Mechtild Brand / 1941

"Es ist schwierig, auf alle Fragen (die passenden) Antworten zu finden."

Die „Einschränkung von Menschenwürde“ sei ihr Thema und ihre Methode sei es, „immer, über die Person zu gehen. Ich habe also von Anfang an nach Menschen gesucht, die betroffen waren“, so Mechtild Brand Anfang 2023. Überaus beeindruckend und inzwischen vielfach ausgezeichnet hat sich die 1941 geborene Lehrerin über Jahrzehnte sowohl theoretisch forschend als auch pragmatisch helfend mit ganz unterschiedlichen „Opfergruppen“ beschäftigt.

Studium und wie Mechtild Brand zu den Hammer Juden und Jüdinnen kam

Für menschliches Unrecht wurde sie in sehr jungen Jahren von ihrer Deutsch-Lehrerin sensibilisiert, die ihrer Klasse Auszüge aus dem Gerstein-Bericht (einem Augenzeugenbericht über Massenvergasungen)1 und Texte von Bertolt Brecht vorlegte. Dass sich Mechtild Brand forschend den Menschen nähert, die von nationalsozialistischem Unrecht betroffenen waren – Juden/Jüdinnen, Sinti:zze, Roma:nja, Zwangsarbeiter:innen und kriegsgefangene französische Offiziere – war jedoch keineswegs vorgezeichnet. Denn die im Krieg in Hamm geborene Tochter einer Schneiderin und eines Hilfsarbeiters, der bereits 1940 schwer erkrankt aus dem Krieg zurückkehrte, konnte aus finanziellen Gründen in den 1960er Jahren nicht Geschichte studieren: „Ich hätte gerne Geschichte studiert. Kam aber überhaupt nicht in Frage.“ Daher begann sie 1961 an der Pädagogischen Hochschule in Münster eine Ausbildung zur Volksschullehrerin. Für ihr Diplom 1964 riet ihr einer ihrer Professoren, der Religionspädagoge Gottfried Kruchen (1913–1979), sich mit der NS-Geschichte ihrer Heimat-Pfarreien zu beschäftigen. Damals habe sie nur gedacht: „Oh Gott, das will ich nicht“ und hätte ihm gesagt, dass es dazu nichts geben würde. Seinem Hinweis, dass sie sich die jüdische Geschichte Hamms anschauen solle, die gewiss noch nicht aufgearbeitet sei, ging sie nach.

Im Rathaus von Hamm ließ man sie zwar auflaufen, doch auf dem dortigen Flur machte sie ein Beamter auf das Amt für Wiedergutmachung aufmerksam, bei dem sie über Gottfried Kruchen Zugang zu den Entschädigungsakten erhielt. Aus diesen schrieb sie die Adressen aller Hammer Juden und Jüdinnen ab und kontaktierte diese. Ihr erstes Gespräch mit einer jüdischen Familie, die den Holocaust überlebt hatte, führte sie ausgerechnet in die Wohnung, in der sie mit ihrer Familie gelebt hatte. Von diesem Gespräch berichte sie ihrer Mutter im Beisein derer Freundin, die sie daraufhin als „Vaterlandsverräterin und Nestbeschmutzerin“ beschimpfte.

Ihr Studium schloss sie 1964 mit der Arbeit „Die jüdische Frage in Deutschland, dargestellt an der Geschichte der jüdischen Gemeinde Hamm“ ab, wobei sie das Thema noch längst nicht für abgeschlossen hielt. Sie kam daher im Sommer 1965 einer Einladung nach Israel nach, wo sie bei der Ärztin Käthe Becher, der 1. Ehefrau des Dichters und DDR-Kultur-Ministers Johannes R. Becher, untergebracht war. Neben emigrierten Hammer Juden und Jüdinnen lernte Mechtild Brand über ihre Gastgeberin auch jüdische Intellektuelle kennen wie den Religionshistoriker Gershom Sholem und den Philosophen und Historiker Ernst Akiba Simon. Dazu gehörte auch der Kontakt zu dem 1929 geborenen Künstler Yehuda Bacon2, der das Ghetto Theresienstadt und die Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und Mauthausen überlebt hat, und der bis heute besteht. Von ihm sind die Zeichnungen vier ihrer Buchcover.

