„Visionen erden“, so beschrieb Ingeborg Roel ihr vielfältiges zeitliches und finanzielles Engagement für Frieden und Gerechtigkeit im „Gasthaus“, einem geistlichen Zentrum in Recklinghausen.
Geboren 1926 in Oberhausen, aufgewachsen in einem Geschäftshaushalt in Bochum – kam Ingeborg Roel 1953 als Assessorin mit den Fächern Deutsch, Geschichte und katholische Religion an das Mädchengymnasium nach Recklinghausen. Mit Leib und Seele engagierte sie sich in der Schule, wirkte bei der Reformierung der gymnasialen Oberstufe mit und kämpfte bei der Umwandlung des Mädchen-Gymnasiums in eine koedukative Schule für die Benennung nach der Physikerin Marie Curie.
Als konsequente Christin wirkte sie früh in der Eine-Welt-Arbeit und konnte etliche Jugendliche dafür begeistern. Fast 20 Jahre stand sie mit anderen jeden ersten Samstag im Monat bei Wind und Wetter auf dem Altstadtmarkt und verkaufte Gepa-Produkte (Gesellschaft für die Partnerschaft mit der Dritten Welt). Als am 15. November 1996 der Weltladen eröffnet wurde, freute sich Ingeborg Roel: „Endlich keine kalten Füße mehr, keine Schniefnase und keine Angst vor Windböen!“ Um Miete und Nebenkosten bezahlen zu können, wurde der Weltladen bald um Secondhand-Kleidung erweitert.
Mitte der 70er Jahre – zu einer Zeit, in der über neue Wege in der Seelsorge nachgedacht wurde und die Brüder von Taizé Jugendliche für ein geistliches Leben im Alltag des 20. Jahrhunderts begeisterten – begegnete Ingeborg Roel dem Jugendseelsorger Bernhard Lübbering. Ihre Vorstellungen von einem engagierten Leben als Christen trafen sich. Als dann die historischen Gebäude „Gasthaus“ und „Gastkirche“ auf eine neue Nutzung warten, wurden mit Unterstützung des Bistums und der Brüdergemeinschaft der Canisianer in Münster aus Ideen handfeste Pläne für ein geistliches Zentrum in Recklinghausen.
1978 wurde das „Gasthaus“ gegründet mit zwei Canisianer-Brüdern, zwei Schwestern von der Gemeinschaft der Missionsschwestern vom Heiligsten Herzen Jesu in Hiltrup und Pfarrer Lübbering als geistlichen Leiter. Ingeborg Roel gehörte nicht der Kommunität im „Gasthaus“ an, sie trug die Arbeit als Ehrenamtliche tatkräftig mit: So nahm sie an den täglichen Gebetszeiten und sonntäglichen Gottesdiensten teil, die sie zeitweise selbst mitgestaltet. Sie ging regelmäßig zum Montagskreis, einem offenen Gesprächskreis für Jugendliche und Erwachsene. Aus dem Freitagskreis, einem MitarbeiterInnenkreis, der nach biblischer Spiritualität suchte, entwickelten sich Familienfreizeiten im Sommer unter ihrer Mitverantwortung. Mit ihren Erfahrungen aus der Telefonseelsorge beteiligte sie sich am Gesprächsdienst in der Gastkirche, einem täglichen Angebot für alle, die offene Ohren für ihre Fragen und Probleme suchten. Sie beriet und unterstützte sogenannte „Kriegsdienstverweigerer“ in den 70er und 80er Jahren, die hohen Hürden zur Anerkennung als „Zivildienstleistende“ zu überwinden.
Die Arbeit in der Pax-Christi-Gruppe führte sie am 10. Oktober 1981 zur Teilnahme an der großen Demonstration in Bonn gegen die Nachrüstung, zur Beteiligung an dem ökumenischen Schweigen für den Frieden freitags auf dem Altstadtmarkt und zur Mitarbeit im Flüchtlingsrat Recklinghausen. Als Vertreterin der Basis ließ sie sich ins Präsidium und später in die Frauenkommission der deutschen Sektion von Pax Christi berufen. Dreimal fuhr sie auch zur Versöhnungsarbeit auf den jüdischen Friedhof in Miroslav in der tschechischen Republik.
Nach einem Besuch in Taizé ließ sie die Aufforderung, einfach zu leben, nicht mehr los. Sie zog aus ihrer großen Wohnung im ersten Stock in die kleinere Dachgeschosswohnung.
Im „Gasthaus“ begegnete Ingeborg Roel obdachlosen Menschen, erfuhr von ihren Schicksalen und ließ sich anstecken von der Haltung der Kommunitätsmitglieder, die jedem Menschen mit Würde begegnen – egal wie er oder sie aussieht oder riecht. Im „Gasthaus“ gibt es sechs Schlafplätze für obdachlose Männer. Als im Jahr 1984 erfolglos in Recklinghausen für eine obdachlose Frau eine Unterkunft gesucht wurde, beschloß Ingeborg Roel ihre Wohnung im guten Wohnviertel aufzugeben. 1985 eröffnete sie mit fast 60 Jahren in einer 8-Zimmer-Wohnung das Projekt „Frauen am Lohtor“: fünf Räume für Frauen in Not und ihre Kinder, Wohnzimmer, Küche und Bad gemeinsam, ein Arbeits- und Schlafraum für sie selber. Um das Projekt durchführen zu können, ließ sie sich von der Studiendirektorin zur Oberstudienrätin zurückstufen und reduzierte ihre Arbeitszeit. Als die Belastungen durch das Projekt stiegen, ließ sie sich beurlauben und lebte ein Jahr bis zur Pensionierung vom Ersparten. 15 Jahre nahm sie obdachlose Frauen, von Gewalt betroffene Frauen, Zwangsprostituierte aus Osteuropa und anderen Ländern auf. Sie unterstützte die Frauen, sich ihre eigene Existenz aufzubauen. 2001 gab sie das Projekt nach langen Überlegungen mit 75 Jahren auf. Den Kampf gegen die Zwangsprostitution und Frauenhandel führte sie mit anderen Frauenorganisationen weiter.
Ingeborg Roel passte in keine Schublade. Ihr Engagement kannte keine Rücksicht auf Parteien oder kirchliche Strukturen, sie handelte aus innerer Überzeugung bis hin zum zivilen Ungehorsam. Stets konnte sie andere für ihre Ideen gewinnen und neue Netzwerke ins Leben rufen.
Schwere Krankheiten und andere Schicksalsschläge kannte Ingeborg Roel aus ihrer Fürsorge, nicht aus eigener Erfahrung. Sie verpflichtete sich, ihre Kraft für die Benachteiligten und Beladenen einzusetzen. Trotz ihres Engagement und einfachen Lebens vergaß sie nicht, zu genießen: ein schmackhaftes Essen, ein kühles Bier, ein gutes Buch, Natur, Kunst und anderes Schöne. Entspannung fand sie beim Sticken und Stricken. Mit 80 Jahren verlieh ihr der Rat der Stadt Recklinghausen die große Stadtplakette. Sie fühlte sich als Bürgerin ihrer Wahlheimat bestätigt.
Am 4. August 2008 verstarb Ingeborg Roel mit 82 Jahren lebenssatt nach kurzer Krankheit.
Liesel Kohte / Arbeitskreis Recklinghäuser Frauengeschichte
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