Die „Radbod“-Witwen / ab 1908

Das Unglück nach dem Unglück

Es war der 12. November 1908, als sich in den frühen Morgenstunden auf der Zeche Radbod in Hövel bei Hamm in 850 m Tiefe eine schwere Schlagwetter-Explosion ereignete. Trotz schnell eingeleiteter Rettungsmaßnahmen fanden 350 bzw. 351 Bergleute den Tod. Etwa 1.150 Männer verloren durch das Unglück ihren Arbeitsplatz.

Nachdem durch eines der größten deutschen Grubenunglücke viele Frauen und ihre Kinder den Ernährer verloren hatten, begann für diese ein Leidensweg, der Not und Elend mit sich brachte und viele an den Rand ihrer Existenz trieb. Betroffen waren vorrangig Witwen, aber auch Familien, deren Väter durch das Grubenunglück arbeitslos wurden.

Nach dem Stand vom 5. April 1909 hatten 235 Witwen, 626 Halbwaisen, neun Vollwaisen und neun Aszendenten (Eltern, Großeltern, Pflegekinder) einen Angehörigen bei dem Grubenunglück verloren. Die Hinterbliebenen erhielten ab dem 19. November 1908 ein Sterbegeld i.d.R. in Höhe von 80 Mark und eine kleine Hinterbliebenenrente aus der Gewerbe-Unfallversicherung. Sie durften zunächst in den gemieteten Zechenhäusern wohnen bleiben. Viele Witwen mussten nun dazu verdienen.

Eine Welle der Hilfsbereitschaft ging nach dem Unglück durch ganz Europa. Es wurden zahlreiche Hilfsaktionen durchgeführt. Das Kronprinzenpaar initiierte die „Sammlung des Kronprinzenpaares“. Kaiser Wilhelm II. bewilligte 25.000 Mark aus seiner Privatschatulle. Mit der Verteilung der Spenden wurde ein Zentralhilfskomitee beauftragt. Die im Rahmen der sogenannten Radbodspende gesammelten Gelder beliefen sich am 22. Januar 1909 auf 1.574.669 Mark. Hieraus gewährte das Zentralhilfskomitee in Münster Zusatzrenten in Höhe von 150 Mark pro Witwe, 75 Mark für jede Halbwaise und 150 Mark für jede Vollwaise.

Die Meldungen in den Zeitungen erweckten immer wieder Hoffnung auf rasche Unterstützung bei den Hinterbliebenen. Nachdem bis Ende 1908 zwar immer wieder die Verteilung der Spendengelder in den Komitees angesprochen wurde, aber keine konkreten Informationen bekannt wurden, kam es am 8. Januar 1909 zu einer ersten Protestversammlung der „Witwen von Radbod“ in Hamm. Emma Osterwinter übernahm den Vorsitz der Versammlung. „Die Witwen wünschten, endlich einmal zu hören, wie und wann das Geld, das lediglich für sie und ihre Kinder gesammelt wurde, verteilt werden soll.“ Sie forderten die direkte Verteilung der gesammelten Gelder. Die Witwen verfassten eine Resolution, in der es u.a. heißt: „Zirka 200 Frauen und Mütter, deren Ernährer auf Zeche \Radbod\ zu Tode gekommen sind, verwahren sich dagegen, dass das Zentral-Hilfs-Komitee, welches ausschließlich aus … Personen besteht, die von der Lage der Arbeiter und deren Frauen gar keine Ahnung haben, uns zumutet, die von der Oeffentlichkeit für uns gespendeten Gelder nicht verwalten zu können. Es ist eine Rohheit, die seinesgleichen sucht, dass man das, nachdem unsere Ernährer auf dem Schlachtfelde der Industrie zu Hunderten dahingemordet, uns auch noch solche Beleidigungen ins Gesicht zu sagen wagt, wie – ‚wenn ihr das Geld auf einmal bekommt, bringt ihr euch ja um\.“