Yehuda Bacon war Zeuge im Eichmann- und Auschwitz-Prozess, und für ihn transportierte sie bei diesem und weiteren Besuchen regelmäßig Dokumente zur NS-Zeit und übergab diese den Nebenklagevertretern des Frankfurter Auschwitzprozesses (1963–1965), Christian Raabe und Henry Ormond.3 Dort machte sie auch Bekanntschaft mit dem KZ-Überlebenden Hermann Langbein, mit dem sie über Jahre korrespondierte. Dieser hatte die Ermittler in Kontakt mit ehemaligen Häftlingen gebracht und maßgeblich zur Vorbereitung des Frankfurter Auschwitzprozesses beigetragen.4

Erster Schuldienst und ein Jahr Israel

Ihre erste Stelle hatte sie bereits 1964 an einer Schule in Pelkum, Kreis Unna angetreten. Die von ihrem ersten Gehalt gekaufte Bluse wurde von ihrer Mutter, die ihre Schneiderei in den 1950er Jahren aufgegeben hatte und seitdem von ihrer Kriegerwitwenrente lebte, mit einem „Riesentheater“ missbilligt, so dass sie diese schließlich zurückbrachte. Das Verhältnis zu ihrer Mutter sollte bis zu deren Lebensende „schwierig“ bleiben.

Weil sie sich mit der Aufteilung der Volksschule in Grund- und Hauptschule 1967/68 nicht zu entscheiden wusste und auch auf der Suche nach mehr Unabhängigkeit war, ging Mechtild Brand für ein Jahr nach Israel. Dort lebte und arbeitete sie in dem Kibbuz-ähnlichen Kfar Tikwah („Dorf der Hoffnung“), einer von einer Hammer Jüdin mitgegründeten Lebenshilfe-Einrichtung für Erwachsene mit kognitiven, entwicklungsorientierten und emotionalen Behinderungen, die es heute noch gibt.5 In der Einrichtung ging es modern und liberal zu, etwas, was die streng katholisch erzogene Mechtild Brand befremdete. Ebenso faszinierend fremd war ihr der bildungs-/großbürgerliche Lebensstil, den einige der von ihr besuchten jüdischen Hammer Familien in Israel pflegten, selbst wenn sie in der neuen Heimat nicht mehr an ihr altes Leben hatten anschließen können und in prekären Verhältnissen lebten. Damals sah sie in der israelischen Öffentlichkeit noch viele Auschwitzüberlebende, erkennbar an den auf den Armen tätowierten Häftlingsnummern. Ihre Beobachtung, dass fast alle Ausgewanderten in Israel einen Neuanfang geschafft hatten, nur die allermeisten Juristen nicht, sollte sich auch bei ihrer späteren Flüchtlingsarbeit bestätigen.

Die Beschäftigung mit Flüchtlingen und Sinti:zze

Mit ihrer Rückkehr wollte Mechtild Brand 1969 an der noch jungen Ruhr-Universität Geschichte studieren, doch der Professor, bei dem sie dies tun wollte, war zurück nach Tel Aviv gegangen. Stattdessen setzte sie ihre Arbeit als Lehrerin an einer Grundschule in Bochum fort und bezog eine Wohnung am Südpark – weit weg von der Mutter. Nach der Adoption zweier südkoreanischer Mädchen, über die Vermittlung von durch terre des hommes möglich6, zog es sie vier Jahre später in den Kreis Soest, wo sie an eine Grundschule in Borgeln wechselte. Um sich ein Bild von den Lebensbedingungen der Schüler:innen im ländlichen Raum machen zu können, hat sie alle ihre Schüler:innen zu Hause besucht. Durch ihre Recherchen in Hamm und Israel war sie es gewohnt, sich den Menschen über ein Gespräch zu nähern.

