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Tove Gertrud Gerson

Vier Regionen charakterisieren den Lebensweg der Gymnastiklehrerin und Sozialarbeiterin Tove Gerson: ihre bayerische Herkunft, familiäre Bindungen an Dänemark, prägende Jahre im Ruhrgebiet der Weimarer Zeit und der Naziherrschaft sowie am Ende ihres Lebens sowie drei Jahrzehnte im US-Exil. Doch auf der Suche nach einem „roten Faden“ und lebensgeschichtlichen Weichenstellungen geraten schnell ihre Essener Jahre in den Blick.[1]

Tove Gertrud Gerson wurde am 18. September 1903 in München geboren und ist in Dachau aufgewachsen. Ihre Eltern – Ellen (geb. Dyhr) und Albert Müller – lebten als Teil der kleinen protestantischen Minderheit in Dachau, wo Tove eine behütete bürgerliche Kindheit verlebte. (Zur väterlichen Familien-Saga gehörte die Abkunft von Hugenotten…) Ihre Jugend war unter anderem beeinflusst durch Kontakte zur Landbevölkerung und zu einer nahe gelegenen und bis 1914 durchaus bedeutenden Künstlerkolonie, deren Kinder mit ihr in die Schule gingen.[2]

Sie besuchte in Dachau zunächst eine von Nonnen geführte private Grundschule (in der Klasse waren drei protestantische und 95 katholische Kinder) und wechselte dann 1914 zur „Höheren Töchterschule“ Luisenstraße – Humanistisches und Realgymnasium in München, die sie bis 1919 absolvierte. Sie unternahm viel gemeinsam mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester Hanna; zum Beispiel interessierten sich beide für die Jugendbewegung, der sie in der Künstlerkolonie begegneten. Dies bedeutete für sie unter anderem musikalische Einflüsse sowie den Verzicht auf Nikotin und Alkohol.

Nach dem Abschluss der Schule verbrachte Tove Gerson ein Jahr in Jütland/Dänemark bei der mütterlichen Familie – eine Phase, die sie als sorglos und idyllisch geschildert hat. Nach München zurückgekehrt, besuchte sie Kurse an einer Handelsschule und war anschließend als Bankangestellte und Sekretärin eines Rechtsanwalts tätig; zugleich nahm sie auch Unterricht in Musik, Rhythmik und Gymnastik.

1924 heiratete sie den Chemie-Ingenieur Gerhard Gerson aus Hamm. Dieser hatte ursprünglich Pläne, nach Australien auszuwandern, was aber scheiterte. Sein beruflicher Einstieg scheint schwierig gewesen zu sein, er übernahm Kurzzeit-Jobs, arbeitete zeitweise in Dänemark (vermittelt durch Toves Verwandte) und fand dann Arbeit auf der Zeche Radbod in Hamm. Wohl auch durch Vermittlung seines hoch angesehenen und gut vernetzten Vaters wurde er 1925 in einem neu gegründeten Forschungslabor des Benzolverbands[3] angestellt, und die Familie zog nach Essen. Die neue Arbeitsstelle sorgte für eine Begegnung mit dem Ingenieur Otto Enoch und seiner Frau Wasja, aus der eine lebenslange Familienfreundschaft wurde.

Der „Bund“ und seine Lektionen

Etwa 1929 fand Tove Gerson (gemeinsam mit Wasja Enoch) den ersten Kontakt zu einer Organisation, die ihr weiteres Leben prägen sollte: dem „Bund. Gemeinschaft für sozialistisches Leben“ und der von ihm betriebenen Gymnastikschule in Essen-Stadtwald. Der aus der Erwachsenenbildung und der Jugendbewegung hervorgegangene Bund bot seinen Mitgliedern und Sympathisant*innen ein breites Spektrum bildender, kultureller und politischer Aktivitäten und verstand sich als Brückenbauer zwischen den verfeindeten Lagern der Arbeiterbewegung. Strenge interne Regeln sollten die Mitglieder zu diszipliniertem Handeln in Parteien, Kulturorganisationen und Alltag befähigen; die Kant’sche Ethik und die Betonung individueller Verantwortung für soziale Gerechtigkeit waren wichtige Leitlinien. Ein Motto dieser Vereinigung lautete: „Wer die bescheidenste Erkenntnis ins Leben umsetzt, ist der Wahrheit näher, als wer die erhabenste nur erforscht und verkündet.“[4]

Mit der von Dore Jacobs[5] geleiteten Gymnastikschule, die einer ganz eigenen undogmatischen Bewegungslehre folgte (und bis heute fortgeführt wird), hat der Bund in den 1920er Jahren für viele Frauen (und wenige Männer) ein neu aufstrebendes Berufsfeld erschlossen; zugleich hielt diese Einrichtung Verbindungen zur Arbeiterkultur, indem dort das Format des „Bewegungschors“[6] gepflegt wurde. 1933 wurden der Bund verboten und die „Bundesschule“ geschlossen. Eine legale Lehrtätigkeit durch die jüdischen Leiterinnen Dore Jacobs und Lisa Jacob war dann nur noch mit „Nichtariern“ erlaubt.

Neue Sympathisantinnen und Sympathisanten dieses Bundes wurden zunächst einmal ausgiebig „beschnuppert“. Tove Gerson berichtet von einem Gesprächs-Spaziergang mit dem Bund-Gründer Artur Jacobs, der ihr darlegte „Ich suche keine Proselyten.“[7] Auch wenn sie keine Ahnung hatte, was das ist, wie sie sich lachend erinnerte, hatte sie die Prüfung anscheinend bestanden. Irgendwann wurde sie zum ersten Mal in die jährlichen Bundesferien mitgenommen und hatte ein Aha-Erlebnis: Hier gibt es eine Chance, Erkenntnis und Handeln zusammenzuführen und ein ethisch verantwortetes Leben zu führen! In den 1930er Jahren absolvierte sie ihre vierjährige Gymnastiklehrerinnen-Ausbildung bei Dore Jacobs; ihr auf den Zeitraum 1930 bis 1932 ausgestelltes Abschlusszeugnis kann nicht korrekt sein kann, sondern muss dem Kaschieren der illegalen Ausbildung gedient haben.[8]

1935 war es den Bund-Mitgliedern noch möglich, auf konspirativen Wegen in die Niederlande zu reisen und dort in Roermond einen ihrer „Bewegungschöre“ aufzuführen; bei dieser Gelegenheit habe sie, berichtet Tove Gerson, das frisch erschienene Buch „Die Moorsoldaten“ von Wolfgang Langhoff mit Erschütterung lesen können.[9]

1937 oder 1938 wurde sie durch eine feierliche „Verpflichtung“ in den Bund aufgenommen, der während der Nazizeit heimlich und unter Reduzierung seiner Anhängerschaft weiter am zumindest geistigen Zusammenhalt arbeitete. Ihr inzwischen als „halbjüdisch“ angesehener Ehemann Gerhard ging im Sommer 1938 in die USA, weil ihm jegliche berufliche Aufstiegsmöglichkeit versperrt war und er seine fachlichen Kompetenzen nicht in den Dienst eines von ihm vorausgesehenen Krieges stellen wollte. „Es war unsere innere Existenz bedrohend“, fasste Tove Gerson ihre damalige Lage zusammen. Durch Vermittlung seines bisherigen Arbeitgebers Benzolverband fand er dort einen schnellen beruflichen Einstieg. Sein Freund und Kollege Otto Enoch war schon 1936 emigriert und konnte nun für ein Affidavit[10] sorgen. Über Toves Entscheidung, erst ein Jahr später zu emigrieren, soll es zu ernsten Konflikten gekommen sein. Sie lebte dann ab September 1938 für ein Jahr im Haus der Familie Jacobs Am Dönhof 18 in Essen-Rellinghausen, das schon länger als „Bundeshaus“ diente, also immer wieder Bundmitglieder für längere Zeit aufnahm und angesichts intensiver Gestapo-Beobachtung den konspirativen Zusammenhalt erleichterte.[11] Dieses Jahr bezeichnete sie später als ihre intensivste politische Lehrzeit: Unentwegt habe man in dieser Zeit über die Themen der NS-Rassenlehre und der „Euthanasie“ diskutiert.

November 1938

Der Bund hatte in diesen dramatischen Monaten die Parole ausgegeben, die wachsende Isolierung der Juden und Jüdinnen mit humanen Gesten und gezielter Hilfe zu durchbrechen. In der Absicht, ihre Solidarität zu bekunden, besuchte Tove Gerson am 10. November 1938, dem Tag nach dem Pogrom, ein in der Weimarer Republik sehr angesehenes jüdisches Paar in Essen: Salomon und Anna Heinemann. Salomon Heinemann war Syndikus wichtiger Firmen, Justizrat und ein bedeutender Mäzen des Folkwang-Museums.[12] Dieser Besuch brachte sie in eine Lage, die sie in den 1980er Jahren einmal ausführlich geschildert hat:

„Dann bin ich in Essen zu Freunden meiner Schwiegereltern; der Mann war Rechtsanwalt, einer der angesehensten Juristen, ein Wirtschaftsanwalt. Wie ich dahin kam, stand eine bedrohliche Masse auf der Straße: Ich ging dann – ich war so naiv, dass ich Blumen mitgenommen hatte, so was Blödes, aber solche Situationen kennt man nicht – ich ging zum Seiteneingang, die Haupttür war zerschlagen und verrammelt, mit Balken zugestellt. Und dann kam, während ich wartete, dass die Seitentür aufgemacht wird, ein Mann aus der Menge zu mir und sagte sehr bedrohlich und unangenehm, ob ich vielleicht noch den Juden Blumen brächte. Da hab ich eine Riesenangst erlebt vor der Menge – ich weiß nicht mehr, was ich in der Aufregung geplappert hab. Jedenfalls kam dann das Mädchen und machte die Tür auf. Ich kam herein in das Haus, das ich gut kannte. Das waren sehr kultivierte Leute, nach Konzerten trafen sich dort berühmte Künstler, die Heinemanns waren selbst feine Musiker. Jetzt war einfach alles zusammengeschlagen, die Vorhänge haben sie angebrannt, die Teppiche zerschnitten, die Sessel aufgeschlitzt, so dass alles von innen herausquoll. die Fenster und Spiegel zerschlagen …

Ich redete mit den alten Leuten. Sie waren über 70 und machten einen vollkommen verstörten Eindruck, aber haben mir klar erzählt. Sie hätten Mittagsschlaf gehalten, es hat furchtbar geläutet, und noch bevor sie aufmachen konnten, kam die SA rein, schlug ihnen die Türen ein. Die sprangen mit den Stiefeln in die Fenster, in die Spiegel am Eingang.  (…). Und oben im Nachbarhaus schauten ihre guten Freunde, ein Stadtrat, so hinter den Gardinen raus… Das zeigt, wohin die Menschen in ihrer Angst kommen. Er wusste, wenn er runtergegangen und sich menschlich verhalten hätte, der alten Frau beigestanden hätte in ihrer furchtbaren Lage, dann hätte er natürlich seinen Posten verloren. Er hatte Angst, dass seiner Frau was passiert. So blieben sie eben da im Hintergrund und ließen ihre gute Freundin allein. (…) Und da kam plötzlich durch die Menge, die so hässlich und drohend und schreiend dastand, ein Auto, und ein junger Pfarrer und eine Freundin von ihnen stiegen aus und sagten: „Kommen Sie mit, Sie müssen heute Nacht ja irgendwo übernachten.“ Da sind die Alten mit, aber die Frau sagte:“ Das ist doch gefährlich für sie.“ Da sagte der junge Mann: ‚Darum kann ich mich jetzt nicht kümmern, ich hab keine Zeit zu denken, was gefährlich ist.‘ Und hat sie mitgenommen. – Man hat in diesen Situationen alle Arten von Verhalten erlebt!

Ich sagte schon, dass an diesem Tag viele Männer nach Dachau gekommen sind. Die Frauen mit den Kindern irrten nun in den Wäldern herum, im Stadtwald und im Schellenberger Wald, in diesem kalten Wetter, die ganze Nacht und wagten sich nicht nach Hause. Die Kinder waren später völlig verstört, hatten immer einen Schluckauf, schnappten nach Luft, waren völlig erschüttert. Und die Männer hatten keine Ahnung, wohin sie kamen, kamen nach Dachau und haben dort den ersten Geschmack von einem Konzentrationslager – nicht Vernichtungslager – erlebt.“[13]

Die Eheleute Heinemann haben sich in den Tagen danach das Leben genommen – ihre Gräber finden sich auf dem jüdischen Friedhof in Essen-Segeroth.[14]

Bis zum Herbst 1938 erteilte Tove Gerson auch Gymnastikunterricht im Israelitischen Waisenhaus in Dinslaken und nahm, nachdem auch dieses Heim am 10. November 1938 Ziel des Nazi-Pogroms geworden war, intensiv Anteil am weiteren Schicksal der Mädchen und Jungen.[15] Zusammen mit anderen Bund-Mitgliedern sammelte sie Spenden für die Unterstützung der von dort vertriebenen Kinder.[16] Mit den nach den Pogromen sich steigernden Emigrationen, Vertreibungen und später auch Deportationen intensivierte der Bund seine Hilfen: Hausbesuche, Begleitung zu Behörden und Transporten und später eine erstaunlich intensive Päckchen-Versandaktion in polnische Durchgangs-Ghettos und weitere Lager wurden zur Hauptaufgabe der Bund-Mitglieder. In den folgenden Kriegsjahren konnten sie durch ihre bedachte Netzwerkarbeit mehrere Jüdinnen und Juden (wahrscheinlich ungefähr acht) vor Deportation und Ermordung retten.[17]

Michigan, Oklahoma, Rhode Island, Massachusetts

Im Herbst 1939 reiste Tove Gerson nach Abwicklung aller notwendigen Dinge in die USA zu ihrem Ehemann. Dieser hatte in der dortigen Chemie-Industrie Arbeit gefunden, bei der Firma Philgas der Philips Petroleum Co. Doch mit dieser Anstellung waren mehrere Ortswechsel verbunden: das Paar wohnte zunächst in Sylvan Lake bei Pontiac/Michigan, dann ab 1941 in Bartlesville/Oklahoma, wo das zentrale Forschungslabor des Konzerns Gerhard Gersons Arbeitsplatz wurde. Nach Providence/Rhode Island führten die nächste Versetzung 1945 und damit der nächste Umzug. Diese häufigen Ortswechsel machten den Berufsstart für Tove Gerson äußerst schwierig. Zeitweise arbeitete sie als Putzhilfe, als Hausmädchen eines Rabbiners oder Beschäftigungstherapeutin. Immer wieder versuchte sie mit ihrer Gymnastikausbildung Kurse anzubieten, was nur teilweise gelang. Ihre kommunikativen Bedürfnisse brachten sie bald in Kontakt zu liberalen und sozialdemokratischen Kollegen von Gerhard Gerson und damit auch zu Gewerkschaften.

Von Anfang an wurde Tove Gerson eine kritische Beobachterin der rassistischen Segregation und Diskriminierung in den von ihr erlebten US-amerikanischen Kleinstädten. Doch für das Thema, dass die Schwarzen „jenseits der Bahnlinie“ in einem Viertel fast ohne städtische Infrastruktur, z.B. ohne Müllabfuhr, lebten, fand sie zunächst wenig Gesprächspartner*innen. Das hinderte sie aber nicht an einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit dem US-Rassismus.

Wie sie später festhielt, waren ihr dabei die 1942 veröffentlichte Schrift „There are things to do“ der sozialkritischen Schriftstellerin Lillian Smith sowie die von dieser herausgegebene Zeitschrift „South today“ eine wichtige Orientierung. Diese Autorin, im Austausch mit Eleanor Roosevelt und Martin Luther King jr., prangerte schon seit den 1930er Jahren (auch in ihrem literarischen Werk) an, dass die „Rassentrennung“ die US-amerikanische Gesellschaft moralisch vergifte, und appellierte in diesem Manifest an ihre Leser*innen, die „Rassenbeziehungen“ nicht allein der Politik zu überlassen. „Segregation is spiritual lynching“ lautete eine ihrer Thesen. Jeder und jede könne damit beginnen, rassistische Redeweisen zu stoppen, Politiker zur Ordnung zu rufen, gegen Rassenjustiz und für Interessenvertretung der Schwarzen einzutreten. Im Hinblick auf das militärische Engagement in Europa forderte Smith, die eigenen Kinder nicht zu kleinen Nazis, sondern zu demokratischen Weltbürgern zu erziehen. Mit diesem Engagement war Smith eine intellektuelle Wegbereiterin der Bürgerrechtsbewegung in den 1950er Jahren.[18] (Und in Smith‘s Ermutigung zu „kleinen Schritten“ und individueller Verantwortung kann man durchaus eine Parallele zu den ethischen Maximen des Bundes in Deutschland sehen.)

Auch die Lektüre der negativen Utopie von Sinclair Lewis „It can‘t happen here“[19] bewegte Tove Gerson bereits in diesen ersten USA-Jahren, ebenso wie das Buch von Gregor Ziemer „Education to death“, eine 1941 publizierte Studie über Nazi-Erziehung. Der Lehrer und Journalist berichtete hier aus den Erfahrungen seiner Arbeit in Berlin 1928 bis 1939.

Aufklärung über das Nazi-System

Die Einladung des Newcomers‘ Club von Bartlesville, einmal im örtlichen Junior College über „deutsche Kultur“ zu sprechen, nutzte Tove Gerson 1942 als Gelegenheit und Impuls, nicht nur dort über die schreckliche deutsche Gegenwart zu referieren. Und dies, obwohl es für sie als „enemy alien“ nicht ganz einfach war: Sie unterlag seit Ende 1941 (dem Kriegseintritt der USA) spezifischen Meldepflichten und Aufenthaltsbeschränkungen, für die sie nun Ausnahmegenehmigungen zu beantragen hatte.[20] Tove Gerson musste ihre Vortragsreisen zwei Wochen vorher unter Angabe der Zeit, des Verkehrsmittels und des Zwecks beim District Attorney, also der lokalen Staatsanwaltschaft, anmelden. Auch die ängstliche Frage, ob die „langen Ohren“ der Nationalsozialisten vielleicht bis in die Staaten reichten und ihre Vorträge den deutschen Freunden zum Nachteil gereichen könnten, musste abgewogen werden.

Einen der ersten Vorträge hielt sie in Tonkawa/Oklahoma vor Bauern mit deutschen Wurzeln und kassierte ein eisiges Schweigen des Publikums, als sie am Rande auch ein Plädoyer für die Rechte der Schwarzen einflocht, die dort nach Sonnenuntergang nicht auf die Straßen durften. Tove Gerson sprach bei diesen Gelegenheiten ganz gezielt über ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Nazi-Regime, z.B. mit der Familie Heinemann und der Liquidierung des jüdischen Waisenhauses Dinslaken  oder mit der öffentlichen Demütigung des ehemaligen Zentrum-Ministers Hirtsiefer[21] in den Essener Straßen 1933, über die Absurdität des Hitlerschen Rassenlehre, auch über die „Weltanschauung“ und Rhetorik der Nazis, über die Politik der Krankenmorde und der Zwangssterilisationen. Den Konformitätsdruck auf Kinder und Familien und die militaristische Erziehung schilderte sie anhand von Beispielen aus befreundeten Bund-Familien („Mutti, warum magst du unseren Führer nicht?“) und anhand des genannten Buchs von G. Ziemer.

„…es lag mir sehr am Herzen, nicht gegen Deutschland zu reden. Ich habe die Reden versucht so aufzubauen, dass ich die Grundsätze des Nationalsozialismus klarmachte, z.B. den Rassismus.“ Sie erläuterte auch, warum die totalitären Methoden dieser Herrschaft nahezu jeden Widerstand verunmöglichten. Die Unterschiede zwischen den Weiten Amerikas und dem eng besiedelten und intensiv bewirtschafteten Europa versuchte sie nebenbei zu vermitteln. Auch ihre grundsätzliche Verstörung hat sie dort nicht verschwiegen, das zeigen ihre Notizen zu einem der Vorträge in Bartlesville: „Wie ist es möglich, dass Menschen das einander antun?“ Ohne dass ihre Quelle genau erkennbar wäre, bezog sich Tove Gerson schon damals intensiv auf den Begriff des Totalitarismus.[22] Was bedeutet es, fragte sie ihr Publikum, wenn ein Regime mit Gewalt und Propaganda alle Lebensbereiche – Betriebe, Schulen, Kunst, Freizeit, Wissenschaft, individuelle Ressourcen wie Zeit, Gedanken, körperliches Befinden – durchdringt, niemand sich sicher fühlen kann vor Rechtsbruch, Denunziation und Blockwart-Kontrolle?

Mehr als 30 solcher Vorträge hat sie ab 1942 vor Kirchengemeinden, kirchlichen Frauen- und Männer-Gruppen, Rotary und Kiwani Clubs,[23] der YWCA, einer Handelskammer, Schwarzen-Schulen, den United Auto Workers in Detroit, der American Association of University Women, bei den „Jaycees“ (Junior Chambers) und auch in High Schools in Oklahoma und Kansas gehalten, ebenso an den nachfolgenden Wohnorten in Michigan und Rhode Island, zum Teil gemeinsam mit ihrem Ehemann Gerhard. Und sie stellte dabei zu ihrer Verblüffung fest: „Sie wussten eigentlich gar nicht, warum sie im Krieg waren… Ich hätte das nicht gekonnt, ohne die gründliche Schulung in dem Bund von Artur Jacobs in Essen, der uns half, das nationalsozialistische System genau zu analysieren.“ Das Publikum habe ihr sehr viele Fragen gestellt und ihre Expertise grundsätzlich sehr freundlich aufgenommen.[24]

Unmittelbar nach Kriegsende wusste Tove Gerson die Beziehungen zu den Bund-Freunden in Deutschland und Europa wieder aufzunehmen, beginnend mit Anfragen vom Sommer 1945 zum Verbleib der besonders Gefährdeten an die alliierten Suchdienste. Und ein lebhafter schriftlicher Austausch und viele  Besuche in Essen, Dänemark und Schweden waren ihr stets wichtig. In der unmittelbaren Nachkriegszeit organisierte sie mit ihrer Freundin Wasja Enoch eine große Päckchen-Hilfsaktion für die Bund-Freundin Erna Michels, die als Jüdin im niederländischen Exil und Untergrund überleben konnte, und für deren Helfer*innen-Netzwerk.

US-Bürgerin: dankbar und kritisch

1945 erwarben Tove Gerson und ihr Mann die US-Staatsbürgerschaft. Und seit diesem Jahr war sie (in Teilzeitbeschäftigung) als Jugendarbeiterin beim YWCA – der Young Women’s Christian Association[25] – angestellt, ab 1946 außerdem als Beschäftigungstherapeutin in einer psychiatrischen Klinik, ab 1947 als Gymnastiklehrerin.

1951 starb ihr Ehemann Gerhard während einer Europareise, und sie blieb eine Weile in Dänemark und Deutschland, kehrte erst 1953 in die USA zurück. Die Frage des Lebensunterhalts verschärfte sich damit, und in den folgenden Jahren blieb ihr Leben ein sehr unruhiges Kaleidoskop aus beruflichen Tätigkeiten, zivilgesellschaftlicher Arbeit und erneuter Ausbildung. Sie arbeitete zeitweise in der Verwaltung des Sinai Hospitals in Detroit (1953 von der jüdischen Community gegründet), verbrachte aber auch zwei Jahre in Schweden bei ihrer 1938 dorthin emigrierten Schwiegermutter.

In den Jahren 1948 bis 1950 war sie aktiv in der Women’s International League for Peace and Freedom, wo auch ihre Bund-Freundin Wasja Enoch mitarbeitete – dann verlagerte sie ihr freiwilliges Engagement: Tove Gerson trat, weiterhin empört angesichts ihrer Erfahrungen mit dem Rassismus gegen die Schwarzen, etwa 1953 der „National Association for the Advancement of Coloured People“ (NAACP) bei und engagierte sich dort vielfältig in der Bildungs- und Kampagnenarbeit. Dieser Verband gilt zumeist als „schwarze“ Organisation, verstand sich aber tatsächlich als „interracial“. Mitte der 1950er Jahre erlebten dessen Aktivitäten einen gewissen Aufschwung angesichts einer sich allmählich öffnenden Rechtsprechung zugunsten der Bürgerrechte schwarzer US-Amerikaner*innen. In NAACP- und YWCA-Kontexten beteiligte sich Tove Gerson 1966 bis 1968 an der Vorbereitung und Durchführung mehrerer „gemischter“ Studienreisen nach Europa, insbesondere nach Skandinavien, aber auch kleinerer Reisen in den USA. In ihren Verbindungen zu den jüdischen und den schwarzen Communities spiegelt sich vielleicht auch das damals und bis Mitte der 1960er Jahre noch wirksame Bündnis von schwarzer Bürgerrechtsbewegung und liberalen jüdischen Kreisen.[26] Viele Freundschaften aus dieser bewegten Zeit des Bürgerrechts-Kampfs – z.B. mit dem Wissenschaftler- und Aktivisten-Paar Marion und Martin Luther Kilson[27] – pflegte sie bis an ihr Lebensende.

1956 wurde Tove Gerson Adult Activities Program Director beim YWCA Dearborn/Michigan, 1957 übernahm sie die gleiche Position in Cambridge/Massachusetts. Fast gleichzeitig beschloss sie, ihre Ausbildung auf neue Füße zu stellen, und begann ein Studium der Sozialarbeit (B.A.) an der Tufts University[28] und der Boston University; dabei wurden ihr allgemeinbildende Teile ihrer Essener Ausbildung angerechnet. An diesem Fach interessierten sie besonders die für ihr Berufsfeld relevanten neueren Ansätze der Gruppenarbeit und Gruppendynamik, inspiriert von Kurt Lewin und Saul Bernstein.[29] Etwa 1965 wurde sie Mitarbeiterin und mit der YWCA auch Unterstützerin des kurz zuvor an der Bostoner Tufts University entstandenen People’s theatre of Cambridge, eines für sein diverses „casting“ bekannten Theaterprojekts. Für T. Gerson war dies ein Modell für die Zusammenarbeit von Schwarzen und Weißen, Männern und Frauen, verschiedenen religiösen oder sozialökonomischen Hintergründen.

1968/69 verbrachte Tove Gerson erneut ein „Sabbatical“-Jahr in Europa. 1969/70 arbeitete sie am Radcliffe College – einer Frauen-Abteilung der Harvard Universität – als „Empfangsdame“ und am Harvard Museum of Comparative Zoology (im zweiten Fall ist der Schwerpunkt ihrer Arbeit nicht überliefert).

Wieder in Essen

1970 wurde bei ihr eine Makula-Degeneration diagnostiziert und ihre weitgehende Erblindung begann. Sie war nun pensioniert, ihre mit der Berufsarbeit verbundenen Beziehungen lockerten sich, und sie beschloss 1973, nach Europa in die Nähe ihrer Verwandtschaft und ihrer Bund-Freundinnen und Freunde zurückzukehren. Die letzten Jahrzehnte verbrachte sie dann in einem Seniorenheim in Essen-Stadtwald – also ganz nah bei der immer noch bestehenden Gymnastikschule des Bundes und in Gesellschaft einiger anderer Bund-Veteraninnen, u.a. von Dore Jacobs. Sie konnte so auch an den immer noch fortlebenden Aktivitäten des Bundes – gemeinsame Feste und Freizeiten, Lektürekreise und mehr – wieder teilhaben. Angesichts des seit den 1980er Jahren neu erwachten Interesses an der Geschichte der Dore-Jacobs-Schule und des Bundes war sie nun auch als Zeitzeugin gefragt.

