unbekannte Erna David hatte sich zeitlebens der Fürsorge ihrer Mitmenschen verschrieben. Sie ging selbstbewusst ihren Weg im Ruhrgebiet in den ersten Jahren der Weimarer Republik, bekam die Schikanen und den Terror des Hitler-Regimes während ihrer Zeit in der Reichshauptstadt Berlin unmittelbar zu spüren und half nach 1945, ihre Heimatstadt Dortmund wieder aufzubauen. Erna David ist nicht nur mit dem Wiederaufbau der Arbeiterwohlfahrt nach 1945 in Dortmund, sondern auch mit dem Sozialwesen ihrer Heimatstadt insgesamt eng verbunden.

Nadine Kruppa / Bochum

Orte:

Erna-David-Seniorenzentrum, Mergelteichstraße 27-35, 44225 Dortmund

Zitation: Kruppa, Nadine, Erna David, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/erna-david/

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Rebecca Hanf

Rebecca Hanf engagierte sich in Witten jahrzehntelang für die Stadtgesellschaft. Am Ende ihres Lebens wurde sie Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Paris, 2. August 1946: Der Philosoph und Schriftsteller Salomo Friedländer (1871-1946), bekannt unter dem Pseudonym „Mynona“ (rückwärts gelesen „anonym“), schrieb kurz vor seinem Tod an Dr. E. Löwenstein: „Besten Dank für Ihren Brief vom 29. VII. Er mutet mich an wie eine Ueberbrückung der schauerlichen Kluft des Verschwindens der verehrungswürdigen Frau Hanf, deren letzte Sorge Kant war. – Mein fast 30jähriger mündlicher und schriftlicher Verkehr mit Ernst Marcus ist die größte Begnadung meines Lebens, und ich verdanke Marcus auch die Bekanntschaft mit Frau Hanf, auf deren Urteil er immer großen Wert legte …“.

Rebecca Hanf, geboren am 20. Februar 1863 in Iserlohn, stammte aus der seit 1648 in Westfalen ansässigen jüdischen Familie Löwenstein-Porta. Im Alter von 22 Jahren heiratete sie den Wittener Bankier Moritz Hanf und zog in das Haus ihrer Schwiegereltern nach Witten bis zur Fertigstellung der 1903 im Parkweg 14 (ehemals Johannisweg 12) erbauten „Villa Hanf“. Als Mutter von sechs Kindern (zwei weitere Kinder starben im Säuglingsalter) widmete sie sich zunächst der Haus- und Familienarbeit. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts engagierte sich Rebecca Hanf in Witten als Kunst- und Kulturförderin, als bürgerliche Frauenrechtlerin und in der ehrenamtlichen Fürsorgearbeit. Sie war beispielsweise Mitinitiatorin und Mitarbeiterin der 1906 in der Stadt gegründeten Rechtsschutzstelle für Frauen und Mädchen und der Berufsberatungsstelle des überkonfessionellen und bürgerlichen Vereins Frauenwohl in Witten. Sie gründete und leitete den Fachverein der Schneiderinnen und wurde beauftragte Vertreterin dieser Berufsgruppe in der Handwerkskammer Dortmund zu einer Zeit, in der es noch kein Frauenwahlrecht gab. Als langjährige Vorsitzende des 1865 gegründeten Jüdischen Frauenvereins und 2. Vorsitzende des 1902 gegründeten Vereins Frauenwohl leistete sie während des Ersten Weltkriegs aktive Nachbarschaftshilfe. Rebecca Hanf schrieb auch gelegentlich Artikel für das Wittener Tageblatt, das sie selbst als „Käseblatt“ bezeichnete, und für regionale und überregionale Mitteilungsblätter der bürgerlichen Frauenbewegung. Die Musikliebhaberin – sie spielte Klavier – und an Literatur und Philosophie hoch Interessierte lud regelmäßig zu Lesestunden und Musikabenden in die Villa im Parkweg ein.

1904 lernte Rebecca Hanf den in Essen lebenden Juristen und Philosophen Ernst Marcus kennen, der sich für einen „Wiederentdecker und restlosen Versteher Kants“ hielt. Mit Bertha Marcus geborene Auerbach, die u. a. im Vorstand des Vereins Frauenwohl in Essen tätig und mit Ernst Marcus verheiratet war, diskutierte Rebecca Hanf frauenrechtliche Fragen. Mit ihm verband sie eine innige intellektuelle Freundschaft, die in Korrespondenzen und Gesprächen über die Ideen Immanuel Kants und in den zahlreichen Publikationen von Ernst Marcus, die sie redigierte und für die sie öffentlich warb, zum Ausdruck kam. Kant und die Ideen der Aufklärung erfuhren um 1900 eine intensive Rezeption auf der Suche nach neuen Bezugspunkten für Individuen und Gesellschaftsordnungen. Ihren Artikel Aus den Tiefen des Erkennens, erschienen in der Frankfurter Zeitung vom 6. Juni 1926, leitete Rebecca Hanf mit den Sätzen ein: „Zweifellos herrscht heute ein starkes Bedürfnis nach geistiger Führung. Man sucht bei Chinesen, Indern, Griechen nach Weisheit. Warum nicht bei dem großen deutschen Denker, der uns zeitlich und sprachlich so viel näher steht, dessen Name auch im Weltruhm strahlt – bei Kant?“

Bis Ende der 1930er Jahre wurde Kants Werk auch von Witten aus in Briefwechseln mit namhaften Schriftstellern und Philosophen im In- und Ausland diskutiert. Salomo Friedländer beispielsweise zählte zu Rebecca Hanfs regelmäßigen Korrespondenzpartnern. Sie unterstützte ihn finanziell in seinem Exil in Frankreich, wohin er unter dem Verfolgungsdruck der Nationalsozialisten geflohen war.

In der so genannten Reichskristallnacht vom 9. auf den 10. November 1938 konnten sich die Eheleute Hanf vor den brutalen Angriffen der Nazis im Keller ihres Hauses verstecken. Zwei Monate später gelang ihnen die Flucht zu Verwandten in die Niederlande, wo Moritz Hanf im Mai 1943 in Hilversum verstarb. Wenige Wochen vor seinem Tod äußert sich Rebecca Hanf in einem Brief an Friedländer zu den Ereignissen der Reichspogromnacht: „… Haus und Hausrat war unbewohnbar und unbenutzbar gemacht worden, wir selber, wir beiden Alten, körperlich verschont geblieben, aber die Nerven! Und dem Sohn hat man arg mitgespielt. Ich hatte schon geglaubt, dass ich, wenn wir erst ausser Landes wären, unsere Erlebnisse erzählen könnte, etwa schriftlich, aber auch dazu reichts noch nicht. Stellen Sie sich nur vor, dass ich mir den Höllenlärm der Nacht überhaupt nicht mehr zurückrufen konnte, ich hatte mir eben keinen Begriff davon machen können, und so ist es auch heute nur der Anblick des verwüsteten Hauses, den ich zurückrufen kann – das Ohr hat den lebendigen Eindruck nicht aufgenommen. – Wie recht taten doch diejenigen, die [vor] dem Vaterland den Rücken kehrten! Wir glaubten, man würde uns Alten die 6 Bretter und das Plätzchen in der Erde gönnen! Sogar den nicht mehr in Gebrauch befindlichen Friedhof, auf dem die Eltern meines Mannes ruhen, hat man verwüstet …“

Am 10. Juni 1943 wurde Rebecca Hanf im Alter von 80 Jahren in das Sammellager Westerbork verschleppt. Aus der dortigen Krankenbaracke bat sie per Postkarten und gelegentlichen Briefen ihre Verwandtschaft um die Zusendung von Büchern Kants und Marcus, um sich und anderen Frauen „die Nerven zu stärken.“ Robert Marcus, der Schwiegersohn von Rebecca Hanf, schrieb am 2. Oktober 1976 aus Herzlia, Israel, an das Leo-Baeck-Institute in New York: „Details bzgl. Frau Rebecca Hanf, die vom Archiv erbeten wurden, wurden mir von deren Sohn, meinem Schwager, übersandt … Man mag vielleicht hinzufügen, dass man Frau Hanf gestattete, ihr Handexemplar von Kants Kritik der reinen Vernunft mit in die gas-chambers zu nehmen …“
Dies ist die „schauerliche Kluft des Verschwindens der verehrungswürdigen Frau Hanf …“, die nach dem Ersten Weltkrieg gehofft hatte, die Zeit des Völkermordes könne überwunden werden: Sie wurde am 25. Januar 1944 im Alter von 80 Jahren von Westerbork in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort nach ihrer Ankunft am 27. Januar zusammen mit 688 Deportierten in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau ermordet.

Dr. Martina Kliner-Fruck/ Stadtarchiv Witten

Orte:

Rebecca-Hanf-Straße, 58454 Witten
Parkweg 14, 58452 Witten
Stadtarchiv Witten, Ruhrstraße 69, 58452 Witten, stadtarchiv@stadt-witten.de

Literatur:

Martina Kliner-Fruck, Villa Hanf: „Leise hoffe ich, daß meine philosophischen Dinge erhalten bleiben ...“ Nachruf auf Rebecca Hanf, in: Wittener Frauengeschichte(n): Dokumentation einer Stadtrundfahrt, 2. verb. Aufl., Witten 1992, S. 36-38. (erhältlich über das Stadtarchiv Witten)

Zitation: Kliner-Fruck, Martina, Rebecca Hanf, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/rebecca-hanf/

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Christa Kleinhans

Christa Kleinhans gehört zu den Pionierinnen des Frauenfußballs in Deutschland. Etwa 150 Länderspiele hat sie in der Nationalelf in den 50er und 60er Jahren bestritten. Zu einer Zeit, als den Frauen das Fußballspielen in Deutschland offiziell verboten war.

Ihr erstes Fußballtrikot hat Christa Kleinhans noch abgestottert. Das war Mitte der 50er Jahre, als sie bei der Post in die Lehre ging. Doch durch nichts hätte sich die sportliche junge Frau davon abhalten lassen, Fußball zu spielen. Denn Mitte der 50er Jahre wird endlich wahr, wovon sie schon von klein auf träumte.

Aufgewachsen ist Christa Kleinhans im Dortmunder Stadtteil Hörde im Schatten des Stahlwerks Hermannshütte. Schon als Kind mischte sie bei den Jungs fußballerisch kräftig mit: „Und wie das damals so war spielte eine Straßenecke gegen die andere Straßenecke. Und da war ich als einziges Mädchen zwischen den Jungs. Und war eigentlich ganz gut.“ Ungewöhnlich für die damalige Zeit: Auch die Eltern lassen die kleine Christa gewähren.

Doch an eine Karriere als Fußballerin ist erst einmal nicht zu denken. Das Deutschland der Nachkriegsjahre ist aus weiblicher Sicht fußballerisches Niemandsland. Christa Kleinhans wird Leichtathletin. Anfang der 50er Jahre einmal sogar westdeutsche Meisterin in der 4×100 Meter-Staffel ihres damaligen Vereins OSV Hörde.

Nach dem „Wunder von Bern“ 1954 ist ganz Deutschland im Fußballfieber. Auch die Frauen wollen endlich Fußball spielen. Vor allem im Ruhrgebiet gründen sich Damenfußballvereine. Das ruft den Deutschen Fußball-Bund auf den Plan. Im Sommer 1955 verbietet er den Damen das Kicken. Angeblich sei der harte Männersport nichts für das vermeintlich schwache Geschlecht. Den Fußball begeisterten Frauen ist das herzlich egal. Schon 1956 gibt es zwei Damenfußballvereine in Dortmund: Grün-Weiß und Fortuna. Als Christa Kleinhans dies erfährt, hängt sie sofort ihre Laufschuhe an den Nagel: „Man war ja wirklich manchmal wie von Sinnen, mein Gott noch Mal, ein Kindheitstraum wird wahr.“ Damals habe sie ein unbeschreibliches Glücksgefühl empfunden. Endlich Fußballspielen – trotz Verbots. „Wir spielten Fußball und damit war für uns die Sache erledigt. Wir haben uns durch nichts aufhalten lassen.“

Christa Kleinhans wird Mitglied bei Grün-Weiß Dortmund und dann schnell vom Konkurrenten Fortuna abgeworben. Sie wird die Nummer 7 im Team, Rechtsaußen mit „einem Drang zum Tor“, wie sich ihre damalige Mannschaftskameradin Anne Droste erinnert. 1957 dann ihr erstes Fußballländerspiel gegen Westholland im Münchener Dantestadion. Die deutsche Frauen-Nationalelf gewinnt vor 18.000 Zuschauern das Spiel mit 4:2. Für Christa Kleinhans bis heute ein unvergessliches Erlebnis.

Von 1958 an wird der Frauenfußball professioneller organisiert. Josef Floritz, Ex-Trainer von Borussia Neunkirchen gründet mit anderen die Deutsche-Damen-Fußballvereinigung und kümmert sich von nun an um die Fußballländerspiele. Doch nicht immer kriegen die berufstätigen Frauen dafür auch frei. Die meisten Arbeitgeber ahnen nichts von der Fußballbegeisterung ihrer Mitarbeiterinnen. „Und dann wurde natürlich gelogen, was das Zeug hielt“, erinnert sich Christa Kleinhans. Man habe die Omas wieder und wieder sterben lassen. Oder man war regelmäßig am Wochenende krank.

Trikots und Schuhe muss Christa Kleinhans selber bezahlen. Und das bei einem mageren Lehrlingsgehalt von anfangs rund 45 Mark. Auch die Trainingsbedingungen sind alles andere als ideal. Sportvereine dürfen den Frauen ihre Plätze wegen des DFB – Verbots nicht zur Verfügung stellen. Man droht ihnen ansonsten den so genannten Sportgroschen zu entziehen. Und so heißt es improvisieren. Christa Kleinhans und ihre Mannschaft spielen, wo immer es möglich ist. Mal stellt der Vater einer Spielerin seinen Garten zur Verfügung. Mal wird in einem öffentlichen Park gekickt. Einen festen Trainingsplatz gibt es nicht. „Und dann ist man halt mit seiner Tasche mit der Straßenbahn gefahren und hat geguckt, wo können wir dieses Mal trainieren.“

An schwere Verletzungen kann Christa Kleinhans sich nicht erinnern. Aber daran, dass sie ein paar Mal vom Platz gestellt wurde. „Irgendwie sind mir die Nerven durchgegangen, weil ich viel auf die Socken kriegte.“ Und sie erinnert sich noch gut an ein Spiel in Hörde Anfang der 60er Jahre, als sie vom Platz geflogen ist. „Das war das schlechteste Spiel überhaupt, was ich je abgegeben habe.“ Ihr Vater, erzählt sie, habe überall voller Stolz mit seiner Fußball spielenden Tochter geprahlt. Doch die dreht sich nach einem Foul einfach um und scheuert ihrer Gegenspielerin eine. „Ja, dann durfte ich duschen gehen.“

Fast zehn Jahre lang dreht sich im Leben von Christa Kleinhans alles um Fußball. 1965 dann das letzte Freundschaftsspiel gegen eine holländische Auswahl in Schwerte. Josef Floritz, der bis dahin die Spiele organisierte, war gestorben. Zudem fehlt den Fußballerinnen der Nachwuchs. „Die mit uns fast zehn Jahre in der Mannschaft spielten, lernten dann auch einen Mann kennen, wollten Kinder kriegen und dann war niemand mehr da.“ Nach dem Abschiedsspiel in Schwerte löst sich ihr Verein Fortuna Dortmund auf.
Christa Kleinhans wechselt zum Handball und wird auch darin sehr erfolgreich. Zuletzt spielt sie sogar Bundesliga. Als 1970 der DFB dann das Fußballverbot für die Frauen aufhebt, wird auch sie gefragt, ob sie nicht wieder Fußball spielen will. „Und ich habe gedacht, ne, Schluss, aus. Jetzt nicht mehr. Jetzt spielst du Handball, du spielst auch gerne Handball und jetzt bleibst du dabei. Dadurch war das Thema vom Tisch.“

Die Liebe zum Fußball ist geblieben. Nach wie vor sieht die Fußballpionierin am liebsten Spiele der Frauen. Nur für ihren Lieblingsverein Borussia Dortmund macht sie regelmäßig eine Ausnahme. Schon seit Jahren hat sie eine Dauerkarte. Und wenn sie mit ihrer ehemaligen Fußballmitspielerin Anne Droste bei Wind und Wetter auf der Tribüne sitzt, wird öfters auch mal ausgiebig gemeckert. „Wenn die eben schlecht spielen, gehen wir auch schon mal 10 oder 15 Minuten vor Spielende nach Hause, weil wir denken, ne, ne, ne, ne, das tun wir uns nicht mehr rein.“
Sie seien damals richtige Powerweiber gewesen, sagt Christa Kleinhans heute rückblickend auf die Anfänge des Frauenfußballs in Deutschland. Nichts und niemand hätte sie davon abhalten können. Und sie ist – wie FIFA-Präsident Josef Blatter – ziemlich sicher: „Die Zukunft des Fußballs ist weiblich.“

Andrea Kath

Orte:

Infopoint Phoenix-See, Aussichtsplattform mit Blick auf Dortmund-Hörde ohne Hüttenwerk; Kohlensiepenstraße, 44269 Dortmund
Das Spiel der Frauennationalmannschaft fand statt im Mathis-Stinnes-Stadion, Beisekampsfurth, 45329 Essen

Literatur:

Hoffmann, Eduard/ Nendza, Jürgen, Verlacht, verboten und gefeiert. Zur Geschichte des Frauenfußballs in Deutschland, Weilerswist 2005.

Zitation: Kath, Andrea, Christa Kleinhans, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/christa-kleinhans/

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Frida Levy

Frida Levy

In der Essener Erinnerungskultur ist Frida Levy (1882-1942) fest als Kunstmäzenin verankert, die von den Nationalsozialisten 1942 nach Riga deportiert und dort oder in der Nähe ermordet wurde.1 Eine Schule in Essen wurde 2000 nach ihr benannt und gleich zwei Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig – einer in Essen, ein zweiter an ihrem letzten Wohnort in Berlin-Wilmersdorf2 – erinnern an sie. Das Wissen um ihr Engagement für Frauen und für das Frauenwahlrecht ist inzwischen zwar bekannt, jedoch weit weniger verbreitet.

Frida Levy kam gebürtig aus Geseke und zog mit ihrem Mann Fritz, einem promovierten Juristen, kurz nach der Hochzeit am 29. März 1901 nach Essen, wo er einen Teil seines Referendariats absolvierte. In Essen lebte Verwandtschaft von ihm, die angesehene Familie Hirschland, eventuell war dies der Grund für ihren Zuzug ins Ruhrgebiet.3 Wenige Jahre später bereits zog – so der Levy-Biograf Ludger Hülskemper-Niemann – die „großbürgerliche Familie, die stark nach außen orientiert war“, in „ein großzügiges Haus in der Moltkestraße“.4 Das Paar, das bis 1919 gemeinsam vier Kinder bekam, führte ein kulturell und gesellschaftspolitisch aktives Leben und lud regelmäßig Künstler und Intellektuelle zu Lesungen, Vorträgen und Diskussionen ein, zu denen auch der Maler Karl Schmidt-Rottluff zählte.5 Frida Levy war kunstinteressiert und besuchte Kurse an der Folkwangschule. Das Portrait, das der Maler Fritz Reusing von ihr 1907 anfertigte, ist heute in der Alten Synagoge Essen zu besichtigen.


Frauenpolitische Aktivität im Verein Frauenwohl

Bereits mit deren Einrichtung 1902 wurde das Ehepaar Mitglied der Essener Zweigstelle des 1888 in Berlin von Minna Cauer gegründeten Vereins Frauenwohl. 6 Neben 171 Frauen zählten neun Männer zu den Gründungsmitgliedern. 7 Unter ihnen auch Angehörige namhafter Essener Familien wie Baedeker und Hirschland, Frauen städtischer Honoratioren wie Bankdirektoren, Kommerzienräte, Pfarrer und Redakteure, aber auch Frauen wie Margarete Herz, eine Dentistin, die einem lesbisch-feministischen Netzwerk zwischen Essen, Gelsenkirchen und Bochum angehörte.8

Zu den Mitgliedern der ersten Stunde zählte neben den Levys das Ehepaar Marcus. Zusammen mit ihrem Mann Ernst setzte sich Bertha Marcus (1869-1918) dafür ein, dass Mädchen das Gymnasium besuchen und Abitur machen durften. Sie erreichte durch ihren Besuch beim preußischen Kulturminister in Berlin die Genehmigung zur Gründung der ersten Gymnasialklasse für Mädchen in Essen.9

Mit einem Statut wurden die Aufgaben und Ziele des Essener Vereins Frauenwohl definiert:

„§ 2. Zweck des Vereins ist die Förderung aller berechtigten Frauenbestrebungen der Gegenwart.“

„§ 3. Zur Erreichung dieses Zweckes werden:

  1. a) im Verein Vorträge von Männern und Frauen gehalten und besprochen;
  2. b) Arbeitsgruppen gebildet, die gemäß den gefaßten Beschlüssen die Zwecke des Vereins zu verwirklichen haben.