Inzwischen in einem Haus in Welver-Schwefe lebend, kam sie 1981 mehr durch Zufall als mit Absicht zur Flüchtlingsarbeit: „Die brauchten jemanden zum Übersetzen, weil sie einkaufen wollten oder zur Verwaltung mussten.“ Die Flüchtlingsunterkunft im Ort hatte damals über 60 Bengalen, Tamilen und einige Pakistani. „In einem Dorf mit 450 Einwohnern ist das durchaus ein Sprengstoff.“

Diese ehrenamtliche Arbeit macht sie bis heute, arbeitet zum Teil eng mit den Ausländerämtern in Hamm und Soest zusammen und hat Familien u. a. aus dem Kosovo, aus Bulgarien, Rumänien Ägypten, Afghanistan, Tadschikistan, Georgien, Indien, Guinea, Nigeria, Somalia, Eritrea und den Maghreb-Staaten betreut. Dabei ist die Arbeit mit den Flüchtlingen am „einfachsten“, die aus ihren Heimatländern staatliche Strukturen kennen und hiesige Regeln akzeptieren können. Das gilt vor allem für die große Gruppe der syrischen Flüchtlinge, denn „sie wissen, wie ein Staat funktioniert, sie kennen Krankenversicherung und Schulbildung. Das heißt, wir haben eine gemeinsame Basis.“ Eine gute Zusammenarbeit sei natürlich auch eine Vertrauensfrage „und das dauert auch schon einmal länger. Aber ich bin nicht dazu berufen, alle Menschen zu retten.“ Das mag man kaum glauben, wenn man ihr zuhört und die Fotos sichtet, auf denen sie mit zahlreichen Flüchtlingen zu sehen ist.

1985 erhielt sie für dieses Engagement den Bundesverdienstorden, zu ihrer eigenen Verwunderung auf Antrag der Männer aus Welver. Sie trägt den Orden, über den sie sich als Geste der Anerkennung gefreut hat, nur sehr selten, wie z. B. beim Festakt 2005 zur Erinnerung an die Befreiung der französischen Offiziere aus der Kriegsgefangenschaft in Soest. Vier Jahre später bekam sie den Hammer Wappenteller für den Kontakt mit den Hammer Juden überreicht.

Neben der Arbeit als Lehrerin und ihrem Ehrenamt in der Flüchtlingshilfe arbeitete Mechtild Brand an ihrem ersten Buch. 1991 erschien „Geachtet – geächtet. Aus dem Leben Hammer Juden in diesem Jahrhundert“ mit ihren langjährigen Rechercheergebnissen aus Ämtern, Archiven und den zahlreichen Zeitzeugeninterviews. Das Schicksal von NS-Verfolgten beschäftigte sie weiter und daher verbrachte sie von 1992 bis 1994 ihre Sommerferien in Auschwitz, untergebracht in der ehemaligen SS-Standortverwaltung mit Blick auf den Galgen, an dem der KZ-Kommandant Rudolf Höß 1947 erhängt worden war. Zu diesem Zeitpunkt – kurz nach dem Mauerfall – hatte die Gedenkstätte rund 60.000 Sterbeurkunden, die in Auschwitz ausgestellt worden waren, aus Leningrad erhalten. Bei ihren dreimaligen Aufenthalten sichtete sie diese auf der Suche nach Opfern aus Hamm, vor allem nach den Bewohner:innen des Hammer „Zigeunerlagers“.

Im Sommer 1994 beteiligte sie sich an der dortigen Gedenkveranstaltung anlässlich des 50. Jahrestages der „Liquidation“ des „Zigeunerlagers“ und verfasste für die Gedenkpublikation – neben dem international bekannten „Nazijäger“ Simon Wiesenthal und dem renommierten Essener Historiker Michael Zimmermann – einen Aufsatz.7

Das sprach sich herum und daher fragte sie kurz darauf der Hammer Schulrat Niesmann, ob sie sich der dem Schulunterricht fernbleibenden Kinder der Hammer Sinti-Familien annehmen könne. Mechtild Brand fand an der Aufgabe Gefallen, sagte zu und ließ sich an eine Schule in Hamm versetzen. Schnell war für sie klar, warum die Kinder dem Unterricht weitgehend fernblieben: „Unter Maria Theresia und unter dem Alten Fritz sind die Kinder den Eltern weggenommen worden. Lehrer waren also neben der Polizei die Gruppe, von der sie wahnsinnige Angst hatten. Man muss diese Ängste verstehen, zumal sie alle Nachkommen von Auschwitz-Überlebenden waren, ohne Ausnahme, und eine ganze Generation Kinder war gerade in Auschwitz ermordet worden. Das hatten alle im Kopf!“

