Güzin Güven kam 1970 von der nordosttürkischen Schwarzmeerküste aus der Großstadt Trabzon nach Deutschland, um hier mit ihrem Mann zusammen zu leben. Mitgenommen hatte sie bei ihrem Umzug neben zahlreichen Fotos ihre Nähmaschine. Über viele Jahre vermittelte das technische Gerät ihr ein Stück Heimat: „Wenn ich genäht habe, habe ich mich gut gefühlt.“ Bereits in der Türkei hatte sie eine Ausbildung zur Schneiderin abgeschlossen. Genäht hat sie über Jahre Kleider für ihre Kinder, Tischdecken, Kopfkissen und zudem für Bekannte und Nachbarn Kleidung geändert, um das Haushaltsgeld aufzubessern. Wegen einer Augenthrombose kann sie heute zu ihrem großen Bedauern nicht mehr an ihrer Maschine sitzen.
Ihr Mann war 1969 der Arbeit wegen nach Deutschland gegangen. 1970 holte er sie mit dem eigenen Auto nach. Drei Tage waren sie unterwegs. Die Anfangszeit in Deutschland empfand sie „als sehr schwer“, mehr noch: als eine ausgesprochene „Pleite“. Sie hatte sich alles ganz anders – vor allem besser – als in der Türkei vorgestellt. Die Hygienesituation mit dem fehlenden Badezimmer und einer Toilette auf dem Zwischenflur, die auch noch mit der Nachbarsfamilie zu teilen war, bezeichnet sie im Rückblick als „einzige Katastrophe“. Heute ist sie der festen Überzeugung, dass ihr Lebensstandard ein besserer wäre, wenn sie damals mit ihrem Mann in der Türkei geblieben wäre. Sie hätte ein Wohnzimmer in der Größe ihrer jetzigen 75 qm großen Wohnung, hätte sich nicht „kaputt gemacht“, ihr Mann hätte mehr verdient und sie hätte vor allem nicht unter Heimweh und Langeweile gelitten. Aber vor 40 Jahren hatte sie gedacht,„meine Freunde kommen hierhin, also möchte ich das auch.“
In der Anfangszeit in Bochum war die knapp zwanzigjährige junge Frau fast nur Zuhause und hat deutsches Fernsehen verfolgt, ohne ein Wort zu verstehen. Erst ab 1981 hatte sie Gelegenheit, in Deutschland den türkischen Fernsehsender TRT-INT zu empfangen. Außer dem jungen Ehepaar Güven lebten damals nur zwei weitere türkische Familien in dem Stadtteil Dahlhausen. Zu Beginn erledigte ihr Mann alle Einkäufe, kümmerte sich ums Heizen und um das Essen, bis er ihr nach einiger Zeit ihr diese Aufgaben übertrug. Sie erinnert diese Anfänge in Deutschland als Zeit der Lähmung und der Tränen. Das Heimweh wurde nur aufgehellt durch die wöchentliche Post ihrer Mutter. Ein Jahr nach ihrer Ankunft in Deutschland, 1971, bekam sie ihr erstes Kind, allerdings nicht in Deutschland, sondern bei ihrer Mutter in der Türkei. Sie traute sich in der ihr immer noch fremden Umgebung, deren Sprache sie weder verstand noch sprach, die Geburt eines Kindes einfach nicht zu. Und da sie überhaupt nichts über die Pflege eines Babys wusste, ließ sie ihren Sohn Güngör bei ihrer Mutter.
Aus den anfangs geplanten drei bis vier Monaten wurden lange zwölf Jahre, die der Sohn in der Türkei bei seiner Großmutter lebte. Im Rückblick würde sie so einer Trennung nie wieder zustimmen. Der Kontakt zu ihrem Sohn erfolgte ausschließlich über seitenlange Briefe und besprochene Tonbandkassetten. Mit dem ersten Telefonanschluß 1977 wurde der Austausch zwar etwas spontaner, doch als der Sohn 1983 ins Ruhrgebiet zog, waren sich Eltern und Kind fremd geworden.
Mehr um sich von der Sehnsucht nach ihrem Kind abzulenken, als um des Verdienstes wegen fing sie kurz nach ihrer Rückkehr nach Deutschland eine Beschäftigung bei den Bochumer Kabelwerken Reinshagen GmbH an, wo ihr mit 60 anderen Arbeiterinnen und Arbeitern wenigen Monaten gekündigt wurde. Frau Güven fand kurz darauf eine Stelle in einem Evangelischen Krankenhaus, zuerst als Putzkraft, dann in der Wäscherei, wo sie unter den 12 deutschen Frauen Deutsch lernte. Gerne hätte sie an einem Sprachkurs teilgenommen, doch gab es solche Angebote zu diesem Zeitpunkt einfach nicht. Einige Jahre später wechselte sie nach Sprockhövel zu einer Spielzeugfabrik. Bis 1980 arbeitete sie bei Dr. C. Otto in Bochum-Dahlhausen. Sie fertigte dort feuerfeste Steine unter anderem für Koksöfen, eine sehr staubige und körperlich anstrengende Arbeit. An ihrem ersten Arbeitstag dort dachte sie:„Oh je, wenn Du heute nicht stirbst, dann stirbst Du lange nicht.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits drei Kinder: Zum Sohn kamen zwei Töchter, 1977 und 1979 geboren. Beide sprechen heute akzentfrei Deutsch, darauf ist Frau Güven sehr stolz.