§ 4. Der Verein hält sich fern von jeder politischen und religiösen Parteistellung.“10

Als erstes wurde 1903 eine Rechtsschutzstelle eingerichtet, kurz darauf ein Mädchenhort.11

Frida Levy arbeitete seit 1904 in der Rechtsschutzstelle, in der zehn Frauen tätig waren. „Von unserem stets hilfsbereiten Anwalt [RA Breidenbach] belehrt und geleitet, erteilten wir Frauen und Mädchen Rat in Rechtssachen; wir setzten Bitt- und Armenrechtsgesuche auf, machten Eingaben, vermittelten gütliche Ausgleiche (besonders bei Gesinde- und Mietstreitigkeiten); wir halfen mit Rat und Tat bei der Berufswahl, machten stets mit glücklichem Erfolg die Alimentationsansprüche von Mutter und Kind frühzeitig geltend; durch Sammlung des Materials suchten wir notwendige Prozesse so vorzubereiten, dass dem Rechtsanwalt die Übersicht erleichtert wurde, wir suchten da, wo nicht zu helfen war, den Unglücklichen wenigstens Gelegenheit zu rückhaltloser Aussprache zu geben.“12 Man wollte damit den „in ungeordnete Verhältnisse Geratenen wieder zu einem geregelten Leben“ verhelfen13 und arbeitete seit 1910 eng mit der städtischen Rechtsauskunftsstelle zusammen. Zuständig sah sich die „Auskunfts- und Beratungsstelle für Frauen (Rechtsschutzstelle für Frauen)“ für alle Fälle, bei „denen die ratsuchenden Frauen von einer Frau“ beraten werden wollten.14 Für 1911 verzeichnet der Jahresbericht 778 Beratungen.15

In den Folgejahren richtete der Verein Frauenwohl Gruppen für verbesserte Frauenkleidung (1905) und für Realgymnasialkurse für Mädchen (1905), einen Frauenklub (1906), Mütterabende (1909) und eine Auskunftsstelle für Frauenberufe (1910) ein.16

Der Gruppe für verbesserte Frauenbekleidung gehörte Frida Levy nachweislich 1910 an. Dieser Gruppe ging es darum, „die Körperkultur des weiblichen Geschlechts zu fördern und für Fortgestaltung einer gesundheitsgemäßen, ästhetischen Frauenkleidung im Sinne des unverschnürten Körpers zu wirken.“17 Mag man die Wortwahl der Vertreterinnen der Ersten Frauenbewegung auch befremdlich finden, so ist sie durchaus vergleichbar mit den BH-Verbrennungen der Zweiten Frauenbewegung in den 1970er Jahre.18

Es ging um die Befreiung der Frau, Befreiung weitgefasst verstanden als Möglichkeit, Begrenzungen zu überschreiten, sei es durch Bildung, sei es durch juristischen Rechtsbeistand oder durch Ablage der bis dahin (für bürgerliche Frauen) üblichen Korsetts.

Frida Levy tritt für das Frauenwahlrecht ein

Es lässt sich nicht exakt datieren, wann Frida Levy diese Form des sozialen und caritativen Engagements, mit denen Frauen innerhalb der durch und durch von Männern bestimmten Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs öffentliche Anerkennung gewinnen konnten,19 als nicht ausreichend betrachtete, um Frauen die ihnen gebührende gesellschaftliche Position zu verschaffen. 1910 war Minna Cauer in Essen zu Gast und referierte vor den Vereinsmitgliedern über „Warum hat die Frau die Pflicht, sich mit den öffentlichen Angelegenheiten zu beschäftigen?“20 Cauer hatte bereits 1895 gesagt, dass das Wahlrecht keine „Belohnung“ sein könne, „weil man zur Freiheit nicht erziehen kann, sondern durch die Freiheit erzogen wird.“21

Wenig später nur wurde Frida Levy Vorsitzende des Essener Ortsvereins für Frauenstimmrecht, Vorsitzende des Rheinischen Provinzialvereins für Frauenstimmrecht und Mitglied im erweiterten Vorstand des Preußischen Landesvereins für Frauenstimmrecht, deren Vorsitzende Minna Cauer war.22

1907 noch hatte Clara Zetkin dem Verein vorgeworfen, „zum großen Teil dem Frauenwahlrecht gleichgültig, im besten Falle aber als laue Freunde“ gegenüberzustehen23, doch forderte der Landesverein 1911 das Frauenstimmrecht als eine Forderung der Gerechtigkeit, der sozialen Notwendigkeit und der Kultur. „Soll die Stimmrechtsbewegung eine kraftvolle volkstümliche Bewegung werden, oder soll sie auf eine dünne Oberschicht wohlhabender Frauen beschränkt sein, die zwar für Frauenrechte, aber nicht für Volksrechte eintreten? Wer Gerechtigkeit und Kultur nicht als Phrase gebraucht, um für sich selbst Sonderrechte zu erlangen, der trete der Organisation bei, die in Preußen, dem Lande des Dreiklassenwahlsystems, für das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht für beide Geschlechter kämpft: dem Preußischen Landesverein für Frauenstimmrecht!“24

Bei der Reichstagswahl am 12. Januar 1912 hatte der Verein und seine Mitglieder so viel Courage und trug in den Wahllokalen den Inhalt folgenden Flugblatts vor: „Ich protestiere gegen meinen Ausschluss von der Reichstagswahl, da ich als deutsche Staatsangehörige über 23 Jahre auf Grund der bestehenden Verfassung wahlberechtigt bin. Alle Gesetze und Verordnungen, die sich nur der männlichen Form bedienen, sind verbindlich für beide Geschlechter, sofern nichts anderes bestimmt ist. Eine diesbezügliche Bestimmung liegt in der Verfassung des Deutschen Reiches nicht vor, folglich sind alle Staatsangehörigen wahlberechtigt und der Ausschluss der Frauen bedeutet eine Verletzung von Gesetz und Verfassung. Wir Frauen wollen nicht nur die Pflichten dem Reiche gegenüber erfüllen, nämlich ihm die Bürger schenken, arbeiten und Steuern zahlen, wir fordern als Staatsangehörige auch unsere Rechte, nämlich die volle politische Gleichberechtigung.“25

Das Engagement nach 1919

Frida Levy trat also aktiv für das Frauenwahlrecht ein, bevor es durch sechs Sozialdemokraten – drei MSPD- und drei USPD-Mitglieder – revolutionsbedingt am 18. November 1918 festgelegt wurde.26 Die Betonung, dass es Sozialdemokraten waren, die den Frauen das Wahlrecht zubilligten, ist deswegen von Relevanz, weil noch im Oktober 1918 alle Parteien bis auf die SPD das Wahlrecht für Frauen abgelehnt hatten.27 Die MSPD-Abgeordnete Marie Juchacz (1879-1956), die am 19. Februar 1919 als erste Frau in der Nationalversammlung sprach, betonte, dass erst die Revolution „die alten Vorurteile überwunden“ hätte28, während ihr Nachredner, der Zentrums-Abgeordnete Dr. Mayer hervorhob, dass „die bewundernswerten Leistungen der Frauen“ während des Krieges alle Bedenken darüber, ob Frauen in die „politische Arena“ gehörten, beseitigt hätten.29 Das Wahlrecht also verstanden als eine Form der Belohnung für die harte Arbeit an der sogenannten Heimatfront.

Ob Frida Levy Mitglied der Sozialdemokratie war, wie ihr Mann Fritz seit 1914 – der 1918/1919 juristischer Berater des „Arbeiter- und Soldatenrates“, für kurze Zeit stellvertretender Polizeipräsident, später sozialdemokratischer Stadtverordneter und Beigeordneter des Kulturdezernates der Stadt Essen war –, ist nicht bekannt.30 Sie saß nachweislich als „Bürgervertreter“ im Ausschuss für Volksbildung.31 Wie sie dort gewirkt hat, ist nicht mehr nachvollziehbar.

Bekannt ist, dass das Ehepaar Levy ihre jüngste Tochter Susanne an einer bekenntnisfreien Schule anmeldeten, einer Schulform, die vor allem linksorientierten Eltern gegen den z. T. erbitterten Widerstand der christlichen Konfessionen und der Bildungsbürokratie 1923 in Essen durchgesetzt hatten.32 Hier wurde eine Forderung von Johann Franz Adolph Hoffmann (USPD) umgesetzt, der Ende 1918, Anfang 1919 preußischer Bildungsminister war, und der mit der Ankündigung, die kirchliche Schulaufsicht in Preußen abzuschaffen, sowohl die Katholiken als auch die Protestanten gegen sich aufgebracht und damit den Wahlkampf richtig in Schwung gebracht hatte.33

Frida Levy hielt zwischen 1924 und 1930 neun Vorträge, die von „Jugend und Alkohol“ über die „sozialistische Erziehung“ bis hin zu „Sexualprobleme in der Jugendbewegung“ reichten.34 Hedwig Richter hat hervorgehoben, dass Frauen mit ihrem Engagement gegen Prostitution, unhygienische Wohnverhältnisse, Alkohol und schlechte Schulbildung die „ganze Gesellschaft im Blick“ gehabt und sich „eine bisher nicht gekannte Autorität im öffentlichen Leben“ erarbeitet hätten.35 Diese Autorität sieht die Historikerin Kirsten Heinsohn durch den Übergang zur parlamentarischen Bürokratie wieder schwinden, weil sich gesellschaftspolitische Gestaltungsmöglichkeiten in die Parteien und Verwaltungen verlagerten hätten.36

Ob Frida Levys sozial-politischer Gestaltungsraum mit der Erlangung des von ihr erkämpften Wahlrechts kleiner oder größer geworden ist, muss an dieser Stelle offen bleiben. Sie hat sich in der Essener Stadtgesellschaft engagiert und sich einen Namen gemacht, der bis heute erinnert wird. Anders übrigens als ihr Mann, nach dem keine Straße oder Schule benannt sind, obgleich er in der Essener Politik nachweislich eine Rolle gespielt hat.

Susanne Abeck frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Frida-Levy-Gesamtschule, Varnhorststraße 2, 45127 Essen

Zitation: Abeck, Susanne, Frida Levy, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/frida-levy/

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Ottilie Schoenewald

Am 21. Dezember 1883 wurde Ottilie Mendel in Bochum als siebtes Kind einer angesehenen Kaufmannfamilie geboren. Sie wuchs behütet von Dienstboten und Erzieherinnen auf, besuchte eine Höhere Töchterschule und wurde früh in das gesellschaftliche Leben der Stadt eingeführt. Nach dem Tode des Vater unterstütze sie ihre Mutter im elterlichen Geschäft.

Ihrem eigenen Bekunden zufolge gehörte ihr Elternhaus dem liberalen Judentum an, ihr Vater war lange Jahre Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde in Bochum. Seit ihrer Verheiratung mit dem angesehenen Bochumer Rechtsanwalt Dr. Siegmund Schoenewald im Jahre 1905 widmete sie sich sozialer Arbeit in diversen Frauenverbänden, auch im örtlichen jüdischen Frauenbund, deren „Mitgliedschaft … dazu berechtigte, … die Vorschläge der Herrn Vorsitzenden (Rabbiners) durch Kopfnicken zu bestätigen“, wie sie es im Rückblick ironisch formulierte. Ferner war sie schon vor dem 1. Weltkrieg für die Bochumer Frauenrechtsschutzstelle tätig.

Als in der noch jungen Weimarer Republik 1918 endlich nach langem Kampf das aktive und passive Wahlrecht für Frauen eingeführt wurde, entschied sich Ottilie Schönewald für eine Kandidatur bei der Deutsche Demokratische Partei. Sie gehörte zu den ersten Frauen im Bochumer Stadtrat, in dem sie zudem laut Bericht des „Volksblattes“ als erste Frau überhaupt das Wort ergriff. Es folgen Jahre intensiver politischer Ausschussarbeit, die sie ab 1926 gegen überregionales Parteiengagement und umfangreichere jüdische Verbandsarbeit eintauschte – auch weil sie im Stadtparlament Anfeindungen von neu gewählten Nationalsozialisten befürchtete.

1929 war sie in den Hauptvorstand des jüdischen Frauenbundes gewählt worden, dessen Leitung sie 1934 bis zu seiner Auflösung 1938 übernahm. Das vom jüdischen Frauenbund für die Zeit nach 1933 selbst gesetzte Ziel der Hilfe zur Selbsthilfe lässt sich gut an dem Wirken Ottilie Schoenewalds belegen: Das 1933 erlassene Schächtverbot hatte dazu geführt, dass rituelle Schlachtungen in Deutschland untersagt wurden. Für jüdische Familien, die koschere Mahlzeiten einhalten wollten, bedeutete dies, den Speiseplan auf vegetarische Gerichte umzustellen, wie man in etlichen Artikeln in den Blättern des jüdischen Frauenbundes verfolgen kann. So erklärt sich auch, warum das Jüdische Kochbuch 1935 eine dritte Auflage erlebte, in deren Vorwort Ottilie Schoenewald als Vorsitzende des Jüdischen Frauenbundes der Arbeit jüdischer Hausfrauen Respekt zollt.

Ottilie Schönewald wurde auch konkret aktiv, wie es ihrem Bericht über die Ausweisung der von den Nationalsozialisten so genannten Bochumer Ostjuden (es handelte sich um Nachfahren von polnischen Zwangsarbeitern des 1. Weltkrieges) vom Oktober 1938 zu entnehmen ist: So setzte sie alle Hebel in Bewegung, um Hilfsgüter zu organisieren, sorgte für die Herbeischaffung koscheren Essens zum Gefängnis, in dem die Männer inhaftiert waren, konnte schließlich für Frauen und Kinder bei der Gestapo Plätze im Wartesaal der 3. Klasse am Bahnhof erwirken und beruhigte sogar einige der Familien, indem sie über ihren Ehemann als Rechtsanwalt Formulare für geschäftliche Vertretungsvollmachten erstellen ließ. So können die Veröffentlichung eines Kochbuchs und die Organisation von Verpflegung als ihr ziviler, wenn nicht gar als ihr politisch motivierter Widerstand gegen die NS-Diktatur gelesen werden. Mit ihrem Bericht über die Bochumer Ereignisse hat sie darüber hinaus – es sind dies die ausführlichsten und eindringlichsten Aufzeichnungen über derartige Vertreibungen aus Städten – Geschichte geschrieben und so zur Erinnerung an den Holocaust beigetragen.

Die Reichspogromnacht vom neunten auf den zehnten November 1938 brachte für die Schoenewalds wie für alle anderen jüdischen Familien in Bochum eine tief greifende Zäsur: Siegmund Schoenewald wurde in das Konzentrationslager (KZ) Sachsenhausen verbracht und die Wohnung des Ehepaares verwüstet. Nach Siegmund Schoenewalds Rückkehr aus dem KZ fiel die Entscheidung, Deutschland zu verlassen. Über Holland emigrierten beide im Sommer 1939 nach England. Dort verstarb Siegmund Schoenewald 1943. Ottilie Schoenewald wanderte 1946 zu ihrer Adoptivtochter Doris (verheiratete Klaber) in die USA aus, wo sie bis zu ihrem Tode 1961 lebte. In all diesen Jahren arbeitete sie engagiert politisch weiter, u.a. während ihrer Zeit in England im Vorstand der „Association of Jewish Refugees“ und in den Staaten im „International Council of Jewish Women“. Jahrelang hat sie als Opfer des Nationalsozialismus ihr Wiedergutmachungsverfahren betrieben – allerdings erfolglos.

So mag man es als eine späte Wiedergutmachung ansehen, dass 1998 eine Straße im Stadtteil Wiemelhausen und 2005 eine Schule der Erwachsenenbildung nach ihr benannt wurden. Die Ironie der Geschichte: Das Ottilie-Schoenewald-Weiterbildungskolleg zog 2008 in das renovierte Gebäude der alten Bochumer Wirtschaftsakademie. Leiter jener Wirtschaftakademie war von 1954 bis 1967 Peter-Heinz Seraphim. Der Volkswirtschaftler machte sich in der NS-Zeit einen zweifelhaften Namen als Experte für das „Ostjudentum“. In den Zeiten des Kalten Krieges konnte er aufgrund seiner Kenntnisse über den osteuropäischen Raum unbeschadet eine neue Karriere starten. Dass nun genau dieses Bauwerk den Namen jener Bochumerin führt, die beherzt beim Abtransport der Ostjuden auftrat, und als Schule das Andenken an ihren Namen bewahrt, erscheint mehr als gerechtfertigt und ermöglicht eine andere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als die der Verdrängungspolitik der 50er Jahre.

Ottilie Schoenewald kann aber nicht nur als Leitfigur der deutschen Frauenbewegung und der Bochumer Lokalpolitik gesehen werden, sondern hat mit ihrer Vita auch Zeugnis eines lebenslangen Lernens abgelegt: Als junge Frau bildete sie sich juristisch für ihre Beratungstätigkeit bei ihrem Mann weiter, als über Fünfzigjährige belegte sie in England Buchhaltungskurse, in Oxford studierte sie Englisch und Literatur und später in den USA Sozialwissenschaften. Wer wäre eine geeignetere Patronin für ein Institut des Zweiten Bildungsweges als diese Bochumerin?

Dr. Anja Wieber/ Ottilie–Schoenewald–Weiterbildungskolleg

Orte:

Ottilie-Schoenewald-Weiterbildungskolleg, Wittener Straße 61, 44789 Bochum
Ottilie-Schoenewald-Straße. 44789 Bochum

Literatur:

Schoenewald, Ottilie, Lebenserinnerungen. Für das Leo Baeck Institut, New York 1961, siehe http://digital.cjh.org//exlibris/dtl/d3_1/apache_media/407139.pdf
Schneider, Hubert, Ottilie Schoenewald. Kämpferin für Frauenrechte, soziale Rechte, Menschenrechte, Bochum 2008 
Kaplan, Marion, Der Mut zum Überleben. Jüdische Frauen und ihre Familien in Nazideutschland, Berlin 2001/ New York 1998
Gleisung, Günter u.a., Die Verfolgung der Juden in Bochum und Wattenscheid, Bochum 1993
Maierhof, Gudrun, Ottilie Schönewald. Jewish Women: A Comprehensive Historical Encyclopedia, 1 March 2009. Jewish Womens Archive, June 27, 2010, see: http://jwa.org/encyclopedia/article/schoenewald-ottilie

Zitation: Wieber, Anja, Ottilie Schoenewald, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/ottilie-schoenewald/

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Agnes von der Vierbecke

Agnes von der Vierbecke entstammt einem alten märkischen Adelsgeschlecht auf Haus Vierbecke in Hengsen, heute Holzwickede. Von dem 1600 abgebrannten Anwesen sind bis auf Reste der Gräften keine Spuren mehr im Gelände sichtbar. In den politischen Mythos der stolzen Reichsstadt Dortmund hat sich Agnes von der Vierbecke unauslöschbar eingeschrieben. Das kleine Holzwickede wiederum benutzt die historische Gestalt, um sich märkisch gegen das städtische Oberzentrum Dortmund zu positionieren, obwohl das tragische Ende der Vierbecke nur bedingt für eine positive Identitätsbildung taugt. In der Gegend um Holzwickede erzählt man sich noch heute die Sage von ihrem goldenen Spinnrad.

Die historische Agens von der Vierbecke heiratete den reichen Dortmunder Hansekaufmann Hildebrandt Sundermann, der einer angesehen Patrizierfamilie entstammte. Damit wurde sie Teil der führenden Gesellschaftsschicht, die den Rat wählte und aus ihren Reihen den Bürgermeister ernannte. Nach dem Tode Hildebrandts lebte sie weiter mit ihrem Sohn Arnt in Dortmund. Wie eine Insel lag im 14. Jahrhundert die wohlhabende Reichsstadt Dortmund inmitten der Herrschaftsgebiete der Grafen von der Mark und der Erzbischöfe von Köln.