Sie ging anfangs ähnlich wie bei den Hammer Juden vor: beim Friedhofsamt erkundigte sie sich nach der Familienadresse eines Sinti-Grabs, das sich in Nähe der Grabstätte ihres Vaters befand, und nahm Kontakt mit der ältesten Frau dieser Familie auf, mit Olga Bamberger. Über sie, die hohes Ansehen innerhalb der Sinti-Familien genoss und über die sie später einen Aufsatz verfasste8, sowie über die Katholische Zigeunerseelsorge erhielt Mechtild Brand Kontakt mit der gesamten Community. Durch Gespräche erwarb sie sich Vertrauen und holte kurz darauf fast jedes schulpflichtige Sinti-Kind von Zuhause ab: „Morgens um halb sieben musste ich spätestens los, um die Leute um sieben aus dem Bett zu schmeißen. Und dann habe ich sie im gesamten Stadtgebiet in die Schule gebracht.“ Bringen und Abholen erfolgten nur anfangs durch sie persönlich, später machten das die Mütter. „Wenn heute ein älterer Sinto, der seinen Namen immer noch nicht richtig schreiben kann, über seine Tochter stolz sagt ‚Mine macht Fachabitur‘, dann ist da eine Menge passiert.“

In Auschwitz hatte sie die Unterlagen des Hammer „Zigeunerlagers“ zusammengetragen und so beschäftigte sich Mechtild Brand nebenbei forschend auch mit dieser lokalen NS-Opfergruppe. „Das Buch soll Material zugänglich machen, um den betroffenen Menschen offener zu begegnen, als das bis heute im Allgemeinen geschieht. Die Mehrheitsbevölkerung hat sich kritisch zu fragen, wie sie mit der Minderheit der Sinti und Roma umgegangen ist und wie sie diese heute behandeln. Die Beispiele aus verschiedenen historischen Epochen belegen, dass es genügend Gründe zur selbstkritischen Auseinandersetzung gibt“, so ihr Vorwort in dem 2007 erschienenen Buch „Unsere Nachbarn. Zigeuner, Sinti, Roma. Lebensbedingungen einer Minderheit in Hamm“. Dabei ging es nicht nur um die historischen Zusammenhänge, sondern auch um die Bewältigung der aktuellen Lebenswirklichkeit der örtlichen Sinti:zze-Gruppe. Zusammen mit ihnen gründete sie am 17. Januar 1995 den Trägerverein „Arbeitsgruppe Am Schüttenort.e.V.“, der bis in die Gegenwart die lokale Sinti:zze-Arbeit trägt.9

Französische kriegsgefangene Offiziere und Zwangsarbeiter:innen

Nachdem sie bereits in der Hammer Geschichtswerkstatt aktiv war, trat Mechtild Brand nach ihrer Pensionierung 2004 auch der 1995 gegründeten Geschichtswerkstatt Französischen Kapelle e.V. (GFK)10 in Soest bei. Sie recherchierte und besorgte zum Beispiel Rote-Kreuz-Berichte aus Genf, „und zwar über Mitglieder der Aktion Sühnezeichen, die ich von Polen her kannte.“ Diese Berichte wurden u. a. angefertigt über das in Soest ansässige OFLAG VI A, einem Lager für kriegsgefangene Offiziere, die von 1940 bis Kriegsende im April 1945 in einer Kaserne im Süd-Westen der Stadt Soest untergebracht waren. Die Berichte des Roten Kreuzes informieren über Belegungsstärke, Versorgung, Hygiene, Bekleidung etc. – vermitteln also einen relativ guten Einblick in das (privilegierte) Häftlingsleben in einem Offizierslager.
Über die Frage nach dem Umgang mit Forschungs- und Rechercheergebnissen kam es mit der früheren Geschäftsführerin der GFK bald zum Bruch.

