Helene Wessel / 1898-1969

Eine überzeugte Katholikin in Gegnerschaft zur Wiederbewaffnung

Vorbemerkung zur Biografie von Helene Wessel:

2021 regte Ina Scharrenbach als Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen eine Denkmalsetzung für Helene Wessel an, da sie als eine der vier Frauen im Parlamentarischen Rat 1949 an der Ausarbeitung unseres Grundgesetzes mitgewirkt und damit die Grundlagen heutiger Gleichstellungspolitik gelegt hatte, bei der Abstimmung stimmte sie allerdings gegen das Grundgesetz. Helene Wessel war zeitlebens eine überzeugte Pazifistin und kämpferische Demokratin. 1968 erklärte sie, dass sie „aus Gewissensgründen und nach reiflicher Überlegung gegen die Notstandsgesetze stimmen wird“. Sie begründete ihre Ablehung mit den Erfahrungen unter Hitlers „Ermächtgungsgesetz“ (Vgl. Friese, Elisabeth, Helene Wessel (1898-1969). Von der Zentrumspartei zur Sozialdemokratie, Essen 1993, S. 267). Lange vor Angela Merkel (Parteivorsitzende der CDU von 2000-2018) war sie die erste Frau an der Spitze einer Partei. Sie lebte mit einer Frau zusammen und setzte sich für Fauen in der Politik ein, nicht nur, weil diese die Mehrheit der Bevölkerung bildeten, sondern weil ihr Wirken allen zugute kommen würde – eine aktuelle Position, die im 21. Jahrhundert mit dem Argument der Diversität vorgetragen wird.

Die Denkmalsetzung wurde ausgesetzt, denn Helene Wessel hat als Sozialpolitikerin in den 1930er Jahren eugenische, „sozialhygienische“ Positionen vertreten, die heute als untragbar gelten. 1951 brachte sie als Fachpolitikerin in die Beratungen eines seit 1949 auf der Tagesordnung des Bundestages stehenden sogenannten „Bewahrungsgesetzes“ einen Initiativantrag ein und erläuterte ihn umfassend. Er beruhte, obwohl in Teilen überarbeitet, in Grundzügen auf einem Entwurf, der bereits in den 1920er Jahren vom Reichstag abgelehnt worden war, weil schon zu dieser Zeit „Verwahrlosung“ und „Bewahrung“ nicht ausreichend geklärt werden konnten und die große Gefahr des Missbrauchs gesehen wurde. Sie erläuterte 1951: „Die Gründe, die das Zustandekommen des Bewahrungsgesetzes im früheren Reichstag verhinderten, waren verschiedener Art. Vor allem zwei Gründe möchte ich erwähnen, da sie auch bei den Beratungen des vorliegenden Gesetzentwurfs der Zentrumsfraktion eine Rolle spielen werden: erstens die notwendige Beschränkung der persönlichen Freiheit der Bewahrungsbedürftigen und zweitens die Kostenfrage (Deutscher Bundestag, 163. Sitzung, Bonn, Dienstag, den 18. September 1951, S. 6605-6613, hier S. 6606, siehe auch https://dserver.bundestag.de/btp/01/01163.pdf [abgerufen 01.07.2023]).“ Es ging im Bundestag  letztlich um die „Erweiterung der Zwangserziehung für über 18 Jahre alte Menschen“ (Deutscher Bundestag, ebd., S. 6609).