Mit ihrer Krankheit entfielen zwar viele Möglichkeiten der Bewegung, des Reisens, der Lektüre usw., doch gelang es ihr, „Vorleser*innen“ zu finden, mit Hilfe von „Kassettenbriefen“ viele Kontakte aufrecht zu erhalten und so an der Welt Anteil zu nehmen. Gegen die mit dem minimalen Sehvermögen einhergehende Tendenz zur gutgemeinten Entmündigung vermochte sie temperamentvoll zu protestieren.[30]

Tove Gerson verstarb am 2. Dezember 1998. Der Nachruf eines guten Freundes hob mit Recht hervor, dass sie die ethische Strenge ihrer Bund-Sozialisation mit Humor und Toleranz zu verbinden wusste.[31]

Dr. Norbert Reichling

  • [1] Soweit nicht gesondert belegt, stützt sich diese Darstellung auf einen Teilnachlass von Tove Gerson, der u.a. mehrere Lebensläufe, biografische Interviews und viele Notizen, Vortragsskizzen etc. enthält: Tove Gertrud Gerson Papers, 1919-1993; MC 447, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge, Mass. – außerdem auf Gespräche mit Tove Gerson in den Jahren 1987-1997 und das Archiv des Bundes im Essener Dore-Jacobs-Haus. Ich danke Mark Roseman für den Hinweis auf den Teilnachlass Tove Gerson in der Schlesinger Library und Karin Gerhard für vielerlei Hilfen.
  • [2] Mit der Dachauer Künstlerkolonie verbinden sich u.a. die Namen von Lovis Corinth, Franz Marc, Emmy Walter, Adolf Hölzel, Paula Wimmer und Elsa von Freytag-Loringhoven. Die dortigen privaten Malschulen hatten angesichts der Nichtzulassung von Frauen an der Staatlichen Akademie in München eine hohe Attraktivität für Frauen. Siehe auch https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Dachauer_Künstlerkolonie (aufgerufen 18.1.24).
  • [3] 1918 entstandener Zusammenschluss von Bergbau-Unternehmen, belieferte zunächst Farbenfabriken, ab 1924 Hersteller des Kraftstoffs BV-Aral und bald größte Mineralölvertriebsgesellschaft Deutschlands.
  • [4] als Überblick zum „Bund“: Reichling, Norbert, Der „Bund“ – jugendbewegte Bildungsarbeit und Lebensreform im Ruhrgebiet, in: Paul Ciupke u.a. (Hrsg.): Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung NF Bd. 8 (2011) – „Jugendbewegung und Erwachsenenbildung“ Schwalbach/Ts. 2012, S. 61-76.
  • [5] Siehe Behrens, Heidi, Dore Jacobs / 1894–1979. Im „Bewusstsein eines sinnvollen Lebens“ – die Essener Sozialistin, Feministin und Gymnastiklehrerin, https://www.frauenruhrgeschichte.de/frg_biografie/dore-jacobs-1894-1979/ (aufgerufen 23.1.24).
  • [6] Eine expressionistisch anmutende Form der Performance, in der sich autonome Bewegung und Gruppenbildung spontan verbinden sollen, oft kombiniert mit politisch-lyrischen Texten, z.B. von Ernst Toller.
  • [7] Als Proselyten werden (in Anlehnung an zum Christentum übergetretene Juden) etwas abschätzig frisch „Bekehrte“ bezeichnet.
  • [8] In einem späteren Lebenslauf gab Tove Gerson an, die Ausbildung habe von 1930 bis 1934 angedauert.
  • [9] Einer der ersten veröffentlichten Berichte über Lagererfahrungen, in diesem Fall in den Lagern Börgermoor und Lichtenburg: Langhoff, Wolfgang, Die Moorsoldaten. 13 Monate Konzentrationslager. Unpolitischer Tatsachenbericht, Zürich 1935.
  • [10] Affidavit: eidesstattliche Versicherung, in diesem Kontext: Bürgschaft für Einwanderer*innen.
  • [11] Nachbarschaftliche Denunziationen, Verhöre und Postüberwachungen sind akribisch nachvollziehbar in den überlieferten Gestapo-Akten im Landesarchiv NRW.
  • [12] Kaufmann, Uri Robert, Der Mann hinter den Kulissen des Museum Folkwang. Salomon und Anna Heinemann, hrsg. von der Alten Synagoge Essen, Essen 2022.
  • [13] Eigene Transkription eines Zeitzeugenberichts von T. Gerson (Tonband-Aufzeichnung) vom November 1988 in der Essener Handelsschule, Bund-Archiv im Dore-Jacobs-Haus Essen.
  • [14] Zur Biografie dieses Paars siehe auch Eisenhardt, Vanessa/ Heppe, Viktoria, Anna und Salomon Heinemann – ein jüdisches Leben in Westfalen, in: Schalom. Zeitung des Jüdischen Museums Westfalen, Nr. 81/November 2017, S. 3-5, https://www.jmw-dorsten.de/wp-content/uploads/2017/11/schalom-81-web.pdf (aufgerufen 24.1.2024).
  • [15] Die 32 aus dem Waisenhaus brutal vertriebenen jüdischen Kinder wurden demütigend durch die Stadt getrieben, dann zunächst für einige Tage auf einem Bauernhof in der Umgebung einquartiert, später nach Köln gebracht und anschließend nach Belgien und Holland. „Von den Kindern des Waisenhauses überlebte etwa die Hälfte den Holocaust.“ – vgl. https://www.yadvashem.org/yv/de/exhibitions/novemberpogromnacht/jewish-orphanage.asp (aufgerufen 18.12.2023).
  • [16] Zeitzeugenbericht vom November 1988.
  • [17] dazu Roseman, Mark, In einem unbewachten Augenblick. Eine Frau überlebt im Untergrund, Berlin 2002.
  • [18] Siehe Clayton, Bruce. „Lillian Smith.“ New Georgia Encyclopedia, last modified Apr 13, 2021. https://www.georgiaencyclopedia.org/articles/arts-culture/lillian-smith-1897-1966/ (aufgerufen 3.2.2024).
  • [19] Erstveröffentlichung 1935 mit dem Untertitel „What will happen when America has a dictator?“
  • [20] Die im Dezember 1941 beschlossenen Maßnahmen des „Enemy Alien Control Program“ fielen in der Praxis sehr unterschiedlich aus: Einer Internierung unterlagen vor allem Amerikaner japanischer Herkunft, und an der Ostküste wurden die Vorsichtsmaßnahmen weniger radikal als an der Westküste gehandhabt. Vgl. Schenderlein, Anne, German Jewish „Enemy Aliens” in the United States during the Second World War. In: Bulletin of the German Historical Institute (GHI). Issue 60, Spring 2017, S. 101-117.
  • [21] Heinrich Hirtsiefer (1876-1941), gelernter Schlosser, Verbandssekretär der christlichen Metallarbeiter-Gewerkschaft und Zentrumspolitiker, ab 1906 Stadtverordneter in Essen, ab 1921 Landtagabgeordneter, 1921-1932 preußischer Wohlfahrtsminister und lange stellvertretender Ministerpräsident, ging energisch gegen die Absetzung der preußischen Regierung im Juli 1932 vor, ab 1933 „Schutzhaft“, KZ Kemna und KZ Börgermoor, an den Folgen von Inhaftierung und Folter 1941 verstorben – siehe https://www.deutsche-biographie.de/sfz32603.html (aufgerufen 25.1.2024).
  • [22] Der Begriff sickerte ab ca. 1940 in die wissenschaftliche Debatte ein und wurde erst in den 1950er Jahren durch die Veröffentlichungen von Carl J. Friedrich, Hannah Arendt u.a. weiter verbreitet.
  • [23] Kiwani Clubs sind, ähnlich wie Rotary und Lions Clubs, sog. „Service-Organisationen“, d.h. karitativ tätig, in diesem Fall besonders für Kinder.
  • [24] Interview mit Tove Gerson in der SWR-Sendung „Lebenserfahrungen“, 1987 (in der Schlesinger Library z.T. online zugänglich).
  • [25] Die YWCA war bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts für „Rassengleichheit“ eingetreten und intensivierte dieses Engagement seit den 1930er Jahren.
  • [26] Siehe etwa das Beispiel des US-Reformrabbiners Maurice Eisendrath: http://eisendrath-stories.net/cont_20thcenturystories_rabbi_maurice_eisendrath.php (aufgerufen 20.1.2024). Zur Geschichte und Ausdifferenzierung der schwarzen Bürgerrechtsbewegung siehe: Hochgeschwender, Michael, Zur Geschichte von Black America, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/266269/zur-geschichte-von-black-america/ (aufgerufen 3.2.2024).
  • [27] zu diesen beiden: https://www.encyclopedia.com/arts/culture-magazines/kilson-marion-d-de-b und https://www.thehistorymakers.org/biography/martin-kilson (aufgerufen 22.1.2024).
  • [28] Hoch angesehene Privat-Universität am Rande von Boston, gegr. 1852, mit einem Akzent auf Geisteswissenschaften und Forschung.
  • [29] Der Sozialpsychologie K. Lewin (1890-1947) emigrierte 1933 aus Deutschland in die USA; an der Boston University forschte er über Gruppenprozesse und Führungsstile, Einstellungsveränderung, Vorurteile und „Randgruppen“. S. Bernstein war Pionier der sozialpsychologischen Kleingruppenforschung und entwickelte als Professor für Sozialarbeit an der Boston University den Ansatz der „sozialen Gruppenarbeit“. Beiden Forschungsansätzen wird eine Verbindung zu Traditionen der deutschen Jugendbewegung und Reformpädagogik nachgesagt.
  • [30] Über diese Erfahrungen hat sie berichtet in: Gerson, Tove, Hell und Dunkel. Beschreibung einer Lebenssituation, in: Süddeutsche Zeitung, 9./10. Dezember 1989, S. 152.
  • [31] John K. Dickinson: Tove Gerson 1903-1998, im Besitz des Verf. (dank Mark Roseman).
Orte:

Dore-Jacobs-Haus, Leveringstraße 30, Essen-Stadtwald – die Ausbildungsstätte von T. Gerson
Das ehemalige „Bundeshaus“ (damals im Besitz der Eheleute Dore und Artur Jacobs) Am Dönhof 18, Essen-Stadtwald – Tove Gersons Wohnort 1938-1939
Stolpersteine für Salomon und Anna Heinemann vor der ehemaligen Anwaltskanzlei, Zweigertstr. 50, Essen-Rüttenscheid

Zitation: Reichling, Norbert, Tove Gertrud Gerson, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/tove-gertrud-gerson/

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Luise Elias

Bislang wurden wenige Überlieferungen bekannt, die uns zeigen, wie Fragen nach Frauenwahlrecht und politischer Partizipation von Frauen jenseits urbaner Zentren und frauenbewegter Führungspersönlichkeiten im Kaiserreich verhandelt wurden. Luise Elias aus Schwerte, Jüdin, Sozialdemokratin, Dichterin, hat sich zwei Mal ausdrücklich dazu geäußert: als Kolumnistin der Schwerter Zeitung und unter dem Pseudonym „Ernst Heiter“.

Luise Elias rückte durch die Forschungen zur Schwerter Frauengeschichte ins Bewusstsein, mit denen ein Team geschichtsinteressierter Frauen begann, die männlich strukturierte Stadtgeschichte zu erweitern.1 Anlass war das 600-jährige Jubiläum der Stadtgründung. Hille Schultze Zumhülsen befasste sich in einem weiteren Projekt der Schwerter Frauengeschichte intensiver mit Leben und Werk der Dichterin.2 Die Ausrufung der Weimarer Republik 1918 und die Gewährung des allgemeinen Wahlrechts führten 100 Jahre später zu vielfältigen geschichtskulturellen Aktivitäten. Der Historiker Wolfgang Reininghaus, ehemaliger Präsident des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen und in Schwerte geboren, verortete in diesem erinnerungskulturellen Zusammenhang das Leben und Werk von Luise Elias im Kaiserreich, in der Zeit des Ersten Weltkriegs und in der politischen Öffentlichkeit der jungen Weimarer Republik.3 Er konnte dazu auf seine umfassenden fachlichen Kenntnisse der Landesgeschichte, der Geschichte des mittleren Ruhrtals und auf seine Publikationen zu den Wahlen 1919 in Westfalen zurückgreifen. Die Arbeiten der Schwerter Frauengeschichte und sein Aufsatz bilden die Grundlagen der hier präsentierten Lebensgeschichte der Schwerterin Luise Elias.

Tochter aus gutem Hause

Luise Elias wurde am 30. Juli 1865 in Rheda als Tochter des Lehrers Abraham Steinweg (1831-1901) und seiner Frau Sibilla (1838-1891) geb. Treu geboren.4 Ihr Vater hatte das Haindorfsche Lehrerseminar in Münster besucht5 und arbeitete als Lehrer in Oelde und Rheda. Ihre Mutter kam aus Drove bei Düren. Das Ehepaar hatte neun Kinder. Luise Elias heiratete am 12. November 1893 mit 28 Jahren den Mode- und Textilhändler Sally Elias (1865-1928) und zog nach Schwerte.6 Dort eröffnete Sally Elias in der Wilhelmstrasse 34 eine Filiale von Treu & Co., einem Geschäft seiner Schwäger, später wurde das Geschäft an die Hüsingstrasse 1 verlegt. 7 Sally Elias stand 1896 der jüdischen Synagogengemeinde vor. Das Ehepaar Elias hatte drei Kinder, eines starb bereits im Kindesalter 1899.

Luise Elias veröffentlichte ab 1898 Gelegenheitsgedichte in der Schwerter Zeitung unter dem Pseudonym „Ernst Heiter“. Das Pseudonym lässt sich eher als Kolumnentitel sehen, der in Reimform alles „Vermischte“ zwischen ernsten und heiteren Themen ansprach, als dass er Anonymität sicherte, denn um 1900 lebten in der Stadt Schwerte rund 10.000 Menschen,8 in der Altstadt lag alles eng beieinander. Luise Elias nutze mit „Ernst Heiter“ ein Pseudonym, unter dem wohl als erster Adolf Glasbrenner (1810-1876) zur Zeit der Reaktion nach der Revolution 1848/49 eine humoristische Zeitschrift herausgab.9

Die Schwerter Zeitung

1868 gründete der 29-jährige Buchdruckermeister Carl Baus, aus Wuppertal zugezogen, eine Buchhandlung und eine Buchdruckerei, in der er ab Juli das Schwerter Wochenblatt produzierte, das zwei Mal wöchentlich erschien. Das Wochenblatt entwickelte sich zur Tageszeitung weiter, auch ein Zeichen für die Industrialisierung, die Schwerte mit dem Anschluss an das Eisenbahnnetz 1867 erfasste. Ab dem 2. Januar 1875 firmierte das Blatt unter dem Titel Schwerter Zeitung.10 Die Gedichte Luise Elias‘ erschienen unregelmäßig fast immer am Samstag. Zwischen einzelnen Gedichten lagen manchmal mehrere Wochen, durchschnittlich wurden zwischen 1898 und 1923 zwei Gedichte pro Monat publiziert. Wilfried Reininghaus bemerkt, dass zu den Samstagen vor den christlichen Feiertagen keine Gedichte von ihr erschienen und stellt die Frage in den Raum: „Mochte Braus die Gedichte zu diesen Terminen keiner Jüdin anvertrauen?“11 Die Gedichte hatten einen festen Platz zwischen den überregionalen Nachrichten und dem Lokalteil. Sie bildeten eine Brücke zwischen dem globalen und dem lokalen Geschehen. Sie erschienen ab einer Zeit, als der Sohn Johannes Baus (1872-1919) nach dem plötzlichen Tod seines Vaters den Verlag übernommen hatte.

Noch eine Frauengeschichte

Ein Nebenschauplatz: Mit der Geschichte der Schwerter Zeitung tut sich noch eine andere Schwerter Frauengeschichte auf. Während der Abwesenheit ihres Mannes im Ersten Weltkrieg und nach seinem Tode als Folge der Kriegsverletzungen führte Magdalene Baus (1882-1954) das Druck- und Verlagshaus, zwei Geschäfte sowie einen Riesenhaushalt mit sieben Kindern. 1922 heiratete sie, Vierzigjährig, den Schriftsetzermeister Hans Linner aus Oberbayern, der das Geschäft von nun an leitete. Als er 1955 starb, übernahmen die gemeinsamen Töchter Rosel (1924-1979) und Magdalena Linner (1927-1991) den Betrieb. Rosel Linner studierte Zeitungswissenschaften in Leipzig und Freiburg und promovierte in Erlangen in Geschichte und Germanistik. Sie lernte bei ihrem Vater das Druckereihandwerk und arbeitete als Verlegerin und Journalistin für die Schwerter Zeitung, bis diese Lokalzeitung im Zuge der Medienkonzentration 1968 in den Ruhr Nachrichten aufging. 1973 wechselte sie aus familiären Gründen zur Charmer Zeitung in die  Oberpfalz. 12

Das Gedicht Zum Frauen-Kongress!

Am 11. Juni 1904 publizierte Luise Elias das Gedicht Zum Frauen-Kongress! in der Schwerter Zeitung. Vom 12. bis 18. Juni 1904 fand in Berlin ein international hochkarätig besetzter Kongress des International Council of Women (ICW) statt. Mehrere Hundert Delegierte aus den 16 Mitgliedsstaaten und noch mehr Interessierte tauschten sich in der Berliner Philharmonie über Bildung, Beruf, Recht aus und diskutierten gemeinsame Positionen in der Frauenfrage. Das Begleitprogramm für die ausländischen Gäste sah neben Vorträgen und Exkursionen Empfänge bei Reichskanzler von Bülow (1849-1929) und bei Kaiserin Auguste Victoria (1858-181921) vor. Diese internationale Vernetzung wurde zugleich als „Plattform für die internen Auseinandersetzungen der nationalen Organisationen“ genutzt, wie Katja Koblitz herausgearbeitet hat.13 Anita Augsburg (1857-1943) vom radikalen Flügel der deutsche Frauenbewegung und Aletta Jacobs (1854-1929) von der Frauenstimmrechtsbewegung in den Niederlanden versprachen sich von der internationalen Aufmerksamkeit vor allem einen Schub für die politische Forderung nach Frauenstimmrecht im Deutschen Reich, eine Forderung, die im Bund Deutscher Frauenvereine – der 1894 gegründeten Dachorganisation der bürgerlichen Frauenbewegung – zu diesem Zeitpunkt kontrovers und zurückhaltend verhandelt wurde und nicht explizit Thema des ICW-Kongresses war.  Seit 1899 bemühte sich der radikale Flügel der deutschen Frauenbewegung, das Thema auf der nationalen Agenda zu positionieren und durch die Internationalisierung der Stimmrechtsfrage den konservativen Bund Deutscher Frauenvereine unter Druck zu setzen. Eine Woche vor dem Kongress tagte deshalb im Prinz Albert Hotel ein eigener Kongress der International Women Suffrage Alliance (IWSA) unter entscheidender Mitwirkung des 1902 gegründeten Deutschen Vereins für Frauenstimmrecht. Diese Veranstaltung brachte das Frauenwahlrecht prominent und pressewirksam in die Öffentlichkeit: „Der Deutsche Verein für Frauenstimmrecht nutzte somit die Prominenz der bereits angereisten Vertreterinnen aus dem Ausland, um die fehlende Thematisierung des Frauenwahlrechts auf dem ICW-Kongress zu unterlaufen – durchaus mit Erfolg, denn in der Presse wurden (…) beide Tagungen zumeist gemeinsam und positiv rezipiert, und noch im selben Jahr gründet sich als nationale Organisation der Deutsche Verband für Frauenstimmrecht.“14

Luise Elias reagiert mit ihrer Veröffentlichung am 11. Juni 1904 in der Schwerter Zeitung nicht rückblickend auf das Ereignis. Sie greift mit ihrem Gedicht Zum Frauen-Kongress! in den öffentlichen Diskurs ein, der mit der Vorberichterstattung auf den Kongress einsetzte. Ihr Gedicht ist ein beredter Beleg dafür, dass die Medienstrategien des radikalen Flügels der deutschen Frauenbewegung aufgingen, denn auch in Schwerte wurde – zumindest für Luise Elias und ihr Zeitungspublikum – das Wahlrecht ein Thema.

„Zeitgemäße Reime

Zum Frauen-Kongress

Und wieder tagte ein Kongreß

In diesen Frühlingstagen,

Bei dieser ‚Tagung‘ hat indeß

Kein Mann ein Wort zu sagen,

Denn durch die Welt kling’s hell und weit:

Die größte Frage dieser Zeit,

wie auch der künftgen Tage

Bleibt doch die Frauenfrage!

Drum sah man unlängst in Berlin

Und zwar aus allen Ländern

Viel Frauen zum Kongresse ziehn,

wohl in ‚Reform‘-Gewändern,

Denn nach ‚Reform‘ lechzt allerwärts

Das sehnsuchtsvolle Frauenherz,

seit sich der Wunsch bemächtigt

Des Wörtchens ‚gleichberechtigt‘!

Nun ruft zum Kampf der Frauenbund

Der Internationale:

Es hebt der Gleichberecht’gungs-Grund

Die Stellung. Die soziale,

Drum Schwestern all‘, seid auf dem Damm!

Dem alten Satz Ou est la femme

Soll neue Antwort werden

In jedem Land auf Erden!

Manch Ehemann sitzt still beiseit

Und singt von schönen Stunden:

O alte Burschenherrlichkeit,

Wohin bist Du entschwunden!

Die Frau indes zur selben Zeit

Beginnt: O Frauenherrlichkeit,

wie bist du im Entstehen,

Die Welt wird Wunder sehen!

O neue Frauenherrlichkeit,

O neue Zukunftssonne!

Bald leuchtest du der jüngsten Maid

Zu neuer Daseinswonne,

Es geht im neuen Säkulum

Das Mädchen aufs Gymnasium,

Es darf auch schon studieren

Und hier und da amtieren!

Die Mägdlein sind sehr ‚wählerisch‘,

viel mehr noch als die Knaben,

Drum wollen sie vom ‚grünen Tisch‘

Das ‚Wahlrecht‘ schriftlich haben,

Indeß wenn man’s bei Licht besieht:

(`ist kein Malheur, wenn’s nicht geschieht)

Dem weiblichen Geschlechte

Gebühren andere Rechte!

O stolze Frauenherrlichkeit

Warst Du nicht stets vorhanden.

Zwingt nicht die Frau zu jeder Zeit

Den stärksten Mann in Banden?

Seufzt nicht manch schwacher Ehemann:

Jetzt hat die Frau die Hosen an!

Was auch der Gatte leiste,

Gilt nicht ihr Wort das meiste?

Der Jüngling liebt den rauhen Pfad

Und Kühnheit ziert sein Treiben,

Der Jüngling stellt sich als ‚Soldat‘

Die Jungfrau läßt dies bleiben,

hier führte Gleichberecht’gung nur

Zu einem Zweispalt der Natur!

„Bis hierher und nicht weiter!

Dröhnt’s dann mit Macht!

Ernst Heiter“15

Dieser Text ist von seinen medialen Verbreitungsbedingungen bestimmt: Er erscheint als Unterhaltungstext in einer bürgerlichen, christlich ausgerichteten Tageszeitung, die das imperiale, nationale Projekt des Kaiserreichs unterstützt und den Bestrebungen der Sozialdemokratie eine klare Absage erteilt.16 Er ist polyvalent, lässt sich also heute wie damals mehrdeutig interpretieren und verarbeitet Alltagsgespräche, wie sie an der Ladentheke, beim Gesangsverein oder am Stammtisch stattfanden, gerade wenn auch im sich industrialisierenden Schwerte plötzlich Mädchen aus bürgerlichen Schichten das Bedürfnis verlauteten, studieren zu wollen oder Reformkleider und ungewohnte Frisuren trugen.

Die Autorin sieht das Zeitalter der alten „Burschenherrlichkeit“ überwunden. Diese Formulierung, die auf eine spezifische männerbündische Kultur des Studentenlebens verweist, wie sie heute noch in Burschenschaften hochgehalten wird, ist nicht nur im übertragenen Sinne zu verstehen, sondern im konkreten, strebten doch 1904 zunehmend  Frauen zum Studium an die Universitäten und stellten das hergebrachte Selbstverständnis des universitären Milieus infrage. Der Begriff „Burschenherrlichkeit“ gehörte zum allgemeinen Sinn- und Deutungshorizont der Gesellschaft: Er war nicht nur durch das im Gedicht anklingende Lied „O alte Burschenherrlichkeit“ präsent, sondern auch durch beliebte Postkartenmotive, die die Studenten verschickten.

Luise Elias feiert stattdessen „Frauenherrlichkeit“, nachdem die Frage nach Bildung auf den Weg gebracht worden ist – „Es geht im neuen Säkulum/ Das Mädchen aufs Gymnasium“ – und Frauen auch schon studieren können. Nun schreitet der Weg zur Gleichberechtigung weiter voran. In den letzten drei Strophen greift Luise Elias die Argumente auf, mit der die (nicht nur) bürgerliche Gesellschaft ihrer Zeit männliche Vormachtstellungen verhandelt: Wehrdienst für den Mann, das natürlich vorgestellte Geschlechterverhältnis, das bei einer Gleichberechtigung zu einem „Zweispalt der Natur“ führe, die rund um die „natürliche“ Veranlagung des weiblichen Geschlechts seit alters her gewohnheitsmäßig ausgeübten Machtposition im Privaten der Familie – „Gilt nicht ihr Wort das meiste?“ – lassen weitergehende Forderungen anmaßend erscheinen. Das Patriarchat, so könnte eine Lesart des Gedichtendes lauten, wird seinen Herr-im-Haus-Standpunkt nicht so einfach abtreten, wenn es ernst wird: „Bis hierher und nicht weiter! Dröhnt’s dann mit Macht!“ Ein indirekter Hinweis auf Sympathien mit den Forderungen der Frauenbewegungen lässt sich festmachen an der Formulierung: „Drum wollen sie vom ‚grünen Tisch‘ das ‚Wahlrecht‘ schriftlich haben, Indeß wenn man’s bei Licht besieht: (`ist kein Malheur, wenn’s nicht geschieht) Dem weiblichen Geschlechte Gebühren andere Rechte!“ In den drei letzten Strophen referiert sie gesellschaftliche Positionen, wie der gewählte Konjunktiv der indirekten Rede andeutet: „ … hier führte Gleichberecht’gung nur zu einem Zweispalt der Natur!“17 Der Schluss läst die Interpretation zu, dass es nicht einfach sein wird, eine Transformation im Geschlechterverhältnis herbeizuführen und Frauenbewegungen aufgrund gesellschaftlich lang tradierter Rollenmuster mit erheblichem, dröhnendem Gegenwind zu rechnen haben: „Bis hierher und nicht weiter!

Am Samstag den 18. September 1904 bringt die Schwerter Zeitung in ihrer Wochenschau auf der Titelseite nicht nur den Hinweis, dass „aus unserer deutsch-südwestafrikanischen Kolonie“ die Ankunft des neuen Oberbefehlshabers des Expeditionskorps gegen die Herero, des Generalleutnants von Trotha gemeldet wird, sondern auch einen Hinweis auf den Frauenkongress in Berlin: „‘Dieser Kuß der ganzen Damenwelt,‘ mag der Reichskanzler Graf Bülow gedacht haben, als er bei einem gesellschaftlichen Empfang der leitenden Persönlichkeiten des zur Zeit in Berlin tagenden internationalen Frauen-Kongresses der greisen Wortführerin der nordamerikanischen Frauenrechtlerinnen Miß Susanne Anthony verbindlich die Hand küsste. (…) Denn an eine praktische Verwirklichung dessen, was die Damen neu fördern [sic!] ist bei uns in Deutschland nicht zu denken, und vieles von dem, über welches fremde Damen sehr gewandt sprachen, steht bei uns schon besser, wie im Auslande. Auch die deutsche Kaiserin hatte bei einem Empfang der Damen mancherlei Wünsche, die sie ihrem hohen Gemahl mitteilen sollte, zu vernehmen, zog sich aber gewandt aus der Schlinge etwaiger Verpflichtungen, indem sie lächelnd sagte: ‚Die Herren wollen nicht immer alles hören!‘“ 18 Diese Verwobenheit der Meldung über den Frauen-Kongress in Berlin in der Schwerter Wochenschau mit einer Berichterstattung zum Hereroaufstand, den deutschen Interessen in Marokko, den deutschen Ansiedlern in Südafrika und der Sommerpause des Parlaments zeigt, dass die Frauenfrage und die öffentlichkeitswirksam inszenierten Kongresse in Berlin auch in Schwerte auf ein interessiertes Zeitungspublikum stießen.