1378 hatten sich unter der Führung des Dietrich von Dinslaken, dem Bruder des Grafen Engelbert von der Mark, sechzehn Edelmänner zusammengeschlossen, um die Reichsstadt Dortmund am 4. Oktober einzunehmen. Ein Fehdebrief war bereits überreicht. Es heißt, Agnes von der Vierbecke habe die Koalitionäre unterstützt, indem sie zusammen mit ihrem Sohn und dem Junggrafen Konrad von Dortmund das Wißstraßentor durch eine List für zwei Wagen öffnen ließ. Sie hatte zuvor mit den Märkern vereinbart, dass der erste mit Holz beladene Wagen unter das äußere Fallgitter fahren und dort stehen bleiben sollte, damit das Gitter nicht wieder heruntergelassen werden konnte, während das Innengitter geöffnet wurde. Im zweiten Wagen waren unter dem Heu Bewaffnete versteckt. Sobald dieser Wagen durch das Tor gefahren war, sollten sie die Torwächter überwältigen. Die außerhalb des Walles versteckten Märker konnten dann auf ein Zeichen durchs Stadttor eindringen und die Stadt einnehmen. Agnes schickte den Pförtner zu den Fleischbänken, um ihr Pfefferpotthast zu kaufen. Dann stieg sie auf den Torturm und gab den im Hinterhalt wartenden Märkern mit einem weißen Tuch das verabredete Zeichen für den Angriff. Doch der Plan misslang, da das Innengitter nicht geöffnet wurde.

Agnes von der Vierbecke wurde mit ihrem Sohn und dem Junggrafen von Dortmund auf dem Torturm gefangen genommen und sofort zum Tode verurteilt. Die beiden Männer wurden auf dem Alten Markt hingerichtet. Sie jedoch wurde auf den Tat-Wagen gebunden und verbrannt. Agnes war 37 Jahre, die beiden Männer Arnt und Konrad 17 Jahre alt.

Der märkische Adel war über die schnelle Hinrichtung empört und erhob Klage gegen die Stadt. 1378 beeidete Dietrich von der Mark die Unschuld der drei Angeklagten. Zehn Jahre später eröffnete Graf Engelbert von der Mark eine große Fehde. Als erster der 17 Gründe für die Auseinandersetzung gab er die  Hinrichtung der unschuldigen Agnes von der Vierbecke, ihres Sohnes Arnt und des Grafen von Dortmund an. Zwar konnte sich Dortmund in dieser letzten großen mittelalterlichen Fehde noch einmal seiner Unabhängigkeit versichern, die Kriegsfolgen brachten die Stadt jedoch an den Rand des wirtschaftlichen Ruins. Jahrhunderte lang gedachte Dortmund mit einer Prozession an Michaelis, dem 29. September, dieser Auseinandersetzung, feierte sich als wehrhafte Gemeinschaft und beschwor seine städtische Identität.

Im Volksglauben waren Frauen, die wie Agnes verbrannt wurde, stets Hexen.  In Holzwickede arbeitete man die historische Begebenheit zu einer Sage um: Darin heißt es: Der Teufel in Gestalt eines galanten Mannes mit dunklem Gesicht, grünem Mantel, rotem Hut und unterschiedlich großen Schuhen buhlte um Agnes von der Vierbecke, er versprach ihr ein goldenes Spinnrad, das von selber spinnen konnte – was für ein Geschenk angesichts der nie enden wollenden, mühseligen Spinnarbeit. Als die Dortmunder die Hexen ausrotten wollten, erfuhren sie auch von Agnes und ihrem Spinnrad. Sie versuchten, Agnes nach Dortmund zu locken, was ihnen jedoch misslang. Daraufhin holten sie sie heimlich mit einem Wagen, banden sie darauf fest und verschleppten sie in ihre Stadt.In Dortmund wurde sie als Hexe verbrannt. Und während sie in den Flammen starb, versank das goldene Spinnrad im Brunnen des Hauses Vierbecke.

Uta C. Schmidt/ FRAUEN.ruhr.GESCHICHTE.

Orte:

Holzwickede, Unnaer Straße, 59439 Holzwicke (ehemaliger Truppenübungsplatz)
Wißstraßentor, 44137 Dortmund
Alter Markt, 44137 Dortmund

Literatur:

Hieber, Hanne: Die "Verräterin" von Dortmund, in: dies.: Drutmunde – Tremonia – Dortmund, Dortmund 1999, S. 40-41.
Hieber, Hanne: Agnes von der Vierbecke. Verräterin von Dortmund oder unschuldig verbrannt auf dem Markt der Stadt?, in: Heimat Dortmund 2/2003, S. 12-14.
Von goldenen Spinnrädern und gräulichem Unfug der Flachszieherinnen. Bele von Benninghofen, 1343, in: Hieber, Hanne, Drutmunde - Tremonia - Dortmund, Dortmund 1999, S. 34-36.
August Meininghaus: Der Verrat Agnetens von der Vierbecke in Chronik und Geschichte, in: Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark 22, 1913, S. 311-331.
Sondermann, Dirk, Ruhrsagen, Bottrop 2005.

Zitation: Schmidt, Uta C., Agnes von der Vierbecke, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/agnes-von-der-vierbecke/

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Eva Vliegen

Die Welt versank im Chaos, am Niederrhein, gen Ende des 16. Jahrhunderts: Als militärisches Operationsgebiet von Spaniern und Niederländern im niederländischen Aufstand ausgesaugt; durch die Kämpfe zwischen dem konvertierten Kölner Erzbischof Gebhard Truchsess von Waldburg und dem Papst um die Säkularisation der kurkölnischen Territorien bedrängt, durch Abgaben, Truppeneinquartierungen, Verschleppungen, Plünderungen, Brandschatzungen, Seuchen erdrückt …

Da ging ein Gerücht um: Eva Vliegen lebe in Moers ohne jegliche Nahrungsaufnahme. Die Moerser taten alles, um dieses Medienereignis zu vermarkten. Der Magistrat der Stadt Moers stellte ein Attest aus, der das Wunder amtlich verbriefte. Selbst in Amsterdam, London und im Gebiet des heutigen St. Petersburg kursierten Abbildungen von Eva Vliegen. Aus allen Schichten und Generationen pilgerten Menschen nach Moers. Fürstinnen, Theologen und Wissenschaftler besuchten Eva, die als Waise bei ihrer Tante Katrin in der Moerser Neustadt im Haag wohnte.
Seit frühester Kindheit an Armut und Hunger gewöhnt, wurde ihr nach einer schweren Erkrankung im Alter von 19 Jahren „jede Nahrungsaufnahme so sehr zum Übel“, dass sie fortan ohne Essen und Trinken lebte. An jedem dritten Tag bei Sonnenaufgang, so wurde berichtet, erschien jedoch ein Engel, der ihren Mund mit süßem Tau befeuchtete: Eva Vliegen ernährte sich somit durch spirituelle Nahrung – durch Licht sowie süße Tautropfen, ein seit den frühen Kirchevätern bis in die Barockzeit prominentes Bildzeichen für Gnade.

Der berühmte Stadtmedicus Wilhelmus Fabricius aus Bern kam nach 13-tägiger Beobachtung zu dem Schluss: „Sonst ist das Mädchen mit Frömmigkeit begabt, geht zum Gottesdienst, ist von mittelmäßiger Größe, bleich von Farbe, hat eingefallene Augenlieder, ist ziemlich mager. Die Schleimhäute sind feucht. Sie weint häufig. Der Puls ist matt, dunkel, doch ordentlich. Unter die Leute geht sie an einem Stecken. Von Flöhen und Mücken wird sie belästig wie andere auch. Sie scheint nicht gerade klug zu sein, redet aber gottesfürchtig in Glaubenssachen, ist verständig in Haus und anderen Dingen. Der Atem ist frei.“

Ein Flugblatt verbreitete 1614, ein Engel habe Eva verkündet, Gott würde die Menschheit ob ihrer Taten bestrafen. Von diesem Moment an verweigerte sie auch das Sprechen und blieb bis zu ihrem angeblichen Tode am 1. März 1614 stumm.

Doch Eva Vliegen lebte und hungerte weiter, bis nach dem Tode ihrer Tante im Jahre 1628 der über 30 Jahre währende „Betrug“ entdeckt wurde: Die Tante hatte ihr heimlich Nahrung zugesteckt. Eva Vliegen wurde zu öffentlicher Geißelung und Ausweisung verurteilt. Prinz Friedrich-Heinrich von Oranien, mittlerweile Landesherr zu Moers und Statthalter der Niederlande, ließ unter Berufung auf ihre „Einfalt“  Gnade vor Recht walten. Am 10. Juni 1637 starb Eva Vliegen eines natürlichen Todes.

Das angebliche Mirakel der Totalabstinenz war im 16. und 17 Jahrhundert, dem „Konfessionellen Zeitalter“, weit von einer allein persönlichen Entscheidung der Betroffenen entfernt. Es handelte sich um ein öffentliches Spektakel, eine Inszenierung, in der pekuniäre, politische wie wissenschaftliche Interessen zusammenfielen und das in höchstem Maße politisch instrumentalisiert wurde.

Eva Vliegens Geschichte steht für den Kampf um Deutungsmacht der Konfessionen ebenso wie für die Ablösung theologisch-religiöser hin zu wissenschaftlich-empirischer Einordnung körperlicher Phänomene.

Ernährung steht kulturell als eine Art von „Sprache“ zur Verfügung, über die ein Grad individueller Verfügungsgewalt besteht. Eva Vliegens Geschichte ereignete sich im protestantischen Moers zu Beginn der Neuzeit, in der das Wissen um religiös motivierte Nahrungsverweigerung als frauenmystische Lebensform und um charismatische Heiligkeitsmodelle noch präsent war. Mit der Wahl dieser Lebensführung erschlossen sich Tante und Nichte über nüchternes Kalkül hinaus auch eine Möglichkeit, den vorgezeichneten Lebensmustern ihres Standes und Geschlechts zu entkommen.

Uta C. Schmidt/ FRAUEN.ruhr.GESCHICHTE.

Orte:

Haagstraße, 47441 Moers

Literatur:

Bongen, Heide, Eva Vliegen, in: Schweitzer, Silke (Hg.), Auf den Spuren Moerser Frauen, Moers 1997, S. 12-14.
Pulz, Waltraud, Nüchternes Kalkül - Verzehrende Leidenschaft. Nahrungsabstinenz im 16. Jahrhundert, Köln 2007. 

Zitation: Schmidt, Uta C., Eva Vliegen, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/eva-vliegen/

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Emma Horbach

Am Ende des 19. Jahrhunderts war Sprockhövel ein Bergarbeiterdorf mit starker landwirtschaftlicher Prägung. Am 15. Juni 1884 erblickte dort Emma Rödelbrunn das Licht der Welt. Das Mädchen war eines von sieben Geschwistern. Emmas Vater war Bergmann, doch er verdiente nicht genug für die große Familie. So mussten auch alle Kinder mitarbeiten. Emma ging täglich vor der Schule Geschirr spülen. Dafür bekam sie Brot und ihre Schulhefte – sie spülte bei einem Schreibwarenhändler. Nach der Schulentlassung ging Emma wie viele junge Arbeitermädchen „in Stellung“.

Sie arbeitete als Dienstmädchen, im Gegensatz zur Fabrikarbeit galt dies als akzeptierte Form der Erwerbsarbeit für junge Frauen. Leicht war diese Tätigkeit nicht und die Willkür einiger Dienstherrinnen war unvorstellbar: So verlor Emma in Elberfeld ihre Stelle, weil der Hausherrin die Äpfel nicht schmecken, die Emma für sie auf dem Markt kaufen musste. Als sie in Blankenstein – heute ein Stadtteil von Hattingen – bei einem Lebensmittelgroßhändler in Dienst war, lernte Emma Karl Horbach kennen. Von nun an verlief ihr Leben nicht mehr ganz in den damals üblichen Bahnen.

Mit 23 Jahren heiratete sie Karl Horbach. Als Christin bestand sie auf einer kirchlichen Trauung, doch bald wurde sie zur kritischen Christin. Karl Horbach war in der SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) und in der Gewerkschaft aktiv. Und auch sie entwickelte politisches Bewusstsein. 1907, dem Jahr ihrer Eheschließung, verhinderte noch das preußische Vereinsgesetz ein aktives parteipolitisches Engagement: Von 1850 bis 1908 verbot es die Mitarbeit von Frauen in politischen Parteien.

1908 brachte Emma Horbach Zwillinge zur Welt und es vergingen kaum drei Jahre, da hatte sie vier Kinder zu versorgen. Die Familie wohnte in Hattingen in der Friedrichstraße. Karl Horbach arbeitete schwer, doch das Geld reichte selten. Und dann begann 1914 der Erste Weltkrieg.

Die Horbachs waren SPD-Mitglieder. Enttäuscht und wütend mussten sie zur Kenntnis nehmen, wie die SPD in Berlin den Kriegskrediten zustimmte. Für die Familie Horbach hatte dies direkte Auswirkungen: Das fünfte Kind wurde 1915 geboren, während der Vater an der Front kämpfte. Emma Horbach brachte die Familie in den Kriegszeiten allein über die Runden. Sie blieb politisch aktiv, verteilte Flugblätter. Die Suppe aus der Kriegsküche trug sie trotz des Hungers in der Familie nicht nach Hause, sie schüttete sie aus Protest direkt in den Straßengraben. Als „Rädelsführerin“ wurde sie verwarnt.

Am Ende des 1. Weltkrieges, mit Beginn der Weimarer Republik, erhielten Frauen das aktive und passive Wahlrecht. Emma Horbach kandidierte 1919 bei der Hattinger Stadtratswahl für die USPD, die Unabhängige Sozialdemokratische Partei, die sich 1917 aus der Ablehnung der Kriegskredite gegründet hatte. Sie erhielt den achten Listenplatz, doch fielen auf die USPD nur sieben Sitze im Stadtparlament. Nach der Auflösung der USPD zog Emma Horbach 1924 als Stadtverordnete für die KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) in den Hattinger Rat, in den Kreistag und 1930 in den Westfälischen Provinziallandtag. Häufig reiste sie als Referentin durchs Land. Das Dienstmädchen Emma Horbach wurde Politikerin. Wo hatte sie das Reden gelernt?

Während des Kapp-Putsches beteiligte sich das Ehepaar Horbach an der Verteidigung der jungen Demokratie. Beide wurden verhaftet und verbrachten einige Zeit im Gefängnis. Als Emma Horbach verbotene Zeitungen vor der Henrichshütte verkaufte, wurde sie erneut verhaftet und kam für vier Wochen in das Essener Gefängnis Haumannshof. „Eine Frau kann in dieser Zeit nur Hausfrau sein“, so stand es bei ihrer Verhaftung in der Zeitung. Doch da der Verdienst ihres Mannes nicht für die Familie reichte, konnte sie gar nicht „nur“ Hausfrau bleiben. Sie musste ihr eigenes Geld verdienen. Sie wusch Bettwäsche und arbeitete als Bauhelferin auf der Henrichshütte.

Während der Inflation 1923 standen die Frauen zum Zahltag am Werkstor der Henrichshütte, um den Lohn ihrer Männer in Empfang zu nehmen. Sie mussten sofort das Lebensnotwendigste einkaufen, bevor das Geld weiter an Wert verlor. Sie hasteten die Blankensteiner Straße hoch, dort gab es den werkseigenen Konsum. Doch gerade in dem Moment ließen die Verkäuferinnen die Gitter herunter, um die Preise erneut höher auszuzeichnen. Emma Horbach sprang auf die niedrige Schaufensterstufe und forderte die Frauen auf, mit ihr zur Werksleitung zu gehen um zu erfahren, wie man von dem wenigen Geld Leben und schwer Arbeiten sollte. Die meisten Frauen folgten ihr.

1932 wurde die KPD verboten. Die KPD-Abgeordnete Emma Horbach durfte das Stadtgebiet Hattingen nicht mehr verlassen. Karl Horbach kam für mehr als ein Jahr ins Gefängnis. 1939 beantragte das Ehepaar, nach Grünscheid ins Bergische Land ziehen zu dürfen. Dort fand Karl Horbach eine Stelle als Verwalter einer Hühnerfarm. 1941 verlor der jüngste Sohn Heinz in der Sowjetunion sein Leben. Der Sohn Karl starb 1943 im Hattinger Krankenhaus.

Das Ehepaar Horbach und die drei Töchter überlebten den Zweiten Weltkrieg. Nach dem Tode ihres Mannes 1955 kehrte Emma Horbach nach Hattingen zurück. Sie blieb politisch aktiv. Bis zu ihrem 80. Lebensjahr stand sie als Vorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes vor.

1976, im Alter von 92 Jahren, starb Emma Horbach geborene Rödelbronn in Hattingen.

Ute Senger/ LWL-Industriemuseum Henrichshütte Hattingen

Orte:

LWL–Industriemuseum Henrichshütte Hattingen, Werksstraße 31
Friedrichstraße, 45525 Hattingen

Literatur:

Dickhut, Luise, Die Horbachs, Erinnerungen für die Zukunft, Essen 1988. 
Keine Zeit um auszuruhen, Haus- und Lohnarbeit vom Hattinger Frauen im 19. und 20. Jahrhundert, hg. Volkshochschule der Stadt Hattingen, Hattingen [ca. 2005].

Zitation: Senger, Ute, Emma Horbach, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/emma-horbach/

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Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach

Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach war nahezu 50 Jahre Fürstäbtissin in Essen von 1726-1775. Als Gründerin des sogenannten ‚Waisenhauses’ in Essen-Steele stellt Erwin Steiner sie in der Festschrift zu dessen 300-jährigem Bestehen als „Heilige der Nächstenliebe“ in eine Reihe mit Elisabeth von Thüringen und Mutter Theresa. Die „Fürstin-Franziska-Christine-Stiftung“ – so der heutige Name – ist jedoch in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts nicht nur als karitative Einrichtung gegründet worden, sondern diente gleichzeitig als fürstliche Residenz und katholisches Bollwerk der Jesuiten an der Grenze zur preussisch-protestantischen Grafschaft Mark. Der Einfluss der Societas Jesu zu jener Zeit ist kaum zu überschätzen. Doch es gab auch andere Zeiten.
Franziska Christine stammte aus einer verarmten Nebenlinie der Kurfürsten von der Pfalz. Ihr Vater, Theodor Pfalzgraf zu Sulzbach, war verheiratet mit Eleonore Landgräfin von Hessen-Rheinfels-Rotenburg; es handelte sich also sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits um hoch angesehene altfürstliche Adelsgeschlechter. Franziska Christine, geboren 1696, war die drittälteste von sechs Geschwistern (vier Mädchen, zwei Jungen). Bis auf die drei Jahre ältere Schwester Maria Anna, die 1714 Nonne bei den Karmeliterinnen in Köln wurde, haben alle anderen Geschwister geheiratet. Alle vier Mädchen waren zeitweise Stiftsdamen.

Bereits im Alter von fünf Jahren erhielt Franziska Christine eine Pfründe im Stift Thorn/Roermond, das im 18. Jahrhundert mit Essen in Personalunion regiert wurde. Als Zehnjährige wurde sie von der dortigen Äbtissin, einer Tante mütterlicherseits, als Universalerbin eingesetzt, was angesichts der klammen Kassen bei dem Vater möglicherweise die Idee einer Stiftskarriere für diese Tochter hat aufkommen lassen.

Dass die 21-Jährige 1717 in Thorn zur Äbtissin gewählt werden würde, hatte dort niemand erwartet. Doch dank bester Vorarbeit – sei es durch Geld, Geschenke oder Versprechungen – konnte Franziska Christine im ersten Wahlgang neun von 16 Stimmen auf sich vereinen, obwohl sie noch gar kein Mitglied des Kapitels war und obwohl vier andere Stiftsdamen, die dem Stift seit Jahrzehnten angehörten, ebenfalls für dieses Amt kandidiert hatten. Simonie – Ämterkauf nennt man ein solches Vorgehen. Am 17. Juli 1717 hielt sie ihren großen Einzug, ähnlich dem, der 1726 nach ihrer Wahl in der mit Girlanden geschmückten Stadt Essen mit berittenen Kavalieren und abendlichem großen Feuerwerk stattfand. In der Zwischenzeit (1717-1726) kamen allerdings verschiedene Heiratsprojekte auf. Dass letztendlich alle Verbindungen scheiterten, lag wohl weniger an den Wünschen und Präferenzen Franziska Christines oder der Bewerber, noch an Schönheit oder Hässlichkeit, sondern in ihrem Fall waren wohl die Finanzen ausschlaggebend.

Bereits Ende 1716 – also vor der Wahl in Thorn – muss eine Heirat ins Auge gefasst worden sein, wobei unklar ist, mit wem. Franziska Christine schreibt am 8. Januar 1717 nach Sulzbach, zunächst habe sie gedacht, es sei ihr unmöglich sich „zu bewouster mariage […] zu resolviren“, doch, da ihre Mutter diese wünsche und immer nur das beste für sie wolle, könne sie sich auch dazu entschließen, zumal ihr „die Person […] so unangenehm nicht sey“.