Weiter wurde von den Witwen ausgeführt: „Die Kleidungsstücke usw., welche man von den gesammelten Geldern gekauft und uns für uns und unsere Kinder gegeben, hätten wir, wenn wir das Geld dafür bekommen, bedeutend vorteilhafter kaufen können. Wir haben auf dem Rathause und im Lutherhause Sachen bekommen, die von den Motten derartig zerfressen waren, dass man sie keine drei Tage anziehen konnte. Man hat sich nicht einmal gescheut uns zu sagen, – \und was wollen Sie denn, Sie sind doch so jung, Sie können doch bald wieder heiraten.\“

Im März 1909 reichten sechs Witwen – Franziska Maly, Franziska Dora und Amalie Krawanja aus Hövel, Theodora Spirat aus Bockum, Franziska Waterkotte und Emma Osterwinter aus Hamm – eine Zivilklage gegen die Mitglieder des Lokalkomitees in Hamm ein. In der Klageschrift wurde beantragt, einen Teil der Spenden anteilig zu verteilen und den Rest für Renten zu verwenden, die so gestaltet sind, dass nach Ablauf der vermutlichen Lebensdauer der Hinterbliebenen das gesammelte Kapital aufgezehrt ist.

Auf Grund dieser Klage forderte das Hammer Lokalkomitee „dass alle Leistungen aus der Spende an die Klägerinnen und diejenigen Witwen, welche sich nicht ausdrücklich mit den vom Zentralkomitee aufgestellten und vom Lokalkomitee angenommenen Verteilungsgrundsätzen einverstanden erklären, bis auf weiteres eingestellt werden.“

Während des Prozesses veranlasste die Zechendirektion am 23. April 1909 folgende Pressemeldung: „Aus der Kolonie Radbod u.a., es sei interessant zu hören, dass sich die ruhiger denkenden, besonneren Witwen der Kolonie durch das agitatorische Vorgehen der Frauen Dora und Karawanja derartig abgestoßen fühlten, dass sie der Direktion mit der Bitte nähergetreten seien, man möge beiden Witwen kündigen, da andernfalls keine Ruhe in die Kolonie wieder einziehen könne. Nach der Ruhe aber sehne man sich endlich. Dieser Protest der besonnenen Witwen lasse erkennen, dass der ganze Prozeß, der die Begriffe Wohltätigkeit und Dankbarkeit jedem menschlichen Empfinden zum Trotz auf den Kopf stelle, von der Mehrheit der Witwen nicht gutgeheißen werde. Die Direktion der Zeche habe dem geäußerten Wunsche entsprochen und den beiden genannten Witwen die Wohnung gekündigt.“ Ob tatsächlich Witwen aus der Kolonie bei der Zechenverwaltung vorgesprochen haben, ist nicht nachzuweisen.

Am 1. Mai 1909 zogen die Initiatorinnen der Klage, die in der Kolonie Radbod wohnten,„in auffälliger Aufputzung von der Kolonie zur Stadt Hamm. Die Witwen trugen schwarze Trauerkleidung und Hüte mit wehendem Flor, dazu auf der linken Brustseite eine kreuzweise verschlungene kleine rote Schleife, während sie um die Taille eine 2 m lange und 20 cm breite Schleife von rotem Tuch geschlungen hatten. In Hamm wurden sie der Polizeiverwaltung zugeführt, wo die Schleifen beschlagnahmt wurden.

Die Klage der „Radbod-Witwen“ auf Auszahlung der eingegangenen Spendengelder wurde am 13. Mai 1909 vor der Zivilkammer des Landgerichts Dortmund abgewiesen. Wegen ihrer Demonstration am 1. Mai 1909 wurden die Witwen vom Amtsgericht Hamm „wegen Verübung groben Unfugs mit je 25 Mark ev. 5 Tagen Haft bestraft.“