Zum Frauenkongress 1904 in Berlin

Das Interesse an einer diversen, transkulturellen Ruhrgebietsgeschichte als Geschlechtergeschichte erweitert an dieser Stelle die bisherigen Erzählungen zum Kongress19 um den Hinweis, dass in Berlin 1904 auch eine Woman of Colour sprach: Mary Church Terrell (1863-1854) aus Washington, D.C. Sie war Mitbegründerin und erste Präsidentin der National Association of Coloured Women, die 1896 aus der National Federation of Afro-American Women and the National League of Coloures Women entstanden war.20Mary Church Terrell stand mit drei weiteren Aktivistinnen auf einer Liste, die Alice Salomon (1872-1948) als Vorstandsmitglied und Schriftführerin des Bundes Deutscher Frauenvereine als Kongressorganisation zugeschickt worden war. Die Namen der weiteren vorgeschlagenen Vertreterinnen lauteten: Mrs. Booker T. Washington, Mrs. B. K. Bruce, Mrs. Coralie Franklin Cook.21

Mary Church Terrell sprach am 13. April über die „Lage der farbigen Dienstboten“, am Abend des gleichen Tages dann über „Die Fortschritte der farbigen Frau“. Sie begann ihren Vortrag: „Ich glaube, daß mein Erscheinen in dieser illustren Versammlung wohl aus zwei Gründen Aufmerksamkeit verdient. Erstens bin ich die einzige Frau auf diesem Kongress, welche eine Rasse vertritt, die kaum 40 Jahre sich der goldenen Freiheit erfreut, und zweitens die einzige, deren Eltern tatsächlich Sklaven waren, und die es nur der Güte der Vorsehung verdankt, diesem Los entgangen zu sein. Sie schauen mich an und denken bei sich: ein weißer Rabe, in der Tat! Ich aber weile froh und guten Mutes heute Abend in ihrer Mitte, auch aus zwei Gründen: erstens freue ich mich der Emanzipation meiner Rasse, und dann der allgemeinen Erhebung des weiblichen Geschlechts!“22 In einem Brief an ihren Mann Robert schrieb sie noch am Abend, völlig überwältigt vom Tage: „My reception here tonight was an ovation! People stood up in that wonderful Philharmonie, where all the finest concerts are held and [shouted?] ‘bravo’ and applauded until the presenting officer had to ring a bell to make them sit down so that she could go on with the program. I spoke in German and I must say I did well. (…)”23

Kriegslyrik

Das Gedicht zum Frauen-Kongress bildet mit seiner dezidiert frauenbewegten Thematik eine Ausnahme im lyrischen Schaffen von Luise Elias. Winfried Reininghaus hat sich in seiner politikgeschichtlichen Auswertung der Texte auf die Kriegszeit 1914 bis 1918 und die junge Republik konzentriert und zeigt: Während Luise Elias am 25. Juli 1914 die aufkommende Kriegsgefahr noch in Sätzen wie „Rings sprießt des Friedens edle Saat,/ der Liebe Macht bleibt Sieger“ fasst, wurde die Kriegsgefahr bereits eine Woche später explizit Thema. Ihr Gedicht vom 8. August 1914 folgt der allgemeinen nationalistischen Mobilisierung: „Deutschland, steh auf“, „Deutschland, schlag drein“, „Einig und stark“, „Treu bis zum Tod“. Winfried Reininghaus verzeichnet einen Wandel von „friedliebenden Untertönen zu solcher martialischen Schreibweise binnen vierzehn Tagen (…)“24Noch gegen Kriegsende verlautete Luise Elias Durchhalteparolen und im Oktober 1918, „als nach heutiger Erkenntnis die Mittelmächte den Krieg verloren hatten“25,  warb sie noch für die Zeichnung von Kriegsanleihen und propagierte: „Stark und treu, dann wird das Schwerste überwunden.“26 Diese – wie Reininghaus es vorsichtig nennt – „kriegerische Grundhaltung gegenüber den äußeren Feinden Deutschlands“27 prägt ihre Gebrauchslyrik bis Kriegsende. Reininghaus konstatiert: „Die Dichterin irritiert uns.“28 Sein Fazit: Wie andere Autor:innen dieser Zeit forcierte sie in nationalistischem Duktus deutsches Heldentum, pflegte stereotype Feindbilder und eine „Heroisierung des Soldatischen“.29

Damit folgte Luise Elias der politischen Linie der Schwerter Zeitung und der propagandistisch ins Werk gesetzten Mobilisierung der Heimatfront. Die Tageszeitung unterlang der Zensur und es wäre nicht möglich gewesen, zum Beispiel für Pazifismus einzutreten, wie Reininhaus erklärt.30Dies hätte aber auch nicht der verlegerischen Linie der Zeitung entsprochen, in der Luise Elias ihre Gebrauchslyrik positionierte.

Selten scheinen in den Gedichten  konkrete Hinweise auf die Lebensbedingungen auf, so wenn sie am 24. August 1918 Die fleischlosen Wochen anpreist, die einmal pro Monat eingeführt wurden:

„Der Mensch kann vieles, wenn er muß,

Der Krieg macht ihn bescheiden,

So müssen wir den Fleischgenuß

Zeitweilig gänzlich meiden;

Mit manchem lieben alten Brauch

Ist neuerdings gebrochen,

So tragen wir das Neueste auch,

Es gibt fleischlose Wochen.

(…)

Die Pflanzenkost in Küch‘ und Haus

Kommt glänzend zur Bewährung,

und gleicht die Gegensätze aus

Bezüglich der Ernährung;

Fleischlose Wochen überall,

An jedem deutschen Orte,

Verboten ist der Sonderfall

Für Geld und gute Worte.

Die neue Ernte stärkt den Mut,

Mit dem wir vorwärts blicken,

Und stehet es auch da draußen gut,

so kann uns nichts bedrücken;

Gern opfert, was er kann und muß,

Auch hier der Heimat Streiter,

Drum stellt er jetzt den Fleischgenuß

Zeitweilig ein. Ernst Heiter“.31

Diese Verse sind eine aussagekrägtige Quelle zur Mobilisierung der Heimatfront, die über verschiedenste Medien wie Plakate, Gedichte, Postkarten, Feiern, Spielzeug und eben auch Medienbeiträge ins Werk gesetzt wurde. Luise Elias propagiert den Verzicht am heimischen Herd als gern geleistetes „Opfer“ und setzt ihn in Bezug zu dem „da draußen“ – gemeint ist die Front. Sie beschwört in ihren Reimen die Tugenden der westfälischen Hausfrau: „Nun häuft der Hausfrau fleißge Hand/ Mit Kohl und Kraut die Teller (…).“ Und deutet das Hamstern als Alltagspraxis wenigstens an: „Nur, wer aufs Hamstern sich verstand,/ Steigt heimlich in den Keller.

Für Wilfried Reininghaus klingen die drei im November 1918 veröffentlichten Gedichte, als sich die Zensur lockerte und schließlich entfiel, „authentischer“.32

Am Vortrag zur Wahl zur Nationalversammlung am 19. November 1919 veröffentlichte Luise Elias Auf zur Wahl! Sie wirbt in diesem Text nach den Wortgefechten des Wahlkampfes für den Gang zur Urne und appelliert an die weibliche Wählerschaft, das Wahlrecht als Wahlpflicht zu verstehen:

(…) „Drum geht der Ruf durch Land und Stadt

Für die gerechte Sache,

Daß jeder, der ein Wahlrecht hat,

Gebrauch von diesem mache;

Daß keiner stumpf zu Hause bleibt

Und diesen Akt verfehle,

Daß ihn die Pflicht zur Urne treibt,

Er gehe hin und wähle! (…) 

Es hallt so lang der Widerstreit

Bis daß die Wahl gewesen.

Doch diesmal sind zur Mitarbeit

die Frauen auserlesen!

Unübersehbar ist die Zahl

Der Weiblein, die heut wählen,

Es darf bei dieser Damenwahl

Kein deutsches Mädchen fehlen! (…)“ 33

Gedichte für die junge Republik

In den Gedichten für die junge Republik werden die Erfahrungen mit Mangel, Not, Bangen und Hoffen auf ‚Wohlfahrt‘ explizit angesprochen, was sicherlich auch den gelockerten Zensurbestimmungen geschuldet ist. Bei der Lektüre der Schwerter Zeitung wird klar, wem die politische Verantwortung für Instabilität, für Chaos, Not und Leid angesichts von Streiks und Aufständen zugewiesen wird: „Spartakus“. Im Gedicht Winter vom 3. Februar 1919 heißt es: „(… ) Ohne Butter, Eier, Fett/ abgemagert zum Skelett,/ Blicken wir mit bangen Sorgen/ Trüben Sinns von heut auf morgen (…) Wie die Dinge leider liegen, ist die Kohlennot gestiegen/ Und man hilft in Stadt und Dorf/ Sich bereits mit Holz und Torf (…)“34Der Text ist getragen von der Position der Mehrheitssozialdemokratie, die die Streiks und Aufstände der Bergleute im Ruhrgebiet verurteilte und stattdessen „Arbeit“ für den Wiederaufbau ins Zentrum ihres politischen Programms stellte. Luise Elias textet: „(…) Aber ohne Kohle nie/ kann bestehn die Industrie,/ Und das Unglück macht sich breiter,/ Drum geht es nicht so weiter (…) Jeder, der die Ordnung liebt,/ Fasse zu, wo’s Arbeit gibt,/ Daß die Produktion er mehre,/ Je mehr Arbeit, je mehr Ehre! (…) Arbeit sei der Trostbereiter,/ Der uns aufwärts führt! Ernst Heiter.“35

Der Versailler Vertrag ist für Luise Elias untragbar, auch als Sozialdemokratin. Sie sorgt sich um die junge Republik, so in dem Gedicht Adventszeit mit der Zeile: „Es kann die junge Republik/ Sich gar nicht recht erholen (…)36 vom 13. Dezember 1919. Im Gedicht April 1920 bezieht sie sich auf den Kapp-Putsch: „(…) Braust ein neuer Sturm zu Tal,/ Neue Schrecken zieh’n vorüber!/ An der Ruhr gibt‘s keine Ruh,/ Und die Not nimmt täglich zu,/ Darum mit dem Druck der Waffen/ Soll die Reichswehr Ordnung schaffen.“37Angesichts der nicht enden wollenden Aufstände, Krisen, Widrigkeiten mischt sich Resignation unter die Reime: „(…) Trübe ist die Gegenwart,/ Doch der gute Bürger harrt/ Duldsam der Erlösung weiter,/ Die nicht kommen will! Ernst Heiter.“38

Am Samstag, den 13. Januar 1923 ruft die Schwerter Zeitung mit einer großen Anzeige auf dem Titelblatt auf zur „Protest-Kundgebung der gesamten Bürgerschaft gegen die Besetzung des Ruhrgebietes am Sonntag, den 14. d. Mts., 12 Uhr mittags auf dem Marktplatz zu Schwerte. Der Bürgermeister“.39 Auf der zur Ausgabe gehörenden Humorbeilage zur Schwerter Zeitung veröffentlicht Luise Elias ihr Gedicht Neue Stürme. Darin nimmt sie nicht nur Bezug auf die Inflation, sondern in blumigen Worten mit Friedrich Schillers Worten auch auf die Ruhrbesetzung: „(…) Es kann auf dieser schönen Welt/ Der Beste nicht in Frieden leben,/ Wenn es dem Nachbarn nicht gefällt. (…) Und schließlich rückt er ihm ins Haus/ Und holt, was er noch hat heraus./ (…)40

Ihr letztes Gedicht erschien am 3. Februar 1923 in der Schwerter Zeitung.

Jüdin und Sozialdemokratin

Luise Elias trat 1918 in die Sozialdemokratische Partei (SPD) ein. Sie kandidierte für die Wahl zum Schwerter Stadtparlament mit der Berufsbezeichnung „Schriftstellerin“, nachdem sie zuvor bereits zusammen mit der sozialdemokratischen Funktionärin und renommierten Rednerin Anna Lex aus Dortmund im Wahlkampf zur Nationalversammlung aufgetreten war. Überliefert ist die Ankündigung zu ihrem Vortrag „Antisemitismus und Wahlagitation“ am 11. Januar im Westfälischen Hof.41

Von ihrer bürgerlichen Herkunft aus der Kaufmannschaft, als Angehörige der jüdischen Synagogengemeinschaft und als Frau mit frauenbewegten Interessen hätte sich für Luise Elias die neu gegründete Deutsche Demokratische Partei (DDP) als politische Heimat angeboten, vereinigte doch die DDP das linksliberale Bürgertum und war offen gegenüber der Mehrheitssozialdemokratie. In den Nachbarstädten vertraten einflussreiche Frauen mit bekanntem Namen in der Frauenbewegung wie Li Fischer-Eckert (1882-1942)42 aus Hagen und Martha Dönhoff (1987-1955) aus Witten prominent die DDP. Die DDP bezeichnete sich selbst als „Partei der denkenden Frauen“ und richtete sich mit diesem Wahlslogan mit einer eigenen Anzeige zur Stadtverordnetenwahl an die „Haufrauen! Berufsfrauen!“. Sie zielte mit dieser differenzierenden Ansprache auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionierungen und Erfahrungen von Frauen.43 Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es bereits ein Bewusstsein für Diversität in Frauenleben – „die Frau“ hat es im politischen Diskurs der Frauenbewegungen nicht gegeben. Beispielhaft sei hier auf Clara Zetkin verwiesen, die in ihrem Buch Die Arbeiterinnen- und Frauenfrage der Gegenwart  für jede Klasse eine eigene Frauenfrage umriss.44

In Schwerte kandidierte der jüdische Textilhändler Bernhard Stern für die DDP. Luise Elias kandidierte hingegen für die Sozialdemokratie. Neben politischer Zustimmung lassen sich die Gründe für die milieuspezifisch ungewöhnliche Pateinahme nicht abschließend klären. Aber: Die SPD hatte wie keine andere Partei seit langem den Kampf gegen das Dreiklassenwahlrecht und die Gleichheit der Geschlechter geführt, sie hatte sich offen gegen den aufkommenden Antisemitismus gestellt. Vielleicht gab es aber auch einfach gute, konstruktive Beziehungen zu den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten der näheren Umgebung …  Vielleicht aber hatte die Partei auch mit einem guten Listenplatz bei der Kommunalwahl für sie geworben, denn ihr Name stand auf Platz drei der Wahlliste.

Antisemitismus

Es gibt eine  Spur, die auf eine inhaltliche Entscheidung hinweist: Lise Stern, Tochter des jüdischen Kaufmanns und Kandidaten der DDP für das Stadtverordnetenparlament in Schwerte, reagierte mit einem Leserbrief in der Schwerter Zeitung auf eine Wahlveranstaltung mit dem Hagener Justizrat Schulz von der Deutschen Volkspartei. Eine Passage soll hier zitiert werden, weil die Reaktion im Umkehrschluss Einblicke in die Verwendung von Antisemitismus als Mittel politischer Hetze gibt, die als Strategie noch heute zur Anwendung kommt: „Nicht wahr, Herr Schulz, die Sozialdemokratie als solche anzugreifen, das überlegen Sie sich wohl! Aber es gibt ja noch eine kleine Minderheit in Deutschland, dagegen zu kämpfen, müsste eigentlich gelingen. Man bedenke doch, 65 Millionen gegen Fünfhunderttausend (…) Warum sind so manche Juden überzeugte Anhänger der Sozialdemokratie? Weil sie früher in der sozialdemokratischen Partei allein die Verwirklichung ihrer hohen Weltanschauung fanden: die Ansicht von jeder Gleichheit aller Menschen, die ein Gott erschaffen. Und dann kämpfen die Sozialdemokraten mit ihnen für ihren Idealismus, für ihren Glauben an den Fortschritt der Menschheit. (…) Wie kann er es wagen, einen Teil des Volkes von der deutschen Gemeinschaft ausschließen zu wollen? Wir Juden sind nicht international! Wir sind deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens! (…)“ 45 Lise Stern spricht mit dem Leserbrief nicht für die Sozialdemokratie, sondern sie zeigt als „deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, wie Antisemitismus politisch eingesetzt wird – heute würden wir sagen, wie das ‚Othering‘, das Verandern und Disqualifizieren, im politischen Diskurs funktioniert.

Während des Ersten Weltkriegs arbeiteten die Frauenorganisationen der Religionsgemeinschaften eng zusammen an der ‚Heimatfront‘. So leitete die Christin Agnes Tütel zusammen mit Johanna Reifenberg von der jüdischen Gemeinde gemeinsam das Rote Kreuz und die Mütterberatungsstelle.46 Im April 1914 überwies der israelitische Frauenverein 300 Reichsmark für die Unterstützungszwecke der Stadt; der Betrag ist für die wenigen Mitglieder hoch, der Sauerländische Gebirgsverein zum Beispiel spendete nur 100 Reichsmark.47 1917/18 stiftete der israelitische Frauenverein erneut 200 Reichsmark für das Kinderheim des Kreises Hörde.48 Im Jahre 1923, dem Jahr, in dem Luise Elias starb, lebten in Schwerte 15.560 Einwohner, die Synagogengemeinde zählte laut Adressbuch 1923 41 Familien. Die meisten waren, wie ihr Mann Sally Elias, als Kaufleute tätig.49 Die jüdischen Familien in Schwerten pflegten mit ihren christlichen Nachbarn gute Beziehungen, so in den Schwerter ‚Schichten‘, dies waren Nachbarschaften, die das gesellige Leben der Stadt prägten.50

Die Kommunalwahlen in Schwerte

Aufgrund der Verordnung über die Neuregelung des Gemeindewahlrechts vom 24. Januar, bzw. der Nachtragsverordnung vom 31. des Monats wurden die Neuwahlen in Schwerte auf den 2. März 1919 von 9 Uhr bis 20 Uhr angesetzt.51Auch hier sollte nun das allgemeine, gleiche, geheime Wahlrecht nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts, unabhängig von Geschlecht für alle über 20 Jahren gelten und nach Reichsebene und Landesebene auch die Entscheidungsstrukturen der Städte und Gemeinden demokratisieren. Damit endete die Honoratiorenpolitik auf Gemeindebene, die sich vorzüglich im Dreiklassenwahlrechts eingerichtet hatte. Die geplante Demokratisierung der Gemeindeebenen führte im ganzen Land zu Protesten. Es gab handwerkliche Fehler, die in Folge behoben wurden, so, dass Frauen nun zwar „zu Stadt- oder Gemeindeverordneten gewählt werden konnten, aber keine ehrenamtliche Arbeit in den Kommissionen auf Gemeindebene verrichten durften.“ 52 Doch in erster Linie ging es ganz unverblümt um Machterhalt.53 In Schwerte zum Beispiel meldete sich wie andernorts54 am 17. Februar die Lobby der Landwirte und kritisierte unmissverständlich, dass in den industrialisierten Teilen Westfalens die Neuordnung der Wahl eine „bedenkliche Zurückdrückung der eingesessenen Landwirte in der Gemeindevertretung gegenüber der flukturierenden Industrie-Bevölkerung“ bewirken würde, die alteingesessenen Landwirte sahen ihre Interessen „auf das schwerwiegendste“ gefährdet und drohten indirekt mit Versorgungsengpässen. Auch der westfälische Provinzialausschuss legte Protest gegen die Neuordnung ein.55 Hier ging es klar und deutlich um den Erhalt von klassenspezifischen Privilegien, die die alte Landgemeindeordnung von 1856 abgesichert hatte.

In Schwerte verzeichnete man zur Wahl des Stadtparlaments am 2. März so wie überall im Reich eine große Wahlmüdigkeit, Frauen und Männer nutzen nicht mehr so zahlreich ihr Wahlrecht wie noch bei der Wahl zur Nationalversammlung. Im neuen 30-köpfigen Stadtparlament erhielt die SPD 12 Sitze, das Zentrum fünf, die Liste der Beamten drei Sitze, die Liste der Handwerker drei Sitze, der Zusammenschluss von Deutscher Volkspartei und Deutschnationaler Volkspartee drei Sitze, die Liste der Demokratischen Partei drei Sitze und die Unabhängige Sozialdemokratie einen Sitz. Es zogen als Frauen Luise Elias für die Sozialdemokratie in das Stadtparlament ein, die auf Platz 3 der Wahlliste stand, sowie die Konrektorin der Haselack-Schule, Sophie Ludwig (1862-1941), für das Zentrum, die auf Platz 5 ihrer Liste nominiert worden war. Das Stadtparlament hatte sich nicht nur von 17 Personen männlichen Geschlechts auf 30 erweitert, wozu nun auch zwei Frauen gehörten: Von den bisherigen ‚Stadtvätern‘ waren nur vier wieder in das Stadtparlament zurückgekehrt.56Damit übernahm ein vollständig anders zusammengesetztes Gremium die parlamentarische Arbeit für die Stadt. Am 20. März 1919 trat die neue Stadtverordnetenversammlung unter großem Interesse der Öffentlichkeit auf der Tribüne zum ersten Mal zusammen: „ (…) die beiden ‚Stadtmütter‘, auf die sich wohl das Hauptinteresse der zahlreicher [sic!] weiblichen Tribünen-Besucher konzentrierte, Frau Elias und Fräulein Ludwig, hatten inmitten ihrer Fraktionen Platz genommen.“57 Mehr lässt sich zu den ersten Parlamentarierinnen in Schwerte aus der Zeitung nicht  erfahren. Angesichts der gewaltvollen Zeiten ist vielleicht der Hinweis wichtig, dass die erste Zusammenkunft des neuen, demokratisch gewählten Vertetungsgremiums von Bestrebungen geprägt war, Eintracht und Entgegenkommen walten zu lassen.

Eine interessante Frau

Luise Elias nahm in dreifacher Hinsicht zu ihrer Zeit eine Außenseiterstellung ein: Als bürgerliche Frau eines Textilkaufmanns gehörte sie einer Fraktion an, die zumeist aus gewerkschaftlich organisierten Metallarbeitern der beiden großen Schwerter Fabriken, den Nickelwerken und der Eisenindustrie, stammten. Sie war die einzige Angehörige der jüdischen Synagogengemeinde im Schwerter Stadtrat. Insgesamt waren in den westfälischen Kommunalparlamenten kaum Angehörige der jüdischen Minderheit vertreten. Nach den empirischen, forschungsgesättigten Daten von Winfried Reininghaus fanden sich jüdische Mandatsträger nur in westfälischen Städten wie Dortmund, Bochum, Hagen, Hamm, Unna, Hörde, Aplerbeck, im Münsterland in Dülmen, Vreden, Ahaus sowie in Ostwestfalen-Lippe in Herford und Lemgo.58 Nun können wir für mittlere Städte im Regierungsbezirk Arnsberg zusätzlich auf Luise Elias verweisen.

Luise Elias befand sich zudem als Frau in einer Minderheitenposition – nicht nur im Schwerter Stadtrat. Den geschätzt 15.000 männlichen Mandatsträgern in Westfalen und Lippe 1919 standen 119 Mandatsträgerinnen gegenüber – der Anteil lag „deutlich unter 1 Prozent“59 – in Schwerte genau bei 0,6 Prozent.

Angesichts dieser Zahlen ist eine Diskussion darüber, ob Frauen mit dem Wahlrecht in die Männerdomäne kommunalpolitischer Entscheidungen einbrechen konnten, müßig. Dies hatten bereits die Zeitgenossinnen bemerkt, zum Beispiel der Duisburger Frauenausschuss, und ‚wirkliche‘ politische Partizipation auf der Kommunalebene bereits in den 1920er Jahren gefordert.60

Luise Elias war schwer asthmakrank. Sie starb im Oktober 1923.

Dr. Uta C. SChmidt/ frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Geschäft von Sally Elias auf der Hüsingstraße 1, 58239 Schwerte
Druck- und Verlagshaus der Schwerter Zeitung, Große Marktstraße 1, 58239 Schwerte

Zitation: Schmidt, Uta C., Luise Elias, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/luise-elias/

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Rita Kronauer

Bochum ist mit „ausZeiten. Feministisches Archiv für Frauen Lesben Mädchen“ ein zentraler Ort frauenbewegter Erinnerungskultur im Ruhrgebiet. Das 1995 gegründete ausZeiten ist aufs engste verknüpft mit dem Engagement Rita Kronauers in der Frauen- und Lesbenbewegung seit den 1970er Jahren. Unermüdlich setzt sie sich ein für Vernetzung, Professionalisierung und Institutionalisierung feministischer Archive als Überlieferungsorte für frauen- und lesbenbewegte Geschichtsarbeit sowie für feministisches Geschichtsbewusstsein.

Zum Psychologiestudium nach Bochum

Rita Kronauer stammt aus Wittlich in der Eifel. Zum Wintersemester 1972/73 kam sie nach Bochum, um an der noch jungen Ruhr-Universität Bochum (RUB) Psychologie zu studieren. Ihr Vater war Lehrer, die Mutter Kindergärtnerin. Sie gab den Beruf auf, als sie Arbeit und Pflichten als Hausfrau und Mutter von vier Kindern übernahm. Die Eltern ermöglichten ihrer Tochter die gleiche Ausbildung wie ihren Söhnen. Und so konnte Rita Kronauer nach dem Abitur ihr Wunschstudium an der Ruhr-Universität Bochum aufnehmen. Gefragt, mit welchen Bildern zum Ruhrgebiet im Kopf sie Mitte der 1970er Jahre ins Ruhrgebiet übersiedelte, erinnert sie sich an keine Vorbehalte oder Vorurteile, sondern an persönlichen Aufbruch. Psychologie war ein hartes Numerus Clausus Fach und sie war froh, einen Studienplatz erhalten zu haben. Zudem lebte eine Freundin der Mutter in Bochum, die keinen unzufriedenen Eindruck mit ihrem Lebensumfeld machte.1

Hinzu kommt, dass Anfang der 1970er Jahre das Ruhrgebiet, speziell Bochum als bis dahin einzige Stadt mit einer Universität, zum Anziehungspunkt für Studentinnen und Studenten aus der ganzen Bundesrepublik wurde, weil  sie die Nähe zur Arbeiterbewegung suchten, besonders zu den streikenden Arbeitern und auch den Arbeiterinnen in den Fabriken. Bochum war begehrt.

Das Fach Psychologie befand sich einerseits in einer fundamentalen Neuorientierung hin zu einer stärker naturwissenschaftlichen Ausrichtung, andererseits wurden seine Lehrinhalte von studentischer Seite aus grundsätzlich hinterfragt, in Deutschland nicht zuletzt mit Texten zum autoritären Charakter, der mit seinen Einstellungsmustern und Persönlichkeitsstrukturen den Nationalsozialismus vorbereitet hatte. 2Die Theorie des autoritären Charakters erschien „unmittelbar einsichtig in der westdeutschen Gesellschaft“.3 Das Fach Psychologie, das sich dem Zusammenspiel von Verhalten, Erleben, Organismus und Umwelt widmet, wurde aber auch durch die Antipsychiatriebewegung herausgefordert, die die Veränderung der Gesellschaft an die Bedürfnisse des Menschen und nicht die Anpassung des Menschen an die Gesellschaft forderte.4 In selbstorganisierten, politisch linken Studienkollektiven setzten sich die Studierenden – mittendrin Rita Kronauer – mit diesen für das Fach erkenntniserweiternden Sichtweisen und den Machtverhältnissen in Wissenschaft und Gesellschaft auseinander.

Sie wohnte in einer Wohngemeinschaft (WG) gemeinsam mit Frauen und Männern, einer neuen Form des Wohnens, die die moralisch-sittlichen Vorstellungen dieser Zeit herausforderte. 1974 schloss sie sich gemeinsam mit den Frauen ihrer gemischten WG der „Frauengruppe Bochum“ an, die sich damals privat in größeren WGs traf. Ihr wurde zunehmend deutlich, dass sich Befreiungsbewegungen von Frauen nur autonom und radikal von Frauen selber, nicht jedoch in gemischtgeschlechtlichen linken Gruppen entfalten können. Nach dem Abschluss ihres Psychologiestudiums arbeitete Rita Kronauer im Frauenhaus Dortmund. Sie blieb von nun an, soweit dies in dieser Gesellschaft möglich ist, in autonomen Frauenkontexten.

Frauen- und Lesbenbewegung

Rita Kronauer steht mit ihrer Biografie auch für die sich entfaltende Lesbenbewegung in Westdeutschland. Sie zog im Sommer 1975 aus ihrer gemischtgeschlechtlichen Wohngemeinschaft aus und in eine Frauen-WG ein. Sie beendete ihre heterosexuelle „Phase“ und damit viele Diskussionen mit Männern. Nach einer Zeit der Suche und Neuorientierung  begann sie, frauenbezogen zu leben und versteht sich seitdem als Feministin und als Lesbe.5

Sie ist damit Akteurin in einer Entwicklung, die sich seit den 1970er Jahren in unterschiedlichen internationalen, regionalen und lokalen frauenbewegten Kontexten vollzog: Ging es zum einen darum, in einer frauen- und lesbenfeindlichen Gesellschaft Selbstbewusstsein zu entwickeln und sich als Lesben zu vergemeinschaften, war die feministische Position von der Einsicht getragen, dass auch Lebenszusammenhänge als lesbische Frauen wie die aller Frauen im Patriarchat von Männern gemacht und bestimmt werden.

Geradezu programmatisch kommt diese Sichtweise in einem 1978 vom Frauenzentrum München verfassten Text zum Ausdruck: „Wir wollen keine Trennung mehr zwischen politisch und privat. Frauenbewegung ist für uns beides. Wir empfinden es als unüberwindbaren Widerspruch, mit unserem Kopf und unseren intellektuellen Kräften in der Frauenbewegung zu sein, unsere Emotionen, Energien und unseren Körper aber Männern zuzuwenden. Jeder Mann – auch der noch so liberalste und verständnisvollste – repräsentiert für uns diese patriarchalische Gesellschaft, die uns Frauen unterdrückt, fremdbestimmt, funktionalisiert, zerstört. Wir können uns nur selber finden und stark werden, wenn wir uns den Männern und damit der uns in dieser Gesellschaft zugedachten Frauenrolle verweigern, wenn wir uns voll auf Frauen beziehen und uns dadurch auch mit uns selber auseinandersetzen: sowohl mit unseren faszinierenden und schönen Seiten als auch mit den tiefliegenden Problemen, die Folge unser Fremdbestimmung sind.“6 Von nun an hieß es: „Feminismus ist die Theorie. Lesbianismus ist die Praxis“.7

Politische Differenzierungen

Linda Unger hat für das Digitale Deutsche Frauenarchiv einen richtungsweisenden Aufsatz über die Bochumer Lesbenbewegung geschrieben und als deren Ursprungsszenario einen öffentlichen Kuss zweier Frauen auf dem Bochumer Festival „Kemnade International“ 1977 gesetzt, den anwesende ‚Heteras‘ als rufschädigend für die Ziele der Frauenbewegung missbilligten.8 Dieses Ereignis weist auf Konflikte zwischen heterosexuellen Frauen und Lesben in damaligen Bewegungsfigurationen hin. Sie führten im Herbst 1977 zur Gründung eines eigenen Lesbenzentrums in Bochum, an der auch Rita Kronauer beteiligt war.