Es fällt auf, dass nicht einmal in der Privatkorrespondenz zwischen Mutter und Tochter Namen genannt werden, um niemanden ins Gerücht zu ziehen. Geheimhaltung! Sicherheitsstufe eins: Man musste immer damit rechnen, dass die Post abgefangen und unterwegs geöffnet wurde. Vermutlich handelte es sich um einen Prinzen von Ligne, der Franziska Christina noch im Herbst des folgenden Jahres seine „besondere affection bezeugen“ ließ. Für ihn sprach, dass seine Mutter dem Königshaus von Aragon entstammte, doch man zweifelte, ob seine „subsistentz mittel“ für eine glückliche Ehe ausreichen würden. Es sei nicht anzuraten, die gute Versorgung als Fürstäbtissin von Thorn gegen die angetragene Heirat zu tauschen. Hier hat der eigene Vater seine Tochter wohl kräftig hinters Licht geführt, denn nicht der Bräutigam, sondern das Haus Pfalz-Sulzbach konnte die notwendige Mitgift nicht aufbringen. Die Fürsten von Ligne waren reich: Maria Josepha, die Tochter dieses Fürsten, wurde später Stiftsdame in Essen mit einer jährlichen Apanage von 40.000 Talern.

1720 berichtet der Graf von Hatzfeld, der schon die Thorner Wahl gemanagt hatte, von weiteren höchst geheimen Unternehmungen, Heiratspläne zur Versorgung der Prinzessin Franziska Christine zu schmieden. In Augsburg hatte er mit dem König von Sardinien konferiert, der ihm versicherte, wie sehr er die Prinzessin „venerire“ (= bewundere). Hatzfeld berichtet auch von möglichen Allianzen mit dem jüngeren Prinzen von Orléans oder dem zweiten Bruder des Herzogs von Parma. Immer hat dabei der Aspekt der Geheimhaltung oberste Priorität, um im Fall des Nicht-Zustandekommens weder einzelne Personen noch die beteiligten Häuser bloßzustellen. Das Bekanntwerden solcher Verhandlungen im Falle des Scheiterns bedeutete einen Ehrverlust des Hauses; Heiratsprojekte zu schmieden war oft ein Vabanque-Spiel und erforderte höchste diplomatische Kunst.

Noch fünf Jahre nach Franziska Christines Wahl in Thorn heißt es, Prinz Antoine de Parma habe sein Absehen einzig und allein auf sie gerichtet. Obwohl für ihn eine andere Partie bestimmt sei, wolle er – so ein Bericht aus Florenz – nur sie heiraten. Wie Franziska Christine zu ihm stand, wissen wir nicht. Verloren gegangene Akten des Bayerischen Hauptstaatsarchivs in München, deren Inhalt nur vage aus den Findbüchern bekannt ist, verweisen auf weitere Heiratsanträge: 1723 bot sich ein Prinz zu Radziwill als Bräutigam an, 1724 der regierende Herzog von Bouillon. Offensichtlich waren diese europäischen Höfe, die Herzöge von Bouillon, von Orléans, von Parma oder auch von Radziwill sehr daran interessiert in den deutschen Hochadel einzuheiraten.
Angeblich sind alle ins Auge gefassten Heiratsverbindungen daran gescheitert, dass die Bewerber nicht genügend Vermögen vorweisen konnten; wahrscheinlicher ist die zweite Variante: die Sulzbacher hatten nicht genug Geld für eine ordentliche Mitgift, zumal für die Wahl in Thorn schon erhebliche Mittel hatten aufgebracht werden müssen.

Umso bitterer war das Erwachen, als man am Sulzbacher Hof Genaueres über die Finanzverwaltung der Thorner Abtei erfuhr. Die wirtschaftlichen Verhältnisse in Thorn waren schon beim Regierungsantritt der neuen Fürstäbtissin katastrophal. Ein pfälzischer Berater, den Franziska Christine um Hilfe gebeten hatte, stellte fest, dass für die fürstliche Haushaltung in Thorn mindestens knapp 6.000 Reichstaler pro Jahr benötigt würde, doch die Einnahmen betrügen nur gut die Hälfte. Als Franziska Christine ihren Vater bat, einige Wochen im Jahr in Sulzbach verbringen zu dürfen, um Kosten zu sparen, lehnte dieser das Ansinnen rundweg ab. Im Frühjahr 1722 konnte sie nicht einmal an den Hochzeitsfeierlichkeiten ihres Bruders in Bergen-op-Zoom – also ganz in der Nähe – teilnehmen, weil sie nicht in der Lage war, das Nötigste für eine solche Reise, nämlich eine kleine Reisekutsche, eine „Nachtzeug Khyste“ und verschiedene Spitzengarnituren anzuschaffen. Um die Misere insgesamt zu beheben, empfahl der Vater, Franziska Christine möge für einige Monate ins Kloster der Cellitinnen nach Düsseldorf gehen. Das geschah mehrere Jahre lang. Offiziell hieß es dann in Thorn auch in den folgenden Jahren, die Fürstin brauche Luftveränderung. Die finanzielle Misere änderte sich erst, als Franziska Christine 1726 auch Fürstäbtissin in Essen wurde und ihr die Einnahmen aus dieser größeren Abtei ebenfalls zuflossen.

Es handelte sich bei diesen dynastischen Eheanbahnungen immer um äußerst delikate Operationen, die bis zu einem positiven Abschluss höchste Geheimhaltung verlangten. Franziska Christines Eheprojekte scheiterten an den miserablen Finanzen ihres Vaters, die es nicht einmal zuließen, solche Projekte über vorsichtige Sondierungen im Vorfeld hinaus wachsen zu lassen. Nicht ihre eigenen Wünsche hatten Vorrang, sondern die des Hauses Pfalz-Sulzbach, dem sie als Fürstäbtissin von Essen und Thorn wohl besser dienen konnte denn als als Ehefrau..

Ute Küppers-Braun/ Essen

Orte:

Fürstin-Franziska-Christine-Stiftung, Steeler Straße 640-646, 45276 Essen
Schloss Borbeck, Schloßstraße 101-103, 45355 Essen

Literatur:

Küppers-Braun, Ute  (vertaling Marc Hulsbosch), Te lelijk om te trouwen? Maria Cunegunda van Saksen en Francisca Christina van Pfalz-Sulzbach, in: De Krotewès. Tijdschrift geschied- en heemkundige kring „Het Land van Thorn“ 17,3, 2009, S. 131-148.


Küppers-Braun, Ute, Fürstäbtissin Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach (1726-1776), in: Christen an der Ruhr Bd 1, hg. v. Alfred Pothmann und Reimund Haas. Essen 1998, S. 61-82.

Zitation: Küppers-Braun, Ute, Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/franziska-christine-von-pfalz-sulzbach/

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Maria Kunigunde von Sachsen

Bis heute hält sich hartnäckig das Urteil, Maria Kunigunde von Sachsen sei nur deshalb Fürstäbtissin von Essen geworden, weil sie zu hässlich für eine Heirat gewesen sei. Weder der Focus auf die politischen Dimensionen ihres Amtes, das sie von 1775/6 bis 1803 als letzte Fürstäbtissin von Essen ausübte, noch auf ihre wirtschaftlichen Unternehmungen während der beginnenden Industrialisierung konnten daran etwas ändern.

Eine Akte im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden zeigt jedoch, dass die Frage nach Hässlichkeit oder Schönheit ein äußerst geschickter Schachzug war, um von den politischen Optionen, die es im Heiratsgeschäft des Adels zu beachten galt, abzulenken. Die Akte handelt von dem Eheprojekt mit Josef II. von Österreich, dessen erste Frau Isabella von Parma an Pocken verstorben war. Seine Depression hoffte man durch eine neue Heirat zu kurieren. Schon während der Krankheit Isabellas, als sich abzeichnete, dass keine Rettung möglich war, kam als erste Brautkandidatin Maria Kunigunde von Sachsen ins Gespräch. Sie war 1740 in Warschau als 15. und jüngstes Kind des sächsischen Kurfürsten Friedrich August II. (+ 1763) – zugleich als August III. König von Polen – und seiner Gattin Maria Josefa Antonia, Erzherzogin von Österreich (+1757) geboren worden.

Schon kurz nachdem Isabella von Parma am 27. November 1763 gestorben war, meldeten auch andere Höfe Interesse an einer Ehe an: fünf Prinzessinnen konkurrierten um den Erzherzog.
Josef gab erst Ende August 1764 seine Zustimmung zu einer Wiederverheiratung. Bis dahin war jedoch einiges geschehen. Nicht nur die offizielle Politik war aktiv, sondern vor allem die immer rührigen Wiener Hofchargen, die sich durch ihr Wissen leicht ein gutes Zubrot erwerben konnten, immerhin ging es um die zukünftige Kaiserin. Als aktiv gegen Sachsen und für die kurbayerische Kandidatin Maria Josefa Handelnde werden in sächsischen und österreichischen Akten genannt: eine Gräfin von Sternberg, eine Fürstin von Fürstenberg, eine junge Fürstin von Auersberg und Fürst und Fürstin von Liechtenstein.

Die schlimmsten Fehler in der ganzen Angelegenheit beging wohl der sächsische Resident in Wien, Graf Petzold. Er ignorierte die konkurrierenden Prinzessinnen von Anfang an und gab ihnen keine Chance, obwohl schon im Januar beleidigende Gerüchte über Maria Kunigunde und über ihren Bruder Clemens Wenzeslaus in Umlauf waren. Petzold sah auch keinerlei Gefahr, als die Zustimmung des Erzherzogs zu einer zweiten Ehe mit einer brisanten Bedingung verknüpft war: Entgegen allen Gepflogenheiten an europäischen Höfen wollte Josef seine zukünftige Frau vorher persönlich in Augenschein nehmen.

Die Dresdener Akten erwähnen diese „delikatesse“ Ende August 1764 zum ersten Mal. Für Maria Kunigunde stand praktisch alles auf dem Spiel und Dresden gab erst grünes Licht, nachdem sie einem Treffen mit dem Erzherzog zugestimmt hatte. Ihre Einwilligung war äußerst mutig, auch wenn ihr kaum eine andere Möglichkeit blieb. Ein ‚Nein’ wäre als Feigheit, als Bestätigung der Gerüchte über ihre Hässlichkeit gedeutet worden. Ein ‚Ja’ gab sie – im Falle der Ablehnung – dem europäischen Hofklatsch preis. Ablehnung bedeutete nicht nur ihren persönlichen Ehrverlust, sondern den des ganzen kurfürstlichen Hauses Sachsen. Auf dem Heiratsmarkt wäre sie für alle Zukunft ‚verbrannt’ gewesen. Unabdingbare Voraussetzung für ein solches Treffen war deswegen – so die Forderung Dresdens – absolute Diskretion und die höchste Geheimhaltungsstufe. Beides sicherte Wien uneingeschränkt zu.

Dennoch wurde Graf Petzhold von den Dresdener Diplomaten mehrfach und eindringlich gewarnt, noch einmal zu überprüfen, ob es nicht möglich sei, dass dieses Treffen nur deswegen arrangiert werde, damit der Erzherzog, der wohl schon von anderen Hofchargen „gegen unsere Prinzessin […] praevenirt und eingenommen sey“ sich von dem Projekt „dispensiren“ könne, indem er versuche, „aus der selbst in Augenschein genommenen sich selbst exaggerirenden Gesichtsbildung, bey Ermangelung aller anderen Ausstellungen“ die Heirat abzulehnen.
Schließlich fand am 10. und 11. Oktober 1764 in dem kleinen Kurort Teplitz an der Südseite des Erzgebirges zwischen Dresden und Prag das arrangierte Treffen statt. Maria Kunigunde kam in Begleitung ihrer verwitweten Schwägerin Maria Antonia, einer geborenen Prinzessin von Bayern. Maria Kunigunde selbst schrieb ihrem Bruder kurz nach der Ankunft einen recht lebendigen Brief über viele Einzelheiten der Reise, schließend mit dem Wunsch, dass der Wille Gottes sich erfüllen möge; der Erzherzog wird mit keinem Wort erwähnt.

Wie die Sache ausging, ist schnell erzählt: Am. 2. November fand in Straubing ein ähnliches Treffen mit der bayrischen Prinzessin Maria Josefa statt, die Josef schließlich zur Frau nahm. Nach seinen sehr privaten Aufzeichnungen gefiel Josefa dem Erzherzog ebenso wenig wie Maria Kunigunde. Er hat seine Braut auch nicht nach dem Aussehen erwählt, sondern aufgrund von Kriterien, die bei dynastischen Allianzen immer eine Rolle spielten: Im März des Jahres 1764 hatte die Wahl des Erzherzogs zum Römischen König stattgefunden. Bayerns Stimme war dafür unbedingt notwendig, aber nicht sicher gewesen. Auch der erbländische Adel am Wiener Hof war pro-bayerisch eingestellt, fürchtete er doch um seine böhmischen Besitzungen, auf die der bayrische Kurfürst Anspruch erhob. Um es sich weder mit Bayern noch mit Sachsen zu verderben, musste man beiden Häusern entgegen kommen. Da es in Bayern aber keinen männlichen Nachfolger gab, bot sich folgende Regelung an: Erzherzog Josef heiratet die bayerische Prinzessin Maria Josefa; Erzherzogin Christine, eine Schwester Josefs, heiratet Albert von Sachsen. Das war die einzige Möglichkeit, mit beiden Häusern Allianzen zu schließen. Geopfert wurde dabei Maria Kunigunde. Sie war – wie wohl viele Prinzen und Prinzessinnen der Zeit – nur eine Figur auf dem Schlachtfeld der Politik.

In Dresden tat man so, als sei nichts geschehen, und ging erstaunlich schnell zur Tagesordnung über, zumal Kaiserin Maria Theresia sich alle Mühe gab, die Sache wieder gutzumachen. Sie bot Maria Kunigunde an, ihr das Damenstift auf dem Hradschin in Prag, in dem eine ihrer Töchter Äbtissin war, mit großzügigen Einkünften zu überlassen. Doch Dresden lehnte ab. Dort wandte man das in der Frühen Neuzeit so gern geübte Verfahren der Retorsion, also die Erwiderung einer Beleidigung, an, indem man die Habsburger ebenfalls demütigen, zumindest in eine schwierige Situation bringen wollte. Sechs Tage, nachdem man in Dresden erfahren hatte, dass die Ehe zwischen Maria Kunigunde und dem Erzherzog nicht zustande kommen würde, verlangte man dort als Entschädigung die höchste Würde „bei einer angesehenen immediaten Reichs-Fürstlichen Abtei eines teutschen Damenstiffts […], womöglich die von Essen.“ Wien brauchte fast ein Jahrzehnt, um die Essener Fürstäbtissin, die Stiftsdamen und die Kanoniker zu bewegen, diese Forderung zu erfüllen, indem sie gegen die verfassungsrechtlichen Bestimmungen des Stifts Maria Kunigunde zur Koadjutorin mit dem Recht der Nachfolge im Amt der Fürstäbtissin wählten. Darüber hinaus erhielt Maria Kunigundes Bruder, Clemens Wenzeslaus von Sachsen, der schon in Regensburg und Freising Bischof war, durch Wiener Einflussnahme zunächst das Bistum Augsburg, später auch das Kurfürstentum Trier, wo beide Geschwister bis zum Einmarsch der Franzosen 1795 in eheähnlicher Beziehung als „ma chère femme“ und „mon mari“ Hof hielten.

Ute Küppers-Braun / Essen

Orte:

Schloss Borbeck, Schloßstraße 101, 45355 Essen

Literatur:

Küppers-Braun, Ute (vertaling Marc Hulsbosch), Te lelijk om te trouwen? Maria Cunegunda van Saksen en Francisca Christina van Pfalz-Sulzbach, in: De Krotewès. Tijdschrift geschied- en heemkundige kring „Het Land van Thorn“ 17,3, 2009, S. 131-148.
Küppers-Braun, Ute, Frauen des hohen Adels im kaiserlich-freiweltlichen Damenstift Essen (1605-1803). Eine verfassungs- und sozialgeschichtliche Studie. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Stifte Thorn, Elten, Vreden und St. Ursula in Köln (Quellen und Studien. Veröffentlichungen des Instituts für kirchengeschichtliche Forschung des Bistums Essen 8), 1997.
Puppel, Pauline, "Mon mari“ –„ma chère femme“. Fürstäbtissin Maria Kunigunde von Essen und Erzbischof Clemens Wenzeslaus von Trier, in: Koblenzer Beiträge zur Geschichte und Kultur 15/16, 2005/2006, S. 43-66.

Zitation: Küppers-Braun, Ute, Maria Kunigunde von Sachsen, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/maria-kunigunde-von-sachsen/

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Gertrud Bäumer

Gertrud Bäumer, eine der zentralen Persönlichkeiten der Frauenbewegung, wurde in Hagen-Hohenlimburg geboren, ging zeitweise in Mülheim an der Ruhr zur Schule und trat ihre erste Stelle als Lehrerin im Kamen an. Der Lehrerinnenberuf war für Frauen ihrer Generation der einzige als standesgemäß geltende Erwerbsberuf. Am 1. Oktober 1892 übernahm Gertrud Bäumer als Volksschullehrerin der reformierten Gemeinde in Kamen eine Doppelklasse mit siebzig Schülerinnen und Schülern.

Prägende Jahre in Kamen

In ihren Erinnerungen widmete sie der Zeit in Kamen 16 Seiten und hielt die Lebensverhältnisse ihrer bäuerlichen, kleinbürgerlichen und proletarischen Schützlinge, aber auch ihre eigenen Strategien, der Schulwirklichkeit gerecht zu werden, detailliert fest. Die Kamener Zeit brachte der späteren Bildungspolitikerin und Pädagogin erste intensive Berührungen mit der schulischen und gesellschaftlichen Realität. Wie der Kamener Stadtarchivar Hans-Jürgen Kistner betont, erlebte sie diese eingebettet in einen bodenständigen, konservativen Protestantismus. Aber in Kamen erhielt sie auch erste Einblicke in die Frauenbewegung: An ihrer Schule unterrichten außer Bäumer noch drei weitere Lehrerinnen, von denen eine ältere Kollegin ihr in der ersten Berufszeit beistand. Von ihr erfuhr sie auch vom 1890 durch Helene Lange gegründeten Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein und der Zeitschrift  Die Lehrerin. In Kamen erhielt sie praktische wie theoretisch Anstöße für ihr weiteres Leben als eine der bekanntesten Frauen- und Bildungspolitikerin der Weimarer Republik.

Bund deutscher Frauenvereine

Die Bildungspolitikerin Bäumer hatte in der Kaiserzeit zusammen mit Helene Lange erfolgreich reformpädagogische Selbsthilfeprojekte der Frauenbewegung ins Leben gerufen. Anerkennung zollte man ihr dafür 1906 durch die Berufung in eine 45köpfige Kommission zur Reform des Höheren Mädchenschulwesens. In die Geschichte der Frauenbewegung ging Gertrud Bäumer durch ihre Vorstandsfunktionen im Bund deutscher Frauenvereine (BDF) ein, in die Geschichte des deutschen Liberalismus als Mitbegründerin der Deutschen Demokratischen Partei, in die Geschichte des Parlamentarismus als eine der ersten weiblichen Abgeordneten.

1920 wurde Gertrud Bäumer Ministerialrätin im Reichsinnenministerium und war für die Jugendfürsorge und das Schulwesen zuständig. Nach der Machtübernahme suspendierten sie die Nationalsozialisten und entließen sie mit einer Volksschullehrerinnenpension. Bis zu ihrer Absetzung im Jahre 1936 gab sie trotz Gleichschaltung weiterhin Die Frau, das Organ der bürgerlichen Frauenbewegung heraus. Nach 1936 trat sie als viel gelesene Schriftstellerin an die Öffentlichkeit.

Bäumer in der aktuellen Forschung

Von der aktuellen Forschung wird Gertrud Bäumer ambivalent beurteilt, was mit ihrer uneindeutigen Haltung dem Nationalsozialismus gegenüber zusammenhängt. Sie folgte den nationalsozialistischen Vorstellungen von einem großdeutschen Reich bis zuletzt. Die rassistische Verfolgung, Ausgrenzung und Ermordung nahm sie nicht oder nur begrenzt wahr. Bäumer kämpfte gegen den Antisemitismus, gleichzeitig zeigte sie sich unsensibel gegenüber Jüdinnen und Juden und pflegte antijüdisch gefärbte Vorurteile. 1919 verhinderte sie die Wahl von Alice Salomon als Vorsitzende des Bundes deutscher Frauenvereine (BDF). Offiziell unterband sie Salomons Kandidatur mit dem Hinweis auf die antisemitische Grundstimmung in der Öffentlichkeit. Bäumers Verhalten nach der Machtübernahme lässt sich am ehesten als „lavieren“ beschreiben: Sie überschätzte die eigenen publizistischen Wirkungsmöglichkeiten. Ihre Anpassungsstrategien und selektiven Wahrnehmungen führten bereits zu Lebzeiten zu Kritik.