Jahrelang arbeitete sie in Wechselschicht und versorgte alleine die Kinder, da ihr Mann lange Zeit nur an den Wochenenden zu Hause war. Die schwere körperliche Arbeit unter ständigem Druck hat ihrer Gesundheit sehr geschadet und sie wundert sich heute, wie sie alles geschafft hat.
„Heimat“ verbindet sie vor allem mit dem Ort, an dem sie groß geworden ist. Ihr „Zuhause“ ist hingegen zweigeteilt und meint zum einen das eigene Haus in Trabzon und zum anderen ihre Wohnung in Bochum-Dahlhausen. In der Türkei leben nur noch wenig Verwandte, während sie hier neben ihren drei Kindern und sechs Enkelkindern viele Bekannte hat. Güzin Güven liest regelmäßig neben der Hürriyet die türkischsprachige Tageszeitung, die anfangs per Post kam, doch seit 1969 in Mörfelden-Walldorf gedruckt wird. Sie liest auch eine deutsche Tageszeitung, am liebsten allerdings deutsche Frauenzeitschriften.
Zwei Mal die Woche besucht sie die Moschee, um dort unter Anleitung eines islamischen Religionsgelehrten, eines Hodschas, den Koran zu studieren. Religiös war sie zeitlebens, ein Kopftuch hat sie über 57 Jahre allerdings ausschließlich während der Fastenzeit getragen. Erst eine krebsbedingte Chemotherapie und eine Ärztin brachten sie 2009 dazu, in der Öffentlichkeit den Kopf zu bedecken. Heute trägt sie das Tuch nicht mehr krankheitsbedingt, sondern wegen einer Haddsch, der Pilgerfahrt nach Mekka, die der Frau das Tragen einer Kopfbedeckung vorschreibt. Früher sei sie mancherorts für eine Italienerin gehalten worden, doch „jetzt, mit dem Kopftuch, bin ich original“ – und meint mit dieser Formulierung wohl „augenscheinlich türkisch“.
Die Debatte um den EU-Beitritt der Türkei findet Frau Güven absurd angesichts der Tatsache, dass inzwischen Länder wie Bulgarien der Europäischen Union beitreten konnten. Auch die Visumpflicht für türkische Reisende, die seit 1980 gilt, als sich die Arbeitslosigkeit in Deutschland der Zwei-Millionen-Grenze näherte, findet sie absolut verzichtbar.„Es bleibt doch sowieso keiner hier.“
Sie selbst versteht sich heute mit ihrer Wanderungserfahrung als Teil der Ruhrgebietsgeschichte, so wenn sie beschreibt, wie sie auf ihren jeweiligen Arbeitsstellen Deutsch sprechen lernte, so dass sie das deutsche Fernsehen auch verstehen konnte. Ihre Favoriten waren – wie bei ihren deutschen NachbarInnen auch – Hans Rosenthal, Heinz Rühmann und Heidi Kabel – und „samstags war für mich immer Maria Hellwig“. Anlässlich des 50. Jahrestages des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei hat Güzin Güven im Jahre 2011 an nicht weniger als vier historischen Ausstellungen im Ruhrgebiet als Leihgeberin und Zeitzeugin teilgenommen. Mehr „Ankommen“ ist kaum denkbar.
Susanne Abeck/ frauen/ruhr/geschichte
Der Text basiert auf einem Gespräch mit Frau Güven Ende 2011 im Mehrgenerationenhaus Stadtteilzentrum Dahlhausen der IFAK e.V., das dank der Vermittlung von Frau Hafize Cakar zustande kommen konnte. Im Mehrgenerationenhaus war in 2011 die Ausstellung „Gurbet – Die Fremde“ zu sehen.
Orte:P-D Refractories GmbH | Dr. C. Otto, Dr.-C.-Otto-Str. 222, 44879 Bochum
Mehrgenerationenhaus Bochum - Stadtteilzentrum-Dahlhausen, Am Ruhrort 14, 44879 Bochum
Mehrgenerationenhaus (Hg.):„Losgehen. Ankommen“ Lebensentwürfe. Lebensgeschichten, o.O., Juni 2009
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