In der Bundesrepublik brachten Anfang der 1970er Jahre frauenliebende Frauen ihr Begehren an die Öffentlichkeit. So organisierte Anne Henscheid (1945-2009) die erste Homosexuellen-Demonstration in Münster mit und trug bei der Demo am 29. April 1972 die Botschaft “Homos raus aus den Löchern“ über den Prinzipalmarkt durch die Stadt.9 Unter dem Label „homosexuelle Emanzipation“ artikulierten sich in spezifischen regionalen Kontexten schwule wie lesbische Akteur:innen gemeinsam, „der Homosexualität  im Geflecht gesellschaftlicher Normalität Geltung zu verschaffen“. 10

In Münster bildete sich dann eine Lesbengruppe, die sich nach kurzer Zeit aus dem schwul-lesbischen Kontext löste und in der autonomen Frauenbewegung verortete. In zahlreichen anderen westdeutschen Städten fand eine andere Entwicklung statt: Lesben gründeten gemeinsam mit heterosexuellen Frauen Frauengruppen, oft ohne sich als Lesben erkennen zu geben. Sie unterstützten Forderungen der heterosexuellen Feministinnen, und erst später artikulierten sie sich als Lesben oder als Lesbengruppen politisch bewusst als Teil der autonomen Frauenbewegung. In dieser Phase begannen innerhalb der frauenbewegten Kontexte Auseinandersetzungen darum, dass Lesben Sichtbarkeit forderten, und feministische Lesben schufen sich eigene Bewegungsöffentlichkeiten, um über ihre Situation und gesellschaftliche Lage reden und entsprechend agieren zu können. Gleichzeitig arbeiteten Lesben auch weiterhin mit heterosexuellen Frauen in autonomen Gruppen zusammen und gründeten neue Frauenprojekte.

1983 fasste Rita Kronauer rückblickend vor dem Hintergrund einer neuen Gruppenbildung in Bochum die Entwicklung in einem Papier „skeptisch-distanziert“ zusammen. Für sie galt: „Zentrale Frage in der neuen Lesbengruppe ist für mich die nach den möglichen Inhalten einer ‚Lesbenpolitik‘, d.h. nach dem, was sich aus der Gemeinsamkeit, lesbisch zu sein, an gemeinsamen Analysen und Perspektiven für einen Kampf gegen das patriarchalisch-imperialistische System entwickeln könnte. (…) Zur Frauenbewegung sind wir gelangt über den Frust mit der Linken u. deren Begrenztheit ihrer politischen Inhalte, die die Frauenunterdrückung sowohl in ihren theoretischen Analysen als auch ihrer praktischen Politik ausklammerte bzw. auf einen Nebenwiderspruch reduzierten. Ausgangspunkt und Bestandteil unserer Arbeit sollte die Aufhebung von ‚Privatem und Politischem‘ sein, als Ziele der Frauenbewegung bestimmten wir neben der Aufhebung der Geschlechterrollen die Entwicklung der Kämpfe im Reproduktionsbereich, was nur durch autonome (d.h. von Männern unabhängige) Organisation der Frauen möglich schien.“11

Erfahrung, Erforschung, Erinnerung

Die Soziologin Ilse Lenz ordnete diese um 1975 verstärkt geführten Auseinandersetzungen als „‘feministische Wende‘ in der Lesbenbewegung“ 12 und die Neujustierung im Verhältnis von Feminismus und Lesbianismus als „konfliktuelle Differenzierung“13 der westdeutschen Frauenbewegung. Sie beschrieb diese Debatten produktiv für die weitere Entwicklung bundesdeutscher Feminismen insgesamt.14  Zugleich wies sie darauf hin, dass weder die lesbischen noch die heterosexuellen Feministinnen eine „einheitliche Position“ vertraten oder gar durch eine „homogene kollektive Identität“ charakterisiert waren, „wie es in der Rückschau angesichts eines selektiven Gedächtnisses erscheinen mag.“15 Dieser Differenzierung würde Rita Kronauer zustimmen, die, frauenbewegt und feministisch, lesbisches Leben als radikale politische Praxis gegen das Patriarchat entfaltete.

Doch zugleich weist sie mit profunden Argumenten entschieden die einprägsame Ordnungsfigur von einer „feministischen Wende“ in der Lesbenbewegung zurück, die Ilse Lenz als Periodisierung für die Geschichtsschreibung zur neuen Frauenbewegung in Deutschland vorschlägt. Die Entwicklung von Lesbengruppen, die sich Anfang der 1970er Jahre in/an der Schwulenbewegung orientierten, hat in einigen Städten stattgefunden, wie in Münster oder Berlin belegt. Sie kann jedoch nicht als allgemeine Entwicklung interpretiert und deshalb kaum als Grundlage für eine Periodisierung herangezogen werden. So bezieht sich eine frühe Überlieferung aus Frankfurt am Main ausschließlich auf Frauenzusammenhänge – hier den Weiberrat –, in dem sich Anfang der 1970er Jahre auch Lesben engagierten und problematisierten, sich als Lesben erkennbar zu machen bzw. den (heterosexuellen) Frauen ihre eigenen lesbischen Anliegen auch als feministische politische Anliegen zu vermitteln.16

Im Frauenjahrbuch Nr. 1 schreibt eine „Frau aus dem Rheinland“ aus lesbischer Sicht, wie heterosexuelle Frauen in der Frauenbewegung mit Lesben umgehen. Mit Bezug auf den ersten Frauenkongress in Frankfurt 1972 heißt es in diesem Text: „Zum ersten Mal [1972, ucs] wurde mir dadurch klar, dass die Liebe unter Frauen ihren Ort in der Gesamt-Frauenbewegung haben muß.“ 17 Es folgen im Frauenjahrbuch zwei weitere Beiträge von Lesben, die diese Position stützen. Und auch Sabine von FLiP beschreibt auf www.frauenruhrgeschichte.de für Essen den originären Zusammenhang von Feminismus und Lesbischsein.18

Ein typisches Problem von Lesben in den Frauengruppen bestand zu Beginn der 1970er Jahre darin, so Rita Kronauer, offen zu artikulieren, Frauen zu lieben. Auch in Bochum traute sich die erste Lesbe, die 1975 in die Frauengruppe kam, zunächst kaum, dies anzusprechen. Damit stellt Rita Kronauer zugleich die Bedeutung autonomer frauenbezogen-feministischer Bewegungsöffentlichkeiten für die Herausbildung eines individuellen wie kollektiven politischen Bewusstseins (nicht nur als Lesbenbewegung) noch einmal dezidiert heraus.

Kategorienbildung und Geschichtsschreibung

Sie kritisiert: „Die Begrifflichkeit der ‚feministischen Wende‘ bricht einer bestimmten Geschichtsinterpretation Bahn, dass es nämlich Anfang der 1970er Jahre eine gemeinsame Schwulen- und Lesbenbewegung gegeben habe, aus der sich dann die Lesben gelöst hätten und eine ‚feministische Wende‘ vollzogen hätten.“ 19 Ihre Kritik am Modell dieser „Wende“ bezieht sich auf die implizite Linearität, suggeriert es doch, die Lesben, die diese Wende vollzogen hätten, seien vorher nicht feministisch und damit unpolitisch gewesen. Und sie sieht in diesem Modell einen Modus des Vergessen-Machens damaliger politischen Praxis: „Der politische Begriff eines feministischen ‚Lesbisch-Seins‘, wie wir ihn 15 Jahre lang nicht zuletzt in IHRSINN weiterentwickelt haben, ist heute nicht mehr erwünscht. Wenn wir die Debatte zum politischen Gehalt des Begriffs ‚Lesbe‘ ins Heute weiterführen, dann wird Lesbe immer mehr im Sinne von ‚sexuelle Minderheit‘ verstanden, die LSBTIQA+…-Reihung trägt dazu bei, der verschwommene Begriff des Queerfeminismus ebenfalls. In der Frage der ‚Leih‘mutterschaft zum Beispiel würden wir ‚alten‘ Lesben im Sinne unseres feministischen Politikverständnisses mit den Schwulen nie auf einen gemeinsamen Zweig kommen.“20

Die Politisierung der Mehrheit der Lesben, so die These von Rita Kronauer, verlief in den 1970er Jahren in der Auseinandersetzung mit dem Patriarchat in all seinen Facetten, wie sie in der autonomen Frauenbewegung geführt wurden. Rita Kronauer wählte den Lesbianismus als lebbare Praxis – im Bewusstsein der Bedeutung der autonomen Frauenbewegung, die die Abschaffung der Unterdrückungsstrukturen und Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaft im Blick hatte. In einem Papier „Überlegungen zur Lesbengruppe“ aus dem Jahre 1985 erklärt sie dieses politische Verständnis: „Die Lesbenbewegung entstand als Negativabgrenzung gegenüber den heterosexuellen Inhalten der Frauenbewegung mit dem Anspruch, als (vom Mann) nicht zu kompromittierende ‚Avantgarde‘ der Frauenbewegung eine radikale Politik zu entwickeln, deren langfristiges Ziel der (sic!) Beseitigung jeglicher Unterdrückung durch das Patriarchat war.“ 21

Vielleicht hat auch eine nur verkürzt als linear-zeitlicher Ablauf angeeignete Lesbengeschichtsschreibung die Figur der „feministischen Wende“ genährt, stellt Rita Kronauer wissenschaftskritisch zur Diskussion: Dass in Münster zwei namentlich bekannte Lesben bei der ersten „Homosexuellendemo“ 1972 aktiv waren und dass in Bochum 1970 eine Lesbe das erste Treffen der HAG – Homosexuelle Aktionsgruppe an der RUB – initiierte, ist historisch überliefert und von Christiane Leidinger überlieferungskritisch aufgearbeitet. Entscheidend für diese Suche nach den Anfängen war ihr Forschungsinteresse: den Narrativen der Schwulengeschichtsschreibung, die durchgehend Lesben ausklammerten, differenziertere Erkenntnisse entgegenzusetzen. Es ging ihr darum, der Ausblendung von Lesben in der von Schwulen vorangetriebenen Historiografie der Homosexuellenbewegung Sichtbarkeit als historische Subjekte zu verschaffen und das einseitige Bild zu revidieren. Dieses mythenkritische Interesse machte Leidinger dann auch explizit und provokant zum Titel ihres Aufsatzes: „Gründungsmythen zur Geschichtsbemächtigung? – Die erste autonome Schwulengruppe der BRD war eine Frau.“ 22

Auch der Forschungsgruppe zum queeren Münster ging es 2022 um die Sichtbarmachung von lesbischen Frauen und eine differenziertere Überlieferung im Kontext der für Münster und sein konservativ-katholisches Image bemerkenswerten ersten Demonstration, der in der bundesdeutschen Ereignisgeschichte der Homosexuellenbewegung ein herausragender Stellenwert zukommt – die Forschungsgruppe hatte sich nicht zuletzt zur Vorbereitung des 50-jährigen Jubiläums der Demonstration gebildet.

Anne Herscheid in Münster sah bereits 1973 keine Zukunft mehr in einer Zusammenarbeit mit schwulen Aktivisten und schrieb in einem Papier, das die Gründung einer eigenen Gruppe – die Homosexuellen Frauen Münster – vorbereitete: „Wir möchten Erfahrungen austauschen, sowohl mit den homosexuellen Emanzipations-Gruppen wie auch mit den Frauengruppen, da wir uns als Lesbierinnen mit den Zielen der neuen Frauenbewegung ebenso identifizieren wie mit denen der homosexuellen Emanzipationsgruppen.“ 23 Zugleich diskutierten Lesben andernorts, „ob wir uns als eine Fraktion innerhalb der Frauenbefreiungsbewegung begreifen und mit anderen Frauenorganisationen, die für eine Emanzipation der Frau eintreten, zusammenarbeiten wollen oder nicht.“ 24

Rita Kronauer macht sich, diesen Spuren folgend, für einen Forschungsansatz stark, der nicht nur zu belegen sucht, dass Lesben in schwulen Gruppen mitmachten, sondern für den gleichen Zeitraum untersucht, wie sich Lesben in den und mit den Frauenbewegungen organisierten und Teil davon waren, welche Auseinandersetzungen und Kämpfe ausgefochten wurden, wo Solidaritäten und Bündnisse entstanden, welche Aktionen und Projekte in einer gemeinsamen Agenda verfolgt wurden. Sie plädiert für Interviews mit Zeitzeuginnen jetzt und ein Quellenstudium in Archiven (nicht nur in ausZeiten), um die Sprachfähigkeit der feministischen Bewegungen in Dependenz und Differenz herauszuarbeiten.25

Zeitgeschichtliche Kontextualisierungen von Frauenfragen und Feminismen

Eingebettet waren die hier skizzierten, sich ‚autonom‘ verstehenden lesbischen Frauenzusammenhänge und Positionierungen während der 1970er Jahre in gesamtgesellschaftliche bundesrepublikanische Entwicklungen, in denen der Lebenssituation von Frauen verstärkt öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wurde. Seit der Umsetzung von Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes im „Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts“, die sich bis zum Mai 1957 hingezogen hatte, seit den Bewegungen gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, der Jugend- und ‚Studentenbewegung‘, an denen sich auch Frauen beteiligten, blieben Fragen nach der gesellschaftlichen Situation von Frauen vor allem dank des Engagements vieler Aktivistinnen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik.  Der Deutsche Gewerkschaftsbund rief 1972 zum Jahr der Arbeitnehmerin aus, die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UNO) bestimmte 1975 zum Jahr der Frau – durchaus heftig kritisiert von internationalen Frauenbewegungen – und leitete ab 1976 die Dekade der Frau ein. Doch vor allem die Auseinandersetzungen um die Reform des § 218 politisierten Frauen zwischen Küche, Kirche und K-Gruppen26 in Westdeutschland. Die 1969 gewählte sozialliberale Koalition hatte 1971 eine Strafrechtsreform angekündigt. Quer durch das Land entstanden Initiativen und Bündnisse, die sich für die Abschaffung des § 218 engagierten. Im Juni 1971 erschien in der Zeitschrift Stern die Selbstbezichtigungskampagne von 374 Frauen unter der Überschrift „Wir haben abgetrieben!“ Im März 1972 führte die Deutsche Demokratische Republik (DDR) mit dem „Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“ eine Fristenregelung ein. Diese rechtliche Regelung sorgte angesichts der Systemkonkurrenz im Kalten Krieg diesseits der Mauer für Diskussion und Aufregung. Im März 1972 trafen sich 450 Frauen aus Frauengruppen der gesamten alten Bundesrepublik zum ersten Bundesfrauenkongress in Frankfurt am Main, um ihre Proteste abzustimmen. Ihr politischer Anspruch auf ein Selbstbestimmungsrecht verdichtete sich in der Parole: „Mein Bauch gehört mir!“ 27

In dieser gesellschaftlichen Figuration nahmen Frauen aus der autonomen feministischen Bewegung radikale Positionen ein: Sie grenzten sich von jenen Frauen ab, die sich sozialistisch verstanden und die Frauenfrage im Sinne marxistischer Interpretation als Nebenwiderspruch behandelten. Sie positionierten sich gegen die Frauenpolitik in der DDR, die sie als Staatspatriarchat kritisierten. Und sie setzten sich ab von westdeutschen Partei- und Gewerkschaftsfrauen, die mit ihren Forderungen nach Reformen und Gleichberechtigung nur innerhalb des bestehenden kapitalistischen Systems agierten.

Vom § 218 …

Rita Kronauer gehörte seit 1974 zur Bochumer Frauengruppe. Diese bestand aus dem Plenum, aus mehreren Stadtteilgruppen und Themengruppen, die sich meist in einem wöchentlichen Turnus trafen. Rita Kronauer befasste sich hier intensiv mit Fragen des § 218, der das patriarchale, staatliche Gewaltverhältnis gegenüber den Körpern von Frauen geradezu paradigmatisch zum Ausdruck brachte – und immer noch bringt. Es gehörte zur politischen Arbeit der §218-Gruppe, Artikel aus der aktuellen Tagespresse und aus Alternativmedien auszuschneiden: „Wir haben immer schon Zeitungsausschnitte gesammelt, weil wir damit in den Siebzigerjahren Politik gemacht haben – in Zeiten vor dem Internet. Wir haben die Medien verfolgt, wie berichten sie zum Beispiel über Gewalt gegen Frauen, über den Paragraphen 218 und so weiter.“  Wir dachten: „Wenn wir über diese Fragen informieren, dann wird sich auch was verändern. Heute wird das vielleicht nicht mehr so gesehen, doch für uns war Aufklärung ein zentraler Ansatzpunkt für unsere Politik.“28 Dieser Ansatz stand neben den und parallel zu den anderen Aktivitäten der §218-Gruppe, an der sich auch die Frauen des Plenums beteiligten. Es gab Aktionen auf der Straße, Flugblätter wurden vor Frauenbetrieben und auf Wochenmärkten verteilt, eine „Abtreibungsberatung“ angeboten, Veranstaltungen durchgeführt und regionale und überregionale Vernetzungen aufgebaut.

… zu Aktionen gegen Bevölkerungspolitiken, Gen- und Reproduktionstechnologien

Die Bochumer Frauengruppe, insbesondere die § 218-Gruppe, sammelte – wie andere Frauengruppen in der Frauenbewegung – Informationen zu Frauenärztinnen und -ärzten, die Abtreibungen durchführten, und gab die Informationen im Rahmen ihrer Abtreibungsberatung im Frauenzentrum an betroffene Frauen weiter. Diese Informationen waren gemäß § 219a Strafgesetzbuch illegal. Rita Kronauer ging es in der Abtreibungsfrage nicht um einen Kompromiss. Sie verband in ihrer Frauengruppe den politischen Einsatz gegen den § 218 mit Fragen nach dem Selbstbestimmungsrecht und mit einer grundsätzlichen Kritik an der heterosexuellen Gewalt gegen Frauen, d.h. mit einer radikalen Kritik am gewaltsamen Zusammenspiel von Staat und Recht beim Zugriff auf den Frauenkörper: „Wir wollten keine Reformen, sondern dass Frauen selbst über ihren Körper bestimmen dürfen ohne Einschränkungen und ohne Einmischung des Staates.“ 29

1983 gründete Rita Kronauer mit weiteren Bewegungsfrauen die Gruppe Frauen gegen Bevölkerungspolitik in Bochum. Bei einer Aktion von sogenannten ‚Lebensschützern‘ auf dem Bonner Münsterplatz 1984 wollte die Bochumer Gruppe ein Transparent mit dem Slogan entrollen: „In der Dritten Welt Völkermord, hier pflanzt sich die deutsche Rasse fort!“ Sofort beschlagnahmte die Polizei das Transparent und nahm mehrere Frauen fest. Die Frauen erhielten eine Anzeige. In der ersten Instanz verurteilt, gab es jedoch in der zweiten Instanz einen Freispruch, weil die Zeugenaussagen der Polizisten sich als unhaltbar erwiesen. Rita Kronauer erinnert sich: „Für mich war die Kundgebung in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn, die nach einem so genannten ‚Sühnegottesdienst‘ stattfand, absolut unerträglich und fürchterlich. Es war als Erfahrung für mich das erste Mal, dass sich nach dem Nationalsozialismus auf offener Straße eine Vereinigung hinstellte und erklärte, die deutsche Frau solle deutsche Kinder gebären. Das durfte da offen gesagt werden von rechten, wirklich ultrarechten sogenannten Lebensschützern, die eine frauenfeindliche, rassistische Politik vertraten.“30

Bedeutung für feministisches Geschichtsbewusstsein

Mit historisch-politischem Erkenntnisinteresse wird an dieser Aktion deutlich, dass sich die sogenannten ‚Lebensschützer‘ und neofaschistische Gruppen mit Vorstellungen von reinen Volkskörpern nicht erst um die Jahrtausendwende in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit formierten, sondern dass sie sich nach 1945 kontinuierlich artikulierten und strukturell zur Geschichte der Bundesrepublik gehören.

Frauen wie Rita Kronauer engagierten sich, weil sich die frauenfeindliche Bevölkerungspolitik nach der Rassepolitik des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik fortsetzte. Angesichts aufgedeckter Skandale um medizinische Experimente mit Verhütungsmitteln an Frauen im Globalen Süden setzte sich die Bochumer Gruppe mit internationalen Bevölkerungspolitiken, den neugeschaffenen Reproduktions- und Gentechnologien und der Pränataldiagnostik auseinander. Sie zeigte die darin eingelagerten machtvollen rassistischen, eugenischen, sexistisch-patriarchalen Dimensionen: „Das war damit verbunden, dass Frauen mit Behinderungen abgehalten wurden, schwanger zu werden beziehungsweise gezwungen wurden abzutreiben. Das war die Fortsetzung von einem Denken, das seinen Höhepunkt in eugenischen Theorien des Nationalsozialismus fand, wo es explizit um Auslöschung von Behinderten ging.“ 31 Die Gruppe Frauen gegen Bevölkerungspolitik hinterfragte kritisch die Arbeit humangenetischer Beratungsstellen – diese Stellen berieten bei Erbkrankheiten in der Familie und waren die ersten, die pränataldiagnostische Beratung anboten.32 Die Gen- und Reproduktionsforschung befand sich zu Beginn der 1980er Jahre in starker Bewegung – 1982 kam in Deutschland das erste Kind zur Welt, das außerhalb des Körpers der Mutter gezeugt wurde.33 Seit 1984 lassen sich individuelle DNA-Profile erstellen, die eine Vaterschaft nachweisen. Noch konnten die Frauen gegen Bevölkerungspolitik nur in Ansätzen erfassen, zu was für einem Markt sich die Gen- und Reproduktionstechnologien entwickeln würden und welche gesellschaftlichen Transformationen diese hinsichtlich der Neuformierung von Mutterschaft, Vaterschaft und Verwandtschaft anstoßen würden.34

Auch anderswo in Deutschland gab es politische Aktionen gegen diese Beratungsstellen. „Diese Aktionen führten zu einer Kriminalisierung der Bewegung. Im Dezember 1987 wurden nämlich sehr viele Wohnungen von einzelnen Frauen und auch von Projekten hier im Ruhrgebiet, in Köln und auch in Hamburg durchsucht.“35

Frauen gegen Gen- und Reproduktionstechnologien

Es folgte eine Antwort auf diesen Kriminalisierungsversuch. Vom 28. bis 30. Oktober 1988 organisierten Gruppen aus dem  Bochumer Frauenzentrum, das Gen-Archiv aus Essen, das Feministische  Frauengesundheitszentrum FFGZ Frankfurt, die FINRRAGE-Koordination BRD, 36 sowie  Frauen aus Köln und Marburg  den Kongress „Frauen gegen Gen- und Reproduktionstechnologien“ in Frankfurt am Main.37 Über 2.000 Frauen kamen hier zusammen und diskutierten:  „Bei diesem Kongress haben wir mit Frauen mit Behinderungen zusammengearbeitet, denn die Gen- und Reproduktionstechnologien sind auch Technologien der Auslese und Ausmerze.“ 38

Dieser Kongress ist dokumentiert, auch ein Redebeitrag Rita Kronauers ist abgedruckt, in dem sie die „ungeheure Stärkung der heterosexuellen Lebensstrukturen“ 39 hervorhebt, die mit den Gen- und Reproduktionstechnologien verbunden ist: „HETEROSEXISMUS (…) ist eine Form von Sexismus, von Frauenunterdrückung, die sich nicht nur unserer Sexualität und unserer Gefühle bemächtigt, sondern unser gesamtes Frauenleben steuert und in eine gewünschte Richtung lenkt. Nämlich in die Richtung eines Mannes. (…) Es ist aber nur die eine Seite des Heterosexismus. Die andere ist die, daß wir unsere Liebe zu Frauen verlernen sollen, sie kanalisieren, unterdrücken, ihr einen der unteren Ränge zuweisen, diese Liebe als unnatürlich ansehen sollen und die heterosexuelle Normalität so stark werden lassen, daß z.B. lesbisches Leben zu einer Sache der Minderheit von Frauen wird. Und Minderheiten müssen toleriert werden! So weit lassen sich Frauen von ihrem Selbst entfremden, daß sie die eigene Heterosexualität zur Norm werden lassen, indem sie z.B. immer wieder von Sexualität reden, wenn sie Heterosexualität meinen. (…) Wir fragen uns, was es bedeutet, wenn wir R & G [Reproduktions- und Gentechnologien, ucs] in ihrer Funktion angreifen, mit der sie die Frauen festlegen, die Kinder kriegen sollen oder dürfen, nämlich die weiße, zur Mittelschicht gehörende, nicht behinderte oder angeblich erbgesunde und heterosexuelle Frau. Auf diese Analyse haben wir – und das ist auch weiterhin richtig – bisher so reagiert, daß wir uns mit unserem eigenen Rassismus, unserem eugenischen Denken und Handeln, unserem Leistungsdenken, unserem Verhältnis zu Gesundheit und Krankheit auseinandergesetzt haben – und dies z.B. auf diesem Kongreß weiter tun werden.“ 40

Bedeutung für wissensgeschichtliche Forschungen und gesellschaftspolitische Entwicklungen

Die Dokumentation des Kongresses bietet einen tiefen Einblick in die theoretische Dichte des feministischen Denkens der 1980er Jahre. Diskriminierungserfahrungen werden in mehrfacher, verschränkter Perspektive analysiert, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und Ableismus als staatliche, heteronormative Gewaltverhältnisse herausgestellt und in ihrer internationalen/ globalen Verschränktheit kritisiert. Texte wie „Lesben gegen Reproduktions- und Gentechnologien“ spannen – mit dem Bewusstsein für gegenwärtige Problemlagen gelesen – zeitliche Dimensionen auf, die Bewegungen im Denken und Sprechen, in Normen und Werten, in Recht, Politik und gesellschaftlichen Verhältnissen nachvollziehbar machen. Die Texte sind an zahlreichen Stellen intersektionaler angelegt, als es die Anrufung von Intersektionalität heute vielfach einzulösen vermag. Die in der Dokumentation überlieferten Argumentationen zu Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Klassismus, Ableismus und Patriarchat als staatlicher Gewaltform mögen terminologisch nicht dem heutigen Wording für die Diskussion dieser Gewaltverhältnisse entsprechen, doch sind sie in ihrer Machtkritik keineswegs überholt und deshalb eine herausragende Quelle zur Entwicklung feministischer Gesellschaftskritik. Angesichts der Diskussionen um strukturellen Rassismus liest sich folgende Position wie ein aktueller Debattenbeitrag: „Der HETEROSEXISMUS ist – ähnlich wie der Rassismus und andere patriarchale Unterdrückungsstrukturen –  einerseits institutionell in diesem System verankert, z.B. durch das Primat von Ehe und sogenannter Partnerschaft –  und auf dieser Ebene ist er auch zu bekämpfen. Andererseits durchdringen heterosexistische – ähnlich wie rassistische – Strukturen all unsere Lebensbereiche, bestimmen unsere Wertmaßstäbe, besetzen unseren Verstand und vor allem auch unsere Gefühle. Und das ist die Ebene, die wir genauso in unsere Auseinandersetzungen mit einbeziehen müssen, wenn wir einen wirksamen Widerstand leisten wollen gegen männliche Machtstrukturen, die Macht der Männer, die Reproduktions- und Gentechnologien.“ 41 Dies sieht auch Rita Kronauer so: „Also man wundert sich, was so alles angesprochen wurde – das ist spannend zu lesen und zu sehen, wie weit das bereits ging.“42 Linda Unger kommt in ihrem 2023 erschienenen Essay nach umfangreichen Quellenstudien zu dem Schluß: „Der Widerstand der Frauen- und Lesbenbewegung gegen Reproduktions- und Gentechnologien ist vielen heute nicht mehr bekannt – es gibt noch viel Quellenmaterial auszuwerten. Er hat jedoch nachhaltige Erfolge erzielt: Gesetzliche Regelungen für Genforschung und Reproduktionstechnologien (Stammzellenforschung, Klonen) sind in Deutschland deutlich strenger als im internationalen Vergleich, und der vermeintliche Fortschritt bewegt sich langsamer. Nicht zuletzt, weil Feministinnen mehr als ein Jahrzehnt lang immer wieder die Frage gestellt haben, für wen die Errungenschaften der Reproduktions- und Gentechnologien tatsächlich ein Gewinn sind und sich konsequent an die Seite derer gestellt haben, für die sie eben keinen Fortschritt bedeuten.“ 43

IHRSINN

Rita Kronauer gehörte ab 1990 zum Redaktionsteam der sich als radikal-feministisch verstehenden Lesbenzeitschrift IHRSINN – was für ein magischer Titel –  Ihr Sinn! Hier tauchten viele Themen ihrer aktiven Politik wieder auf, wie die sexistische, staatliche, strukturelle Gewalt gegen Frauen, wie Bevölkerungpolitik oder die Kritik an Reproduktions- und Gentechnologien aus einem lesbisch-feministischen Blickwinkel.  Die Zeitschrift erschien von Januar 1990 bis Dezember 2004 zweimal jährlich in insgesamt 29 redaktionell in unbezahlter Arbeit hergestellten Heften. Die Auflage betrug 1.000 Exemplare, jedes Heft umfasste rund 120 Seiten mit einem Schwerpunktthema. Gitta Büchner, Zeitzeugin und Mitglied des Redaktionsteams von IHRSINN hat über diese Zeitschrift einen Artikel verfasst. Darin zitiert sie mit deutlichem Anspruch generationenbezogener Didaktik zum feministischen Selbstverständnis der Zeitschrift aus einem 1989 erschienenen Werbefaltblatt: „Wir schöpfen unsere Stärke sowohl aus dem subversiven Potential aller Lesben als auch aus radikalfeministischer Politik, aus einem tätigen Bewusstsein, das darauf ausgerichtet ist, das Heteropatriarchat in seinen verschiedenen Verpackungsformen nicht nur reformfeministisch zu entsorgen, sondern ihm die Wurzeln abzutrennen.“ 44 Damit wandte sich die Redaktion auch an nichtlesbische Feministinnen.