Und so wendete sie sich einer weiteren NS-Opfergruppe zu: den Zwangsabeiter:innen.11 Mechtild Brand erstellte einen Fragebogen, den sie an die Stiftung „Polnisch-Deutsche Aussöhnung“ in Warschau und an die ukrainische Nationale Stiftung „Verständigung und Aussöhnung“ in Kiew schickte. Dieser wurde übersetzt und an Betroffene verschickt, die im Kreis Soest Zwangsarbeit geleistet hatten. Unterstützung fand sie in diesem Fall bei einer ukrainischen Wissenschaftlerin, die den gesamten Prozess eng begleitete. Mechtild Brand suchte frühere Arbeitsplätze in der Region auf und, soweit das möglich war, befragte deutsche Zeitzeugen, recherchierte in Archiven, Standes- und Pfarrämtern. „Das Resultat all dieser Bemühungen liegt nun vor. Hoffentlich hilft es, den betroffenen Zwangsarbeitern, die sehr unfreiwillig den Kreis Soest kennen gelernt haben, eine Stimme zu geben.“12

Was sie zu Beginn „überhaupt nicht auf dem Schirm“ hatte, waren die im Soester Kreis geborenen Kinder von Zwangsarbeiterinnen. Mechtild Brand hat 800 von ihnen namentlich recherchieren können! Eine ihrer ersten Kontakte war eine 1944 in Soest geborene Frau, deren Vater ein Bauernsohn im Kreis Soest sein sollte. Sie selbst wurde von ihrer Mutter nach deren Rückkehr nach Polen in einen Brunnen geworfen und überlebte nur dank eines Querbalkens, an dem sie hängen blieb. Nun suchte sie ihre westfälischen Wurzeln. In einem anderen Fall war die in Polen geborene 2. Tochter auf Einladung von Mechtild Brand zu Besuch in Soest. Gemeinsam besuchten sie die Orte, wo ihre Mutter als Zwangsarbeiterin gelebt und gearbeitet hatte. Dort lernte die Tochter ihre Mutter besser verstehen.

2010 erschien dann Brands viertes Buch „Verschleppt und entwurzelt. Zwangsarbeit zwischen Soest, Werl, Wickede und Möhnetal.“ Kaum jemand sonst hat sich bis heute mit dieser Thematik ähnlich intensiv beschäftigt und nur eine weitere Person, eine Lehrerin, hat ehemalige Zwangsarbeiterinnen nach Soest eingeladen. Stadt und Kreis Soest halten sich bis heute zurück.

Später ist sie der GFK erneut beigetreten, „weil ich das Thema so spannend finde“. Sehr zum Vorteil der Aufarbeitung der Lokalgeschichte, die in „Weggesperrt. Kriegsgefangenschaft im Oflag VI A Soest“13 und und in mehrere themenbezogenen Einzelaufsätze14 eingeflossen ist. Auch hierfür arbeitete Mechtild Brand akribisch und nach wissenschaftlichen Kriterien, recherchierte in den Arolsen Archives, dem belgischen Militärarchiv und dem Archiv der niederländischen Stiftung „Leven Achter Prikkeldraad 1940–1945“, kontaktierte zahlreiche Nachfahren und Wissenschaftler:innen, stellte Anfragen in polnischen Institutionen und ließ die Datenbank der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, in der deutsche Karteikarten von verstorbenen sowjetischen Kriegsgefangenen ausgewertet werden, von einem Kollegen sichten. „Zu den wichtigsten Quellen für das Oflag VI A in Soest gehören die acht Berichte der Delegierten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, die das Lager regelmäßig besucht haben. … Außerdem war es möglich, sie durch weitere Dokumente aus dem Bestand des Internationalen Suchdienstes vom Roten Kreuz in Arolsen zu ergänzen.“ Doch etwas war dieses Mal anders: „In allen meinen seit 1963 zur lokalen NS-Geschichte von Hamm und Soest erschienenen Dokumentationen standen immer die Zeitzeugen und ihre Berichte im Mittelpunkt. Die Suche nach ihnen war über Jahrzehnte hinweg der eigentliche Schwerpunkt der Arbeit, und der persönliche Kontakt mit ihnen war die bislang unabdingbare Voraussetzung für die Erstellung der Texte. Das ist jetzt zum ersten Mal nicht mehr der Fall.“ Alternativ zu den bisher geführten Zeitzeugengespräche sichtete sie publizierte Tagebücher und „Berichte von ehemaligen französischen Insassen des Soester Lagers …, die ich vorwiegend durch Recherche im Internet aufgespürt habe.“ Und sie betrieb Quellenkritik: „Die Frage, inwieweit die Berichte in den veröffentlichten Biografien von ehemaligen Gefangenen des Oflag VI A in Bezug auf ihre Lagerzeit präzise und zuverlässig sind, kann ich genauso wenig überprüfen wie die Zeitzeugenberichte meiner früheren Dokumentationen. In die Bücher werden subjektive Wahrnehmungen und auch Unrichtigkeiten und Verzerrungen eingeflossen sein. Wie bei den übrigen Zeitzeugenberichten helfen auch in diesem Fall regelmäßige Vergleiche, um ein Gesamtbild zu erhalten. Der Rückgriff auf veröffentlichte Quellen belegt vor allem die für mich veränderte Ausgangslage.“15 Die skeptische Haltung gegenüber dem, was Menschen erinnern, wendet sie auch bei sich selbst an. „Man kann sich in seine Biografie auch hineinträumen“ sagt sie an einer Stelle, als sie positiv über ihren Vater spricht, der starb, als sie ein Mädchen von vier Jahren war.