Erfahrungen für das Leben

Der folgende Auszug aus Bäumers  Im Licht der Erinnerung vermittelt einen Eindruck in die Lebensverhältniss in Kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in die Schulwirklichkeit einer jungen Lehrerin:

Zum Herbst bot mir ein Schwager meiner Mutter, der Pfarrer in Kamen war, eine Lehrerinnenstelle in der Volksschule an, die mit seiner Kirchengemeinde verbunden war. Ich wurde gerade 19 Jahre alt, als ich – für 980 Mark im Jahr – die Stelle antrat.

Ein neues, kräftiges Stück Wirklichkeit tat sich auf als Umwelt und Arbeitsfeld. Die Stadt, zwischen Dortmund und Hamm gelegen, war damals noch in ihrer Struktur ackerbürgerlich. Aber eine große Zeche hatte schon einen Teil der Handwerker und Kleinlandwirte in Bergleute verwandelt und oberschlesische Arbeiter angezogen.
Ich wohnte im Pfarrhaus und damit im Mittelpunkt eines lebendigen, kirchlichen Gemeindelebens altwestfälischer Prägung … Für die Verbindung mit den Schulkindern war meine Zugehörigkeit zum Pfarrer unersetzlich wertvoll. Ich begleitete ihn auf den nachmittäglichen Gemeindebesuchen zu den Eltern – Bauern, Handwerker, Bergleute in der Stadt und auf den verstreuten Höfen und Kleinstellen im Lande; ich wurde mit zu den Kindtaufen und Hochzeiten eingeladen und in schwierige landwirtschaftliche Gespräche über Ferkelzucht verwickelt; ich ging mit hinaus ins Zechengelände, als Bergleute verschüttet waren und angstvolle Trupps von Frauen und Kindern auf den Erfolg der Bergungsarbeiten warteten. So verwuchs man rasch mit dem eigentümlichen Lande, in dem die Fördertürme und Schlackenhalden hinter den breiten Bauernsitzen der Schulze-Velmede oder Schulze-Asten in den Horizont ragten, und die Bergleute durch die eingehegten Vieweiden die weiten Wege von ihren Kleinstellen zur Schicht zogen …
Der Lehrer einer pädagogischen Akademie von heute wird den Vorbereitungszustand, in dem eine neunzehnjährige Lehrerin eine große Klasse mit zwei Jahrgängen des dritten und vierten Schuljahrs – etwa 70 Kinder – mit dem gesamten Unterricht, auch Gesang, Zeichnen und Handarbeit, übernahm, einfach frevelhaft finden. Für die technischen Fächer war ich weder vorbereitet noch geprüft, meine Ausbildung, wenn man sie so nennen will, und mein Examen bezog sich mit zwei Fremdsprachen auf die „höheren Schulen“ – sicher wäre die eines ordentlichen Volksschulseminars in jeder Beziehung solider gewesen…

Mit theoretischen Vorstellungen von den Herbartschen Formalstufen, einer gewissen autodidaktischen Praxis aus dem Kindergottesdienst und zwei faktisch abgehaltenen Lehrproben, stand ich vor der Schar, die zunächst mein Hochdeutsch so wenig verstand, wie ich ihren Dialekt. Gleich in meiner ersten Stunde erhoben eine Reihe Finger sich mit der Mitteilung: \ich bin durchgeregnet\. Es war ein nasser Herbsttag, und die Kinder kamen zum Teil vom Lande auf weiten Wegen. Was machte man mit ihnen? Diese äußeren praktischen Fragen waren viel entscheidender als die \Methode\. Man mußte zum Beispiel wissen, wie der Urlaub zu landwirtschaftlichen Hilfsarbeiten zu handhaben war. Da von der Regierung Entgegenkommen empfohlen war, beurlaubte ich zum Vergüngen meines Onkels die Kinder zum Rübenausziehen an einem Frosttag, an dem kein Mensch eine Rübe aus der Erde holte…

Merkwürdigerweise ging es auch in dieser Form. Die Erinnerung an diese Schule ist mir immer ein Beweis, wie wenig Vorbereitung, Regelung und Paragraphen eine lebendige Sache braucht, um zu gedeihen, und daß es eigentlich auf andere Dinge ankommt, als auf `Pädagogik`im Schulsinn. (Ich bin sehr ketzerisch geworden in bezug auf „Lehrerbildung“. Das wichtigste ist, daß man sofort anfängt, mit den Kindern zu leben. Kann man das am Beispiel lernen? Ich weiß nicht, was mir die beste Vorbereitung geholfen hätte in dem breiten, niedrigen Raum mit den über den Köpfen der Kinder liegenden Fenstern, der durch Rattenfraß etwas durchlässigen Tür, dem Ofenrohr, das quer durch den Raum zur Wand führte und auf dem manchmal Tauben saßen, und diese Schar von Kindern vor mir – wohlgeraten und verkümmert, aus Bürgerstuben, von Bauernhöfen und aus Zechenhäusern, in Schuhen und in Holzpantoffeln, verwahrlost und gepflegt, mit sauber geflochtenen Zöpfen und in verdächtiger stumpfer Struppigkeit. Diese Wirklichkeit hätte man sich ja vorher nicht ausdenken können. Sie mußte eben angepackt werden. Da waren zum Beispiel vier ältere stumpfe Mädchen, die einfach nicht lesen und schreiben konnten. Drei Jahre waren sie so mitgelaufen. Ich habe sie ganz naiv täglich eine Stunde dabehalten, damit sie diese schweren Künste noch lernten, obwohl die Kollegen sagten ,das ginge grundsätzlich nicht. Wegen eines dieser Kinder wurde ich als Zeugin nach Dortmund vorgeladen; der eigene Vater hatte ein Sittlichkeitsverbrechen an seiner Tochter begangen. Eine unbekannte Welt klaffte auf. Dem einzelnen Kinde gerecht zu werden, darin schien mir immer die Schwierigkeit meiner Aufgabe zu liegen; den Unterricht, die Behandlung des \Lehrstoffs\ fand ich sehr viel einfacher. Aber das lag gewiß daran, daß ich so wenig \Methodik\ gelernt hatte. Für mein Gefühl waren mir vor allem die Kinder, jedes einzelne, anvertraut, viel mehr als das Pensum oder das \Lehrgut\. Und dieses Gefühl, daß die Schicksale der Kinder mir zu einem guten Teil aufgegeben waren, wurde ja auch durch den persönlichen Zusammenhang in der Schulgemeinde verstärkt. Der Pfarrer kannte von vielen der Kinder die Familienverhältnisse genau. Der Schule selbst lag, da sie Gemeindeschöpfung war, an dem Menschen, nicht an dem \Bildungsziel\; sie war mehr Lebensgemeinschaft als `Lehranstalt\…

Wenn ich heute eine alte Photographie der Klasse ansehe, kenne ich noch alle Namen. Ich weiß, wie die kleine, kräftige Martha Vorwig die Stricknadeln packte, daß sie sich in der heißen Kinderhand verbogen, ich sehe die dunkelhaarige Martha Stahl mit den mich selbst einschüchternden, unbeschreiblich dreisten, schwarzen Augen ungebändigt auf der \Sünderbank\ neben dem Katheder sitzen, und ich fühle wieder die Not von Minnie Kämpfer, dem Bergmannskind, in ihrem fadenscheinigen, karmoisinroten Kleidchen mit der kirschroten Schürze. Ich hatte ihr einmal nachmittags nicht freigegeben, als sie, wie fast immer, behauptete, zuhause bleiben zu müssen, weil ihre Mutter Kohlen holte. Da klopfte es leise an die Klassentüre, als die Zeichenstunde schon angefangen hatte, und davor stand, schweißperlend, das achtjährige kleine Ding mit einem Säugling auf dem einen Arm, dem sie den Bleistift zum Halten in die Faust gesteckt hatte; das Heft hatte sie unter den anderen Arm geklemmt. Sie wurde mit ihrem Pflegling in der Klasse installiert (wir \verwahrten` trotz amtlichen Verbots öfters kleine Geschwister), und wir dachten, es sei nun gut. Das Kind aber fing bitterlich an zu weinen und schluchzte auf Befragen verzweifelt: “es sind noch welche draußen. Ja, da saßen noch drei aufsteigenden Alters auf den Stufen der Haustür; die waren alle sauber gemacht, in Marsch gesetzt und den weiten Weg von den Zechenhäusern herangeschleppt worden; kein Wunder, daß der kleinen Mutter die blonden Haare in Strähnen an der Stirn klebten und die feuchte, kleine Hand zitterte, als sie anfing, ihre Striche zu malen. Nun war sie aber auch unauslöschlich dankbar. Als die große Familie bald darauf zur Zeche Königsborn übersiedelte, hat sie alle Vierteljahre, wenn wir Lehrer zur Konferenz nach Unna mußten, an der Straße gewartet, um guten Tag zu sagen…

Dr. Uta C. Schmidt/ frauen/ruhr/geschichte

Literatur:

Bäumer, Gertrud, Im Lichte der Erinnerung, Tübingen 1953; Auszug aus dem 5. Kapitel, S.  102 – 118.
Kistner, Hans-Jürgen, Wegbereiterin der Frauenbewegung als Lehrerin in Kamen, in: Jahrbuch des Kreises Unna 1988, S. 132f.
Kistner, Hans-Jürgen,„Mehr Lebensgemeinschaft als Lehranstalt“. Gertrud Bäumers Erfahrungen als Lehrerin in Kamen, in: Jahrbuch des Kreises Unna 2004, S. 45-50.
Schaser, Angelika, Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, Köln, Weimar, Wien 2000.

Zitation: Schmidt, Uta, Gertrud Bäumer, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/gertrud-baeumer/

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Maria Weber

Rund 200 Frauen aus allen Teilen Deutschlands haben an den blumengeschmückten Tischreihen Platz genommen, als Maria Weber, im Kostüm und mit leicht toupierten Haaren, das Rednerpult auf der Bühne der Kasseler Stadthalle betritt. Im Saal ist die Atmosphäre des politischen Aufbruchs mit Händen zu greifen. Die Delegierten auf der DGB-Bundesfrauenkonferenz des Jahres 1971 sind voller Erwartungen.

Bereits am Eröffnungstag haben hochrangige Vertreter des sozialliberalen Bundeskabinetts in der ersten Stuhlreihe Platz genommen. Erstmals in der Geschichte der Bundesfrauenkonferenzen hat ein Bundeskanzler persönlich zu den Teilnehmerinnen gesprochen: Willy Brandt. Die umfangreichen Reformen, die der Kanzler versprochen hat, signalisieren einen möglichen Quantensprung in der Frauenpolitik.

Doch es gibt auch Sprengstoff. Als Justizminister Gerhard Jahn über die Reform des Abtreibungsparagrafen 218 referiert, entfacht er eine hitzige Diskussion. Die überwältigende Mehrheit der anwesenden Funktionärinnen fordert die Fristenlösung. In dieser Situation, es ist der 12. Juni, tritt Maria Weber an das Rednerpult und spricht die Worte, die bleischwer auf der Frauenkonferenz lasten: Ich halte die Abtötung der Leibesfrucht auch bis zu drei Monaten für unerlaubt. Es ist nach meiner Vorstellung Aufgabe der Gesellschaft, den Schwächeren, der sich nicht helfen und wehren kann, zu schützen und nicht Leben zu vernichten.

Da steht sie vor ihren Frauen, innerlich zerrissen zwischen ihnen, für die sie immer gekämpft hat, und ihrem Gewissen. Mancher jungen Besucherin muss Maria Weber in diesem Augenblick als Relikt aus einer vergangenen Zeit erscheinen: aus der „Trägerrockgeneration“, dazu noch katholisch und politisch schwarz. Was umgekehrt Maria Weber von der Frauenbewegung der jungen Generation hält, gibt sie später, 1982, der Zeitschrift Emma zu Papier: Manche von den Jüngeren denken heute, sie hätten die Frauenfrage entdeckt und als Erste dafür etwas getan – als ob wir uns nicht schon seit mehr als 30 Jahren dafür die Hacken abrennen.

Seit 1956 hat Maria Weber die Frauenpolitik im DGB-Vorstand verantwortet. Sie hat sich für die Abschaffung der „Zölibatsklausel“ eingesetzt, die Arbeitgebern erlaubte, Frauen, die eine Ehe eingingen, zu kündigen, und sie hat gegen den „Frauenabschlag“ auf Löhne gekämpft. In den 60er und 70er Jahren war eines ihrer wichtigsten Ziele der gleichberechtigte Rentenanspruch für Frauen. Unter Maria Webers Führung war aus den DGB-Frauen eine schlagkräftige, laute Gruppe geworden. Frauen müssen um ihre Rechte nicht bitten, sie leisten etwas, also fordern sie, lautete ihr Credo.

Noch viele Bastionen des Patriarchats mussten gestürmt werden – dazu gehörten auch die gewerkschaftlichen Organisationen selbst. Ein Hort der alten Rollenmuster waren vor allem die Schule und die Familie. Hier, beim bürgerlichen Familienmodell, setzte Maria Weber über die Sozialausschüsse der CDU den Hebel an – und dies ist bis heute ein Lehrstück, wie man Politik macht. Als Erstes erweckte sie die Arbeitsgemeinschaft berufstätiger Frauen, die in der CDA bis dahin ein Mauerblümchendasein fristete, zu neuem Leben. Als ihre Vorsitzende etablierte sie für die Gewerkschafterinnen der CDU damit ein Gremium, das antragsberechtigt war und auf die Programmatik der CDU Einfluss nehmen konnte.

Mit Hartnäckigkeit und Geschick gelang es Maria Webers Gruppe schließlich, folgenden Satz im Düsseldorfer Programm der CDU von 1971 zu verankern: „Leitbild der Familienpolitik ist die partnerschaftliche Familie.“ Das Postulat schien auf den ersten Blick harmlos. Für Maria Weber jedoch diente es fortan als programmatische Plattform, um das bürgerliche Familienideal der CDU zu torpedieren. „Partnerschaftliche Familie“ bedeutete ja, dass Mann und Frau in gleicher Weise für Erwerbsarbeit und Familienarbeit zuständig waren. Das musste durch eine entsprechende Familienpolitik unterstützt werden – durch Kinderkrippen, Kindertagesstätten und Ganztagsschulen.

Entsprechende Petitionen trugen die Gewerkschafterinnen der CDA unter Maria Webers Führung nun immer wieder in die Gremien der Partei. Hier war Maria Weber ihrer Zeit weit voraus. Erst gut 30 Jahre später sollte die CDU mit einer gewandelten Familienpolitik, die Ursula von der Leyen als Bundesfamilienministerin vertrat, jene Wende vollziehen, die Maria Weber mit ihren Kolleginnen angebahnt hatte. Eine familienpolitische Dimension hatte auch das Konzept des 6-Stunden-Tages, wie es Maria Weber entwickelte.

Vor allem für die ganztägige integrierte Gesamtschule, die in Maria Webers Augen beste Schulform, die mit der Benachteiligung von Arbeitnehmerkindern und Mädchen endlich Schluss machen sollte, setzte sie sich energisch ein. Ihr selbst war als hochbegabter Arbeitertochter eine vollendete Schulbildung und das erträumte Medizinstudium verweigert worden. Da Maria Weber seit 1972 im DGB-Vorstand auch für allgemeine Bildungsthemen zuständig war, agierte sie in der Gesamtschulfrage auf ihrem Terrain – und war auch hier aus heutiger Sicht, der Sicht des Pisa-Zeitalters, ihrer Zeit voraus.

Vor allem die CSU, die gegen die Gesamtschule polemisierte, nimmt Maria Weber ins Visier und wirft ihr vor: Das ist Klassenkampf von oben, der sich des dreigliedrigen Schulsystems bedient um auszulesen, um Eliten zu schaffen, um abzuschotten und damit traditionelle Machtstrukturen als mehr oder weniger geschlossene Gesellschaft zu erhalten. Ihr Angriff und die heftigen Reaktionen in der Presse sind wohlkalkuliert. Sie will auf das Thema, so wie es die Gewerkschaften sahen, aufmerksam machen.

Ein Jahr vor der Bundestagswahl reagieren der designierte Unionskandidat Franz Josef Strauß und sein Generalsekretär Edmund Stoiber überaus empfindlich auf diese Attacken. Der Bayernkurier fordert gar den Parteiausschluss Maria Webers. Ihre Gesamtschulkampagne beherrscht für einige Tage die deutsche Presse.

Ein eigener Kopf war es, der Maria Weber vor allem auszeichnete. Heute, in der Ära nach der Agenda 2010, wo der DGB keine politischen Exklusivbeziehungen mehr kennt, wirkt das geradezu vorausblickend. Unabhängigkeit bedeutete für sie nicht, unpolitisch zu werden, sondern im Gegenteil, mit allen politischen Mitteln für die Ziele der Gewerkschaften zu kämpfen und sich Gegnern, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, in den Weg zu stellen. So wie sich Maria Weber mit den Granden der CSU in der Gesamtschulfrage anlegte, bot sie bei der Reform der Berufsausbildung auch Bundeskanzler Helmut Schmidt die Stirn.

Den Geschäftsbereich der beruflichen Bildung hatte Maria Weber im DGB seit 1956 systematisch ausgebaut und als verantwortliches Vorstandsmitglied immer wieder den Reformbedarf angemahnt, der dringend ein Berufsbildungsgesetz erforderte. Wie wegweisend das war, registrierte man spätestens 1969, als nach den Schülern und Studenten auch die Lehrlinge auf die Straße gingen, um eine bessere Ausbildung in der Berufsschule und am Arbeitsplatz zu fordern. Häufig war Maria Weber selbst unter den protestierenden Jugendlichen, um mit ihnen zu diskutieren und sie zu unterstützen.

Das Berufsbildungsgesetz, das 1969 endlich Realität wurde, trug ihre Handschrift. Und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten weitere Veränderungen folgen müssen – mehr Mitbestimmung in der beruflichen Bildung etwa und eine solidarische Finanzierung durch eine Umlage. An dieser Stelle jedoch war der Widerstand der Arbeitgeber und des SPD-Kanzlers Schmidt ungebrochen. Auf einem von Bundesbildungsminister Helmut Rohde zu dieser Frage anberaumten Treffen zwischen Gewerkschaftern und dem Bundeskanzler kam es 1975 zum Schlagabtausch zwischen Weber und Schmidt.

Die Gewerkschafterin musste erkennen, dass ihr am Konferenztisch ein Alphatier gegenübersaß, das noch forscher segeln konnte als sie selbst. Während Helmut Schmidt über politische Notwendigkeiten referierte und der solidarischen Finanzierung den Todesstoß versetzte, strafte sie ihn durch demonstrative Nichtbeachtung. Sie packte einfach ihre Butterbrote aus, denn sie hatte keine Angst vor Arbeiterjungs, mit denen sie sich schon in ihrer Kindheit gerauft hatte.

Maria Weber stammte aus einer katholischen Bergarbeiterfamilie aus Gelsenkirchen, klassische Wähler der Zentrumspartei. Nach dem Krieg zog die Familie nach Altenessen um. Maria Weber war in dieser Zeit Betriebsrätin bei Gelsenberg und studierte schließlich von 1947 bis 1948 an der Akademie der Arbeit. Ihrer Altenessener Heimat ist sie stets treu geblieben. Dort besuchte sie gern die katholische Messe oder stand an der Hafenstraße bei Rot-Weiss Essen im Block. In Altenessen starb sie im Juni 2002 an den Folgen eines Schlaganfalls. Aus dem Revier hatte sie ihre direkte Art und Sprache, mit der auf dem politischen Parkett nicht jeder umzugehen wusste. Mit Helmut Kohl, in den 70er Jahren noch ein Hoffnungsträger der Christlich-Sozialen, hatte sie ihre Scharmützel, vor allem aber mit seinem Generalsekretär Kurt Biedenkopf. Der hatte im Bundestagswahlkampf 1976 mit seiner „Filzokratie-Kampagne“ gegen die politischen Verflechtungen der Gewerkschaften in einer Weise agitiert, die Maria Webers Pläne für die Festigung der Einheitsgewerkschaft gefährdete.

Seit 1972 war sie als stellvertretende DGB-Vorsitzende wichtigste Vertreterin der Christlich-Sozialen in den Gewerkschaften. Da es zwischen den SPD- und CDU-Kollegen häufig krachte und es einen Vertrag über leben und leben lassen in der Einheitsgewerkschaft nicht gab, verhandelte Maria Weber mit Heinz Oskar Vetter Verhaltensstandards. Ein Ergebnis war, ein Jahr vor ihrer Pensionierung, die Präambel des Düsseldorfer DGB-Grundsatzprogramms von 1981. Hier wurde die Einheitsgewerkschaft erstmals als weltanschauliche Gemeinschaft mit internen Regeln für eine Ethik der Verständigung definiert: „Die interne Vielfalt der Meinungen verpflichtet auf der Grundlage von Toleranz zu einer eigenständigen und unabhängigen Willensbildung, die die gemeinsamen Interessen aller Arbeitnehmer zum Ausdruck bringt.“

In dieser Formulierung wurde deutlich, warum Maria Weber gegen die Legalisierung der Abtreibung in den Gewerkschaften gekämpft hatte. In Gewissensfragen musste die Einheitsgewerkschaft Luft zum Atmen lassen, damit die Interessen aller abgebildet werden konnten. Dieser Erfolg gilt vielen bis heute als zweites Gründungsdatum der Einheitsgewerkschaft. Das war Maria Webers Erfolg.