Mit ihrer Arbeit in frauen- und lesbenpolitischen Gruppen und Projekten hat sich Rita Kronauer einer Integration in den normalen Arbeitsmarkt verweigert. Sie hatte sich früh entschieden,  keine Laufbahn als Psychologin einzuschlagen, und mit ihrer Entscheidung, in einem so arbeitsintensiven Projekt wie IHRSINN mitzuarbeiten, setzte sie die Haltung fort, ihre Energie in autonome frauen- und lesbenpolitische  Zusammenhänge einzubringen.

ausZeiten

Die Aufklärungsarbeit über Bevölkerungspolitik hat sich auch tief in die Struktur des Archivs ausZeiten eingeschrieben, das Rita Kronauer als Projekt frauenbewegter und feministischer Erinnerungskultur geprägt hat. Jedes Archiv hat eine eigene Systematik, weil jedes Archiv aus einer eigenen Geschichte heraus entstanden ist. 45 Für die für ausZeiten grundlegende Materialsammlung bildete die Bevölkerungspolitik den zentralen Schwerpunkt, weil sich in ihr Frauenkörper und staatliche Machtverhältnisse kreuzen. So bildet die Bevölkerungspolitik z.B. bei der Ländersystematik im ausZeiten den ersten Zugang, bevor andere Themen zu Frauen in diesem Land einsortiert werden. Der Ursprung des Archivs liegt letztlich im Aufbau eines umfänglichen Wissensspeichers, um die eigene, die autonome radikal-feministische Politik faktenbasiert im aufklärerischen Sinne zu untermauern: „Wir haben beschlossen, dass wir uns mit unseren wichtigen Themen dagegen wehren wollen, dass wir kriminalisiert werden. Wir haben nicht die Repressionen vorangestellt (die natürlich auch stattgefunden haben), wie das die Linke oft tut, sondern wir haben auf unsere Themen gesetzt.“ 46 Als Gegenüberlieferung zu den Mainstreammedien wurden und werden Zeitschriften, Broschüren, Graue Literatur und sonstige Materialien aus der Bewegung gesammelt, zunehmend kommen heute im ausZeiten auch Bücher hinzu: „Es ist eine neuere Entwicklung der letzten Jahre, dass Bücher wichtiger werden, Bücher aus den 70er, 80er Jahren, die ja heute auch bedeutende Überlieferungen zur Entwicklung feministischen Denkens darstellen. Viele Nutzerinnen müssen aktuell lernen, zeitgenössische Bücher einzuschätzen und als historische Quellen zu lesen, wenn sie ein bestimmtes Thema bearbeiten. So empfehle ich manchmal Bücher –  als Zeitzeugin gewissermaßen.“47

Archivarbeit als politische Praxis

Rita Kronauer hat eine dezidiert politische Haltung zur Archivarbeit: „Wir sammeln auch das, was andere Frauenarchive haben, weil ich eine Vertreterin der doppelten Archivierung bin, schließlich gibt es die Erfahrungen des Nationalsozialismus: Ein Archiv wird zerschlagen und dann ist nichts mehr da. Und deshalb finde ich es gerade bei zentralen Themen ganz wichtig, dass viele Archive Überlieferungen aufbewahren. Vielleicht auch, um gewappnet zu sein. Wir wissen nicht, was kommt. Aber es ist natürlich auch praktisch für die Nutzerinnen, die dann nicht so weit reisen müssen.“48

Für sie sind alle Bestände im ausZeiten gleich bedeutend, denn es kommt auf das Erkenntnisinteresse an, das an sie herangetragen wird. Als eine besondere Quelle zieht sie aus dem Archivregal die Frauenzeitung. Frauen gemeinsam sind stark, die auf einer Konferenz von Frauengruppen am 4. und 5. Mai 1973 in Frankfurt am Main als unabhängige Zeitung konzipiert wurde, um „der Information, theoretischen Klärung und Erarbeitung von gemeinsamen Positionen innerhalb der Frauengruppen“ zu dienen. 49 Die erste Ausgabe erschien am 1. Oktober 1973. Die Zeitung ist nicht nur aus inhaltlichen Gründen eine wichtige Quelle zur Erforschung der westdeutschen Frauenbewegung, sondern zugleich auch aus medienhistorischen Aspekten: Im 21. Jahrhundert ist es kaum mehr vorstellbar, wie ohne digitale Infrastruktur und Handyempfang von unerfahrenen Gestalterinnen in unbezahlter Arbeit dieses Medium auf die Beine gestellt werden konnte.

Was als Regal mit Ordnern im eigenen WG-Zimmer begann, dann im Bochumer Frauenbuchladen Platz fand, nahm zu Beginn der 1990er Jahre eine neue Qualität an: „Wir haben uns zwei Jahre getroffen und ein Konzept entwickelt, eine Systematik entwickelt.“ 1995 wurde dann das feministische Archiv ausZeiten gegründet, das sich aus Spendengeldern und durch unbezahlte Arbeit finanziert. ausZeiten hat sich von Anfang an über das ‚Archivetreffen‘ der Lesben- und Frauenarchive, -bibliotheken und -dokumentationsstellen aus Deutschland, der Schweiz, Österreich, Luxemburg und Italien vernetzt. Aus diesen Treffen ging 1994 der Dachverband i.d.a. hervor, dessen Wortbildmarke für „informieren, dokumentieren, archivieren“ der deutschsprachigen  Lesben- und Frauenarchive steht. Rita Kronauer hat sich auch hier mit der ihr eigenen Sorgfalt in der Vernetzung, beim Aufbau der META-Datenbank und beim Ausbau des Digitalen Deutschen Frauenarchivs engagiert. „Wer erinnert, wer bringt die Dinge ins kulturelle Gedächtnis? Das können nur wir hier.“50   „Wir hier“ – das sind alle Mitarbeiterinnen von ausZeiten aus fast drei Jahrzehnten, alle Mitstreiterinnen aus fünf Jahrzehnten, alle Förderinnen und Unterstützerinnen und Spenderinnen von nah und fern.

Und sonst?

Und was machten radikal-feministische Lesben wie Rita Kronauer sonst so? Außer den politischen Kampf organisieren und in der Freizeit Frauendiskos und Frauenschwoofs besuchen? Sie fuhren auf das New-Jazz Festival nach Moers und zur Frauenmusikwoche in Neetze, wo sie als Kontrabassistin beim Abschlusskonzert der Gruppe um die Saxophonistin Sibylle Pomorin jazzten, und sie hatten Spaß mit Schlagern von Caterina Valente – mit trinkfreudigen Heteras in der legendären Band Die Chilly Lillies. Klar ist für Rita Kronauer deshalb: „In meinem zweiten Leben werde ich Kontrabassistin. Gemeinsam mit Joëlle Léandre, Ulla Oster, Romy Herzberg, Esperanza Spalding, Gudrun Schnellbacher und Octavia Gloggengiesser spiele ich dann auf dem Summit der Kontrabassistinnen!“51

Dr. Uta C. Schmidt, frauen/ruhr/geschichte/ Rita Kronauer, ausZeiten

Dieser Text ist eine Gemeinschaftsarbeit. Er entstand in einem dialogischen Verfahren, beginnend mit einem Interview, das Uta C. Schmidt und Rita Kronauer im „ausZeiten. Feministisches Archiv für Frauen Lesben Mädchen“ führten. Beide kennen sich aus einer gemeinsamen Frauenband. Nach deren Auflösung kümmern sich beide in unterschiedlichen Netzwerken um eine frauen*- und geschlechtersensible Erweiterung der (Ruhrgebiets)Geschichte und vor allem um die Sichtbarmachung von Frauen- und Lesbengeschichte als Bewegungsgeschichte. Wenn www.frauenruhrgeschichte.de exemplarisch Biografien von Frauen in regional-, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge einbettet, um Einblicke in komplexe gesellschaftliche Wandlungsprozesse zu ermöglichen, dann war ein Porträt mit Rita Kronauer für dieses Portal lange überfällig: eröffnet sich doch über ihr politisches Engagement ein besonderer Blick auf Frauenbewegungen und einen radikal-lesbischen Feminismus im Ruhrgebiet. Vor allem aber wird ihr einzigartiges erinnerungspolitisches Engagement präsent, mit dem diese Aktivitäten im kulturellen Gedächtnis der Region verankert werden können.

Der erste Textentwurf, den Uta aus dem Interview formulierte, wurde zum Arbeitspapier für einen intensiven Austausch, der über die Quellen der Geschichtsschreibung, die im ausZeiten zu finden sind,  hinaus vor allem um die Mechanismen der Wissensproduktion ging. Wir thematisierten unsere jeweiligen Positionierungen im historischen Prozess, in der Geschichtsschreibung und -vermittlung: die Zeitzeugin Rita, die zugleich als Archivarin auch eine Historikerin ist und die Historikerin Uta, die zugleich auch eine Zeitzeugin ist, beide jedoch mit vielfältigen Erfahrungen an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen politischen Kontexten. Es ging um Fakten und Vorstellungen, um Konkretisierungen und Verallgemeinerungen, um das spannungsgeladene Verhältnis von Erfahrung, Erinnerung und Erkenntnis. Wir diskutierten, wie im Prozess der Geschichtsschreibung die Komplexität historischer Figurationen erhalten bleiben kann und wie weit die mit der Postmoderne in Verruf geratene „Linearität“ als formales Gestaltungsgerüst historiografischen Erzählens die Verständlichkeit eines Textes unterstützt. Wir problematisierten die Kategorienbildung in der (soziologischen) Forschung, die – so sie es zu einer gewissen Autorität gebracht hat – einer Kanonbildung Vorschub leistet, die versämtlicht (Hedwig Dohm) und die Erfahrungen stillstellt. Denn während die Historikerin Uta sich bei der Organisation des Textes an Zeitvorstellungen wie der „‘feministischen Wende‘ der Lesbenbewegung“ orientierte, wie ihn Ilse Lenz vorgeschlagen hatte, widersprach die Zeitzeugin Rita erfahrungsgesättigt vehement dieser Wendevorstellung, sowohl aus politischen Erfahrungen in Bochumer Frauen- und Lesbenbewegungen als auch aus persönlichen Erinnerungen. Belegt durch zahlreiche Materialien aus dem Archiv ausZeiten begannen wir in einer gemeinsamen historisch-kritischen Textarbeit, (akademische) Wissensorganisation infrage zu stellen und zu revidieren: historisch-kritisch, weil wir uns aus gegenwärtigen Orientierungsfragen heraus der frauen- und lesbenbewegten Vergangenheit zuwandten, um Zukunft entwerfen zu können. Der orientierende Blick in die Vergangenheit schärft den Möglichkeitssinn, dass Dinge nicht so laufen müssen, wie sie sind. Die Überlieferungen radikaler lesben- und frauenbewegter Politik seit den 1980er Jahren konfrontierten uns mit einem unerhörten Denken von geradezu beschämender Aktualität, sei es, was die Problematisierung von Sexismus, Rassismus und Klassimus in ihren Verschränkungen oder die Kritik am imperialistischen Kapitalismus und an der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen anbetrifft.

Orte:

ausZeiten e.V. Bildung, Information, Forschung und Kommunikation für Frauen, Herner Str. 266, 44809 Bochum

Zitation: Uta C. Schmidt/ Rita Kronauer, "Wer erinnert, wer bringt die Dinge ins kollektive kulturelle Gedächtnis? Das können nur wir hier.", Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/rita-kronauer/

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Irmgard Kroymann

Die seit 2011 in frauen/ruhr/geschichte publizierte Biografie zu Irmgard Kroymann und die Sequenzen aus dem Ton-Archiv wurden von der Redaktion aus dem Netz genommen. Im Januar 2023 erschien das Buch: Götz Aly, Unser Nationalsozialismus. Reden in der deutschen Gegenwart, Frankfurt a.M.: S. Fischer. Darin präsentiert Anne Prior ihre Forschungen zu Irmgard Kroymann in einem Aufsatz mit dem Titel: Eine Lagerwärterin mimt das KZ-Opfer. Wir werden uns mit diesen Forschungen auseinandersetzen.

In dem am 4.2.2023 in den Funke-Medien veröffentlichten Artikel „Die Lebenslüge der Irmgard Kroymann“ wird fälschlicherweise geschrieben, die Homepage frauenruhrgeschichte würde vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW herausgegeben. frauen/ruhr/geschichte wird ehrenamtlich unterhalten und projektförmig mit eingeworbenen Fördermitteln erweitert. So konnten wir im Jahre 2022 dank der Kulturförderung Ruhrgebiet Biografien im Rahmen des Projekts divers.postmigrantisch.kosmospolitisch. erarbeiten.

04.02.2023 Uta C. Schmidt

Zitation: Uta C. Schmidt , Irmgard Kroymann, Version 2, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/irmgard-kroymann-2/

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FLiP

„FLiP“ ist die Abkürzung für „Frauenliebe im Pott“, ein 1992 gegründeter Verein, der sich zu einem Kristallisationspunkt für Lesben im Ruhrgebiet entwickelte. Im Jahre 2022 feierte der Verein sein 30-jähriges Jubiläum: „Das hätten wir uns damals nicht träumen lassen. Damals, als wir unsere Flyer mit der Hand schrieben und sie mit Schere und Klebestift gestalteten, als wir eine Anrufbeantworterin hatten und die erste Compute Berta hieß, als wir heiß diskutierten, ob der männliche Heizungsableser unsere Räume betreten dürfe und ob eine Ehe für alle überhaupt erstrebenswert sei.“1 Wie  in einem Zeitraffer verdichtet diese Sequenz frauenbewegte, politische, gesellschaftliche, kulturelle und mediale Transformationen seit der Gründungszeit.2

Fast so wie die Lila Nächte in Damenclubs der Weimarer Republik

Nichts erschien Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre spießiger, als einen Verein zu gründen, so, wie Kaninchenzüchter oder  Briefmarkensammler, vor allem, wenn sich Frauen als Feministinnen verstanden und Vereine als typisch bürgerlich-patriarchale Organisationsformen ablehnten. Und doch gab es auch historische Anknüpfungspunkte an Vereine von Frauen und Lesben, so an die Lesbenszene der 20er Jahre: „Ich habe damals das Buch ‚Lila Nächte‘ gelesen, über die Lesbenclubs und Lesbenvereine in den 20er Jahren in Berlin. Die haben sich Räume geschaffen, wo sie sich als Lesben zu erkennen und so geben konnten, wie sie sind, und haben auch als Paar zueinander gefunden. Das hat mich sehr angesprochen. Und ich habe unsere Lesbenszene auch so wahrgenommen, dass es da einen Bedarf gab. Dass wir unsichtbar waren und ignoriert wurden. Die Unsichtbarkeit war aber das Entscheidende.“ 3 Die historischen Vorbilder4 machten Mut und nährten die Überlegung, feste Strukturen aufzubauen, um Sichtbarkeit und Anerkennung zu schaffen.

Wie in anderen Ruhrgebietsstätten entwickelte sich auch in Essen in den 1970er/1980er Jahren eine vielfältige Lesbenszene. Lesben gehörten zu den treibenden Kräften der autonomen Frauenbewegung, waren an der Gründung des ersten Essener Frauenzentrums 1976 maßgeblich beteiligt. Es gab eine Lesbengesprächsgruppe beim Mädchen- und Frauentreff PERLE, das Frauenzentrum in der Möserstraße, die SPINNEN in der Bäuminghausstraße. Für Studentinnen entwickelte sich der Frauenraum vom Frauen- und Lesbenreferat an der Universität-Gesamthochschule Essen zu einem ‚place to be‘.  Es gab Frauenschwoofs in der Schillerklause und in der Weuenschänke in Essen-Altendorf, der ersten Essener Frauenkneipe, die Ende 1978 als Kneipe von und für Frauen gegründet wurde und 1982 schließen musste.5 Lesben trafen sich in der Falle und im Quarterback. Der erste Frauenschwoof fand 1985 im Kulturzentrum Zeche Carl in Essen-Altenessen statt. Erinnert wird die Lesbenszene von den FLiP Gründerinnen als ein Netz von vielen Gruppen zwischen Sub-Lesben, Subkultur und ‚Schwarzem Block‘, die sich kleinteilig gegenseitig kleidungsmäßig, weltanschaulich und in ihren feministischen Positionierungen abgrenzten. Die Gruppen waren oft nur von kurzer Dauer. In dieser Situation entstand das Bedürfnis nach einer festen Vergemeinschaftungsform. Vielleicht wurde dieses bei den Essener Vereinsgründerinnen auch durch Erfahrungen aus dem  Studium der Sozialpädagogik und der Sozialen Arbeit genährt, das sie in Essen aufgenommen hatten und das sie in eine Berufstätigkeit im Sozialen Bereich geführt hatte: Sie wussten, wie wichtig Verbindlichkeit, Verantwortung, Zuverlässigkeit ist.

Die Gründerinnen stellten zudem einen Bezug zur Auflösung linker Politik nach 1989 her, die viele in Organisationsfragen erfahrene Aktivistinnen „heimatlos“ werden ließ. Diese Frauen waren gewohnt, sich konkret einzusetzen, anzupacken, zu organisieren.6 Die FLiP-Gründung eröffnete wieder einen Zusammenhang mit Strukturen: „Eine neue gute Sache, für die man sich einsetzen konnte.“ – „Vor allem für die eigene Sache.“ – „Es ging um unsere Interessen.“ – „Das haben wir dann auch gemacht. Z. B. Gruppen angeboten zum Coming-Out.“7

Interessen von Frauen, die Frauen lieben

Die Gründerinnen verstanden sich politisch als Feministinnen, gleichwohl nicht „extrem oder radikal“.8 Sie lehnten eine Opferrolle ab und forderten Rechte und Anerkennung. Im Vereinseintrag von 1992 heißt es: „Wir wollen uns einmischen, überall dort, wo unsere Interessen als Frauen, die Frauen lieben, betroffen sind. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher und individueller Ignoranz und Diskriminierung, mit sozialen und politischen Problemen. Dazu gehört auch, Erfahrungen auszutauschen, Informationen, Rat und Unterstützung anzubieten (…). Dazu gehört erst recht, gemeinsame Dinge zu tun, die einfach Spaß machen. (…) Wir möchten allen Lesben die Möglichkeit zum Mitmachen geben, unabhängig von ideologischen oder politischen Standpunkten und Zugehörigkeiten zu anderen Gruppen.“9 Es ging den Gründerinnen um die Schaffung eines lesbischen Lebenszusammenhangs, um Rat und Beratung, um Repräsentanz und Sichtbarkeit von frauenliebenden Frauen in einer Gesellschaft voller Diskriminierung und Sexismus. Äußerst sympathisch ist in den Vereinsstatuten der ausdrücklich festgeschriebene Verweis auf Spaß, der nicht zu kurz kommen sollte.

1995 konnte FLiP einen Raum in Essen-Schonnebeck anmieten, am 3. Oktober 1995 wurde er nach umfassender Renovierung und Einrichtung mit einem rauschenden Fest eröffnet. 10 Jahre lang konzentrierte sich die Vereinsarbeit im FLiP-Treff Kaldekirche. In den Räumen fanden die monatlichen Mitfrauenversammlungen, Spiel- und Videoabende, Frühstücke und Bruches, Feiern und Jubiläen, Stammtische, Koch- und Tanzkurse, politische Diskussionen, Gruppenabende zum Coming-Out statt. Die Kaldekirche 32 war ein geschützter Lesbenort und somit ‚männerfreie Zone‘, ganz im Sinne der feministisch-lesbischen Position, dass im Patriarchat auch die Lebenszusammenhänge lesbischer Frauen wie die aller Frauen von Männern gemacht und bestimmt werden. Und dies wollten sie ja schließlich im eigenen Lebenskontext und in der gesamten Gesellschaft ändern.

Im Gespräch erinnerte Sabine daran, dass FLiP – in Zeiten vor dem Internet – auch als ‚Single-Börse‘ wichtig war. Hier konnten Frauen bei unterschiedlichen Aktivitäten Frauen kennenlernen. „Beim Schwoof lernst du keine Frau kennen.“ Aber: „Das war auch das Problem für die Vereinskultur. Wenn sich Zwei bei FLiP kennengelernt hatten und ein Paar wurden, blieben sie weg und kamen erst zurück, wenn sie wieder Single waren“.10 FLiP war und ist auch immer auch ein Freizeitverein mit einer frauenbezogenen Geselligkeitskultur.

Das FLiP-Info

Der Verein FLiP e.V. gab in der Zeit von Mai 1993 bis August 2006 51 Ausgaben des FLiP-Infos heraus. Das Info erschienen im DIN A5 Format mit 12, später mit 36 Seiten in einer Auflage von 1.000 Exemplaren, die im Abo mit der Post verschickt wurden oder über Szenekanäle Verbreitung fanden. Eine Redaktion von 19 Lesben war über die Jahre mit Herstellung und Verbreitung befasst. Das Flip-Info kommunizierte die Vereinsaktivitäten in die Region hinein und machte FLiP weit über den Essener Raum bekannt.11 Diese Hefte sind ein ungemein reiches Zeitdokument zur Geschichte lesbischen Lebens im Revier und aller Themen, die dazu gehörten – Aktionen, Diskussionen, Beratungsangebote, Kleinanzeigen und Veranstaltungshinweise. So gab es 1993 allein 16 Schwoof-Angebote pro Monat zwischen Recklinghausen, Wuppertal und Düsseldorf.12

Alles kann – nichts muss!

Seit Beginn stand die Vereinsarbeit bei FLiP unter dem Motto „Alles kann – nichts muss!“ Dies zeigt eine große Offenheit, die von Freizeitaktivitäten über politische Arbeit für die Repräsentation von Lesben bis hin zum internationalen Austausch mit lesbischen und queeren Frauen reicht. Ein zentrales Prinzip der Arbeit besteht darin, dass jede sich mit ihren Kenntnissen und Interessen einbringen kann, sich dann aber auch aktiv um die Durchführung der Angebote kümmern muss. Kann sie diese nicht mehr aufrechterhalten, dann finden sie nicht mehr statt, ein äußerst erfolgreiches Prinzip für ein gelingendes, aktives Vereinsleben: „Wir müssen uns nichts vormachen: Das Gelingen aktiver Vereinsarbeit hat auch immer mit Personen und Persönlichkeiten zu tun.“13 Seit 1993 jedoch ist die Coming-Out Gruppe ein fester Bestandteil der FLiP-Arbeit und wird bis heute als geschützter Raum für Orientierung, Bewusstwerdung und Identitätsfindung weit über Essen hinaus geschätzt. In dieser Gruppe können Frauen Lesben mit ihren Lebenserfahrungen kennenlernen, es hilft zu wissen, dass diese Lesben alle eigene Erfahrungen mit dem Coming-out haben, es ist eine Stütze, mit ihnen laut durchdenken zu können, was könnten die nächsten Schritte und Strategien sein. Bedeutsam ist in diesem Prozess zudem, Frauen aus sozialen Berufen an der Seite zu haben, die bodenständig und professionell helfen. Denn: „Das Coming-Out ist kein Ereignis, sondern ein alltäglicher lebenslanger Prozess, solange Heterosexualität gesellschaftliche Norm ist.“14

Politische Arbeit

Lesben aus FLiP e.V. gehörten zu den Aktivistinnen, die ab 1995 die Gründung der Landesarbeitsgemeinschaft Lesben in Nordrhein-Westfalen (LAG Lesben in NRW)15 vorbereiteten. Die Idee einer überparteilichen Vernetzung, die in Essen mit FLiP bereits erfolgreich wirkte und die auf den seit 1974 stattfindenden Lesben-Pfingsttreffen – 1992  umbenannt in Lesben- Frühling, dann in Lesben-Frühlings-Treffen – immer wieder diskutiert worden war, wollten sie weiter ins Land hinein tragen, um verlässliche Strukturen für eine langfristige Interessensvertretung von Lesben in der politischen Öffentlichkeit zu schaffen, lesbenspolitische Aktivitäten von Vereinen, Gruppen und Projekten in NRW zu bündeln, den Erfahrungsaustausch zu moderieren und Förderstrukturen aus öffentlicher Hand für Vernetzungs- und Organisationsprozesse zu nutzen.16 Am 7. September fand ein Treffen statt, auf dem die Gründung der Landesarbeitsgemeinschaft Lesben in NRW beschlossen wurde. FLiP gehörte zu den Unterzeichner*innen des Gründungsbeschlusses. Martina Peukert, in den Anfangsjahren neben Katharina Junglas und Barbara Meyer Sprecherin der LAG Lesben in NRW, schrieb über die Zeit: „Als Gründungsfrau von ‚Frauenliebe im Pott‘ – kurz FLiP e.V. – lag mir die Vernetzung verschiedener Lesbengruppen sehr am Herzen. Vor 20 Jahren waren die einzelnen Gruppen ausgesprochen gut darin, zunächst einmal das Trennende zu betonen und auf keinen Fall das verbindende. Frau mag sich das heute nicht mehr so recht vorstellen können, aber FLiP wurde z.B. durchaus angefeindet, weil die Vereinsstruktur einigen Frauen als grundsätzlich patriarchal und damit untragbar erschien. Es herrschte auch ein gewisser Argwohn, dass eine LAG nach FLiP-Vorbild gestaltet werden könnte. Die Anfangszeit der LAG war geprägt von Misstrauen, endlosen Abgrenzungsdebatten und Diskussionen vor allem über das, was wir auf keinen Fall wollten, z.B. öffentliche Gelder und hauptamtliche Kräfte. Glücklicherweise hatten jedoch viele Frauen ein unglaubliches Standing, und so wurde aus der zum Teil wirklich zickigen Kleinkrämerei doch noch ein arbeitendes Gremium.“17Der Durchhaltewillen zeitigte nachhaltigen Erfolg. Im Jahre 2022 feierte die LAG Lesben in NRW ihren 25. Geburtstag im Düsseldorfer ZACK.

Zugleich  waren die Lesben von FLiP auch 1996 an der Gründung des Forum Essener Lesben und Schwule (F.E.L.S.) beteiligt. Sie entwickelten beständig öffentlichen und politischen Druck in der Stadt, so dass der Essener Stadtrat im Winter im November 1995 eine Resolution gegen die Ausgrenzung und Diskriminierung lesbischer und schwuler Menschen beschloss. Ein runder Tisch erarbeitete in Essen das bundesweit erste „Handlungsprogramm Gleichgeschlechtliche Lebensweisen – Ein Beitrag zur Vielfalt“, dem der Stadtrat zustimmte und das seitdem immer wieder weiter entwickelt wird. Sie drängten auch auf eine offizielle kommunale Stelle, die die Aktivitäten zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, für Akzeptanz und Sichtbarkeit und für eine emanzipatorische und gleichberechtigte Gesellschaft freier und gleicher Individuen koordiniert. Dies gehört 2022 zum Arbeitsbereich der mittlerweile Koodinierungsstelle Gleichgeschlechtliche Lebensweisen LSBTI* genannten Organisationseinheit bei der Stadt Essen.

Gesellschaftliche Liberalisierungsprozesse hin zu größerer Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Lebensweisen sind – dies zeigt unter anderem die politische Arbeit von FLiP – nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern mühsam in kleinen Schritten durch politisches Engagement und strategische Vernetzung auch von Lesben angestoßen worden.