In der Bundesrepublik wurde kein „Bewahrungsgesetz“ verabschiedet, weil es zu keiner genauen Abgrenzung des Personenkreises der als „bewahrungsbedürftig“ zu kategorisierenden Menschen kommen konnte, denen sich in den 1950er Jahren auch andere Fürsorgegebiete wie Fürsorgeerziehung, Arbeitshäuser, „Irrenpflege“, Vormundschaftsverfahren oder das Strafrecht widmeten (vgl. zu den zeithistorischen Begriffen ebd.) Im Bundestag 1951 – und auch bei Helene Wessel – herrschte ein Bewusstsein darüber, dass der Frage der freien Entfaltung und des Schutzes der Persönlichkeit in der Verfassung ein zentraler Stellenwert zukommt. 1950 hatte die Bundesrepublik die europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte unterzeichnet. Parlamentarische Verteterinnen und Vertreter wurden in der Frage der Zwangsverwahrung von einem Bewusstsein geleitet,  dass in Deutschland nach der Zeit des Nationalsozialismus – von der sozialdemokratischen Abgeordneten Lisa Korspeter in der  Debatte „böses Erbe der Vergangenheit“ genannt (ebd., S. 6611) – eine besondere Vorsicht gegenüber Eingriffen des Staates in die Freiheitsrechte herrschen müsse. Im Kalten Krieg mit der Systemkonkurrenz zum Staatssozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wurden die Freiheitsrechte besonders sensibel diskutiert.

Die folgende Biografie wurde 2012 in frauenr/ruhr/geschichte eingestellt und gibt den damaligen Wissensstand der Autorin wieder. Sie bezieht sich hauptsächtlich auf die 1993 von Elisabeth Friese vorgelegte Biografie Helene Wessels. Zu Beginn hat sich frauen/ruhr/geschichte mit dem Ziel, eine große Öffentlichkeit für Frauen in der Geschichte des Ruhrgebiets zu interessieren, gegen umfassende Nachweise bei den Biografien entschieden. Mittlerwerweile machen so genannte Fake News, Kommunikationsbedingungen der Sozialen Medien, Herauskopieren aus dem Zusammenhang, Künstliche Intelligenzen den Nachweis von Literatur und Informationen absolut notwendig. Die heute in frauen/ruhr/geschichte eingestellten Texte zeichnen sich deshalb durch umfassende Belege und Kontextinformationen in einem Fußnotenapparat aus. Dies ist nicht nur im Sinne seriöser Geschichtsschreibung unter den Bedingungen der Digitalität geboten, sondern auch als vertrauensbildender Beitrag zu einer kritischen historisch-politischen Bildung für die Demokratie. Auf dem Arbeitsprogramm von frauen/ruhr/geschichte steht eine Überarbeitung der hier eingestellten Biografie Helene Wessels unter Einbeziehung von Quellen und neuerer Literatur wie jene von Gisela Notz (Vgl. Notz, Gisela, Helene Wessel (1898–1969), in: Raasch, Markus/ Linsenmann, Andreas (Hg.): Die Frauen und der politische Katholizismus: Akteurinnen, Themen, Strategien, Paderborn 2018, S. 325-360) oder die vom Landtag NRW veröffentlichte Biografie, die die in Dortmund geführte Diskussion bereits aufnimmt, vgl.  unter von https://www.landtag.nrw.de/home/der-landtag/geschichte-des-landtags/verfolgungsbiografien/biografien/helene-wessel/lebensgeschichte-helene-wessel.html .

Uta C. Schmidt

Vier „Mütter“ – neben 61 „Vätern“ – waren an der Ausarbeitung des Grundgesetzes beteiligt: Elisabeth Selbert, Frieda Nadig (Sozialdemokratische Partei, SPD), Helene Weber (Christlich Demokratische Union, CDU) und Helene Wessel für die Deutsche Zentrumspartei (DZP).

Die Katholikin Helene Wessel – Abgeordnete des preußischen Zentrums, diplomierte Fürsorgerin aus Dortmund, anerkannte Sozialexpertin, Mitglied des Dortmunder Frauenausschusses – entschied sich 1945 nicht wie die meisten ihrer politischen Freunde für die neu entstehende Christlich Demokratische Union. Diese neue Partei, die als Konsequenz aus der Zustimmung des Zentrums zum Ermächtigungsgesetz 1933 und aus den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus gegründet wurde, setzte in der Gemeinschaft von Protestanten und Katholiken auf einen parteipolitischen Neuanfang.