Ihr enorm hohes Engagement wurde mit weiteren Preisen ausgezeichnet – zu den genannten kamen hinzu die Ehrenplakette der Stadt Soest, „Leben Helfen“ (der Preis des Katholischen Sozialdienstes Hamm, in deren Vorstand sie 20 Jahre aktiv war) und im März 2022 der Hammer Integrationspreis „Miteinander 2020“ des Runden Tischs gegen Radikalismus und Gewalt. Steht man Mechtild Brand gegenüber, meint man nicht, dass in dieser zierlichen Person derart viel Power, wissenschaftliches Interesse, Empathie und auch Hartnäckigkeit stecken. Trotz schwerer Erkrankung und fortgeschritten Alters hat sie noch einiges vor: „Ich muss da jetzt noch einer Familie den Bericht über ihren Onkel aus der Nase kitzeln, der als Kommunist 12 Jahre in Buchenwald war. Wenn ich den kriege, dann versuche ich dieses zerstörte Leben zu dokumentieren.“ Es wäre erfreulich, wenn ihr dies gelänge, denn mit ihrem Bearbeiten unliebsamer Teile der Lokal- und Regionalgeschichte sowie übersehener NS-Opfergruppen ist Mechtild Brand eine echte Größe innerhalb der Erinnerungskultur und Geschichtsschreibung des Ruhrgebiets.

Susanne Abeck, frauen/ruhr/geschichte

Veröffentlichungen
„… nach Auschwitz überführt …“ Verfolgung und Vernichtung von Sintifamilien aus Hamm (Westfalen) während des Dritten Reiches, in: Vereinigung der Rom in Polen (Hrsg.), Der 50. Jahrestag der Vernichtung der Roma im KL Auschwitz-Birkenau, Oswiecim 1994, S. 49–57
Geachtet – geächtet. Aus dem Leben Hammer Juden in diesem Jahrhundert, Hamm 1991
Die vergessene Verfolgung. Der Zigeunerbeauftragte aus Soest und seine Opfer, in: Soester Zeitschrift, Heft 107, Soest 1995, S. 103–120
Unsere Nachbarn. Zigeuner, Sinti, Roma – Lebensbedingungen einer Minderheit in Hamm Essen 2007
Keineswegs freiwillig: Ilse Schidlof und ihr Leben zwischen NS-Verfolgung und Gegenwart, Hamm 2008
Verschleppt und entwurzelt. Zwangsarbeit zwischen Soest, Werl, Wickede und Möhnetal (Hrsg.: Heimatverein Möhnesee e.V.), Essen 2010
Weggesperrt. Kriegsgefangenschaft im Oflag VI A Soest, Essen 2015
Zeitenwechsel. Schatten und Schweigen. Jules Wolf und seine (un)freiwillige Biografie, in: GFK e.V. (Hg.), Zeitenwechsel, Heft 2022, S. 9–29
Wie durch ein Brennglas. Lebensbedingungen von Flüchtlingen vor Ort, Hamm 2022
Zahlreiche Beiträge auf der Website des Hammer Geschichtsvereins e. V., https://geschichtsverein-hamm.de/archiv/referenten/mechtild-brand/ [Zugriff am 20.04.2023]