Kreativität, Respekt, Liebe und Kunst

Das, was in Essen und NRW als Vernetzung und Austausch begann, entwickelte sich bei Kontakten mit dem Netzwerk Coalition of African Lesbians weiter, das sich seit 2004 für Menschrechte lesbischer und queerer Frauen einsetzt. Engagiert vorangetrieben durch Cornelia Sperling von FLiP wurden finanzielle Mittel für einen internationalen Austausch eingeworben, der 2018 mit einer Reise von sieben lesbischen Aktivistinnen aus NRW ins südliche Afrika begann. Sie suchten den Austausch mit „lesbischen und queeren Frauen in zivilgesellschaftlichen Gruppen, die sich für das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und für Gender Equality engagieren“.18 2019 reisten Aktivistinnen des Women’s Leadership Centre aus Namibia, vom Women’s Alliance for Equality, Friends of Rainka und dem Autonomy-Projekt aus Sambia und Lesben von H.E.R. – Health Empowerment Rights aus Botswana nach NRW und wurden in Düsseldorf, Köln und Essen von Initiativen und Institutionen willkommen geheißen. Im Februar und März 2020 konnten drei Diskussionsveranstaltungen in Sambia, Botswana und Namibia stattfinden, bis die Corona-Pandemie die Partnerschaftsarbeit erst einmal stoppte, die noch ausstehende Partnerschaftswoche mit Simbabwe in Dortmund 2020 musste abgesagt werden. Die Aktionswoche wurde im Herbst 2022 nachgeholt. Cornelia Sperling von FLiP stellte die Besonderheit dieser Vernetzung heraus: „Die Beteiligung von lesbischen Aktivistinnen an postkolonialen Allianzen und Eine-Welt-Vernetzungen ist neu in NRW.“19 Sie bringt aus diesem Projekt für die aktuelle, hiesige Diskussion um LGBT-inklusive Gesellschaften erste Überlegungen mit. So kritisiert die Coalition of African Lesbians (CAL), in der die Partnerorganisationen vom afrikanischen Kontinent vernetzt sind, die Formulierung besonderer LGBTI-Rechte, denn sie sehen sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität als Teil menschlicher Sexualität, die alle betrifft: „Im Rahmen der geopolitischen Auseinandersetzungen zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden sind LGBTI-Rechte mittlerweile zu einem Kampffeld geworden, auf dem der Norden seine Überlegenheit gegenüber dem Süden demonstriert. Es ist eine politische Strategie des Nordens, spezielle LGBTI-Projekte gegen Diskriminierung im Süden zu finanzieren. CAL kritisiert, dass schwul-dominante Gruppen oft auf der Identitätspolitik beharren, die ihre Finanzierung aus dem Norden sichert. Für die Lesben und queeren Frauen ist eine Verbindung mit dem Kampf für Frauen- und Menschenrechte strategisch wichtiger, um Selbstbestimmung von Frauen über ihre Körper und ihre Leben zu realisieren.“ Und sie kommt zu dem Schluss: „Die offiziellen entwicklungspolitischen Ziele zum LGBTI-Thema hören sich gut an, sind in der Umsetzung aber vorwiegend eurozentrisch und meist ignorant gegenüber der exzellenten Arbeit der afrikanischen AktivistInnen (sic!). Es ist wichtig, das zu ändern!“20

Wie gehen wir mit Unterschieden und Macht um? Wie kann das Spielfeld egalisiert werden?

Wie sich die Partnerorganisationen in Sambia, Botswana und Namibia den Austausch vorstellen, zeigen ihre konkreten Themen, Erwartungen und Wünsche, von denen hier nur einige referiert werden: „Gemeinsame Überlegungen über die Dokumentation und Schaffung von Narrativen über nicht-konforme Lebensformen, um die Akzeptanz und die Lebensbejahung zu fördern.“ „Was ist unsere, was ist eure Strategie, um Freiheiten zu vergrößern?“ „Grundsätze unserer Nord-Süd Partnerschaft: Wie gehen wir mit Unterschieden und Macht um? Wie kann das Spielfeld egalisiert werden?“ „Dokumentation unserer Geschichte und Lebenswirklichkeit – es steht an, unsere Geschichten zu sichern und zu veröffentlichen!“ „Wir erwarten von jeder Respekt und Wertschätzung gegenüber der anderen Kultur.“ Und: „Wichtigste gemeinsame Ressourcen: Kreativität, Respekt, Liebe und Kunst.“ Mit Blick auf die Lage in Europa und Namibia formulierte Irene // Garoës vom Women’s Leadership Centre aus Namibia: “As feminists I think we are always looking for new ways of building mouvements for change – at the end of the day we are fighting patriarchy and all oppressive systems.“21 Und Florence // Khaxas vom Young Feminist Movement Namibia verband mit ihrem vorgetragenen Gedicht ein komplexes Dekolonisierungsprogramm: „My poem praised the ancestors in remembrance of the Genocide: I expressed the need of a quer decolonization project which addresses such issues as violence, patriarchy, LGBTI movement building and solidarity.“22

Generationenfragen

Nalumino Likwasi von der Women’s Alliance for Equality aus Zambia (WAFE) zeigte sich vom Lesben*-Frühlings-Treffen sehr bereichert. Aus einem Land kommend, in dem einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen Erwachsenen kriminalisiert werden, war es für sie schön, unter so vielen älteren Lesben zu sein, die sie zu Hause mit WAFE  kaum erreichen kann. Sie fuhr mit einem Gefühl zurück nach Sambia, „that I can live a full, happy, and productive life even as a queer person.”23 Als frauenliebende Frau ein erfülltes, glückliches und produktives Leben zu führen, selbstbewusst, sichtbar und anerkannt, darum dreht sich die Arbeit von FLiP. Die Gründerinnengeneration möchte sich zunehmend zurückziehen und die Vorstandsarbeit im Verein an Jüngere weitergeben. Und so kamen zum dem Gespräch, das diesem Beitrag zugrunde liegt, zwei Generationen frauenliebender Frauen, Sabine und Isabelle, die von der Gründung, der Entwicklung und von aktuellen Herausforderungen erzählten.24Es sieht gut aus, dass die „lesbische Ruhrpottikone“ den Generationenwechsel produktiv vollziehen wird.

Isabelle, Jahrgang 1988, ist seit 2022 Vorstandfrau bei FLiP. FLiP war für sie eine wichtige Anlaufstelle während des Coming-Outs und nun will sie nicht nur Angebote „konsumieren“, sondern etwas zurückgeben und die Zukunft des Vereins mitgestalten: „Themen bleiben, zum Beispiel was die Sichtbarkeit von Lesben angeht, man weiß zwar, dass es sie gibt, dass sie da sind, doch in politischer Repräsentation gleichgeschlechtlicher Lebensweisen dominieren – wie in der gesamten Gesellschaft – immer die schwulen Männer.“ Für Isabelle gibt es noch viele Baustellen, denn trotz gesellschaftlicher Fortschritte wie die „Ehe für alle“ oder die zunehmende Akzeptanz von Regenbogenfamilien ist „Gendergerechtigkeit“ für gleichgeschlechtliche Lebensweisen nicht erreicht.

Sabine, Jahrgang 1961, ist seit dem Gründungsjahr dabei und sehr viele Jahre lang als Vorstandsfrau aktiv gewesen. Sie betont noch einmal die Bedeutung von Räumen für die Herausbildung eines Bewusstseins als Frauen und Lesben: Für sie war es der „Frauenraum“ an der Universität-GH Essen: „Wir verstanden uns als Feministinnen, vielleicht auch als lesbisch, wir wollten etwas Gemeinsames. Und das konnten wir am überzeugendsten dadurch zum Ausdruck bringen, dass wir uns im Frauenraum trafen, diskutierten, Veranstaltungen durchführten.“ Für Sabine hat sich ihr Lesbischsein aus der feministischen Bewegung heraus entwickelt. Eine Zusammenarbeit mit Männern kam für sie nicht infrage. Während  dies ihrer politischen Sozialisation in der Frauen- und  Lesbenbewegung entsprach, macht Isabelle auch ohne theoretische Hinführungen durch Feminismus und radikale Frauenbewegung die Erfahrung, dass überall, wo es um gemeinsame Projekte  der  Homosexuellenbewegung geht, schwule Männer um Macht- und Deutungshoheit kämpfen und Lesben an den Rand gedrängt werden. Es herrschen dort weiterhin männliche Rede- und Dominanzstrukturen. Deshalb ist es wichtig, weiterhin als Lesben – im Verein, im Verband, als Arbeitsgemeinschaft – für Sichtbarkeit zu kämpfen. Angesichts der herrschenden Homo- und Transfeindlichkeit gilt es selbstverständlich in der LSBTI*-Community zusammenzuhalten und immer wieder politische Bündnisse zu knüpfen, so, wie zum Beispiel bei F.E.L.S. – Forum Essener Lesben und Schwule – das FLiP mitgegründet hat, aber auch beim Ruhr CSD oder im lesbisch-schwulen Generationenprojekt. Doch zugleich ist es politisch zentral, den Anspruch auf eigene Repräsentation nicht aufzugeben.

Auf die Frage, ob in den 1980er Jahre die Lesbenbewegung mit ihren „Lesbenzentren“ in den Städten nicht wesentlich präsenter waren, als heute im Akronym LSBT und unter dem Label „queer“, rückt Sabine die historische Dimension gerade, die nicht zuletzt durch die Erzählungen von Zeitzeuginnen und die einsetzende Geschichtsschreibung mit Tendenzen zur Mythenbildung oft in eine Schieflage gerät „Also jetzt Mal: Lesbenzentrum. Wir hier in Essen hatten ein 60 Quadratmeter großes Ladenlokal, dort fand vielleicht zwei Mal in der Woche ein Angebot statt, sichtbar waren wir damit vielleicht für uns und in der Szene, aber in der politischen Kultur der Mehrheitsgesellschaft sicher nicht. Wir haben keine Werbung für das Zentrum gemacht, Anzeigen geschaltet oder so, wir haben uns getroffen – und da waren ja jetzt keine 80 Frauen, wenn wir 18 waren, waren wir viele.“25

Es hat definitiv Fortschritte bei der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen und der Einbeziehung von Trans*menschen gegeben, aber nun gilt es aufzupassen, dass diese Liberalisierungen nicht unter der Hand wieder zur Disposition stehen. Die FLiP-Frauen sehen sich dafür auch generationell gerüstet. Zur Vernetzung brauchen sie heute keinen 60 Quadratmeter großen Raum mehr oder eine Anrufbeantworterin, sondern das Wordwideweb, soziale Medien und Messenger-Dienste, über die sich alle Interessierten zum Tanzen, zum Diskutieren, zum Sport, zur Vorbereitung politischer Aktionen, zum Stammtisch, zum Kochen … verabreden können.

Dr. Uta C. Schmidt/ frauen/ruhr/geschichte

Orte:

https://www.flip-ruhr.de/
Kaldekirche 32, 45309 Essen-Schonnebeck

Zitation: Schmidt, Uta C., FLiP, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/flip/

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Sophie Marks

Die äußeren Daten dieser Frauenbiografie sind rasch erzählt. Es existiert von Sophie Marks weder Bild noch Text, und in den zahlreichen Lebensbeschreibungen über ihren Geliebten und Ehemann Alexander Haindorf wird meist nur ihr Tod erwähnt. Sophie Marks wurde im Jahr 1791 in Hamm als Tochter der Henriette Marks (geb. Hertz 1769-1823) und des Elias Marks (1765-1854), einem wohlhabenden Kaufmann, geboren.1Marks nutzte sein Vermögen immer wieder, indem er sich finanziell für die jüdische Gemeinde in Hamm engagierte. Seine Tochter Sophie war mit Alexander Haindorf (1784-1862) zunächst befreundet, seit 1810 mit ihm verlobt, seit 1815 mit ihm verheiratet. Haindorf erlangte gemeinsam mit Marks später überregionale Bekanntheit durch die Stiftung einer Bildungseinrichtung für jüdische Lehrer, Kinder und Handwerker. Im September 1816 starb Sophie Marks im Kindbett, als sie die gemeinsame Tochter zur Welt brachte, die – wie sie selbst – den Namen Sophie trug.

Glücklicherweise sind im Privatarchiv Loeb-Böhme-Wels noch einige, bis dato weder komplett transkribierte, geschweige denn publizierte Briefe erhalten geblieben, die Sophie Marks und Alexander Haindorf sich geschickt haben.2 Diese Briefe, geschrieben zwischen 1807 und 1816, sind praktisch die einzigen Zeugnisse, die die Persönlichkeit der jungen Frau greifbar werden lassen. Mit ihrer Hilfe nähere ich mich der Person im Folgenden gleichsam in einem historischen Psychogramm.

Der Alltag

Zu der Zeit, als der Briefwechsel anhebt, lebt Sophie als 16-jährige junge Frau mit den Eltern Elias und Henriette Marks, mit der kleinen Schwester Emma (Geburtsdatum unbekannt – 1812), mit der Hausdame Frau von Glaubitz (geb. von Pfuhl) sowie deren Tochter Jette und noch einigen weiteren Bediensteten in einer Hausgemeinschaft in Hamm an der Südstraße 6. Sophie pflegt Kontakte mit den Leuten, die ihre Eltern besuchen. Gelegentlich gibt es während der sogenannten Befreiungskriege Einquartierungen; so hat die Familie Marks etwa am 17. Februar 1811, 1813, und auch im Frühjahr 1814 französische Soldaten im Haus unterzubringen.3Immer wieder werden Wilhelm Salomon Kaufmann (1773 geboren) und seine Ehefrau im Markschen Haus empfangen. Er ist Arzt, sogar Medizinalrat, sie wird auch als Frau „Räthin Kaufmann“ oder als Kaufmännin bezeichnet.4 Die Räthin ist Sophies Tante Rose (geb. Hertz – 2.4.1817), Schwester der Mutter Henriette Hertz.5 Einer Frau Schulz ist Sophie sehr zugetan, aber über sie ist nichts weiter bekannt und der Allerweltsname Schulz lässt auch nicht auf Entdeckungen hoffen. Sophie schreibt über die Freundin Frau Schulz, „mit der ich so über alles was mein und ihr Leben betrifft spreche“. 6„Ich habe sie am liebsten von allen Bekannten, sie ist so eine gute brave Seele“. Mit Frau von Glaubitz startet Sophie verschiedene Unternehmungen und Verwandtenbesuche, auch wenn es beschwerlich ist: Die Familie reist schon mal nach Münster, um im Dom einem Konzert zu lauschen und beispielsweise die Sängerin Angelika Schlüter zu hören. Der Aufwand ist „nicht ohne“. Die Kutschfahrt nahm etliche Stunden Zeit in Anspruch. Doch waren in Hamm die kulturellen Angebote rarer. Wahrscheinlich gibt es hier zwar auch schon Theatervorführungen,7doch sicher in einem verhältnismäßig bescheidenen Rahmen im Saal einer Gaststätte oder im Komödienhaus.

Sophie Marks weiß sich aber auch anderweitig zu beschäftigen: Sie liest, malt, musiziert, doch eine aktive außerhäusliche Lebensplanung und -gestaltung ist für die weibliche Hälfte des Bürgertums in diesen Tagen nicht vorgesehen. Im Grunde ist Sophie Marks – wie andere Frauen aus Bürgertum und Adel auch – dazu verurteilt zu warten, bis der passende standesgemäße Heiratskandidat am Horizont auftaucht, um dann mit seiner Hilfe die Herkunftsfamilie zu verlassen und ein neues Familienkapitel aufzuschlagen. Das besondere Schicksal der Sophie Marks war es nun, dass der Heiratskandidat beizeiten gefunden war, dass aber beide, Sophie und Alexander, über Jahre hinweg nicht miteinander lebten.

Sophie Marks braucht sich um die Bestreitung des Lebensunterhalts keine Sorgen machen, als künftige Erbin des reichsten Manns der Stadt haben finanzielle Probleme keine Rolle in ihrem Leben gespielt. Allenfalls die ökonomische Asymmetrie zu ihrem Verlobten war gelegentlich nicht ganz leicht. Gleichwohl sind die Biografien der beiden jungen Leute nicht frei von Schwierigkeiten, denn sowohl die Familie als auch die Gesellschaft richten Erwartungen an sie, die sie zu erfüllen haben. Sophie ist zuallererst in ihre Rolle als Frau gedrängt, deren Lebensentwurf traditionell bei der Verehelichung und dem Muttersein endet. Allerdings ist der familiäre Hintergrund so komfortabel, dass ihr der Zugang zu Bildung unbeschränkt offensteht. Ob sie je die jüdische Schule in der Stadt besucht hat, wissen wir nicht. Frau von Glaubitz, die Hausdame, hat ein vertrautes Verhältnis zu der jungen Frau, und unterrichtet sie wahrscheinlich im Privatunterricht auch in englischer Sprache.8 Sophie Marks spricht mehrere Fremdsprachen, sie dilettiert auch in italienischer Sprache, sie musiziert, spielt beispielsweise das Pianoforte, sie liest und tauscht sich mit Haindorf über die Lektüre aus. Sie besucht Konzerte in Hamm, übt in einem Chor oder nimmt an einem Ball an der Ostenallee teil. Zwanglos streut sie Anspielungen aus der griechischen Mythologie in ihre Korrespondenz.9 Er sendet ihr auf ihre Bitten auch das eine oder andere Buch zu. Neben dem Zeichnen und Malen verrichtet sie traditionsentsprechend auch „weibliche Handarbeiten“, beispielsweise säumt sie Taschentücher für Haindorf.10 Ferner sammelt sie im Garten der Familie Beeren und kocht sie ein. Als der Tag der Hochzeit naht, erklärt sie ihrem Bräutigam sogar, sie wolle künftig in dem gemeinsamen Haushalt keine Köchin aufnehmen, sondern sich selbst an den Herd stellen und für sie beide kochen. Er werde schon genießen, äußert sie zuversichtlich, was sie zubereite, da es doch allemal besser munde, wenn etwas mit Liebe hergestellt sei.11

Insgesamt erscheint Sophie als intelligente, gebildete, gefühlsstarke, aber auch von Melancholie gedrückte Frau. Sie hat eine „vornehme“ Zurückhaltung, eine Vorsicht und Bescheidenheit. Bescheidenheit wird übrigens von Sophie und Alexander als positive Eigenschaft auch an anderen geschätzt, beispielsweise in der Begegnung mit Frau Schlüter. Hofrätin Angelika Schlüter, die Familie Marks bei einem Gesangsvortrag im Dom in Münster bereits erlebt hatte, sei eine „liebenswürdige, anspruchslose Frau“.12

Frauen für den Krieg

Im Jahr 1813, als viele preußische Männer in Scharen freiwillig zur Verteidigung des Vaterlands eilen, werden auch Frauen zur Pflichterfüllung aufgerufen. Und so finden sich in Hamm – aber auch in zahlreichen anderen Städten – Frauen aus den Kreisen des Adels und des Bürgertums zusammen, bilden Frauenvereine, um beispielsweise mit Handarbeiten, Verbandsmaterial und Spenden die Befreiung Preußens von den französischen Truppen unter Napoleon Bonaparte zu unterstützen. Auch Frauen des jüdischen Bürgertums beteiligten sich an den patriotischen Aktivitäten. Henriette Marks wird als Aktive in dem Verein namentlich genannt. Doch auch die Tochter Sophie ist dabei, wenn die Frauen sich treffen. Sie erwähnt in einem der Briefe an Haindorf, dass die Hammer Frauen ihre Arbeiten im Ritzgarten, einer renommierten Gastronomie an der Lippe, zum Verkauf anbieten und Spenden sammeln.13

„Ihre Freundin Sophie Marks“ – ein rätselhaftes Bild

Vor einigen Jahren hatte das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm das Glück, aus dem Kunsthandel ein Stickbild, das von Sophie Marks gearbeitet worden ist, erwerben zu können. Es zeigt in beige-braunen Farbtönen eine in Plattstichen ausgeführte Hütte, von Bäumen flankiert, und rückseitig mit einer Widmung versehen: „Bei dem jedesmaligen Anblick dieser ländlichen Hütte erinnern Sie mich an Ihre Heimat und an Hamm. Ihre Freundin Sophie Marks“. Das kleine Bild (maximal 15 cm breit) datiert vom 18. Dezember 1807. 14 Auf den Adressaten, dem diese hübsche Arbeit gewidmet ist, gibt es leider keinen Hinweis. Und die Wege des kommerziellen Kunsthandels sind zu verschlungen und meist so schlecht dokumentiert, dass sich die Provenienz nicht nachvollziehen lässt. Es liegt nahe anzunehmen, dass Sophie Marks ihrem Freund Alexander Haindorf das Bild als Souvenir an die Stadt Hamm und als Andenken an ihre Beziehung gefertigt hat. Zeitlich würde das passen, denn gerade im Herbst 1807 hat der junge Mann Hamm verlassen, um in Würzburg sein Studium anzutreten. Die Anrede „Sie“ wiederum spricht gegen diese Vermutung. In seinem ersten im Archiv Loeb-Böhme-Wels erhaltenen Brief an Sophie Marks bedient sich Haindorf schon des vertrauten „Du“. Das ist nicht als selbstverständlich vorauszusetzen, denn selbst zwischen Eltern und Kindern wird in dieser Zeit bisweilen das förmliche Sie genutzt. Auffällig in ihrer beider Korrespondenz ist, dass Haindorf die junge Frau stets mit Vornamen anspricht und duzt, während Sophie ihn in der Regel mit Haindorf adressiert. Offenbar ist es nicht unhöflich, Männer mit dem Nachnamen anzureden, wie auch aus anderen Briefwechseln hervorgeht. Nennt sie ihn Alexander, kann das als Ausnahme gelten, eher spricht sie ihn auch mit „lieber Freund“, „lieber Junge“, „geliebter Haindorf“ an. „O guter Alexander“, sagt sie angesichts des Todes ihrer kleinen Schwester Emma, und man hört sie förmlich seufzen. 15 Im Scherz spricht sie ihn auch einmal als „liebes Haindorfchen“ an. 16 Aus dem Jahr 1807 hat sich kein Schreiben von Sophies Hand erhalten, doch ist es unwahrscheinlich, dass sie ihn in etwaigen weiteren Briefen mit dem förmlichen Sie angesprochen hätte. Allerdings sendet Sophie Marks am 18. Juni 1812 ein Schreiben an Haindorf in Heidelberg, in dem sie ihn tatsächlich siezt. Es hatte eine Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden gegeben, und sie ist voller Verdruss: „Ihr ungerechtes Urtheil hat mich sehr geschmerzt“, hält Sophie ihm vor. Das lässt erkennen, dass die Enttäuschung über Haindorf die Ursache für ihren förmlichen Stil ausmacht, und zeigt, dass die Anrede flexibel genutzt wurde.

Bei dem Stickbild ist aber keine Distanz zwischen der jungen Frau und dem Beschenkten anzunehmen, also kann wohl auch nicht eine getrübte Stimmung der Grund für die Förmlichkeit sein. Letztendlich wissen wir es einfach nicht. Bedauerlich ist es, dass wir den/die Adressat:in des Stickbildes nicht kennen, erfreulich aber ist andererseits, dass wir neben den Briefen mit diesem Souvenir überhaupt noch etwas Weiteres von Sophie Marks in Händen halten können.

Eine Liebe in Briefen

Heutzutage ist es schwer vorstellbar, dass eine Freundschaft und eine Liebesbeziehung über Jahre hinweg im Wesentlichen nur durch schriftlichen Kontakt gepflegt wird, dass man auf diese Weise einander gewiss sein kann und der Austausch von Dauer ist. Die Briefe, die die beiden jungen Leute einander schreiben, erstrecken sich über den Zeitraum von 1807, als Alexander in Würzburg sein Medizinstudium aufnimmt, bis zum Jahr 1816, dem Todesjahr der jungen Mutter Sophie.

Nicht nur in der Widmung in seiner Heidelberger Publikation, auch in den Briefen an die Freundin und Braut sowie umgekehrt von Sophie an Haindorf tritt uns eine große Emotionalität entgegen, eine Gefühligkeit, die heutzutage völlig unbekannt ist und bei Außenstehenden beinahe eine Art „Fremdschämen“ hervorruft. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts ist die Literatur von „Empfindsamkeit“ geprägt. Und diese Art des Selbstausdrucks wirkt noch bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts nach. Der Ausdruck starker Gefühle gilt zu dieser Zeit nicht als peinlich oder unbeherrscht, sondern als angemessen für eine sittlich gute Existenz.

Die beiden Schreibenden tauschen sich über ihre alltäglichen Erlebnisse aus, zunächst noch in einem eher neutralen Ton, als etwa Haindorf der jungen Frau 1807 von den kulturellen Angeboten in Würzburg erzählt, dass er Shakespeares Hamlet gesehen oder eine Mozartoper gehört hat. Im folgenden Jahr 1808 zeigt der Schreibstil bereits, dass sie einander nähergekommen sind, Haindorf äußert beispielsweise große Anteilnahme „mit Deinem zartfühlenden Herzen“, ja, es ist ein liebendes Necken, wenn er auf einen milden Vorwurf ihrerseits schreibt: „Wie gerne wollte ich nicht nur meine Unart abbüßen, wenn ich nur beständig mit so lieben Briefen [von dir] bestraft“ würde. Sophies Gram – worüber sie sich geärgert hat, ist unklar – begegnet Alexander mit dem Gestus des erfahrenen Älteren: Er ist ist 24, sie 18 Jahre alt. Haindorf stellt fest, dass sie „über das Treiben der Menschen zu sehr reflectiret“ und sich Sorgen macht; dagegen rät er ihr: „Denke Dir nur recht lebhaft, daß ein jeder treibt, was er treiben muß“. Hier schon deutet sich an, dass Sophie mit großer Sensibilität auf die Umwelt reagiert und leicht zu kränken ist. Vieles nimmt sie – zu – schwer, so scheint es ihrem Freund jedenfalls. Und über den Verlust der kleinen Schwester Emma versucht Alexander sie mit philosophischen Grundsätzen zu trösten: „Tod und Leben […] sind so sehr miteinander verschwistert, daß ein tiefer Blick ihre Ähnlichkeit keinen Augenblick verkennen kann“.17 Sie möge trauern, aber nicht über das Warum grübeln. Alexander hat gut reden, geht er doch „hinaus ins feindliche Leben“, wie Schiller es 1799 in seinem Lied von der Glocke für die Männer vorsah: Er kann sich an den ihm gestellten Aufgaben beweisen und sich in Zerstreuungen verlustieren. Zumal als junger Mann hat er eine Fülle an Verhaltensoptionen, die Sophie nicht zu Gebote stehen – es sei denn, sie wollte völlig aus dem Rahmen fallen.

Sanft und engelsgleich ist Sophie für Haindorf und soll es auch sein. Die geliebte Sophie spricht er an als „holder Engel“, oder „Du lieber Engel“, aber auch „liebe Seele“.18 Ob sich Sophie bei der Anrede „liebes Kind“ hinreichend verstanden fühlte, wissen wir nicht.19 Dabei soll sie es an Verstand nicht fehlen lassen. Und Sophie ist auch keineswegs so gestrickt, dass sie gleichsam wie ein dekoratives Möbelstück nur ihm zu gefallen suchte und ihn ohne eigenen Anspruch erfreuen wollte. Haindorf ist immer wieder mit seinen empathischen Fähigkeiten gefordert, denn Sophie leidet [1.] mehr als Alexander unter den Trennungen, [2.] hat sie wohl unabhängig von der Beziehung zu Alexander mit melancholischen – heute würden wir wohl von depressiven sprechen – Stimmungen zu kämpfen, und [3.] quält sie immer wieder ein starker Kopfschmerz. Alexander Haindorf ist der Vertraute, dem sie diese Bedrückungen immer wieder vorträgt, vielleicht nicht in uferloser Breite, aber doch wiederkehrend, so dass er sich dazu verhalten muss.