Als gläubige Katholikin, die eine Politik für Katholiken machen wollte, vertrat sie deutlich andere Positionen als der Katholik Adenauer. Ihre Gegnerschaft zur Wiederaufrüstungs- und Westintegrationspolitik Adenauers brachte sie schließlich in einen Gegensatz zu ihrer eigenen Partei, zu deren Parteivorsitzenden sie 1949 und 1951 gewählt wurde. Sie gab ihr Parteiamt auf und verließ das Zentrum, obwohl sie sich zuvor bis zur Selbstaufgabe für ein eigenständiges Profil der Partei in der politischen Landschaft der jungen Bundesrepublik eingesetzt hatte. Es war gerade ihre christlich-katholische Prägung, die sie zu einer Außenseiterin des Katholizismus mit unabhängigen politischen Positionen werden ließ.

Innerhalb der Zentrumspartei engagierte sich Helene Wessel energisch für die stärkere Einbindung der Frauen und forcierte den Aufbau von örtlichen Frauenausschüssen neben jeder bestehenden Ortsgruppe der DZP. Bereits in der Weimarer Republik hatten die Frauen im Katholischen Deutschen Frauenbund sich gegen eigene Frauenparteien ausgesprochen und stattdessen für das Zentrum geworben. Hier knüpfte sie an. Auf dem Parteitag 1948 in Recklinghausen setzte Wessel einen 20-Prozent Anteil von Frauen im Hauptvorstand durch und forderte sichere Listenplätze für die Kandidatinnen. Sie begründete ihren Vorstoß damit, dass Frauen in besonderem Maße für die DZP aktiviert werden müssten und außerdem die Mehrheit der Wähler stellten: „Gerade ihr besonderes Wesen muss die Frau in die Bereiche des Staates hineintragen – in die Härte der Welt ihr Herz‚“, argumentierte sie: nicht Gleichheit, sondern Gleichwertigkeit beider Geschlechter und einen schöpferisch-weiblichen Beitrag beim Aufbau des neuen Staates.

Die Katholikin Wessel gründete 1952 nach ihrem Parteiaustritt zusammen mit dem profilierten Protestanten Gustav Heinemann die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP), die sich für eine Politik der Wiedervereinigung und gegen die Wiederaufrüstungspolitik einsetzte: „Weder Militarisierung von West- noch Sowjetisierung von Ostdeutschland, sondern Friedensvertrag für Gesamtdeutschland“. Die neue Partei sollte eine überkonfessionelle, von weltanschaulicher Toleranz geprägte Gemeinschaft bilden, in der die Freiheit der Gewissensentscheidung Vorrang vor Parteidisziplin und Fraktionszwang besaß: Nicht Konfrontation, sondern Diplomatie, nicht Ablehnung, sondern Toleranz mit eindeutigem Bekenntnis gegen eine Remilitarisierung Deutschlands: „Deutschland darf kein Festlandsdegen auf europäischem Boden weder für den Westen noch für den Osten abgeben. Deutschland muss aus den beiderseitigen Aufrüstungen ausgeklammert werden“, forderte sie.

Von Helene Wessel stammt die legendäre Formulierung: „Es nutzt uns nichts, dass die Amerikaner uns versichern, sie würden die letzte Schlacht gewinnen – wir Deutsche würden die erste Schlacht nicht überleben!“ Sie erkannte das kommunistische System hinter dem „Eisernen Vorhang“ als Realität an, obwohl es ihrer christlichen und demokratischen Überzeugung zutiefst widersprach. So konnte sie eine Politik der Annäherung und Verständigung entwerfen sowie einen über Westeuropa hinausgehenden politischen Zusammenschluss unter Einbeziehung auch ost- und mitteleuropäischer Länder denken. Damit stand sie als katholische Politikerin innerhalb des Katholizismus nahezu allein dar. Im Klima des Kalten Krieges wurde sie sofort als kommunistische Handlangerin diffamiert. Helene Wessel musste Wahlkampfveranstaltungen unter Polizeischutz verlassen, und sie wurde aufs Schärfste in der Presse angegangen. Das Scheitern der GVP im Bundestagswahlkampf 1953 und die Nichtdurchsetzbarkeit der außenpolitischen Forderungen führte 1957 zur Auflösung der GVP.

