Ilse Kibgis / 1928-2015

"Schreiben, das ist freiwerden von Zwängen."

Arbeit als Thema der Literatur verbinden viele Leser mit „Arbeiterliteratur“ oder „Arbeiterdichtung“ aus der Welt der Industrie-, Montan- und Bergarbeit, überwiegend geschrieben von männlichen Autoren. Die industrielle Arbeit bestimmte den Alltag der Frauen aber nicht minder. Die Sichtweise auf Frauenlyrik liest sich im Nachwort Josef Büschers (1918-1983) zu Wo Menschen wohnen 1977 so: „… gute Frauenlyrik besitzt nach wie vor Seltenheitswert. … Immer da, wo Ilse Kibgis … ruhrgebietsspezifisches Lebensgefühl darstellt und ausdeutet, erreicht sie in ihrer Aussagekraft ihre größte Präsenz und Bildhaftigkeit.“
So setzte sich trotz geringer Bildungsmöglichkeiten Ilse Kibgis auf ihre Weise literarisch mit der Arbeitswelt auseinander. Die Überlieferung aus ihrem Leben wird im Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt aufbewahrt. Sie gibt davon Zeugnis, wie die von der Autorin geschaffene Literatur zu deren eigener Emanzipation beitrug und gleichzeitig jenen eine Stimme verlieh, die aus eigener Kraft nur schwer Gehör fanden.

Ihr ganzes Leben verbrachte Ilse Kibgis in Gelsenkirchen. Sie wuchs mit zwei Brüdern in einer Arbeitersiedlung im Stadtteil Horst auf. Die Eltern, der Vater stammte aus Posen und arbeitete als Bergmann, pflegten trotz der beengten Verhältnisse kulturelle Interessen und erzogen ihre Kinder liberal. Die Mutter vermittelte den Kindern Märchen und Balladen, der Vater war als Sozialdemokrat politisch engagiert und liebte die klassische Musik, die er an einem selbstgebastelten Radio hören konnte.
Für die älteste Tochter bot sich nach der kriegsverpflichteten Arbeit nicht einmal die Chance, einen Lehrberuf zu ergreifen. Ihr Leben lang arbeitete sie in Anlernberufen oder als Putzfrau, wenn das Geld nicht für die eigene kleine Familie reichte. Ihre Leidenschaft gehörte aber schon als junges Mädchen dem Lesen, systematisch eignete sie sich die klassische Literatur an. Neben dem Lesen gestaltete sich bald auch das Schreiben zu einem Fluchtpunkt aus dem eintönigem Alltag, der ausschließlich Mühe und Pflichterfüllung bedeutete. Ihre Gedichte entstanden am Küchentisch und verschwanden lange in der Schublade, begleitet von einem schlechten Gewissen:  Und dann denk ich oft: Was könntste in der Zeit alles putzen.
Für mich war das, was ich geschrieben habe, Emanzipation. Man wurde ja immer kleingehalten, besonders wenn man Frau war. Und im Nationalsozialismus wurde man zum Jasager erzogen. Schreiben, das ist freiwerden von Zwängen. Da kann man etwas sagen mit Worten. Man weiß, man hat etwas aus seinem Leben gemacht. Ich habe mich oft als Mensch zweiter Klasse gefühlt, bis zu der Zeit, als ich anfing zu schreiben. Morgens habe ich ein Büro geputzt…keiner hat mich …beachtet. Am Abend… zur  einer Dichterlesung…die Herren, die morgens an mir vorbeigingen, empfingen mich als Dichterin. Jetzt fragen mich manche Freundinnen: Warum erzählst du das noch, dass du Putzfrau warst? …Aber warum sollte ich das verheimlichen? Es gehört beides zu mir, das Putzen und das Dichten.
Erst mit 47 Jahren wagte sie es, mit ihren Texten hervorzutreten. In dem Leiter der Literaturwerkstatt Gelsenkirchen, Josef Büscher, fand sie einen Mentor, der sie unterstützte und ihren Gedichten ein Publikum verschaffte.
1977 erschien der Gedichtband Wo Menschen wohnen, 1984 folgte Meine Stadt ist kein Knüller in Reisekatalogen, in zahlreiche Anthologien wurden ihre Gedichte aufgenommen. Sie erhielt das Literaturstipendium der Stadt Gelsenkirchen (1978), den Josef-Dietzgen-Literaturpreis (1983), das Arbeitstipendium des Landes NRW (1985), den Autorenpreis Forum Kohlenpott (1988).
Bis zu ihrem Tod im Dezember 2015 lebte Ilse Kibgis zurückgezogen in Gelsenkirchen-Horst.

Hanneliese Palm/ Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt

Ilse Kibgis, Näherin
Näherin
sie näht Reißverschlüsse
in Röcke
acht Stunden am Tag
schon acht Jahre lang

aneinandergereiht
ergäbe das
einen Reißverschluß
der die Welt
auf- und zuschlitzt

oder einen
der den Himmel öffnet

aber ihre Welt
sind die Häuser auf der
anderen Straßenseite
hundert Reißverschlüsse weit

und ihr Himmel
ist die weißgetünchte Decke
über ihrem Kopf

bis zur Altersrente
muß sie noch
zehn Jahre lang
Zehn-Zentimeter-Welten
aneinanderreihen

Danach steht ihr dann
die Welt offen

Orte:

Gelsenkirchen-Horst
Fritz-Hüser-Institut für deutsche und ausländische Arbeiterliteratur, Grubenweg 5, 44388 Dortmund

Literatur:

Büscher, Josef  (Hg.), Ilse Kibgis: Wo Menschen wohnen. 143 S., Wickenburg Verlag, Essen 1977.
Meine Stadt ist kein Knüller in Reisekatalogen: Gedichte / Ilse Kibgis. Ausw. u. Nachw. Walter Köpping, 176 S., Asso Verlag, Oberhausen 1984.
Der Vorlass im Fritz-Hüser-Institut umfasst Korrespondenzen, Veröffentlichungen und Rezensionen sowie die Mitschnitte von Lesungen. Es ist nur eine kleine Überlieferung, wie es nicht anders zu erwarten ist angesichts der von Ilse Kibgis gewählten literarischen Form und der wenigen Zeit, die der anstrengende Alltag ihr zum Schreiben übrig ließ.
Mitteilungen der Fritz-Hüser-Gesellschaft, 2016/1, S. 3.

Zitation: , Ilse Kibgis, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/ilse-kibgis/

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