Frauen und Männer

In einem Brief aus dem Jahr 1811 gibt Haindorf zu erkennen, wie er sich die ideale Frau vorstellt und welches Frauenbild er vertritt.20 An Sophie schätzt er die „ungekünstelten Briefe“, die über unverbindliche Plaudereien stets hinausgehen. „Gelehrte Frauen“ dagegen sind ihm ein Graus. Er hat in Heidelberg die Bekanntschaft einer Frau gemacht, die ihn sehr abschreckt: „Sie ist eitel und die Wissenschaft hat ihr das Herz geraubt, und so der ganze Zirkel gelehrter Frauen, der hier jetzt lebt“. In Heidelberg nämlich lebte damals vorübergehend Amalie von Helvig (geb. Imhof, 1776 Weimar – 1831 Berlin), eine Schriftstellerin, die sich eines großen Reichtums erfreute und sich unbekümmert ihren literarischen Ambitionen widmen konnte. Sie verkehrte hier im Romantikerkreis um Sulpiz Boisserée, einem Kunstsammler und Schriftsteller, ab 1816 lebte sie als Salondame in Berlin. Im Jahr 1799 legte Amalie die Dichtung „Die Schwestern von Lesbos“ vor, 182 Strophen in Hexametern. Sogar in Schillers Horen und in seinem Musenalmanach hat Amalie von Helvig, allerdings unter einem Pseudonym, ihre Gedichte veröffentlicht.21

Dann ergießt sich Haindorf im Folgenden über die Natur des Weibes: „Durch Anmuth und Liebe soll das Weib die Natur beherrschen“, sie nicht aber durch Gelehrigkeit „verderben“. Glücklicherweise, meint Haindorf, seien nicht alle Frauen in Heidelberg von der „Gelehrsamheitswuth befallen“. Manche trügen auch „die Wissenschaft, wie es sich gebühret, auf leichten Schultern“. 22 Immerhin gehören Lektüre und Bildung mit zum Kanon der Erziehungsinhalte für jüdische Frauen, alles in einem moderaten Maß und stets abgegrenzt von „männlicher“ Gelehrsamkeit. Es hat den Anschein, als wenn in jüdischen Kreisen Bildung, auch für Frauen, nicht nur erlaubt, sondern, in Grenzen, auch geboten war. Am 26. April 1814 berichtet Haindorf etwa aus Göttingen: „Die männliche Welt ist hier ungemein gelehrt und ernst, ohne doch mürrisch zu seyn; die weibliche dagegen zart und feingebildet“.23 Auch Dorothea Erxleben, die erste promovierte Frau in Deutschland, und Dorothea von Schlözer, die 1787 als zweite deutsche Frau einen Doktortitel erwarb, hätten Haindorfs Anerkennung gewiss nicht gefunden. Und dass einige Frauen als Männer verkleidet an den Kämpfen gegen die französischen Truppen teilgenommen haben, hätte er sicher als „unnatürlich“, weil gegen die Natur der Frau, verstanden.24.  Diese geschlechtsspezifische Bildungsverteilung dürfte nach Haindorfs Geschmack gewesen sein. Nur keine Extreme!

Nicht nur in der Korrespondenz, sondern auch in seiner wissenschaftlichen Publikation aus dem Jahr 1811 ist die Liebe ein Thema für den Doktor der „Arzney- und Wundarzneykunst“. Die Liebe nämlich, so Alexander Haindorf, „hebt zwar das Physische des Geschlechtstriebes nicht auf, aber sie verklärt und verherrlicht es durch ihre ideelle Form“, so der junge Mann, der damals noch keine 30 Jahre alt war.25 Die Liebe zeige sich bei Frauen und Männern ganz unterschiedlich. Bei jungen Männern, bei denen die „Liebe sich durch das freie Spiel [ihrer] Phantasie mit den Idealen offenbart“, erweitert sich das Gefühlsleben. Der Jüngling hat das Bedürfnis, „sich durch das Weib, als sein vollkommener Gegensatz, zu ergänzen“, so dass sein Egoismus gemindert wird. Wenn er endlich die Frau findet, die „dem Ideale seiner Phantasie entspricht“, wird er ruhiger und sanfter. „Es ist dieses eine der schönsten Perioden des Lebens, in welcher der Jüngling seine ganze Kraft fühlen lernt, und wo er gewaltig im Geiste und Gemüthe in das Leben mächtig eingreift und es beherrschen lernt.“26 Bei jungen Frauen wirke sich die Erfahrung der Liebe ganz anders aus, sie seien in „eine ernste, tiefe Gemüthsstimmung“ versetzt. Die Gefühle ließen sie praktisch die äußere Umgebung vergessen und bescherten „den tiefsten Seelenfrieden“.27

Spätestens diese letzten Schilderungen wird man als autobiografisch verstehen dürfen, denn die Liebe zu Sophie wird dem jungen Haindorf, neben allen Entbehrungen, auch Energie und Tatkraft verliehen haben. Die benötigte er auch, als er in den Jahren 1810 bis 1815 sein Studium, seine Publikationen, seine Ortswechsel und die frustrierenden Bemühungen um eine Professur durchzustehen hatte. „Mit der Eroberung der Braut“, heißt es bei Haindorf ungewöhnlich martialisch, ist „dem Jüngling auch die Eroberung der Welt“ gegeben.28

Die dichotomische Geschlechterordnung, die um das Jahr 1800 die heterosexuellen Beziehungen strukturiert, ist praktisch unhinterfragt: Die Frau gilt als empfangend – der Mann als aktiv, sie ist das Gefühl, er der Verstand, sie ist schwach, er ist stark, sie ist Materie, er ist Gott und so weiter. Besonders anschaulich werden die Geschlechtsrollenklischees in Schillers Gedicht von der Glocke, wo die „züchtige Hausfrau“ drinnen waltet, während der Mann hinaus ins feindliche Leben drängt. Auch für Haindorf sollen die Frauen „sanft und engelsgleich“ sein.29 Immerhin favorisiert Haindorf eine weniger strikte Polarität der Geschlechtscharaktere, er ist um Ausgleich bemüht und richtet sich gegen extreme Positionen. Wie seiner Dissertation der Versuch zugrunde liegt, Somatisches mit Seelischem zu verknüpfen, keine Exklusionen zu zementieren, sondern ein Sowohl-Als-Auch zu favorisieren, so verficht er kein grobes Männerbild. Er selbst zeigt sich immer wieder ausgesprochen gefühlvoll, bisweilen schwärmerisch, Diktate wie „ein Mann weint nicht“, wären ihm sicher völlig abwegig und fremd gewesen.

Eifersucht und Sorge

Persönliche Begegnungen der beiden Verlobten sind selten. Sophie sähe ihn gern bei sich in Hamm. Vor den Vorlesungen, die im November beginnen, hat Haindorf aber keine Zeit, also lädt er umgekehrt Sophie mit Frau von Glaubitz im März 1811 ein, ihn in Heidelberg zu besuchen: „Ihr sollt gewiß alle so gut bey mir aufgenommen seyn, als lebtet Ihr im Paradise“, verspricht er.30 Er bekennt, durchaus emotional, dass er unter der Trennung leidet. Sternstunden sind es für Sophie, wenn Haindorf aus seinem Studienort mal wieder in Hamm eintrifft und die Familie Marks besucht. Haindorf nennt Sophies Eltern „die Eltern“, steht also in einem vertrauten Verhältnis zu ihnen. Den „geliebten Haindorf“ tadelt Sophie beispielsweise wegen seines „unnatürlich langen Schweigens“.31Doch ruft sie sich auch selbst zur Disziplin, hat wohl ein kritisches Verhältnis zu ihren Bedürfnissen. Auch wenn jeder Brief von Haindorf ihr „das Leben verschönert“, 32 will sie künftig doch „vernünftiger sein und meiner Phantasie mehr Ruhe gebieten“ räumt sie ihm gegenüber ein. Sophie fühlt sich allein und beneidet „jede meiner Bekanntinnen [sic!], die eine liebende Schwester hat“, mit der sie sich über Liebesdinge austauschen kann. 33 Sophies Sorgen und ihre Trennungsängste werden dem Verlobten bisweilen zu viel, auch deshalb versucht die junge Frau die innere Dramatik zu drosseln, um seine Rüge nicht hören zu müssen: „Ich begreife durchaus nicht, wie Du ewig Dich von ängstigenden Stimmungen quälen läßt. Ich habe Dir ein für alle mal gesagt, daß mein Schicksal auch das Deine ist“. 34

Haindorf seinerseits hatte sich bei Sophie beschwert, dass sie an seinem „erlittenen Verlust“ nicht genügend Anteil genommen hätte, was Sophie wiederum schmerzt – was oder wen er verloren hat, ist unklar. Um aber gleichsam symbolisch den Raum zwischen ihnen zu überbrücken, hat Haindorf in Paris ein Porträt von sich machen lassen und auf die Post gegeben. Nachdem bereits ein erstes Bildnis von ihm auf dem Postweg verloren gegangen war, ist Sophie nun umso ungeduldiger, das Bild ihres Geliebten in den Händen zu halten: „mit banger Sehnsucht erwarte ich es täglich“.35 Kurz darauf kann sie ihm aber bestätigen, dass sie das Bild aus Paris wohlerhalten in Empfang nehmen konnte.36 Ein Jahr später soll ein Ring, den er ihr schickt, die Beziehung stärken.

Schon um das Jahr 1800 hatte die Stadt Paris den Ruf, ein „Fest fürs Leben“ zu bieten. Hier hält sich der junge Arzt im Jahr 1812 und 1813 auf, um die Klinikorganisation der entstehenden Psychiatrie zu studieren.37 Sophie Marks wird durch die Abwesenheit Haindorfs und durch seinen Aufenthalt in Paris aber in Unsicherheiten gestürzt. Sie ist traurig und hat wegen Haindorfs Ferne in Paris „manche düstere Stunde“ zu durchleben. Sie versucht sich damit zu trösten, dass er sie in Zukunft „auch mal durchs Leben“ führen wird.38 Alexander Haindorf hat ihr versichert, dass „nicht Vergnügen noch Sinneslust“ ihn in Paris festhalten. Und sie ist tapfer und erklärt: „was ist schöner, als gegenseitiges volles Vertrauen?“ Es ficht sie nicht an, gibt sie ihm zu verstehen, wenn er in der französischen Hauptstadt Freude erlebt und vergnügt ist. Sophie blickt gleichwohl der näher kommenden Stunde seiner Rückkehr entgegen. Es scheint wohl klar, dass er nicht in Paris bleiben wird? Für seine Rückkehr haben sie den Herbst 1813 ins Auge gefasst. Bis dahin wird sie „überaus glücklich in meiner Phantasie leben“, beruhigt sie ihn. Oder vielleicht sehen sie sich schon im Sommer, so dass sie ihm bis Aachen entgegenfahren kann? Sophie hat Interesse an der französischen Metropole, soweit ihr das aus der Entfernung möglich ist. Sie hat von einem der einquartierten Franzosen erfahren, „daß die schlauen Pariser gewöhnlich den Fremden betrögen“. Sie hofft, dass ihm diese Erfahrung erspart bleiben möge.

Sophie Marks’ Geduld scheint aber auch einmal überstrapaziert gewesen und ein Ende gehabt zu haben. Sie beschwert sich über Haindorfs Abwesenheit, wie aus dessen Antwortschreiben zu schließen ist. Ihr „bittersüßer Brief“ habe ihn sehr betrübt, gesteht Haindorf ein, doch sei es „nun einmal der Männer Loos, […] nicht blos Gefühlen und Empfindungen zu gehorchen, sondern auch der Vernunft ihre Rechte einzuräumen – besonders bey Dingen, die das gemeine Leben betreffen“, entschuldigt Alexander Haindorf sich.39 Inständig erklärt er, dass die Vernunft hier den stärksten Gefühlen entgegenstehe und dass es, er wiederholt es nun, bei allem, was ihm „heilig“ ist, dass er nicht zum Vergnügen in Paris ist. Er habe ganz im Gegenteil sein „Leben frommer, ruhiger, stiller und arbeitsamer gelebt“ als man das vermuten würde. Sie tue ihm Unrecht. Doch für die Entbehrungen an Gemeinsamkeit, die sie ertragen müsse, würden die Götter sie reichlich entlohnen, tröstet er. Diese Hoffnung auf ausgleichende Gerechtigkeit sollte sich als trügerisch erweisen.

Angesichts der Erwartungen der Hammer Familie, dass er bald nach Hamm zurückkehren möge, wendet sich Haindorf brieflich auch an Elias Marks. Haindorfs Herz hängt an Paris und an der Arbeit dort. Im September 1813, als die so genannten Befreiungskriege in vollem Gange sind, fragt er die Eltern Marks, ob er angesichts der unruhigen Zeiten nicht doch besser in Frankreich bliebe und hier den Sturm abwarten sollte.40 Das freilich sehen die Eltern genau umgekehrt: Gerade wegen der unsicheren Zeiten solle er flugs nach Hause kommen.

 

Endlich zusammen: 1815 in Münster

Im Herbst 1814 haben die beiden Verlobten immerhin einmal vier Wochen miteinander verbracht. Sophie sagt, dass es ihr während dieser Zeit „überaus wohl war“, sie ist also nicht durchgängig bedrückt.41 Nur wenige Monate später, im Mai 1815, siedelt Haindorf von Göttingen nach Münster über und ist auch bereit, dort, in der Nähe von Hamm, zu bleiben. Acht Stunden brauchen sie zur Überwindung dieser Entfernung.42

Haindorf hat in Münster u.a. zunächst ein Logis bei der verwitweten Bürgermeistersgattin Vollbier, das er im Sommer 1815 aufgibt. Wann Sophie Marks ihren Verlobten heiratet, ist eigentümlicherweise nicht überliefert. Es fällt auch kein Wort in den Briefen darüber. Zum 10. Oktober 1815, so haben die Brautleute es ins Auge gefasst, wollen sie einen neuen gemeinsamen Hausstand begründen. Mag sein, dass dies auch das Hochzeitsdatum ist. Bis dahin macht sich Alexander Haindorf mit viel Freude daran, die Einrichtung der gemeinsamen Wohnung zu planen. Im Schlafzimmer möchte er ein Himmelbett, die Stube soll mit blauen Tapeten ausgekleidet sein, über die Art der Leuchter diskutieren die beiden in ihren Briefen. Selbst jetzt, da absehbar wird, dass sie ein gemeinsames reales Zusammenleben haben werden, ist Sophie nicht frei von Sorge, ja, sie bangt schaudernd, „daß der Tod uns trennen könnte“.43 Es sei ihr einfach nicht möglich, froh und ungetrübter Stimmung zu sein. Nur wenn er, Alexander, da sei, dann könne sie glücklich sein.

Bald führt Haindorf aber auch eine Praxis als Nervenarzt, die an der zentralen Salzstraße liegt. Wenn er im selben Haus wohnt und praktiziert, dann müsste das im Haus Nr. 45 gewesen sein. Für April 1816 ist Alexander Haindorf in Münsters Ludgeristraße aufgeführt. Wahrscheinlich ist dies die gemeinsame Wohnung von Sophie und Alexander Haindorf. Doch das Miteinander im realen Alltag, auf das die beiden so lange hingelebt hatten, sollte nicht lange währen. Denn: „In der mitternächtlichen Stunde vom 5. auf den 6. und im nämlichen Augenblicke, wo meine innigst geliebte Gattin die lang gehofften Mutterfreuden kurz und süß empfunden hatte, entschlummerte sie sanft zum bessern Leben im Alter von 24 Jahren. Gott sey ihrer Seele gnädig, und schenke meinem Kinde und mir Kraft, unser gerechtes Schicksal ertragen zu können.“ Die Todesanzeige inseriert Haindorf noch am Morgen des 6. September 1816. 44

Ausblick

Das Mädchen, das Sophie Haindorf am 6. September 1816 zur Welt bringt, hat an dem frühen Tod der Mutter auch in mancher Hinsicht zu leiden. Sie schreibt später für ihre Kinder: „Unter Unglück ward ich geboren, denn im Moment, wo mir das Leben gegeben ward, wurde es meiner Mutter genommen, und ein Kind, welches die Mutter nicht gekannt, dem ist das höchste Glück vorbehalten, wenn auch wie bei mir ein liebend Vater durch Alles sucht, die Lücke zu ersetzen.“ 45 Haindorf war durch die Tochter Sophie mit seiner verstorbenen Frau Sophie verbunden, was die Beziehung zwischen Vater und Tochter allerdings sehr belastete. „Mein Vater […] tat unendlich viel für mich, aber war maßlos heftig und alles ging im Sturm, ich ward gegen ihn viel zu verschüchtert.“ Als Sophie 14 Jahre alt ist, muss sie sich von den Großeltern Marks in Hamm, wo sie bis dahin aufgewachsen war, trennen und kommt zum Vater nach Münster. Sie ist oft sich selbst überlassen und findet eine Gelegenheit, einen Jungen kennenzulernen: Jakob Loeb. Fünf Jahre haben die beiden eine heimliche Beziehung, bis Alexander Haindorf das bemerkt und sich geharnischt dagegen wendet. Haindorf verbietet den Kontakt, selbst schreiben dürfen sich die beiden jungen Leute nicht. Dabei, meint Sophie, seien Verbote doch ganz dazu angetan, die „Leidenschaft“ anzustacheln. Dass sich ihr Vater gegen Jakob wende, sei reiner Egoismus gewesen: „er würde auch gegen einen anderen Bewerber gewesen sein, er wollte mich für sich behalten“.46 Eine Wende zum Besseren tritt erst ein, als sich Großvater Elias Marks vermittelnd einschaltet, so dass die beiden schließlich doch heiraten können.

Dr. Maria Perrefort

Orte:

Südstraße 6, 59065 Hamm
Ludgeristraße, 48143 Münster
Grab auf dem jüdischen Friedhof Münster, https://www.juedischer-friedhof-muenster.de/datenbankseite/?jlmid=378

Zitation: Perrefort, Maria, Sophie Marks und ihre Liebe in Briefen, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/sophie-marks/

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Fasia Jansen

Am 29. Dezember 2022 erinnerten Menschen aus der Friedens- und Frauenbewegung, aus Gewerkschaften, aus der afrodeutschen Community, aus antifaschistischen, feministischen und postkolonialen Initiativen an Fasia Jansen. Anlass war der 25. Todestag der Liedermacherin und Aktivistin. Fasia Jansen war eine der wichtigsten künstlerischen Stimmen der sozialen Bewegungen in Westdeutschland. Eine Befassung mit ihrem Leben und Werk führt hinein in eine bundesrepublikanische Zeitgeschichte als Bewegungsgeschichte. Sie wirft Fragen nach der Verortung von Wissen und dem Verhältnis von Erinnern und Vergessen für ein individuelles wie kollektives Geschichtsbewusstsein auf.1

Fasia Jansen wurde am 6. Juni 1929 als Tochter des Kinderfräuleins2 Elli Emma Anna Jansen und des liberianischen Generalkonsuls in Hamburg, Momulo Massaquoi, geboren. Ihr Vater leitete die erste diplomatische Vertretung des afrikanischen Kontinents in Europa. Im selben Jahr kehrte er nach Liberia zurück. Mutter Elli ging mit der Neugeboren zurück in ihre Familie im Hamburger Hafenviertel und erlebte dort Gewalt und Rassismus, der in der Gesellschaft des Deutschen Reiches gegen Schwarze, uneheliche Kinder und ihre Mütter herrschte. Zu ihrem sozialen Vater wurde Albert Backlow, den die Mutter 1935 heiratete. Albert Backlow nahm sie als Tochter an. Als Kommunist und Internationalist war er davon überzeugt: Alle Menschen sind gleich.

In die sorgfältig recherchierte Biografie zu Fasia Jansen, die aus unzähligen nachgelassenen Dokumenten, Tonaufnahmen und Fotografien im Auftrag der Fasia Jansen Stiftung entstand, hat eine Begebenheit Eingang gefunden, die die gesellschaftliche Sinn- und Deutungskultur der späten Weimarer Republik wie in einem Brennglas zum Ausdruck bringt: Den Eltern wurde vorgeschlagen, die Schwarze Tochter abzugeben und stattdessen ein weißes Kind aus den ehemaligen deutschen Kolonien anzunehmen. 3 Die Nürnberger Gesetze von 1935 rassifizierten Schwarze wie Juden und Z*, sie wurden diskriminiert, verfolgt und in Konzentationslagern interniert. 1938 führten die Nationalsozialisten nach der Schule für deutsche Mädchen das sogenannte Pflichtjahr ein. Deutsche Behörden wollten arischen Familien nicht zumuten, Fasia Jansen bei sich zu beschäftigen. Stattdessen sollte sie in der  Munitionsfabrik Düneburg arbeiten, sie wurde jedoch auf Intervention ihrer Großmutter Augusta Bujacz 1944 einer Küchenbaracke zugewiesen, wo sie für Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen des KZ Neuengamme kochen und Essen austragen musste. Im Januar 1945 brach sie bei der Arbeit bewusstlos zusammen und wurde mit Herzproblemen in ein Krankenhaus eingeliefert, wo sie längere Zeit behandelt wurde. Ein Wiedergutmachungsantrag wegen „Schadens an Körper und Gesundheit“  wurde 1960 als unbegründet zurückgewiesen, da sie eine speziell „rassische Verfolgung durch nat.-soz. Gewaltmaßnahmen“ nicht nachweisen konnte. 4

Antikommunismus

Im kommunistischen Milieu sozialisiert fand Fasia Jansen mit ihrem Akkordeon und ihrer Stimme schnell Anschluss an Kulturgruppen der Freien Deutschen Jugendbewegung (FDJ), ein auch in Westdeutschland (und vor allem im Ruhrgebiet) aktiver Jugendverband. In seiner Gründungserklärung vom Dezember 1945 verstand er sich als antifaschistisch und parteipolitisch ungebunden und knüpfte an die fortschrittlichen Jugendbünde der Weimarer Republik an, bevor er 1951 durch die Bundesregierung als verfassungsfeindliche kommunistische Kaderorganisation verboten wurde. 5 Mit Volkstanzgruppen, Klampfenchören und Naturfreundesänger:innen reisten Jugendliche  1951 zum „Internationalen Festival der Jugend und Studenten“ nach Ost-Berlin in die Deutsche Demokratische Republik (DDR). Die „Weltjugendfestspiele“ genannten Ereignisse strahlten im zerbomten Nachkriegseuropa Weltläufigkeit und Völkerfreundschaft aus. Hier  trafen sich nach den verheerenden Verwerfungen der zwei Weltkriege Menschen von allen Kontinenten und bekundeten im interkulturellen, künstlerischen Austausch, dass eine andere Gesellschaft und eine Welt ohne Krieg möglich werden könnte. Fasia Jansen lernte in Ost-Berlin Anneliese „Anna“  Althoff aus einer antifaschistischen Oberhausener Familie kennen: Der Vater, Kommunist, unterhielt in der Weimarer Republik eine Druckerei, die Mutter verteilte als Katholikin 1933 kirchliche Flugblätter gegen die Nazis. 6 Anneliese Althoff wurde 1952 nach dem Verbot der FDJ angeklagt, „auch in der Bundesrepublik die kommunistische Gewaltherrschaft zu errichten“ und erhielt im antikommunistischen Klima der frühen Bundesrepublik eine siebenmonatige Haftstrafe ohne Bewährung. Diese wurde 1956 auf Intervention des Oberhausener Kaplans Otto Köhler vom Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen Rudolf Amelunxen – beide waren entschiedene Gegner des Nationalsozialismus und im KZ Dachau inhaftiert, nun waren sie Gegner der Wiederbewaffnung in der Bundesrepublik – in eine Bewährungsstrafe umgewandelt. Anneliese Althoff und Fasia Jansen wurden Freundinnen. Und so kam Fasia Jansen aus Hamburg ins Ruhrgebiet. Ihr Hamburger Dialekt klang fremd, es gab zwar im Ruhrgebiet viele Zugewanderte aus unterschiedlichsten Regionen der Welt, doch Zuwanderung aus Hamburg war höchst selten.7

Ihre Entwicklung als Musikerin und Aktivistin ist eingebettet in dieses politische Klima zwischen antifaschistischem Aufbruch und westdeutschem Antikommunismus. Fasia Jansen wurde trotz ihrer Sozialisation und der vielen Bezüge zum Kommunismus nicht Mitglied einer Partei, weder der Kommunistischen Partei Deutschlands, die 1956 verboten wurde, noch ihrer Nachfolgeorganisation, der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Sie fuhr trotz des sich verschärfenden Antikommunismus in Westdeutschland weiterhin mit Akkordeonkasten und ihrer Stimme auf Weltjugendfestspiele nach Moskau, Wien, Helsinki und nahm als Künstlerin Einladungen in sozialistische und blockfreie Länder an. 8

Ostermarschbewegung

Die Auseinandersetzungen mit der Remilitarisierung begannen in Westdeutschland bereits seit Ende der 1940er Jahre. Sie beruhten auf erfahrungsgestützter Angst vor einem neuen Krieg: „Wir wollen keine Ami-Waffen, wir wollen für den Frieden schaffen“, hieß es auf einer Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) 1955 in Herne. 9Doch schon bald gerieten die „Westdeutsche Frauenfriedensbewegung“ 10, die „Ohne-mich-Bewegung“ oder die Bewegung „Kampf-dem-Atomtod“ zwischen die Fronten des Kalten Krieges: Aktivitäten gegen die Remilitarisierung Deutschlands, gegen die Einführung der Wehrpflicht, gegen die Atombewaffnung, gegen die Notstandsgesetze oder gegen den Vietnamkrieg galten in Westdeutschland als kommunistisch unterwandert.111960 formierte sich das friedenspolitische Engagement in der Ostermarschbewegung: „Ich habe immer gesungen, im Chor und so. Singen war immer da. Aber sichtbar geworden bin ich, so richtig sichtbar geworden bin ich bei den Ostermärschen,“12formulierte Fasia Jansen. Auf den Ostermärschen wurde unterwegs und an den Kundgebungsplätzen mobil musiziert und gemeinsam gesungen, schnell stellte sich heraus, dass dieses Singen Kraft, Energie und Zusammenhalt schuf: „… eine Emotion, die etwas differenzierter war, als selbst nach einer guten Rede.“13 Anneliese Althoff und Annemarie Stern stellten in der Oberhausener Druckerei  Liederhefte im Hosentaschenformat her: Lieder gegen die Bombe.14. So konnte auf ein gemeinsames Repertoire zurückgegriffen werden. Darunter befanden sich von Beginn an Lieder von Fasia Jansen. Begleitet von Skiffle-Musik – bestehend aus Gitarre, Banjo, Ukelele, Bass und improvisierten Instrumenten wie Waschbrett oder Besenbass – sang sie Folksongs auf einem Jazzbeat. 15 Sie interpretierte den St. James Infirmary-Blues mit einem Text in deutscher Sprache: „Es war der erste Blues in deutscher Sprache“, heißt es.16 Im Laufe der Jahre erweiterte sich das Themenspektrum der Ostermarschproteste hin zur Kritik am Krieg der USA in Vietnam, an den Notstandsgesetzen, am Rechtsradikalismus und am Antikommunismus. 17 Transparente trugen Aufschriften wie: „Unsere Freiheit: Frieden. Demokratie. Soziale Sicherheit.“ Fasia Jansen sang zusammen mit der us-amerikanischen Folksängerin, Bürgerrechtlerin und Aktivistin Joan Baez. Ende der 1960er Jahre kam die Ostermarsch-Bewegung zunächst zum Erliegen. Die Gründe sind komplex, sie liegen u.a. in Auseinandersetzungen verschiedener politischer Flügel und in der Entwicklung neuer Protestformen.18 1980 führte die Bewegung für den Frieden zu einer Wiederbelebung der Ostermarschbewegung, auch  hier sang Fasia Jansen und traf bei einer Veranstaltung „Künstler für den Frieden“ 1981 die afroamerikanische Aktivistin und Bürgerrechtlerin Angela Davis, zu der sich eine politische Beziehung entwickelte.19Fasia Jansen war eine prominente Stimme in der politischen Protestkultur: Sie sang für soziale Bewegungen, für Gewerkschaften, auf evangelischen und katholischen Kirchentagen gegen den Vietnamkrieg und die Atomaufrüstung: „Gott hat die Bombe nicht gemacht“.20

Die Waldeck

Fasia Jansen steht mit ihrem Repertoire aus Folkmusik, Liedern des Widerstandes, der Bürgerrechts-, Gewerkschafts- und Arbeiter:innenbewegung für eine Redefinition des politischen Liedes nach der Zerschlagung emanzipatorischer Musiktraditionen durch den Nationalsozialismus. Ein Kristallisationspunkt dieser neuen politischen Musik war zwischen 1964 und 1969 die Burg Waldeck21, ein traditionsreicher Gedächtnisort der Wandervogel-Bewegung. Zu den Festivals auf der Burg Waldeck wurde auch Fasia Jansen eingeladen. Als Wolf Biermann 1965 kein Ausreisevisum aus der DDR zum Festival erhielt, schickte er seine Ballade vom Briefträger William L. Moore an Fasia Jansen. Sie sang die Ballade an seiner Stelle.

Fasia Jansen ließ sich weder politisch  noch musikalisch instrumentalisieren, wie in einem Brief an den Tenorsaxophonisten der Kölner Polit-Rockband Floh de Cologne, Theo König, deutlich wird: „Ich habe mich nun doch entschieden, meine original (sic!) Texte zu singen, weil ich der Ansicht bin, daß man seine Lieder, die für bestimmte Aktionen gemacht sind, auf einer Platte nicht anders singen sollte … Mein Schwerpunkt ist Westdeutschland und nicht die dritte Welt. Ich kann mich auch nicht identifizieren, was da alles an Losungen kommt.“ Und weiter heißt es: „Worüber ich traurig bin ist, daß ich als politische Sängerin noch kein Lied habe über die doppelte Ausbeutung der Frauen.“22

Die Stimme des Strukturwandels

Fasia Jansen begleitete im Strukturwandel (und darüber hinaus) den Kampf um den Erhalt von Arbeitsplätzen, aber auch gegen die Vernichtung von preisgünstigem Wohn- und Lebensraum. In den 1980er Jahren formierten sich im Ruhrgebiet allerorten Fraueninitiativen, die auf ihre Weise der Deindustrialisierung Widerstand entgegenhielten. Sie organisierten den Protest vor den Werkstoren und in den Städten – immer dabei auch Scharen von Kindern, die trotz Streiks, Demos und Solidaritätsaktionen weiterhin betreut werden mussten.