Stefan Remeke/ Werther (Westf.)

Orte:

Maria-Weber-Weg, 45327 Essen. In Essen-Altenessen war Maria Weber stadtbekannt.

Literatur:

Mitbestimmung 12/2009 – siehe http://www.boeckler.de/107_102218.html.
Remeke, Stefan, Gerd Muhr und Maria Weber, Eine sozialpolitische Elite des DGB in den frühen Jahren der sozialliberalen Koalition (1969-1974), in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen, H. 35 (2006), S. 207-223.
Remeke, Stefan, Anders links sein. Auf den Spuren von Maria Weber und Gerd Muhr, Essen 2012.

Zitation: Remeke, Stefan, Maria Weber, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/maria-weber/

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Anna Spiekermann

Anna Spiekermann kam um das Jahr 1670 als uneheliche Tochter der Elßken Spiekermann auf dem elterlichen Kotten in Sutum zur Welt. Sie wurde als letztes Opfer einer fast zweihundertjährigen Geschichte der Hexenverfolgung im Vest (Gerichtsbezirk) Recklinghausen am 31. Juli 1706 hingerichtet.

Von ihrem Vater ist bekannt, dass er Soldat aus Buer war. Ihre Mutter war früh verstorben. Die Geschwister mütterlicherseits nahmen sich der Waise an. Anna Spiekermann heiratete Dirich Brockmann aus Sutum vom Brockmannshof. Nachdem ihr Mann im Jahre 1700 als Soldat gefallen war, musste sie ein oder zwei Jahre später mit ihrer kleinen Tochter den Hof und damit den Schutzraum der Schwiegerfamilie verlassen. Auch auf dem Kotten der eigenen Familie fand sie für sich und ihre Tochter keinen Platz. Sie ging zu ihrer Tante und Patin nach Westerholt. Hier arbeitete sie auf verschiedenen Höfen als Magd. Während dieser Zeit starb ihre kleine Tochter.

In Westerholt wurde Anna Spiekermann das Opfer eines Vergewaltigungsversuches. Als sie vor Ostern einen älteren Westerholter nach Hause begleitete, wurde dessen Sohn Johannes Krampe zudringlich und belästigte sie. Aus den Gerichtsakten ist zu rekonstruieren, dass er sie gegen ihren Willen küssen wollte, sie aufs Bett geworfen und gefragt habe, ob er nachts zu ihr kommen solle. Die bedrängte Frau hatte ihm, „über seine Buchsen gestrichen“, wie sie zu Protokoll gab. Was heißt, sie war gezwungen sich gegen seine Gewalttätigkeiten tatkräftig zu wehren. Der abgewiesene und beleidigte Krampe rächte sich und verbreitete das Gerücht, Anna Spiekermann hätte ihn durch Behexung impotent gemacht, ihn „seiner Manneskraft“ beraubt. Für seinen anschließenden Rachefeldzug fand er Unterstützung bei den „Junggesellen der Freiheit Westerholt“. Zwanzig Männer rotteten sich zusammen und jagten die Frau – für alle wahrnehmbar – durch das Dorf und schlugen sie am Ende derart zusammen, dass die Geschundene alles „gestand“, was die Schläger von ihr verlangten.

Anna Spiekermann wurde der Prozess gemacht. Das Gericht legte ihr die erpressten angeblichen Taten zur Last und klagten sie an wegen Hexerei und Zauberei. Immer wieder beteuerte die Angeklagte, dass sie alles aus „grosser Angst“ bekannt habe, weil die Männer sie „dergestalt mit Schlagen und Prügeln traktiert“ hätten, „dass an ihrem Leib nichts Heiles gewesen“ sei. Ganz offensichtlich gab es keine Fürsprecher für Anna Spiekermann. Die Dorfbewohner schwiegen aus Angst, in den Prozess verstrickt zu werden.

Unter den Qualen der Folter gab die Gepeinigte alle Taten zu, die man ihr zur Last legte. So „gestand“ sie am 23. April 1705, dass die Tante ihr das Hexen beigebracht haben soll. Nachdem die Folter unterbrochen wurde und die Gefolterte wieder zur Besinnung gekommen war, widerrief sie. Sie sei wie „verdummt“ gewesen, wisse nicht mehr, was sie tue oder sage, gesagt oder getan haben soll.

Nach Folter, Verhören und nach über fünfzehn Monate Kerkerhaft verurteilte das Gericht am 31. Juli des Jahres 1706 die sechsunddreißigjährige Anna Spiekermann, Witwe und Dienstmagd in Westerholt, „wegen teils gestandener, teils überzeugter Zauberei und dadurch an Menschen und Vieh verübten Schadens“ zum Tod durch das Schwert. Ihr „toter Körper“ sollte „zum abscheulichen Exempel durch den Scharfrichter öffentlich“ verbrannt werden.

Am Tag der Hinrichtung befand sich Westerholt in einem Belagerungszustand – Folge eines seit langem schwelenden Machtkampfes zwischen dem Grafen von Westerholt und den Dorfbewohnern.

Im Vest Recklinghausen waren für Zivil- und Kriminalsachen die Gerichte in Recklinghausen und Dorsten zuständig. Der Burg- und Schlossbezirk Westerholt nahm eine Ausnahmestellung ein, denn die Bewohner von Westerholt unterstanden der Gerichtsbarkeit des Burgherrn. Im Jahre 1675 war den Herren von Westerholt vom (Kölner) Kurfürsten die Zivil-, Polizei- und Kriminalgerichtsbarkeit übertragen worden. Es kam immer wieder zu Streitigkeiten wegen der Zuständigkeit der Gerichte, wobei nicht nur der Landesherr und die Städte um die Gerichtshoheit stritten, sondern hier auch der Graf von Westerholt und seine Einwohner, die  mehr Freiheiten forderten und die Ablösung der Feudallasten.

Der Prozess gegen Anna Spiekermann besaß damit politische Brisanz. Es ging um eine Kraftprobe zwischen dem Grafen von Westerholt und seinen Untertanen. Der Graf demonstrierte seine Macht, indem er zur Hinrichtungsstätte der Anna Spiekermann einen Platz bestimmte, an dem die Prozession der Westerholter traditionsgemäß vorbeizog. In seinem Bericht an den Kurfürsten äußerte der Graf sogar die Befürchtung, dass sich die „widerspenstigen Untertanen“ bewappnen und die Exekution zu boykottieren suchen würden und dieses auf jeden Fall verhindert werden müsse, nötigenfalls unter Androhung schwerer Bestrafung.

Die Westerholter fassten die Entscheidung des Burgherrn als die Provokation auf, die sie war, und reagierten mit Beschwerden beim kurfürstlichen Gericht in Recklinghausen. Die (kurkölnische) Landesbehörde ergriff jedoch Partei für den Burg- und Grundherrn und damit gegen die nach Freiheit und Ablösung verlangenden Westerholter Dorfbewohner.
Am Todestag von Anna Spiekermann belagerten siebenhundert Landschützen Westerholt. Ihre Anwesenheit sollte die Durchführung der Exekution ohne Störungen garantieren und damit die Jurisdiktionsgewalt (Gerichtsbarkeit, Rechtsprechung) des Grafen öffentlich demonstrieren.

Anna Spiekermann war das letzte Todesopfer der Hexenprozesse im Ruhr-Lippe-Raum. Der ungewöhnlich lange Prozessverlauf und somit ihr fünfzehn Monate lang dauerndes Martyrium war den politischen Konfrontationen der Zeit geschuldet und Ausdruck von Machtdemonstration und sozialer Disziplinierung auf lokaler wie regionaler Ebene. Der Glaube an die Notwendigkeit von Prozessen gegen Zauberei konnte so im Vest noch in einer Zeit aufflammen, als die meisten Obrigkeiten andernorts bereits von den schädlichen Auswirkungen der Prozesse überzeugt waren.

Marlies Mrotzek/ Gelsenkirchen

Orte:

Zur Baut, 45701 Herten

Literatur:

Gudrun Gersmann. "Toverie halber ..." Zur Geschichte der Hexenverfolgung im Vest Recklinghausen. Ein Überblick. In: Vestische Zeitschrift. Zeitschrift der Vereine für Orts- und Heimatkunde im Vest Recklinghausen. Bd. 92/93-1993/1994. S. 7-43.
Gudrun Gersmann. Auf den Spuren der Opfer - zur Rekonstruktion weiblichen Alltags unter dem Eindruck frühneuzeiticher Hexenverfolgung. In: Vergessene Frauen an der Ruhr. Von Herrscherinnen und Hörige, Hausfrauen und Hexen 800-1800. Hg. v. Bea Lundt. Köln, Weimar, Wien 1992, S. 243-272.
Gudrun Gersmann. Die Hexe als Heimatheldin. Die Hexenverfolgung der Frühen Neuzeit im Visier der Heimathistoriker. In: Westfälische Forschungen. 45/1995. S. 102-133.
Marlies Mrotzek. Anna Spiekermann (um 1670-1706) - das letzte Opfer der Hexenverfolgung im Vest Recklinghausen. In: Von Hexen, Engeln und anderen Kämpferinnen. Stadtrundgänge zur Frauengeschichte in Gelsenkirchen. Hrsg. vom Frauen- und Mädchenforum der Lokalen aGEnda 21 in Kooperation mit dem Frauenbüro der Stadt Gelsenkirchen und dem aGEnda 21-Büro (Stadt Gelsenkirchen und Evangelischer Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid). Gelsenkirchen 2001, S. 75-80.
Die Arbeit stützt sich in weiten Teilen auf die Arbeiten von Dr. Gudrun Gersmann, die den "Fall" Anna Spiekermann nach den Gerichtsakten im Graf Westerholtschen Archiv im Archiv Recklinghausen rekonstruiert hat.
1994 erstellte die Frauengeschichtswerkstatt und die Radiowerkstatt der VHS Gelsenkirchen die Tonkassette zum Fall Anna Spiekermann. Die Darstellung hinterfragt lokale Arbeiten aus den 20er Jahren kritisch und deckt sexistische Komponenten auf. Im Mittelpunkt der Kassettenaufnahme steht die Frage nach der Stellung der Frau in der Dorfgemeinschaft in der Frühen Neuzeit. "Annäherung an eine Legende". Das Konzept erstellte Ingrid Scheld und sie führte auch Regie. Sie war Leiterin der Radiowerkstatt. Sie starb im Jahre 2000.

Zitation: Mrotzel, Marlies, Anna Spiekermann, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/anna-spiekermann/

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Ianuarinia Ianuaria

Den Totengeistern und dem ewigen Andenken an Valerius Honoratus, den vortrefflichen jungen Mann, der 23 Jahre, 1 Monat und 16 Tage lebte und gebürtig aus Traiana war. Die Mutter Ianuarinia Ianuaria, durch seinen Tod beraubt, ließ für ihren über die Maßen liebevollen und teuren Sohn und für ihre Nachkommen [diesen Stein] aufstellen und weihte ihn unter der Ascia.
Viel wissen wir nicht von den Frauen aus der römischen Stadt Colonia Ulpia Traiana, beim heutigen Xanten. Einen kleinen Einblick in das Leben der Frauen am Niederrhein gibt der Grabstein des Valerius Honoratus.

Die Inschrift verrät, dass die Mutter des Verstorbenen, Ianuarinia Ianuaria, das Grabdenkmal hatte errichten lassen. Auf den ersten Blick erfahren wir von einer trauernden Mutter, die einen schmerzlichen Verlust beklagt. Aber wer war diese Frau?

Ianuarinia lebte im frühen 3. Jahrhundert n. Chr. Welchem gesellschaftlichen Stand sie angehörte, ob sie eine römische Bürgerin oder eine Freigelassene war, wissen wir nicht. Ausgeschlossen werden kann aber, dass Ianuarinia als Sklavin der untersten Gesellschaftsschicht angehörte.

Sie stammte aus dem Rheinland, wie der mit -inia endende Name verrät. Auch die Inschrift des Grabsteins nennt den Herkunftsort des verstorbenen Sohnes Valerius Honoratus:„NATIONE TROIANENSIS“ –„gebürtig aus Traiana“. Der Grabstein wurde aber nicht in Xanten, sondern in Lyon (Frankreich) gefunden. Die Familie stammte demnach ursprünglich aus der römischen Stadt Colonia Ulpia Traiana (Xanten) und siedelte später nach Lugdunum (Lyon) über. Die Gründe für den Umzug gibt die Inschrift nicht preis. Durch andere Funde und schriftliche Quellen ist jedoch überliefert, dass in Xanten stationierte Truppen der 30. Legion Ulpia Victrix ab 197 n. Chr. nach Lyon versetzt wurden. Es liegt also durchaus nahe, dass Ianuarinia mit einem Soldaten der 30. Legion verheiratet war, dieser in die Stadt an der Rhône versetzt wurde und seine kleine Familie dorthin mitnahm. Ianuarinia verließ die niederrheinische Heimat also wahrscheinlich wegen ihres Mannes. Ein Schicksal, dass sie mit vielen anderen Soldatenfrauen teilte, wie verschiedene Inschriften erschließen lassen.

Eine Heirat zwischen Soldaten und Zivilistinnen war nicht immer möglich gewesen. Ursprünglich wurden die eheähnlichen Verhältnisse der Legionäre mit ihren Lebensgefährtinnen erst nach Abschluss der 20-jährigen Dienstzeit anerkannt. Dies änderte sich durch eine neue Gesetzgebung unter Kaiser Septimius Severus (193-211 n. Chr.). Sein Sohn Caracalla (211-217 n. Chr.) beseitigte auch die juristischen Probleme bei der Heirat von römischen Bürgern und Nicht-Bürgern, indem er 212 n. Chr. allen freien Reichsangehörigen das römische Bürgerrecht verlieh (Constitutio Antoniniana). Zuvor war die Eheschließung nur zwischen römischen Bürgern möglich gewesen.

Ob und wann Ianuarinia den Bund der Ehe einging, bleibt leider spekulativ. Im Falle einer Eheschließung (matrimonium iustum) war sie jedoch sicher durch eine manus-freie Ehe mit ihrem Ehemann verbunden. Dies bedeutete, dass sie weiterhin unter der Vormundschaft ihres Vaters (patria potestas) stand und nicht unter die Obhut ihres Ehemannes gestellt wurde. Das Vermögen der Frau blieb in diesem Fall in der väterlichen Familie.

Aus juristischer Sicht waren die meisten Frauen in der römischen Kaiserzeit von Geburt an von einem Vormund abhängig: Dies konnte ihr Vater, ein Verwandter oder ein anderer Vormund sein. Bei der bis etwa in die Zeit um Christi Geburt verbreiteten manus-Ehe wurde die Frau mit ihrem gesamten Vermögen aus der potestas ihres Vaters in die des Ehemannes übergeben. Sie war dadurch nicht mehr Mitglied ihrer “alten“ Familie, sondern unterstand nun der Vormundschaft ihres Mannes oder dessen Vater. Diese Form der Eheschließung kam jedoch während der frühen Kaiserzeit außer Mode.

Von der Vormundschafts-Regelung ausgenommen waren die jungfräulichen Priesterinnen der Göttin Vesta in Rom. Eine Gruppe von sechs Frauen war dazu auserkoren, den 30 Jahre währenden Tempeldienst in Keuschheit zu verrichten; auf den Verlust der Jungfräulichkeit stand die Todesstrafe.

Eine Möglichkeit, die Vormundschafts-Regelung zu umgehen und als Frau eine Person „eigenen Rechts“ (sui iuris) zu werden, lieferte das sogenannte Dreikinderrecht der Ehegesetze des Augustus: Eine freie Frau musste drei, eine freigelassene Frau vier Kinder gebären.

Wie viele Kinder Ianuarinia letztendlich hatte und ob sie sui iuris war, bleibt unklar. Angesehenes Ziel einer Ehe war es gemeinhin, legitime Nachkommen zu zeugen. Die gebräuchliche Bezeichnung für Ehe lässt dies noch erkennen – matrimonium bedeutet „Mutterschaft“. Die Frau galt aber rechtlich nicht verwandt mit ihren Kindern, da diese der Vormundschaft des Vaters oder bei dessen Tod eines anderen männlichen Verwandten unterstanden. Eine Frau konnte niemals die patria potestas über jemanden haben.

Zum Zeitpunkt der Grabsteinsetzung war Ianuarinia offensichtlich bereits verwitwet. Ihr Mann scheint in Frankreich verstorben zu sein, da auf dem Grabstein keine Totenehrung in seinem Namen erfolgte. Sie war nach dem Tod des geliebten Sohnes also allein fernab der Heimat. Wie bestritt sie ihren Lebensunterhalt? Vermutlich konnte sie vom Erbe ihres verstorbenen Mannes gut leben: Soldaten galten in finanzieller Hinsicht gemeinhin als “gute Partie“ – vor allem in der Zeit des Kaisers Septimius Severus, der seine Soldaten vielfach durch Solderhöhungen förderte.
Frauen, die finanziell nicht durch die Familie versorgt wurden, mussten sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Überliefert ist eine Vielzahl von Tätigkeiten: Von der Amme bis zur Prostituierten.

Frauen war es jedoch untersagt, (offiziell) politisch tätig zu werden und ein Amt zu bekleiden. Sie hatten auch weder aktives noch passives Wahlrecht, noch durften sie als Zeugin vor Gericht aussagen. Trotz der juristischen Einschränkungen wurde die Frau, wenn sie einen eigenen Haushalt führte und Kinder auf die Welt gebracht hatte, von der Gesellschaft als matrona mit Ansehen belohnt. Zahlreiche Grabinschriften berichten von tugendhaften Frauen, zu deren angesehner Aufgabe es gehörte, Wolle zu spinnen. So sind auf Grabsteinen für Frauen immer wieder Spindel und Rocken wiedergegeben.

Ein Grabdenkmal für Ianuarinia wird vielleicht ähnlich gestaltet worden sein, wissen werden wir es aber wohl nie.

Romina Schiavone/ LVR-RömerMuseum im Archäologischen Park Xanten

Orte:

LVR-Römermuseum im Archäologischen Park Xanten, Siegfriedstraße. 39, 46509 Xanten

Literatur:

Brandl, Ulrich (Hrg.), Frauen und römisches Militär. Beiträge eines Rundes Tisches in Xanten vom 7.-9. Juli 2005, BAR International Series 1759, Oxford 2008.
Gardner, Jane F., Frauen im antiken Rom. Familie, Recht, Alltag, München 1995.
Späth, Thomas/ Wagner-Hasel, Beate (Hrg.), Frauenwelten in der Antike. Geschlechterordnung und weibliche Lebenspraxis, Stuttgart/Weimar 2006. Römische Frauen. Ausgewählte Texte, Lateinisch/Deutsch (übersetzt und herausgegeben von U. Blank-Sangmeister), Stuttgart 2008.

Zitation: Schiavone, Romina, Ianuarinia Ianuaria, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/ianuarinia-ianuaria/

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Antonie Jüngst

Die einzige Frau in der Riege der Werner Ehrenbürger ist bis heute Antonie Jüngst geblieben. Sie wurde am 13. Juni 1843 in Werne als elftes von insgesamt zwölf Kindern im Haus Nr. 158, heute Steinstraße 6, geboren. Ihr Vater, Wilhelm Jüngst, kam als preußischer Steuereinnehmer nach Werne und gehörte der evangelischen Konfession an. Er heiratete in Werne Franziska Waldeyer, die katholisch war und auch ihre gemeinsamen Kinder im katholischen Glauben erzog. Der Vater verstarb schon 1844 und so blieb die Mutter mit zwölf kleinen Kindern alleine. Wenige Jahre später verstarb auch sie im Alter von nur 44 Jahren. Die Kinder, nun Vollweisen, wurden auf Verwandte und Bekannte der Familie aufgeteilt. Antonie, gerade erst fünf Jahre alt, kam zum kinderlosen Ehepaar Justizrat Crone nach Rheine. Dort erkannte man ihre sprachliche Begabung. Sie vollendete ihre Schulausbildung in Aachen bei den Ursulinerinnen von St. Leonhard. Danach lebte sie bei ihren inzwischen nach Münster verzogenen Pflegeeltern. Mit ihnen, nach dem Tod des Pflegevaters mit der Mutter allein, machte sie größere Reisen in die Schweiz, nach Thüringen und Italien. Auf ihrer zweiten Romreise im Frühjahr 1899 durfte sie ihr Werk Roma aeterna in einer Privataudienz Papst Leo XIII. überreichen.