Mitarbeit an Sammelbänden:
  • „Bei Alsberg wird geplündert“, „Die Synagoge hat doch überhaupt nicht gebrannt…“, Ein Denkmal für Juden in Hamm, in: Hammer Lesebuch, Essen 1991
  • Zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und eigener Entscheidung – Drei Frauengenerationen der Familie Herz / Bertha Meyberg, Ida Goldstein und Helene Lauter – Jüdische Freuen im Geschäftsleben / Für Olga Bamberger, in: Die vergessene Geschichte – 775 Jahre Frauenleben in Hamm, Hamm 2001
  • Zur Zwangsarbeit an die Möhnetalsperre, in: Ein Jahrhundert Möhnetalssperre, Bönen 2013
  1. https://www.ns-archiv.de/verfolgung/gerstein/gerstein-bericht.php [Zugriff am 20.04.2023]
  2. Näheres zu ihm z.B. unter www.ghetto-theresienstadt.de/pages/b/bacony.htm [Zugriff am 20.04.2023]
  3. www.fritz-bauer-institut.de/mitteilung/christian-raabe-nachruf [Zugriff am 20.04.2023]
  4. https://media.offenes-archiv.de/ha2_2_5_3_bio_1434.pdf [Zugriff am 20.04.2023]
  5. https://kfar-tikva.org.il/?lang=de [Zugriff am 20.04.2023]
  6. terre des hommes (Hg.): „Wir suchen Eltern für Kinder“. Die Geschichte der Adoptionsarbeit von terre des hommes, Osnabrück 2013 [Zugriff am 16.05.2023]
  7. Brand, Mechthild, „… nach Auschwitz überführt …“ Verfolgung und Vernichtung von Sintifamilien aus Hamm (Westfalen) während des Dritten Reiches, in: Vereinigung der Rom in Polen (Hrsg.), Der 50. Jahrestag der Vernichtung der Roma im KL Auschwitz-Birkenau, Oswiecim 1994, S. 49–57
  8. Brand, Mechthild, Für Olga Bamberger, in: Die vergessene Geschichte. 775 Jahre Frauenleben in Hamm – Werkstattberichte (= Notizen zur Stadtgeschichte, Bd. 7), hrsg. von Antje Flüchter-Sheryari/Maria Perrefort/Eva-Maria Lerche (Gustav-Lübcke-Museum), Hamm 2001, S. 249–252
  9. Siehe hierzu www.hammer-norden.de/akteure/stadtteilbuero-hamm-norden/sintiarbeit-und-beratung und die Website der Stadt Hamm www.hamm.de/sinti-in-hamm [Zugriff am 16.05.2023]
  10. https://franzkapellesoest.de/ [Zugriff am 20.04.2023]
  11. siehe hierzu z. B. https://www.stiftung-evz.de/wer-wir-sind/geschichte/aufarbeitung-ns-zwangsarbeit/ [Zugriff am 20.04.2023]
  12. Brand, Mechtild, Verschleppt und entwurzelt. Zwangsarbeit zwischen Soest, Werl, Wickede und Möhnetal (Hrsg.: Heimatverein Möhnesee e.V.), Essen 2010, S.9
  13. Weggesperrt. Kriegsgefangenschaft im Oflag VI A Soest, Essen 2015
  14. z. B. in Schatten und Schweigen. Jules Wolf und seine (un)freiwillige Biografie, in: GFK e.V. (Hg.), Zeitenwechsel, Heft 2022, S. 9–29
  15. Weggesperrt, S. 11
Zitation: , Mechtild Brand, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/mechtild-brand/

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