Erst als Helene Wessel sah, dass sich eine Widervereinigung nicht realisieren ließ, als sie die Entwicklung der SPD zu einer Volkspartei beobachtete, Übereinstimmungen in der Außen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik ausmachte und realisierte, dass sich ihre religiös fundierten gesellschaftlichen Vorstellungen nicht mit Unterstützung der Kirche realisieren ließen, entschied sie sich für einen Parteieintritt in die SPD. „Ich glaube auch, dass ich meinen Entschluß vor meinem Herrgott verantworten kann“, schrieb Helene Wessel 1957. „So war die SPD am Ende ihres Lebens die Partei, die ihre bereits frühzeitig formulierten politischen Vorstellungen letztlich auf den Weg brachte. Helene Wessel integrierte damit den Prozess des gesellschaftlichen Wandels in den Prozess ihres politischen Lebens. Dieses ist umso bemerkenswerter, als ihre Herkunft einem solchen Werdegang eher entgegenstand“, so fasste die Wessel-Biografin Elisabeth Friese den Weg dieser exponierten Politikerin der Nachkriegszeit zusammen.

Trotz oder wegen der Verwurzelung im katholischen Glauben ließ sich Helene Wessel auf keine der Frontstellungen der katholischen Seite ein, sondern suchte nach einem politischen Verband, der ihrer Vorstellung von „sozialem Ausgleich und gesellschaftlicher Harmonie“ entsprach. Helene Wessel zeigt uns, dass es im politischen Denken der 1950er Jahre Alternativen gab, die jedoch zum damaligen Zeitpunkt gesamtpolitisch nicht mehrheitsfähig waren.

Helene Wessel trat ganz und gar für ihre Überzeugung ein, nahm dabei auch den Bruch mit politischen WeggefährtInnen und eingespielten Netzwerken in Kauf. Ihrer langjährigen Freundin und politischen Gegnerin Christine Teusch – Zentrums- und CDU-Politikerin und von 1947 bis 1954 Kultusministerin des Landes Nordrhein-Westfalen – schrieb sie über ihren Eintritt in die SPD, um Verständnis und um die Erhaltung der Freundschaft bittend: „Aber das Leben hat mich hart im Nehmen gemacht, weil ich in der persönlichen Gewissensverantwortung und -freiheit mich geborgen weiß“. „Bei Helene Wessel verband sich das Private und das Politische zu dem Leben einer Frau, der die Politik ausschließlicher Beruf und gleichzeitige Berufung war“, so versuchte die Biografin Elisabeth Friese wenigstens ein wenig von der Privatperson Helene Wessel einzufangen, die sich, mit ihrer Lebensgefährtin Alwine Cloid zusammenlebend, seit ihrer ersten Anstellung 1915 im Parteisekretariat der Deutschen Zentrumspartei in Dortmund-Hörde ein Leben lang der Parteiarbeit widmete. Dabei blieb nur Zeit für ein Hobby: das Briefmarkensammeln.

Dr. Uta C. Schmidt / frauen/ruhr/geschichte

Literatur:

Friese, Elisabeth, Helene Wessel, Essen 1993.

Zitation: Schmidt, Uta C., Helene Wessel, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/helene-wessel/

Beitrag (ohne Bilder und Quellen) lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0, International Lizenz Creative Commons Lizenzvertrag
Creative Commons Namensnennung

Copyright © 2022 frauen/ruhr/geschichte und Autor:innen.