Eine der klagenden Witwen war Franziska Dora. Sie wurde 1879 in Ueckendorf geboren und lebte seit dem 5. Oktober 1908 mit ihrem Mann Adolf und ihren sieben Kindern in Hövel. Ihr Mann starb bei dem Grubenunglück. Aufgrund einer Zwangsvollstreckungssache kam es zu einer Räumungsklage, die am 21. Mai 1909 vollstreckt wurde. Dabei wurde sie des Meineides verdächtigt und verhaftet. Ihre Kinder im Alter von vier Monaten bis 14 Jahren kamen in das katholische Waisenhaus Vorsterhausen in Hamm. Ihr ältester Sohn August floh und fand eine Bleibe bei August Ruppel im Hammer Norden, wo auch seine Mutter nach ihrer Haftentlassung einige Zeit lebte. Nach der Quellenlage durfte Franziska Dora ihre sechs jüngeren Kinder nicht mehr bei sich aufnehmen.

Als in den 1920er Jahren die Zusatzrenten aus dem Spendenfonds ausblieben und sich die gesetzliche Hinterbliebenenrente kaum veränderte, wuchs die Not. So bat die Witwe Hedwig Walensiak in Nychy um zusätzliche Unterstützung. Sie schrieb im Oktober 1924: „Mein Ehemann ist verunglückte in der Zeche Radbod und hat mich und ein Kind unter einem Jahre in ein großes Unglück gestürzt, denn unser Brotgeber und Versorger ist tot. Die Knappschafts-Berufsgenossenschaft … hat uns eine monatliche Rente um 27,55 Mark festgesetzt. Gegen diesen Bescheid habe ich Protest erhoben und geltend gemacht, daß ich bei 1,81 Mark täglichem Einkommen doch nicht mit dem Kinde bei den hiesigen teuren Zeiten durchkommen kann, da ich noch 42 Mark Wohnungsmiete zahlen muß.“

Im Dezember 1929 wandten sich einige der Radbod-Witwen in einem gemeinsamen Brief nochmals an die Verwaltung der Radbod-Spende in Münster: „Da wir seid Jahren nichts mehr von dieser Spende gesehen haben sind wir doch begierig zu wissen was mit diesem Gelde gemacht worden ist. Wie Ihnen bekannt sein dürfte ist damals von einigen Radbod-Witwen ein Versuch gemacht worden das ganze Geld ausbezahlt zu bekommen es ist Ihnen gesagt worden wir sollten auf unsere alte Tage was haben was haben wir jetzt Hunger und Elend aus allen Winkeln deshalb wäre es sehr angebracht wenn uns die Herren mit ein anständiges Weihnachtsgabe beschenken wollen. Das Geld ist und kann nicht alle sein es sind uns doch nur immer die Zinsen ausbezahlt worden. Und verfallen ist es auch nicht das lass ich mir nicht mehr vormachen da ist auf alle Fälle mit gearbeitet worden und wir müssen jetzt hungern und darben dafür. Das Geld war doch für Witwen und Waisen gespendet da hatte nimand ein Recht ohne unser Wissen und Willen mit dem Gelde zu arbeiten oder es verfallen zu lassen, deshalb müssen wir darauf dringen das wir von dem Gelde mal endlich was in die Finger bekommen wir haben die Jahre grade genug Elend gehabt.“

Der Vorstand der Radbod-Spende aber stellte alle Zahlungen ein, ohne die Empfänger aktiv zu informieren. Er reagierte nur noch auf Anfragen und Anträge. Als Begründung wurde angegeben, dass infolge der Inflation kein Geld mehr in der Stiftung „Radbodspende“ vorhanden sei. Nach einer Aufwertung von Vermögenspapieren war es möglich, kleinere Restsummen an die Hinterbliebenen auszuzahlen. Im Dezember 1932 erhielten sie aus der „Radbodspende“ den Betrag von 31,72 RM als Schlusszahlung.

Ute Knopp/ Stadtarchiv Hamm

Orte:

Ehrenfriedhof Bockum-Hövel, Ermelinghofstraße/ Fritz-von-Twickel-Weg, 59075 Hamm

Zitation: Knopp, Ute, Die "Radbod"-Witwen, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/die-radbod-witwen/

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