Eva Vliegen / um 1575–1637

Das „Wundermädchen“ Eva Vliegen lebte mehr als 30 Jahre lang ohne Nahrungsaufnahme

Die Welt versank im Chaos, am Niederrhein, gen Ende des 16. Jahrhunderts: Als militärisches Operationsgebiet von Spaniern und Niederländern im niederländischen Aufstand ausgesaugt; durch die Kämpfe zwischen dem konvertierten Kölner Erzbischof Gebhard Truchsess von Waldburg und dem Papst um die Säkularisation der kurkölnischen Territorien bedrängt, durch Abgaben, Truppeneinquartierungen, Verschleppungen, Plünderungen, Brandschatzungen, Seuchen erdrückt …

Da ging ein Gerücht um: Eva Vliegen lebe in Moers ohne jegliche Nahrungsaufnahme. Die Moerser taten alles, um dieses Medienereignis zu vermarkten. Der Magistrat der Stadt Moers stellte ein Attest aus, der das Wunder amtlich verbriefte. Selbst in Amsterdam, London und im Gebiet des heutigen St. Petersburg kursierten Abbildungen von Eva Vliegen. Aus allen Schichten und Generationen pilgerten Menschen nach Moers. Fürstinnen, Theologen und Wissenschaftler besuchten Eva, die als Waise bei ihrer Tante Katrin in der Moerser Neustadt im Haag wohnte.
Seit frühester Kindheit an Armut und Hunger gewöhnt, wurde ihr nach einer schweren Erkrankung im Alter von 19 Jahren „jede Nahrungsaufnahme so sehr zum Übel“, dass sie fortan ohne Essen und Trinken lebte. An jedem dritten Tag bei Sonnenaufgang, so wurde berichtet, erschien jedoch ein Engel, der ihren Mund mit süßem Tau befeuchtete: Eva Vliegen ernährte sich somit durch spirituelle Nahrung – durch Licht sowie süße Tautropfen, ein seit den frühen Kirchevätern bis in die Barockzeit prominentes Bildzeichen für Gnade.

Der berühmte Stadtmedicus Wilhelmus Fabricius aus Bern kam nach 13-tägiger Beobachtung zu dem Schluss: „Sonst ist das Mädchen mit Frömmigkeit begabt, geht zum Gottesdienst, ist von mittelmäßiger Größe, bleich von Farbe, hat eingefallene Augenlieder, ist ziemlich mager. Die Schleimhäute sind feucht. Sie weint häufig. Der Puls ist matt, dunkel, doch ordentlich. Unter die Leute geht sie an einem Stecken. Von Flöhen und Mücken wird sie belästig wie andere auch. Sie scheint nicht gerade klug zu sein, redet aber gottesfürchtig in Glaubenssachen, ist verständig in Haus und anderen Dingen. Der Atem ist frei.“

Ein Flugblatt verbreitete 1614, ein Engel habe Eva verkündet, Gott würde die Menschheit ob ihrer Taten bestrafen. Von diesem Moment an verweigerte sie auch das Sprechen und blieb bis zu ihrem angeblichen Tode am 1. März 1614 stumm.

Doch Eva Vliegen lebte und hungerte weiter, bis nach dem Tode ihrer Tante im Jahre 1628 der über 30 Jahre währende „Betrug“ entdeckt wurde: Die Tante hatte ihr heimlich Nahrung zugesteckt. Eva Vliegen wurde zu öffentlicher Geißelung und Ausweisung verurteilt. Prinz Friedrich-Heinrich von Oranien, mittlerweile Landesherr zu Moers und Statthalter der Niederlande, ließ unter Berufung auf ihre „Einfalt“  Gnade vor Recht walten. Am 10. Juni 1637 starb Eva Vliegen eines natürlichen Todes.

Das angebliche Mirakel der Totalabstinenz war im 16. und 17 Jahrhundert, dem „Konfessionellen Zeitalter“, weit von einer allein persönlichen Entscheidung der Betroffenen entfernt. Es handelte sich um ein öffentliches Spektakel, eine Inszenierung, in der pekuniäre, politische wie wissenschaftliche Interessen zusammenfielen und das in höchstem Maße politisch instrumentalisiert wurde.

Eva Vliegens Geschichte steht für den Kampf um Deutungsmacht der Konfessionen ebenso wie für die Ablösung theologisch-religiöser hin zu wissenschaftlich-empirischer Einordnung körperlicher Phänomene.

Ernährung steht kulturell als eine Art von „Sprache“ zur Verfügung, über die ein Grad individueller Verfügungsgewalt besteht. Eva Vliegens Geschichte ereignete sich im protestantischen Moers zu Beginn der Neuzeit, in der das Wissen um religiös motivierte Nahrungsverweigerung als frauenmystische Lebensform und um charismatische Heiligkeitsmodelle noch präsent war. Mit der Wahl dieser Lebensführung erschlossen sich Tante und Nichte über nüchternes Kalkül hinaus auch eine Möglichkeit, den vorgezeichneten Lebensmustern ihres Standes und Geschlechts zu entkommen.

Uta C. Schmidt/ FRAUEN.ruhr.GESCHICHTE.

Orte:

Haagstraße, 47441 Moers

Literatur:

Bongen, Heide, Eva Vliegen, in: Schweitzer, Silke (Hg.), Auf den Spuren Moerser Frauen, Moers 1997, S. 12-14.
Pulz, Waltraud, Nüchternes Kalkül - Verzehrende Leidenschaft. Nahrungsabstinenz im 16. Jahrhundert, Köln 2007. 

Zitation: Schmidt, Uta C., Eva Vliegen, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/eva-vliegen/

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