Nach dem Tod ihrer Pflegemutter im Jahr 1894 arbeitete Antonie Jüngst in leitender Stellung als katholische Fürsorgerin. Ihr frühes Engagement für den 1903 gegründeten Katholischen Frauenbund Deutschlands zeigt sich in der Herausgabe des Aufsatzbandes: Gezeichnet!: ein Büchlein von der Fürsorge; zum besten des Vincenz-Waisenhauses in Münster im Jahre 1905 mit Aufsätzen u.a. von Hedwig Dransfeld und Antonie Haupt.  Sie gab ebenfalls ein Gedenkbüchlein der Generalversammlung des katholischen Frauenbundes von Sonntag den 25. Oktober bis Mittwoch den 28. Oktober 1903 in Münster in Westfalen heraus.

Ihre Verbundenheit mit der katholischen Frauenvereinigung zeigt sich auch darin, dass Hedwig Dransfeld, von 1912 bis 1922 hauptberufliche Vorsitzende des Katholischen Frauenbundes und seine politisch einflussreichste Stimme, Erinnerungen an Antonie Jüngst verfasste:„Antonie Jüngst wirkte viel mehr durch ihre Persönlichkeit als durch ihre Dichtung. Aus unserer Literaturgeschichte wird sie möglicherweise bald verschwinden, wenn nicht doch vielleicht ihr Nachlaß uns bringt, was wir, die ihr nahestanden, von ihr erbaten und ersehnten: ihre Lebenserinnerungen. … Antonie Jüngst – eine unserer Edelsteine und Besten! Und zugleich eine von denen, die – wenn auch aus scheuer Seele heraus – die neue Zeit zu verstehen suchten und tatsächlich verstanden!“

In Münster trat Antonie Jüngst in näheren Kontakt zu Christoph Bernhard Schlüter, dem Freund und Mentor von Annette von Droste-Hülshoff. Er betreute ihre literarischen Versuche und übersetzte mit ihr zahlreiche Gedichte aus dem Englischen. Schöningh in Paderborn verlegte einige ihrer bedeutendsten Werke: Aus meiner Werkstatt, Der Tod Baldurs, Conradin der Staufer, Was die Lagune birgt. Bilder aus der Geschichte Venedigs, Unterm Krummstab. Eine künstlerisch hochstehende, tief religiöse Dichtung ist Maria Magdalena, von der sie am 24. September 1908 schrieb:„Ich habe die mir aus vollem Herzen quellende Dichtung glücklich beendet und hoffe, das Büchlein in nicht zu ferner Zeit meinen Freunden vorlegen zu können.“

Insgesamt umfasst das Werk der Antonie Jüngst neben zahlreichen Gedichtbänden, Novellen und epischen Erzählungen auch musikdramatische Dichtungen wie zum Beispiel Der Erdenpilger und sein Schutzgebiet, Quo vadis und St. Stephanus. Diese Oratorien wurden vertont und kamen in Amsterdam und anderen Städten zur Aufführung. Antonie Jüngst hielt in einem Text ein romantisches Bild der „Heimat Werne“ fest:  … Oft malt sich mir das Bild der alten Lippestadt Werne. Dann sehe ich seine stillen Straßen und Gassen, die Freundlichkeit seines Marktplatzes, dann höre ich das Rauschen seiner alten Bäume, lausche andächtig dem Klang der Vogelstimmen, gehe wie im Traum durch die weiten, gesegneten Kornfelder und über die grünen münsterländischen Kämpe. So mächtig ist das Bild der Heimat! So stark und fordernd! Wenn es mich erfüllt, wächst in mir ein hoher Mut …!

Im Dezember 1917 erlitt Antonie Jüngst einen Schlaganfall, der sie ans Bett fesselte. Einen weiteren Schlaganfall überlebt sie nicht.

Uta C. Schmidt/ FRAUEN.ruhr.GESCHICHTE.

Orte:

Geburtshaus mit Gedenktafel, Steinstraße 6, 59368 Werne
Jüngststraße, 59368 Werne
Sammlung ihrer Werke im Stadtmuseum Werne, Kirchhof  13, 59368 Werne
Grabstätte auf dem Zentralfriedhof in Münster, Robert-Koch-Straße 11,
48149 Münster

Literatur:

Fertig-Möller, Heidelore,„Oft malt sich mir das Bild der alten Lippestadt …“. Die Werner Dichterinnen Antonie Jüngst und Toni Schmedding-Elpers“, in: Kreis Unna (Hg.), Jahrbuch des Kreises Unna 2010. Kultur-Geschichten, Unna 2010, S. 49-52.
Dransfeld, Hedwig, Eine Erinnerung an Anotie Jüngst, in: Hedwig Dransfeld zum Gedächtnis. Zum 2. jahrestag ihres Todes, hg. v. Katholischen Deutschen Frauenbund, 1927, S. 47-49.
Artikel: Antonie Jüngst, in: Lexikon Westfälischer Autoren und Autorinnen 1750-1950, in: http://www.lwl.org/literaturkommission/alex/index.php?id=00000002

Zitation: Schmidt, Uta C., Antonie Jüngst, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/antonie-juengst/

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Adelheid Kramer

Der Genuss von Tabak ist am Niederrhein seit etwa 1629 bekannt, zunächst hauptsächlich in geschnupfter Form und durch Rauchen in der (Ton)Pfeife – übrigens auch von Frauen, wie aus Verboten für westfälische Frauen-Stifte geschlossen werden kann. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurde Rohtabak zu Rauchtabak verarbeitet und seit Mitte des 19. Jahrhunderts siedelten sich am Niederrhein Zigarrenfabriken an. In Orsoy wurde die Zigarrenproduktion für längere Zeit eine der wichtigsten Industrien. Der Standort war aus mehreren Gründen günstig: Der Rhein war eine gute Verkehrsanbindung und als die Textilindustrie in Folge von Konkurrenz um ca. 1815 niederging, gab es Arbeitskräfte und leer stehende Produktionsräume. Vor allem aber waren die Arbeitskräfte im ländlichen Raum billig, worauf die Zigarrenindustrie mit ihrem sehr arbeitsintensiven Handwerk angewiesen war. Die Abwanderung männlicher Arbeitskräfte in die Schwerindustrie Duisburgs begünstigte diese Entwicklung zusätzlich. Ehemalige Tuchfabrikanten wie Lüps wagten 1815 mit der Zigarrenherstellung einen Neubeginn. Bald folgten weitere Fabrikationsgründer wie Hagemann, Ketels, Kirking, Bierhaus und Kersken.

Um die Wende ins 20. Jahrhundert beschäftigte die Zigarrenindustrie in acht Betrieben 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, 1909 waren es 411. Mittlerweile arbeiteten 75 Prozent aller Erwerbstätigen in Orsoy in den Zigarrenfabriken. Für 1895 ist ein Frauenanteil in der Tabakindustrie von 59 Prozent nachgewiesen. Die Arbeit von Frauen, als Heim- und Fabrikarbeit steht dabei in einer langen Tradition. Sie fand in den Tuch- und Tabakfabriken statt. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Tabakfabriken in Orsoy schlossen, fanden Frauen in den Zwirnereien neue Arbeitsplätze.

Das Frauengeschichtsprojekt Rheinberg konnte vier Zeitzeuginnen der Jahrgänge 1920-1931 ausführlich interviewen, die in dem Zeitraum von 1935 bis 1956, teilweise mit Unterbrechungen, bei der Firma Bierhaus und deren Nachfolgern arbeiteten. Für sie, die im Alter von 14 bis 18 Jahren in den Betrieb kamen, stellte sich trotz des niedrigen Lohnes die Arbeit dennoch nicht als Ausbeutung dar: Sie hatten Arbeit. Sie konnten das nötige Zubrot für die Familie verdienen und sich selber etwas leisten. Und sie fühlten sich unter den Arbeitskolleginnen wohl. Die interviewten Frauen erinnerten sich durchweg positiv an die Geselligkeit und die gute Kameradschaft. Die Arbeit bot ihnen eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber den Eltern. Gespräche bei der Arbeit drehten sich ums Wochenende, Tanzen und Liebschaften. Tanzen am Wochenende war das beliebteste Freizeitvergnügen. Dabei durfte das junge Mädchen aus Walsum bei „Änne“ in Orsoy auch schon mal übernachten, sonst hätte sie sich dieses Vergnügen nicht erlauben können.

Später in Kriegs- und Nachkriegszeiten wurde bei der Arbeit ausgetauscht, wie sich der Alltag im Chaos des Zusammenbruchs am besten organisieren ließ.
In der Abteilung von Frau K. fand die Arbeit mit 40 bis 50 Frauen in einem großen Raum statt. Sie saßen an langen Tischen, die Zigarrenrollerinnen an den langen Seiten, die Wickelmacherin vor Kopf. Das Sprechen bei der Arbeit war „eigentlich“ verboten, wie Frau D. erzählte, wurde aber – mit einer Ausnahme – von allen Meistern geduldet: Einer liebte sogar den Gesang der Frauen bei der Arbeit. Der unbeliebte Meister hingegen kontrollierte nicht nur durch ein Loch in der Decke, ob gesprochen wurde, sondern maßregelte die Frauen auch bei seinen üblichen Kontrollgängen durch die Reihen. Wenn die „Wickel schlecht“ waren oder eine Zigarre zu schwer,„schmiss er sie raus“, wie sich Frau G. ausdrückte. Er warf auch Zigarren raus, die in Ordnung waren, um den Akkord zu brechen.

Als einzige der Interviewten absolvierte Frau D. eine Lehre bei der Firma Bierhaus. Später arbeitete sie als Deckblattrollerin. Sie stand damit in der Hierarchie der Tätigkeiten nur noch unter den Sortierern und wurde besser bezahlt als Entripper und Wickelmacherinnen. Ihre Bezahlung richtete sich nach der Tätigkeit und der produzierten Stückzahl. So verdiente sie 1947 in sechs Monaten 331,75 DM (Deutsche Mark), zusätzlich dazu 55 DM Akkordzulage.

Vor dem Zweiten Weltkrieg konnte man im Akkord 15 Reichs-Mark in der Woche verdienen. Nach dem Krieg erwirtschaftete eine Arbeiterin mit 3.000 Wickeln bei Zigarren einen Tageslohn von 9 DM. Obwohl durch die Staubentwicklung des Tabaks gesundheitlich und durch eine tägliche Arbeitszeit von neun Stunden kräftemäßig belastet – hinzu kam die Anreise mit dem Fahrrad oder der Fähre aus Walsum – erinnerten die Tabakarbeiterinnen ihre Zeit bei Bierhaus positiv. Herausgestellt wurde der zweiwöchige Betriebsurlaub und das Urlaubsgeld. Erinnert wurde auch der monatliche „Hausarbeitstag“, der gesetzlich gewährt wurde.

Die Interviewpartnerinnen betonten die soziale Seite der Arbeit. In ihren Erinnerungen kam dem privaten Lebensbereich der gleiche Stellenwert zu wie der Arbeit. Alle Frauen vereinbarten die außerhäusliche Erwerbsarbeit mit Familienpflichten, sie halfen in den elterlichen Familien und pflegten kranke Elternteile. Frau Kramer resümierte:„Gott sei Dank, alle, die wir gearbeitet haben, kriegen jetzt \ne Rente!“

Anne Drell und Hella Gilles/ Frauengeschichtsprojekt Rheinberg

Orte:

47493 Rheinberg

Literatur:

Streiflichter zur Rheinberger Frauengeschichte: Eine Dokumentation des Rheinberger Frauengeschichtsprojektes in Zusammenarbeit mit der Gleichstellungsstelle der Stadt Rheinberg, hg. v. d. Gleichstellungsstelle der Stadt Rheinberg in Verbindung mit dem Frauengeschichtsprojekt Rheinberg, Rheinberg 2003. 

Zitation: Frauengeschichtsprojekt Rheinberg, Adelheid Kramer, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/adelheid-kramer/

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Ida von Bodelschwingh

Ida von Bodelschwingh, am 15. April 1835 auf dem Wasserschloss Haus Heyde bei Unna geboren, war die Frau an der Seite des bekannten Wegbereiters der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, Friedrich von Bodelschwingh. Über sie war bislang wenig bekannt. Doch ihrer Nachwelt hat Ida von Bodelschwingh etwas Wichtiges hinterlassen: Mehr als 500 Briefe liegen im Hauptarchiv Bethel. Sie zeigen den arbeitsreichen Alltag einer Ehefrau, Hausfrau und Mutter im 19. Jahrhundert, aber auch ihre Gedanken und Gefühle, ihre Sorgen und Nöte.
Der Vater von Ida von Bodelschwingh war Carl von Bodelschwingh, der spätere preußische Finanzminister, und ihre Mutter Elise, geborene von Bodelschwingh-Plettenberg. Ida kannte Friedrich von Bodelschwingh schon seit ihrer frühesten Kindheit, denn die beiden waren Cousine und Cousin. Im Oktober 1860 verlobten sie sich, am 18. April 1861 fand die Hochzeit statt.

Für drei Jahre wurde nun Paris ihr Zuhause. Friedrich von Bodelschwingh war dort Pfarrer der deutschen Gemeinde. Hier kam auch der erste Sohn zur Welt. Doch Idas Heimweh nach Deutschland wurde immer stärker, so dass sich Friedrich von Bodelschwingh für eine Pfarrstelle in Dellwig bei Unna entschied. Gewachsene dörfliche Strukturen, ein ansehnliches Pfarrhaus mit Garten und nicht zuletzt die Nähe zu ihrer Familie auf Haus Heyde – hier fühlte sich Ida von Bodelschwingh ausgesprochen wohl. Bis das Paar im Januar 1869 eine private Tragödie erlebte: Eine Epidemie grassierte. Innerhalb von 14 Tagen starben alle vier Kinder an Keuchhusten und Lungenentzündung. Umso schwerer fiel es Ida von Bodelschwingh, wenige Jahre später nach Bethel zu gehen, und die Gräber ihrer Kinder in Dellwig zurückzulassen.

Doch im Januar 1872 siedelten Friedrich und Ida von Bodelschwingh – mittlerweile wieder Eltern eines Sohnes – nach Bielefeld um. Im darauffolgenden Jahr konnte das Paar mit dem vierjährigen Wilhelm und dem knapp einjährigen Gustav ein neu erbautes Pfarrhaus beziehen. Dort kam auch die Tochter Frieda und schließlich der jüngste Sohn Friedrich auf die Welt.

Zwanzig Jahre lebte Ida von Bodelschwingh in einer unaufhörlich wachsenden diakonischen Einrichtung. Auf rund 50 Häuser mit mehr als 1.700 Patientinnen und Patienten dehnte sich Bethel in dieser Zeit aus: Eine Herausforderung auch an sie, als Ehefrau des Anstaltsleiters. Ida von Bodelschwingh machte Krankenbesuche, sortierte und bearbeitete die Post und verfasste selbstständig die Dankesbriefe für die eingegangenen Spenden. Während der Abwesenheit ihres Mannes, der sich häufig auf Reisen befand, organisierte sie die Predigtdienste, ordnete seine Post nach Wichtigkeit und hielt ihn brieflich über den Werdegang verschiedener Patientinnen und Patienten auf dem Laufenden. Auch bei seinen zahlreichen Veröffentlichungen assistierte sie ihrem Mann, der bei der Fülle seiner Aufgaben auf ihre Mitarbeit dringend angewiesen war.

Aus dem Briefwechsel Ida von Bodelschwinghs wissen wir, wie turbulent es manchmal bei ihr im Pfarrhaus zuging. So schreibt sie ihrem Mann am 22. Mai 1876: Mitten in einem stürmisch bewegten Montag suche ich mir ein stilles Stündchen Dir zu schreiben – nebenan Kinderlärm, im Keller und Flur arbeitende Leute, bei denen es oft laut zugeht, dabei wie immer viel Anliegen – Frau Hannes und die Schwester, Frl. Charlotte auf dem Weg zur Stadt, 4 Epileptische – alle im Flur mit Anliegen mich bestürmend...

Die hohe Arbeitsbelastung forderte mit den Jahren ihren Tribut. Phasenweise litt Ida von Bodelschwingh – wie bereits in ihrer Jugend und nach der Geburt ihres ersten Sohnes – unter Depressionen. Sie fühlte sich oft einsam und vermisste ein geordnetes Familienleben mit ihrem Mann. In einem Brief vom Oktober 1885 führt sie ihm vor Augen, wie wenig er sich um seine Familie kümmert: Bei uns ists Sonntags meist so: zuerst Frühstück und Morgenandacht ohne den Papa – er kam den ganzen Sonnabend ja nicht zum Studieren; wenn keine Hauptpredigt, dann dringende Briefe zu erledigen – verspätetes eiligstes Mittagessen, wo man zu müde ist mit den Seinen zu sprechen – 10 Minuten Schlaf, im Trabe in die Brüderstunde! im Stürmen 1 Schluck Kaffee – Schwesterntag, Conferenz, Besuche und dergleichen – Abendpredigt, dringende andere Sachen zu erledigen – Frau und Kinder sind und bleiben allein.
1894 verschlimmerte sich ihr Leiden erheblich, so dass sie im Herbst in das Lindenhaus nach Lemgo gebracht werden musste, einer Heil- und Pflegeanstalt für psychisch Kranke. Dort starb sie am 5. Dezember 1894 im Alter von 59 Jahren.

Ida von Bodelschwingh führte das Leben einer bürgerlichen Frau, das sich ganz nach der zeitgenössischen Geschlechterordnung vor allem im privaten Bereich als Ehefrau, Hausfrau und Mutter abspielte. Die geschlechtsspezifische Aufgabenteilung hat sie nie auch nur ansatzweise in Frage gestellt. Doch bot ihr das „Amt“ ihres Mannes einen nahezu eigenen Arbeitsbereich, den auch sie „Beruf“ nannte. Wurde sie in Paris noch von ihrem Mann in verschiedene Arbeitsbereiche als Pfarrfrau eingewiesen, nahm sie diese in Dellwig und noch viel mehr in Bethel eigenständig wahr.
Doch während Ida sich an seinem beruflichen Leben aktiv beteiligte, zog Friedrich von Bodelschwingh sich aus dem häuslichen Leben immer mehr zurück. Ruhelos trieb er seine Arbeitsbereiche voran, während sie sich dringend nach mehr Ruhe sehnte. In Idas Briefen aus der späteren Zeit in Bethel spiegelt sich auch ihre Einsamkeit an der Seite ihres berühmten Mannes, den seine eigene Familie leider sehr wenig zu sehen bekam. Dennoch ist sich Ida von Bodelschwingh bis zuletzt der Liebe ihres Mannes sicher,„der mich den größten Theil meines Lebens auf Händen getragen hat.“ (Ida von Bodelschwingh an ihren Mann vom 16.10.1894)

Claudia Puschmann und Kerstin Stockhecke/ Hauptarchiv der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel

Orte:

Haus Heyde wurde abgerissen, Spuren in Uelzen, 59425 Unna
Dellwig, 59427 Unna

Literatur:

Claudia Puschmann/ Kerstin Stockhecke, Ida von Bodelschwingh (1835-1894). Ein Lebensbild (Geschichte in Bethel, Bd. 3), Bielefeld 2007.

Zitation: Puschmann, Claudia; Stockhecke, Kerstin, Ida von Bodelschwingh, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/ida-von-bodelschwingh/

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Ingeborg Hübner

Wie sie zur Elektrotechnik gekommen ist? „Ich hatte Spaß an der Mathematik und wollte einen modernen Beruf ausüben“, berichtet Ingeborg Hübner, pensionierte Professorin der Hochschule Bochum. Mag die Berufswahl noch unkompliziert gewesen sein –  einfach war der Weg zur Hochschullehrerin in einem ausgesprochenen „Männerfach“ nicht.

Es war ihr profundes Interesse an den naturwissenschaftlichen Fächern, an Technik und Mathematik, das durch alle Schwierigkeiten half. Und: „Hindernisse fordern mich heraus“. Von denen gab es nicht wenige. Verlief die Schullaufbahn von der kleinen Dorfschule in Niedersachsen bis zum Abitur am Gymnasium in Hannover noch reibungslos, tauchte mit der Immatrikulation die erste Hürde auf. Voraussetzung für das Studium der Ingenieurwissenschaften war ein halbjährliches Praktikum in einem technischen Betrieb. Dieses zu ergattern scheiterte Anfang der 60er Jahre meist an mangelnden sanitären Anlagen für Frauen. Wenigstens stand es so in den Absagebriefen auf die vielen Bewerbungen, die die Abiturientin schreiben musste. Bis ein Landmaschinenhersteller, der Frauen bereits als technische Zeichnerinnen beschäftigte, grünes Licht gab. Jetzt galt es, sich z. B. in der Gießerei zu beweisen und nicht zuletzt auch vor den Herren Kollegen: „Ich als Frau und dann als Linkshänderin mit dem Hammer in der Hand! Da haben einige schon komisch geguckt“, erinnert sich Ingeborg Hübner.

An der Technischen Universität Hannover dann als eine von drei Frauen unter 250 männlichen Kommilitonen zu studieren war „nichts Besonderes. Ich habe mir einfach gedacht: Wenn die mit mir klarkommen, komme ich auch mit denen klar“. Von den drei Anfängerinnen blieb sie als einzige dabei.

Nach dem Examen standen Dank des damaligen Ingenieurmangels mehrere Stellen zur Auswahl. Die Wahl fiel wegen des Faibles für Forschung auf ein Bremer Institut für Materialforschung. Aber schon nach wenigen Monaten bot sich in Hannover die Gelegenheit, an einem neugegründeten „Institut für Werkstoffe der Elektrotechnik und Halbleitertechnologie“ zu forschen.„Das war was Modernes, das hat mich interessiert“. Die Doktorandin (Promotion zum Dr.-Ing. 1975) wirkte mit beim Aufbau des Instituts, lehrte als wissenschaftliche Assistentin an der Universität und entwickelte Werkstoffe für ein revolutionäres Produkt: die blaue Leuchtdiode, die heute für Anzeigen in technischen Instrumenten und Computern Verwendung findet. „Es gab keinen Vortritt für Damen. Ich habe mich voll eingegeben, mich weitergebildet, Leistung gezeigt und mich bewährt. Es wurde viel verlangt, wer sich mit Halbleitertechnik befasst, muss die gesamte Elektrotechnik kennen, außerdem Chemie, Physik und alles …“ Zum Job gehörte nicht zuletzt die Verantwortung für die Versuchsaufbauten mit hohen Anforderungen an das mechanisch-handwerkliche Können.

1977 bewarb sich Ingeborg Hübner an der Fachhochschule Bochum. Es gab dreizehn weitere – männliche –  Bewerber. Ihre Ausbildung sowohl in klassischer Elektrotechnik als auch in der neuen Halbleitertechnik gab den Ausschlag. Zudem hatte sie in Hannover Lehrkonzepte mit entwickelt, nach denen noch heute in ganz Deutschland Grundvorlesungen gehalten werden. Damit hatte die kleine Bochumer Fachhochschule vermutlich als erste Hochschule in NRW eine Professorin in der Elektrotechnik. Zu unterrichten waren und sind überwiegend männliche Studierende. „Ich wurde schon kritisch betrachtet, ob ich die Leistung bringe. Aber ich habe immer gern mit den Studierenden gearbeitet und Praktiker sowie praxisorientierte Forschungs- und Entwicklungsingenieure ausgebildet“.

In Bochum erfüllte sich nun der Wunsch nach einer Familie – zum Teil zumindest. Der Sohn blieb ein Einzelkind, da für eine größere Familie der organisatorische Aufwand kaum zu bewältigen ist. Bereits zwei Monate nach der Geburt ging die junge Mutter zurück an die Hochschule, bei einer Freistellung hätte das gesamte Lehrpensum später nachgeholt werden müssen. Die Kindergartenzeit sei ein „Affentheater“ gewesen. Der lange Arbeitstag passte nicht zu den kurzen Betreuungszeiten. Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, war mit hohem Zeitdruck und ständigem Koordinationsaufwand verbunden. „Man muss einer Frau die Möglichkeit geben, sich auch in der Familie zu verwirklichen. Wer sich intensiv in den Beruf gibt, braucht den Rücken frei“, fordert Ingeborg Hübner. Ohne die Unterstützung der eigenen Mutter wäre die Kinderbetreuung nicht zu schaffen gewesen. Die Mutter spielte schon früher eine wichtige Rolle für Ingeborg Hübners berufliche Entwicklung. Selbst ohne Ausbildung wegen Krieg und Nachkriegswirren, ermutigte sie ihre Kinder immer wieder, einen Beruf zu erlernen.

Zusätzlichen Einsatz für die Hochschule leistete Ingeborg Hübner im Laufe der Zeit als engagiertes Mitglied in allen Gremien und übernahm damit auch Verantwortung für die Weiterentwicklung der Institution. Von 1993 bis 1997 wirkte sie im Rektorat, fungierte vorher bereits als erste Frauenbeauftragte der Hochschule. Mit ihrer Teilnahme an den Berufungsverfahren wurden Auswahlkriterien kritischer überprüft und mancher Kandidatin der Weg zur Professur ermöglicht.

2007 ging Ingeborg Hübner in Pension. Ihren besonderen Berufsweg sieht sie als Selbstverständlichkeit: „Ich fühlte mich nicht besonders. Wenn ich was wollte, habe ich es durchgesetzt“, macht sie deutlich und rät: „Die jungen Frauen sollen zu ihren Wünschen stehen. Dann haben sie auch die Kraft, ihre Ziele zu erreichen“.

Dr. Andrea Kiendl 

Orte:

Hochschule Bochum | Bochum University of Applied Sciences, Lennershofstr. 140, 44801 Bochum

Literatur:

Hansch de Pfaffeneder, Ingeborg, Herstellung gezielt dotierter SiC-Schichten verschiedenen Polytyps durch Gasphasenepitaxie und ihre Untersuchung. Diss. Hannover 1975.

Mooraj, Margrit, Frauen, Männer und Technik: Ingenieurinnen in einem männlich besetzten Berufsfeld. Frankfurt 2002.

Wentzel, Wenka (Hg.), Ingenieurin statt Germanistin und Tischlerin statt Friseurin?: Evaluationsergebnisse zum Girls Day - Mädchen-Zukunftstag. Verlag Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit e.V., Bielefeld 2007.

Zitation: Kiendl, Andrea, Ingeborg Hübner, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/ingeborg-huebner/

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Li Fischer-Eckert

Die 1882 als Tochter von Luise und Carl Friedrich Eckert in St. Johann Saarbrücken geborene Lina Johanna soll in späteren Jahren mit Spitze geraucht und leicht maskulin gewirkt haben. Zu diesem modernen und selbstbewussten Frauenbild der 1920/30er Jahre passt, dass sie ihrem Examensabschluss „zur Befähigung als Lehrerin an höheren und mittleren Mädchenschulen“ ein Studium der Jurisprudenz und Staatswissenschaften in Göttingen und Tübingen folgen ließ. 1913 schloss sie es erfolgreich bei dem sozialistisch orientierten Nationalökonom Robert Wilbrandt mit einer Dissertation ab. Auch die Beibehaltung ihres Mädchennamens mit Ehelichung des Hagener Rechtanwaltes und Fabrikanten August Fischer 1905 – was in Deutschland bis zur Einführung des Gleichberechtigungsgesetzes 1957 de jure nicht statthaft, wenn auch nicht unüblich war – fügt sich in dieses Bild.

Bekannt wurde Li Fischer-Eckert im Ruhrgebiet aufgrund ihrer 1913 in einem Hagener Verlag veröffentlichten Doktorarbeit „Die wirtschaftliche und soziale Lage der Frauen in dem modernen Industrieort Hamborn im Rheinland“. In den 1980er Jahren wurde diese Arbeit von Elisabeth und Ludger Heid mit einem überaus lesenwerten Vorwort neu herausgeben.

„Das Verdienst der Fischerschen Arbeit ist es“, so die spätere Sozialpolitikerin Marie Baum in der Concordia. Zeitschrift der Centralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen 1914, „in das bisher noch so gut wie unerforschte Dunkel der nicht im Berufe stehenden Frauenleben der Bergarbeiterschaft hineingeleuchtet zu haben.“ Für die Soziologie entwickelte Li Fischer-Eckert damit nicht nur methodische Wege einer modernen empirischen Sozialforschung, sondern erschloss auch ein neues Forschungsfeld.

Für ihren Mann reiste sie in diesen Jahren geschäftlich nach „Frankreich, England, Schweiz, Italien, Spanien, Schweden, Norwegen, Nordafrika, zum Teil mit längerem Aufenthalt“. Sie wird daher nicht nur sprachgewandt und verhandlungsgeschickt gewesen sein, sondern wird auch Kenntnis von Kleineisen- und Papierfabrikation, den industriellen Standbeinen ihres Mannes, gehabt haben. Zudem – so ist ihrer im Düsseldorfer Stadtarchiv aufbewahrten Personalakte und dem von ihr verfassten Lebenslauf zu entnehmen – betätigte sie sich „in den Organisationen der Frauenbewegung, in der sozialen Arbeit, Verteidigung der Mädchenschulreform in Wort und Schrift, Rechtsschutzstelle, Jugendpflege und Jugendfürsorge.“ Außerdem war sie Mitglied der Schuldeputation in Hagen.

„Der Aufenthalt in England galt dem Studium sozialer Fragen. Siedlung und Gartenstadtbewegung und der Frauenstimmrechtsbewegung. Im Anschluss hieran gründete Unterzeichnete [L. F.-E.] 1908 den Frauenstimmrechtsverband für Westdeutschland und die Deutsche Vereinigung für Frauenstimmrecht, deren Vorsitzende sie bis zur Auflösung der Organisation 1919 blieb.“ Den Zweck dieses Verbandes führte sie gleich selbst an: „staatsbürgerliche Erziehung der Frau und Erweckung ihrer Verantwortlichkeit gegenüber dem Staatsleben.“ Dieser forderte allerdings nur das gleiche Wahlrecht wie die Männer und nicht das allgemeine Wahlrecht.


Arbeiterfrauen in Hamborn

Diese engagierte Frau des westfälischen Bürgertums begab sich also zu Forschungszwecken für drei Monate in die 1911 über 100.000 Einwohner zählende rheinische Arbeiterstadt Hamborn, um hier die „sozialen und kulturellen Wirkungen“ der industriell bedingten Binnenwanderung zu untersuchen. 1929 sollte Hamborn von Duisburg eingemeindet werden.
Ihre Analyse setzt mit der akribischen Beschreibung des Ortes ein, dem damals alles fehlte, „was man wohl mit dem Wort Tradition zusammenfasst“. Heute wirkt die Darstellungsweise emotional und moralisierend, ein Stil – so die Wissenschaftlerin Sabine Hering – der kein Geschlechtsspezifikum, sondern ein Phänomen der Zeit war. Li Fischer-Eckert beginnt mit der Beschreibung der ansässigen Montanindustrie, des Handwerks und des Handels – drei Dampf-Latrinen-Reinigungs-Unternehmen, ein Automatenrestaurant, immerhin zwölf Fourage(Pferdefutter)-Handlungen, jedoch nur vier Friseusen u. a. Sie geht auf den Straßenverkehr ebenso ein wie auf die Grundstücks- und Hauseigentumsverhältnisse. Die Wohnsituation in Privat- wie in Siedlungshäusern wird anschaulich dargestellt, die Frage nach dem Prozentsatz der ausländischen Bevölkerung beantwortet und Wanderungsbewegungen werden statistisch nachgezeichnet. Ab dem vierten Kapitel dann geht es ausschließlich um die von ihr befragten 495 Arbeiterfrauen, um deren Herkunft, Ausbildung und um die Berufe der Ehemänner, die vor allem als Bergmänner und Fabrikarbeiter tätig waren.

Man kann sich Hamborn einhundert Jahre später nicht unwirtlich genug vorstellen, denn Li Fischer-Eckert ist bei ihren Gesprächen auf keine Frau getroffen, die sich diesem Ort verbunden fühlte und dort gerne gelebt hätte. Der Weg zu Kirche oder Friedhof war die einzige Abwechslung „in der Eintönigkeit ihres Daseins“. Die von ihr vorgefundenen größtenteils erbärmlichen Verhältnisse führt sie auf die schlechten Verdienstmöglichkeiten der Männer zurück, jedoch auch auf die Unerfahrenheit und Unwissenheit vieler Frauen. Sie belegt für die meisten Haushalte ein unterhalb des Existenzminimums liegendes Einkommen und widerspricht dem damals formulieren Vorwurf der „unersättlichen Vergnügungssucht der arbeitenden Bevölkerung“. Fischer-Eckert informiert über die Lohn- und Preisentwicklung und rechnet vor, dass der durchschnittliche Wochenlohn von 22,88 Mark zwangsläufig zu Unterernährung aller Angehörigen einer mehrköpfigen Arbeiterfamilie führen muss. Sie plädiert für einen sechswöchigen Mutterschutz auch für nichtberufstätige Frauen sowie für eine Schulung junger Frauen, um die bei etwa 30 Prozent liegende, enorm hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit („Kräftevergeudung“/“Menschenwucher“) zu reduzieren.

Ihr Anliegen zielte langfristig darauf, einen „Boden“ zu schaffen, „der auch dem Fremdling rasch zur Heimat wird.“ Und das Heimatgefühl galt ihr als Voraussetzung für nationale Stärke, die „Kraft unseres Volkes“ als Bedingung für das „Aufwärts- und Abwärtsschreiten unserer Nation“. Erforderlich schien ihr dafür das Engagement von bürgerlicher, kommunaler und industrieller Seite: Das gebildete Bürgertum müsse Maßnahmen zur Förderung eines sozialen Verantwortungsgefühls ergreifen, um „das Bewusstsein der eigenen Kraft“ als Voraussetzung für „das Interesse für ernste Lebensfragen“ zu wecken. Von der Gemeinde und von der Industrie forderte sie eine andere Wohnungspolitik, die bezahlbaren Wohnraum für alle zur Verfügung stellen und Wohnungsgenossenschaften gründen sollte. Von den Unternehmern verlangte sie nicht weniger, als sowohl „die innere Festigkeit des Arbeiters“ als auch die Löhne anzuheben. Und die Einrichtung von sogenannten Volksheimen befürwortete sie zwecks „Annäherung der sozialen Klassen“.

Speziell für die Arbeiterfrauen hielt sie Mütter- und Haushaltungsabende für erforderlich, ausgeführt von eigens dafür geschulten Frauen, um deren Ausbildung sie sich alsbald persönlich kümmern sollte. Li Fischer-Eckert zielte darauf, Not und Elend in Arbeiterfamilien durch die praktische Unterweisung in häuslichen Wirtschaftsfragen und durch eine „geistige Fürsorge“ der Arbeiterfrauen zu lindern. Sie verknüpfte diese sozialpolitischen Aufgaben gleichzeitig mit der Entwicklung von Ausbildungs- und Arbeitsbereichen für bürgerliche Frauen.

Als sozialpolitische Folge ihrer Untersuchung führte sie Jahre später an, dass „der preussische Landtag seinerzeit eine größere Summe zur Linderung der Säuglings- und Mütternot in Hamborn bewilligt“ habe.

Düsseldorfer Kriegsamt während des Ersten Weltkrieges

Die promovierte Staatswissenschaftlerin wechselte einige Jahre später erneut aus Hagen ins Rheinland, in das Düsseldorfer Kriegsamt, wo sie vom 28. Dezember 1916 bis zum 31. August 1917 tätig war, als einzige Frau neben acht männlichen Abteilungsleitern, verantwortlich unter anderem dafür, Frauen für die Kriegswirtschaft und Rüstungswirtschaft zu mobilisieren. Li Fischer-Eckert hat dort den ersten Fabrikpflegerinnenkursus in Deutschland eingerichtet, „dessen Lehrplan“ – so Eckert selbst einige Jahre später nicht ohne Stolz –„vom Handelsministerium als mustergültig für die anderen Fabrikpflegerinnenkurse in Deutschland bezeichnet wurde.“ Verantwortlich waren die Fabrikpflegerinnen für die betriebliche Sozialarbeit und berieten bei beruflichen, persönlichen und gesundheitlichen Anliegen.

Noch während des Krieges, am 1. Januar 1918, wurde Li Fischer-Eckert Dozentin an der im Sommer 1917 eröffneten Niederrheinischen Frauen-Akademie in Düsseldorf. Diese Akademie war eine Einrichtung des Vereins für Säuglingsfürsorge und Wohlfahrtspflege im Regierungsbezirk Düsseldorf e.V., der zehn Jahre zuvor zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit gegründet worden war. Eckert hat die Aufgaben der Akademie später wie folgt beschrieben: „Das Ziel der Niederrheinischen Frauenakademie ist es, Frauen für die Betätigung in sozialer Berufsarbeit und allgemeiner Wohlfahrtspflege auszubilden, z.B. in der pflegerischen und verwaltenden Tätigkeit bei der Kreis- und Stadtfürsorge, der Säuglings-, Kinder- und Jugendfürsorge, der Wohnungs-, Armen- und Waisenpflege, bei den Arbeitsnachweisen und Berufsberatungsstellen, der Geschäftsführung gemeinnütziger und charitativer Organisationen und ähnlichem.“ Sie selbst hielt Vorlesungen unter anderem über Arbeiterschutzgesetzgebung, Sozialethik, über praktische und theoretische Volkswirtschaft.

1919 wurde die Ehe mit August Fischer geschieden, da der Krieg „eine Fortsetzung der Ehe aus Gründen fraulicher Selbstachtung unmöglich gemacht“ hatte. Sie legte den Namen ihres Mannes ab und zog kurz darauf ganz nach Düsseldorf.

Im Nationalsozialismus

Nachdem sie zwischenzeitlich die Dozentur aus finanziellen Gründen niederlegen musste, bewarb sie sich 1925 um die Leitungsposition an der Frauenakademie, die sie – trotz zweier ernsthafter Konkurrentinnen – am 1. April 1926 übernahm. 1933 wurde ihr dort gekündigt, da sie, so eine Mitteilung des Gauleiters der NSDAP Düsseldorf vom 6. Juli 1934 „der ehemaligen Staatspartei angehört und im marxistischen Sinne unterrichtet [hat]. Sie war deshalb als Leiterin oder Lehrkraft für die neu eingerichtete deutsche Frauenakademie, in welcher nach streng nationalsozialistischen Grundsätzen gearbeitet wird, nicht tragbar“.

Li Eckert war von 1918 bis 1920 Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei gewesen, eine linksliberale Partei, die vielen frauenpolitisch aktiven, bürgerlichen, nicht konfessionell gebundenen Frauen der Weimarer Republik eine Heimat bot, was ihr nun zum Nachteil geriet. Sie legte mehrmals gegen ihre Entlassung Widerspruch ein, doch es änderte nichts daran, dass sie fortan „nur noch“ als Lehrerin an einer Mittelschule beschäftigt wurde, mit der Hälfte ihres Einkommens als Akademie-Direktorin, und das, obgleich sie seit 1932 Mutter einer Adoptivtochter war.

Dr. Li Eckert trat 1935 dem Nationalsozialistischen Lehrerbund, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt sowie dem Reichsluftschutzbund bei und wurde 1938 Mitglied im Verein für das Deutschtum im Ausland. Auf Veranlassung ihres Schulleiters trat sie 1940 auch der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei bei.

Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte sie einen Unfall erlitten, der ihr linkes Bein vier Zentimeter verkürzte. Hinzu kamen die Folgen einer früheren Krebsoperation, so dass sie ab 1939/40 immer wieder krank geschrieben wurde. Am 7. Dezember 1942, gerade einmal sechzigjährig, verstarb Li Fischer.

Susanne Abeck / frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Duisburg-Hamborn

Literatur:

Li Fischer-Eckert, Die wirtschaftliche und soziale Lage der Frauen in dem modernen Industrieort Hamborn im Rheinland, neu herausgegeben und eingeleitet von Elisabeth und Ludger Heid, Duisburg 1986
Sabine Hering, „Frühe“ Frauenforschung. Die Anfänge von Untersuchung von Frauen über Frauen, in: Ruth Becker/ Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch der Frauen- und Geschlechterforschung, Wiesbaden 2008, S. 323-331 
Dietlinde Linscheidt-Modersohn, Li (Fischer)-Eckert (1882-1942). Frauenrechtlerin und Pionierin der Sozialarbeit, in: Von Griet zu Emma. Beiträge zur Geschichte von Frauen in Duisburg vom Mittelalter bis heute, hrsg. v. Stadt Duisburg, Frauenbüro, Duisburg, 2000, S. 108-110
Elisabeth Meyer-Renschhausen, Frauen in den Anfängen der empirischen Sozialforschung, in: Elke Kleinau/ Claudia Opitz (Hg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 2, Vom Vormärz bis zur Gegenwart, S. 354-372 
Quellen: Stadtarchiv Düsseldorf, Bestand 0-1-3, Registratur I B Schulamt + Personalakte

Zitation: Abeck, Susanne, Li Fischer-Eckert, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/li-fischer-eckert/

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