Im November 1980 begannen Frauen bei Hoesch in Dortmund mit Aktionen für den Erhalt der Westfalenhütte. In der politischen Kultur der Zeit war es umstritten, dass Frauen außerhalb der Werkstore eigenständig und „wild“ für Arbeitsplätze mobilisierten, vorbei an der Gewerkschaft IG Metall. Sie blieben gleichwohl mit ihr verbunden, da den (Ehe)Frauen der Vertrauensleute der IG Metall – eine Art Bindeglied zwischen den Werksangehörigen und den gewerkschaftlichen Funktionsträgern – eine wichtige Rolle bei der Organisation der Aktivitäten zukam. Der Frauenwiderstand stand massiv in der Kritik. Im patriarchalen Sinn- und Deutungshorizont der Zeit galten die Aktivistinnen als „Flintenweiber“23 und gefährdeten den Ruf und das Ansehen ihrer Männer, die ihre Frauen scheinbar nicht im Griff hatten.24

Dortmund und Gelsenkirchen

In der Nacht zum 5. Februar 1981 traten sieben Frauen vor Tor 1 der Dortmunder Westfalenhütte in einen dreitägigen Hungerstreik, um dem Kampf für  ein neues Stahlwerk zu unterstützen. Sie sind als ‚Hoesch-Frauen‘ in die Geschichte des Widerstands gegen die Deindustrialisierung eingegangen. In Dortmund sollte die Westfalenhütte am Borsigplatz schließen und stattdessen ein neues, moderneres Stahlwerk errichtet werden, das Arbeitsplätze für die Zukunft gesichert hätte. Doch der Hoesch-Vorstand zog sich im Oktober 1980 von diesen Plänen zurück. Unter der Parole ‚Stahlwerk Jetzt!‘ formierte sich ein stadtweiter Widerstand.25. Fasia Jansen unterstützte mit ihrer Gitarre die Hoesch-Frauen und ihren Hungerstreik: „Sie hat uns dazu gebracht, dass wir Dinge taten, die wir uns vorher nie zugetraut hätten. Reden halten, Pressekonferenzen geben, Auseinandersetzungen mit Leuten führen, die in Funktionen waren. Auch Frauen, die vorher nie einen Pieps gesagt hatten, lernten, öffentlich den Standpunkt zu vertreten, wie er in der Gruppe entstanden war … Sie selbst war das Modell für alle Frauen.“26 Sie schrieb für die Hoesch-Fraueninitiative Stücke wie: Stahlwerk Jetzt! oder In Dortmund steht ein Stahlwerk. In Dortmund entstand der Slogan: Stahlwerk bau’n, sonst machen es die Frau’n.27

In Gelsenkirchen mobilisierte 1981 die Fraueninitiative Thyssen Schalker Verein muss weiterleben in Gelsenkirchen die Öffentlichkeit, weil der Hochofen 4 des Schalker Vereins stillgelegt werden sollte. Über die Versammlung der Frauen vom 24. Juni 1981 in der Gaststätte Nachbarschulte ist ein beredter Bericht erhalten, der uns heute einen Blick auf das Geschlechterverhältnis der Zeit ermöglicht: „Fasia war auch gekommen. Als während der Versammlung unter einigen anwesenden Männern ein Streit darüber aufkam, was angemessene Aktionsformen im Kampf um den Erhalt des Schalker Vereins wären, und die damit die Veranstaltung beherrschten, beschlossen die Frauen kurzerhand, die Männer des Saales zu verweisen und die weitere Diskussion unter sich zu führen.“28 Im Juni zog die Fraueninitiative zur Aufsichtsratssitzung vor die Essener Hauptverwaltung von Thyssen. Fasia Jansen schrieb dazu einen Liedtext nach der Melodie Von den blauen Bergen kommen wir mit den Refrainzeilen: Der Ofen 4, ja der bleibt stehen, die Schalker Hütte darf nicht untergehn …29 Auf der Busfahrt nach Essen übte sie mit der Gelsenkirchener Fraueninitiative vom Schalker Verein den Text ein. Begleitet von ihrer Gitarre sangen die Demonstrantinnen ihre Protestlieder: „Das trug dazu bei, die kämpferische Stimmung zu stärken, die ohnehin vorhanden war.“ 30Am 23. Oktober 1981 begleitete Fasia Jansen mit ihrem Akkordeon die Fraueninitiative auf der Großdemonstration in Gelsenkirchen.

Besondere Aufmerksamkeit erhielten ihre Lieder Wir wollen gleiche Löhne, keiner schiebt uns weg oder Das Lied der Heinze Frauen, mit denen sie die Arbeiterinnen der Gelsenkirchener Fotobetriebe Heinze bei ihrem Kampf um gleiche Löhne unterstützte: „Die Foto-Heinze-Frauen/ die stehen nicht allein/ ihr Kampf der nutzt uns allen/ drum reihen wir uns ein“.31Am 9. September 1981 gewannen die „Heinze-Frauen“ in letzter Instanz vor dem Bundesarbeitsgericht in Kassel – „ein Meilenstein für die Rechtssprechung im Kampf um den gleichen Lohn“.32In der Bildüberlieferung zu den Arbeitskämpfen im Ruhrgebiet hat Fasia Jansen mit ihren Instrumenten und Zetteln mit Liedtexten einen festen Platz.33

Hattingen und Duisburg

Am 19. Februar 1987 verkündete das Stahlunternehmen Thyssen das „Aus“ für die Henrichshütte in Hattingen. 2.904 Arbeitsplätze sollten abgebaut und die Ausbildungswerkstatt mit 400 Ausbildungsplätzen geschlossen werden. Über zwölf Monate organisierte ein Zusammenschluss aus Vertrauensleuten und IG Metall, autonomen Initiativen, Kirchen, Vereinen, Organisationen, Zivilgesellschaft kreativen Widerstand. Auch hier gründete sich eine Fraueninitiative mit Fasia Jansen an ihrer Seite. Im Sommer 1987 begannen zwölf Frauen einen Hungerstreik, so, wie die Fraueninitiative bei Hoesch zuvor.34Der letzte Abstich des Hattinger Hochofens erfolgte am 18. Dezember 1987.35

Am 26. November 1987 verkündete der Krupp-Vorstand Gerhard Cromme die Schließung des Stahlwerks in Duisburg-Rheinhausen. Mit monatelangen Mahnwachen, Straßensperren, Besetzungen der Rheinbrücke Rheinhausen–Hochfeld – heute in Erinnerung an die Kämpfe „Brücke der Solidarität genannt“ – versuchte ein breites Bündnis im Winter 1987/1988, die Arbeitsplätze in Rheinhausen zu retten. Die Autobahn A 40 wurde blockiert und damit der Verkehr auf der wichtigsten Verbindung durchs Ruhrgebiet lahmgelegt, die Villa Hügel in Essen wurde gestürmt. Ganz Rheinhausen kämpfte um seine Zukunft. Tatort-Kommissar Horst Schimanski, alias Götz George, und weitere Künstler und Künstlerinnen solidarisierten sich. Auch in Rheinhausen bildete sich eine Fraueninitiative, mit zusammengeknüpften Bettlaken errichteten Familienfrauen Straßensperren. Fasia Jansen sang: Keiner schiebt uns weg und passte den Liedtext der aktuellen Situation an: „Sie hatte ja wunderbare Lieder, das war das Schöne, sie kannte herrliche Lieder, die sie uns auch beibrachte. Wir haben zusammen auf den Demos gesungen. Die Kollegen haben dann immer gesagt: ‚Irmgard, Ihr geht doch wohl wieder mit?‘ Weil wir die Lieder gesungen haben, die im Arbeitskampf so bekannt geworden sind. Die sind ja durch Fasia und die Fraueninitiative bekannt geworden.“ 36Zunächst war der Protest erfolgreich, fünf Jahre später wurde das Werk geschlossen.

Die Frauenfriedensbewegung

In den 1980er Jahren formierte sich in West- und Ostdeutschland eine neue Frauenfriedensbewegung, später bekannt als Frauen für den Frieden. Zur Halbzeit der 1976 ausgerufenen UNO-Dekade der Frau trafen sich in Kopenhagen Delegierte aus 145 Staaten, vier Delegationen mit Beobachterstatus, darunter Befreiungsbewegungen aus Südafrika und Palästina sowie Nicht- und Zwischenstaatliche Organisationen, um ein Aktionsprogramm zur Stärkung der Rechte der Frauen zu beschließen. Die Frauenfriedensbewegung organisierte im Sommer 1981 einen Frauenmarsch quer durch Europa von Kopenhagen nach Paris, marschierte 1982 von Berlin nach Wien, 1983 von Dortmund nach Brüssel. Fasia Jansen war als Aktivistin und Musikerin dabei. Wieder stellt sich angesichts ihres Engagements die Frage, welche Bedeutung ihre Stimme und ihre Musik für die Vergemeinschaftung als Bewegung spielte. Ellen Diederich, die mit Fasia Jansen in privater wie politischer Lebensgemeinschaft zusammenlebte, erinnerte sich: „ Von Anfang an war auch Musik bei den Frauenmärschen ein ganz wichtiges Element. Die Menschen auf diesen Märschen kamen aus vielen Ländern, alle hatten Lieder mitgebracht.“37Ellen Diederich und Fasia Jansen fuhren mit ihrem bunt bemalten Friedensbus quer durch Europa, stellten das „Friedenszelt“ – eine Idee von Fasia Jansen – auf, brachten Menschen in Gespräche miteinander, organisierten „Versöhnungscamps“: „ Die Dialoge waren nicht einfach. Dein Singen [gemeint ist Fasia Jansen, ucs] half. Wann immer eine brisante Situation entstand, und derer gab es viele, nahmst du die Gitarre und der Streit bekam eine Atempause. Das gemeinsame Singen löste Verkrampfungen und machte die Köpfe frei.“38Aber nicht nur in der internationalen Gemeinschaft, auch innerhalb der Bewegung musste vermittelt werden, gab es Streit und Spannungen.39 Fasia Jansen und Ellen Diederich fuhren 1985 zur Weltfrauenkonferenz in Nairobi, zu Abrüstungsgesprächen nach Genf, nach Reykjavik, Malta, Washington. Sie fuhren mit ihrem Friedensbus 1987 von Greenham Common in England, wo us-amerikanische Cruise Missiles stationiert werden sollten und Frauen für den Frieden zehn Jahre lang Widerstand leisteten, quer durch Europa, die Route führte von England über die Niederlande, die Bundesrepublik, die Deutsche Demokratische Republik, die Tschechoslowakei, Polen, die Sowjetunion, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Italien bis zum Europaparlament in Straßburg. „Wir spürten, wie tief der Krieg im Bewusstsein der Frauen Europas verwurzelt ist“,40schrieb Ellen Diederich zur dieser Reise, die den Routen des Zweiten Weltkriegs folgte und die Teilung der Welt in Ost- und Westblöcke für eine kurze Zeit durchlässiger zu machen schien, weil es um Kontakt zu Menschen, um Erfahrungsaustausch, um Friedensarbeit ging. 1987, als Fasia Jansen und Ellen Diederich nach Moskau zum Frauenfriedenskonferenz fuhren, kam auch Angela Davis in den bunt bemalten Friedensbus. Es ist ein Foto von ihr und Fasia Jansen überliefert. Als in den 1990 Jahren mit den Jugoslawienkriegen der Krieg nach Europa zurückkehre, organisierten Frauen um und mit Fasia Jansen und Ellen Diederich Hilfsaktionen für traumatisierte Frauen und Kinder in Flüchtlingslagern. Ellen Diederich: „Ich verlor die Lieder, konnte nicht mehr singen“.41

Ein „Ehrensold“ für ihr Engagement

Auf Vorschlag der Gewerkschaftskolleginnen erhielt Fasia Jansen 1991 das Bundesverdienstkreuz. Zuerst wollte sie die Auszeichnung nicht annehmen, denn unter den Ordensträgern und -trägerinnen befinden sich auch umstrittene Gestalten. Ellen Diederich schreibt, dass afrodeutsche Frauen Fasia darin bestärkten, als erste von ihnen diese staatliche Auszeichnung anzunehmen. Fasia Jansen war wohl die einzige Sozialhilfeempfängerin, der das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde, die Bewilligungsgrundsätze für zusätzliche Zuwendungen für Kleidung sahen zwar Konfirmation oder Goldene Hochzeit vor, nicht aber Sonderzahlungen für festliche Kleidung anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes. Später erhielt Fasia Jansen vom Land Nordrhein-Westfalen einen Ehrensold in Höhe von 600,00 Deutsche Mark. 1996 wurde sie mit der Ehrennadel der Stadt Oberhausen geehrt.42 In Oberhausen wurde eine Gesamtschule nach ihr benannt.

Fasia Jansen litt unter einer chronischen Herzinnenhautentzündung.  Der Verdacht steht im Raum, dass dies auf eine Injektion zurückzuführen ist, die sie als Elfjährige im Hamburger Gesundheitsamt erhalten hatte. Am Ende erkrankte sie an Brustkrebs. Am 29. Dezember 1997 starb Fasia Jansen in Oberhausen. Zu ihrer Beerdigung kamen mehr als 1.000 Menschen.

Blackness und Whiteness

Im Jahre 2020 schrieben Interkultur Ruhr und das Internationale Frauen*Film Fest Dortmund-Köln eine offene künstlerische Rechercheresidenz zu Fasia Jansen aus. Die Stipendiatinnen Princela Biyaa und Marny Garcia Mommertz begannen Ende Oktober 2020, sich aus eigener Schwarzer Positionierung heraus mit dem Leben und Wirken Fasia Jansens zu beschäftigen. Sie formulierten ihre leitenden Hinsichten zur Beschäftigung mit der Schwarzen Künstlerin, besuchten Weggefährt:innen und befragten Fasia Jansens Nichte Vivian Seton.43

In Archiven zu/ von Fasia Jansen als Überlieferungen einer weißen Frauen- und Friedensbewegung schien Schwarzsein keine explizite Rolle zu spielen. Princela Biyaa und Marny Garcia Mommertz nahmen Kontakt zur US-amerikanischen  Historikerin Tina Campt auf, die Fasia Jansen 1992 für ihre Forschungen zu Schwarzen Deutschen während des Nationalsozialismus interviewt hatte.44 Auf den Tonbandaufzeichnungen konnten die beiden Stipendiatinnen Fasias Stimme hören. Sie erzählt dort u.a., dass sie ihre Tagebücher verbrannt hatte. Für  Princela Biyaa und Marny Garcia Mommertz stellte sich die Frage: Wie sich einer Persönlichkeit nähern, wenn sie persönliche Überlieferungen zur Rekonstruktion ihres Lebens bewusst zerstört? Ausgehend von Fasia Jansen verschob sich ihr Focus hin zur wissenskritischen Frage nach Überlieferung, Archivieren, Erinnern und Vergessen, Narrativen und Objekten des Schwarzseins in Deutschland.45 In einem Beitrag für ZEIT-online formulierte Marny Garcia Mommertz, wie ihr die Auseinandersetzung mit Fasia Jansen half, ihre emotionale und oft schwierige Beziehung zu Deutschland neu zu verorten, auch dank stärkender intergenerationeller Dialoge mit anderen Schwarzen Frauen.46 Noch ein anderes Projekt befasste sich zeitgleich aus Schwarzer Perspektive mit Fasia Jansen: Alina Benecke und Nicola Lauré-al-Samarai formierten einen mehrheitlich Schwarz positionierten Chor, der Lieder von Fasia Jansen 2021 neu auf die Bühne brachte und der „das Singen dieser Protestsongs als Empowerment“ erprobte.47 In Hamburg eröffnete im Jahre 2022 die Fasiathek – eine Bibliothek aus Schwarzer Perspektive.48 Die kritische Hinterfragung der Überlieferungen zu und von Fasia Jansen aus afrodeutschen Perspektiven führte auf Seiten der weißen Bewegungsgeschichte und bei Weggefährt:innen zu einer Befragung der eigenen Erinnerung.49 Sowohl die Stipendiatinnen Princela Biyaa und Marny Garcia Mommertz als auch die Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft um Fasia Jansen begannen, ganz im Sinne geschichtswissenschaftlicher Grundlagen über jeweilige Erfahrungen, Interessen und Ideen als Faktoren ihres historischen Denkens zu reflektieren.50

 

Weiße Erinnerungsstränge

Wissen und Erkenntnisinteressen sind situiert.51 Wir haben Fasias Jansens Familiengeschichte wahrgenommen, gerade weil ihre biografischen Erfahrungen im Nationalsozialismus und im Nachkriegsdeutschland das eigene antifaschistische Engagement umso drängender legitimierten. Es macht für die Geschichtsschreibung einen Unterschied, ob wir mit jemanden auf der Straße singen, oder später Fragen zu einer Person stellen, die sich nur noch aus (autobiografischen) Aufzeichnungen, Dokumenten, Zeitungsausschnitten oder Tonbandprotokollen rekonstruieren lässt. Wir haben von ihrem Schwarzsein gewusst, doch  hat es in unserer politischen Bewegungskultur keine Rolle gespielt, weil wir von einer internationalistischen, humanistischen Perspektive auf eine Weltgesellschaft getragen wurden. Positionierungen über Hautfarben kam hier (noch) kaum Bedeutung zu.

Als Musikerin und Aktivistin war Fasia Jansen sichtbar – sie stand im Mittelpunkt großer öffentlicher Auftritte. Vielleicht haben wir die Farbe nicht gesehen, weil wir ihre Stimme, ihren motivierenden Gesang hörten. Haben wir – um mit Toni Morrison zu fragen – ihrem Schwarzen Körper nur „eine schattenlose Teilhaberschaft an dem dominierenden kulturellen Körper“ zugestanden?52Bildete das Milieu der Frauen- und Friedensbewegung, der Streiks und Prozesse um Lohngleichheit einen dominierenden kulturellen Körper? Fasia Jansen hat mit ihrer Stimme diesen Bewegungen als widerständige kulturelle Körper einen Ausdruck, Kraft und Energie verliehen. Die ehemalige Bildungsreferentin an der Volkshochschule Gelsenkirchen Marianne Kaiser53 erinnerte sich an die Niederlage der Heinze-Frauen vor dem Landesarbeitsgericht in Hamm.54 Auf der Busfahrt zurück nach Gelsenkirchen stand im Raum, das Hammer Urteil vor dem Bundesarbeitsgericht in Kassel anzufechten. Es herrschte eine gedrückte Stimmung. Als eine junge Frau für den Gang zum Bundearbeitsgericht warb, begann Fasia zu singen: „Wir fahren jetzt nach Kassel, keiner schiebt uns weg …“, in das nach und nach der ganze Bus einstimmte. Marianne Kaiser sah in Fasia Jansens mobilisierendem Gesang den entscheidenden Impuls, dass die Gruppe zusammenhielt und kämpferisch gestimmt den Schritt vor das Bundearbeitsgericht wagte.55

Durch die Biografie Fasia – Geliebte Rebellin von Marina Achenbach zieht sich wie ein roter Faden die Befassung mit der Frage, was ihr Schwarzsein für sie und für uns bedeutete. Es wird nicht nur im ersten Kapitel thematisiert, sondern die Frage findet vielschichtige Antworten in Texten, in Fotografien, in Bildunterschriften und in den Erinnerungen von Weggefährt:innen, die diesem Buch beigefügt sind. So lässt sich zur Frage nach Schwarzsein der Hinweis lesen, dass Fasia Jansen 1962 bei der Vorbereitung auf den Ostermarsch „ihr“ Lied Black and White intonierte, das die Zeile beinhaltet: „Schwarz und Weiß bauen neu die Welt.“56 Oder: Im Programm der vom Deutschen Gewerkschaftsbund 1966 veranstalteten Jugendshow „Protest nach Noten“ wurde Fasia Jansen explizit als „farbige Sängerin“ angekündigt. Ihr zugewiesenes Schwarzsein versah das Programm mit einem internationalen Flair, schlug in einer speziellen historischen Situation eine Brücke in die USA, wo sich der Protest gegen den Vietnam-Krieg zunehmend lauter und auch aus der Bürgerrechtsbewegung heraus artikulierte.57

Es gibt in diesem Buch zwei beredte Stellen zum Schwarzsein in Deutschland: Walter Korowski beschreibt, wie es als Mann war, mit Fasia ein Lokal zu betreten: „Augenblicklich wurde es still. Es war ganz klar, dass alle, die da waren, etwas Sexuelles dachten: Wo hat er die her? Wie geht es da ab. Das war einfach so in den fünfziger und sechziger Jahren.“58 Und Fasia Jansen erklärt im Film von Christel Priemer: „Als ich wusste, was Sexualität ist, als ich meinen Körper gespürt habe, da war es verboten, eine schwarze Frau zu lieben. Und auch nach 1945: das steckte drin bei den Männern, dass es unmöglich ist, mit einer schwarzen Frau zu gehen, es sei denn, dass man sie eben mal so vernascht. Und da bin ich mir ein wenig zu schade gewesen, und habe mich also entschieden, so eine Art Liebe nicht zu leben.“59

Dr. Uta C. Schmidt/ frauenr/ruhr/geschichte

Orte:

Fabrik K 14 Oberhausen, Lothringer Str. 64, 46045 Oberhausen
Fasia-Jansen-Gesamtschule, Schwartzstr. 87, 46045 Oberhausen
Arbeitsgericht Gelsenkirchen, 1979, zur Zeit des Prozesses der Heinz-Frauen, im Hamburg-Mannheimer-Hochhaus, Ahstraße, 45879 Gelsenkirchen. Die begleitende Demonstration ging vom Marktplatz (heute: Margarethe-Zingler-Platz) über die Fußgängerzone Bahnhofstraße dorthin.
Werkstor Westfalenhütte, Oesterholzstraße 134, 44145 Dortmund
LWL-Industriemuseum Henrichshütte, Werkstraße 31-33, 45527 Hattingen
Denkmalgeschütztes ehemaliges Werktor 1 von Krupp Rheinhausen (Friedrich-Alfred-Hütte), 51° 24′ 5,65″ N: 6° 43′ 28,11″ O 51,40157°N: 6,72447°O
„Brücke der Solidarität“, Rheinbrücke zwischen Duisburg und Rheinhausen
Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, Grubenweg 5, 44388 Dortmund
Fasiathek: c/o Fux eG., ehemalige Viktoria-Kaserne, Zeiseweg 9, 22765 Hamburg

Literatur:

https://die-grenzgänger.de/programm/fasia-jansen-ihre-lieder-und-geschichten/
Fasia, Die Siebziger, CD Verlag 'pläne' GmbH, 1999

Zitation: Schmidt, Uta C., Fasia Jansen, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/fasia-jansen/

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Mechtild Brand

Die „Einschränkung von Menschenwürde“ sei ihr Thema und ihre Methode sei es, „immer, über die Person zu gehen. Ich habe also von Anfang an nach Menschen gesucht, die betroffen waren“, so Mechtild Brand Anfang 2023. Überaus beeindruckend und inzwischen vielfach ausgezeichnet hat sich die 1941 geborene Lehrerin über Jahrzehnte sowohl theoretisch forschend als auch pragmatisch helfend mit ganz unterschiedlichen „Opfergruppen“ beschäftigt.

Studium und wie Mechtild Brand zu den Hammer Juden und Jüdinnen kam

Für menschliches Unrecht wurde sie in sehr jungen Jahren von ihrer Deutsch-Lehrerin sensibilisiert, die ihrer Klasse Auszüge aus dem Gerstein-Bericht (einem Augenzeugenbericht über Massenvergasungen)1 und Texte von Bertolt Brecht vorlegte. Dass sich Mechtild Brand forschend den Menschen nähert, die von nationalsozialistischem Unrecht betroffenen waren – Juden/Jüdinnen, Sinti:zze, Roma:nja, Zwangsarbeiter:innen und kriegsgefangene französische Offiziere – war jedoch keineswegs vorgezeichnet. Denn die im Krieg in Hamm geborene Tochter einer Schneiderin und eines Hilfsarbeiters, der bereits 1940 schwer erkrankt aus dem Krieg zurückkehrte, konnte aus finanziellen Gründen in den 1960er Jahren nicht Geschichte studieren: „Ich hätte gerne Geschichte studiert. Kam aber überhaupt nicht in Frage.“ Daher begann sie 1961 an der Pädagogischen Hochschule in Münster eine Ausbildung zur Volksschullehrerin. Für ihr Diplom 1964 riet ihr einer ihrer Professoren, der Religionspädagoge Gottfried Kruchen (1913–1979), sich mit der NS-Geschichte ihrer Heimat-Pfarreien zu beschäftigen. Damals habe sie nur gedacht: „Oh Gott, das will ich nicht“ und hätte ihm gesagt, dass es dazu nichts geben würde. Seinem Hinweis, dass sie sich die jüdische Geschichte Hamms anschauen solle, die gewiss noch nicht aufgearbeitet sei, ging sie nach.

Im Rathaus von Hamm ließ man sie zwar auflaufen, doch auf dem dortigen Flur machte sie ein Beamter auf das Amt für Wiedergutmachung aufmerksam, bei dem sie über Gottfried Kruchen Zugang zu den Entschädigungsakten erhielt. Aus diesen schrieb sie die Adressen aller Hammer Juden und Jüdinnen ab und kontaktierte diese. Ihr erstes Gespräch mit einer jüdischen Familie, die den Holocaust überlebt hatte, führte sie ausgerechnet in die Wohnung, in der sie mit ihrer Familie gelebt hatte. Von diesem Gespräch berichte sie ihrer Mutter im Beisein derer Freundin, die sie daraufhin als „Vaterlandsverräterin und Nestbeschmutzerin“ beschimpfte.

Ihr Studium schloss sie 1964 mit der Arbeit „Die jüdische Frage in Deutschland, dargestellt an der Geschichte der jüdischen Gemeinde Hamm“ ab, wobei sie das Thema noch längst nicht für abgeschlossen hielt. Sie kam daher im Sommer 1965 einer Einladung nach Israel nach, wo sie bei der Ärztin Käthe Becher, der 1. Ehefrau des Dichters und DDR-Kultur-Ministers Johannes R. Becher, untergebracht war. Neben emigrierten Hammer Juden und Jüdinnen lernte Mechtild Brand über ihre Gastgeberin auch jüdische Intellektuelle kennen wie den Religionshistoriker Gershom Sholem und den Philosophen und Historiker Ernst Akiba Simon. Dazu gehörte auch der Kontakt zu dem 1929 geborenen Künstler Yehuda Bacon2, der das Ghetto Theresienstadt und die Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und Mauthausen überlebt hat, und der bis heute besteht. Von ihm sind die Zeichnungen vier ihrer Buchcover.

Yehuda Bacon war Zeuge im Eichmann- und Auschwitz-Prozess, und für ihn transportierte sie bei diesem und weiteren Besuchen regelmäßig Dokumente zur NS-Zeit und übergab diese den Nebenklagevertretern des Frankfurter Auschwitzprozesses (1963–1965), Christian Raabe und Henry Ormond.3 Dort machte sie auch Bekanntschaft mit dem KZ-Überlebenden Hermann Langbein, mit dem sie über Jahre korrespondierte. Dieser hatte die Ermittler in Kontakt mit ehemaligen Häftlingen gebracht und maßgeblich zur Vorbereitung des Frankfurter Auschwitzprozesses beigetragen.4

Erster Schuldienst und ein Jahr Israel

Ihre erste Stelle hatte sie bereits 1964 an einer Schule in Pelkum, Kreis Unna angetreten. Die von ihrem ersten Gehalt gekaufte Bluse wurde von ihrer Mutter, die ihre Schneiderei in den 1950er Jahren aufgegeben hatte und seitdem von ihrer Kriegerwitwenrente lebte, mit einem „Riesentheater“ missbilligt, so dass sie diese schließlich zurückbrachte. Das Verhältnis zu ihrer Mutter sollte bis zu deren Lebensende „schwierig“ bleiben.

Weil sie sich mit der Aufteilung der Volksschule in Grund- und Hauptschule 1967/68 nicht zu entscheiden wusste und auch auf der Suche nach mehr Unabhängigkeit war, ging Mechtild Brand für ein Jahr nach Israel. Dort lebte und arbeitete sie in dem Kibbuz-ähnlichen Kfar Tikwah („Dorf der Hoffnung“), einer von einer Hammer Jüdin mitgegründeten Lebenshilfe-Einrichtung für Erwachsene mit kognitiven, entwicklungsorientierten und emotionalen Behinderungen, die es heute noch gibt.5 In der Einrichtung ging es modern und liberal zu, etwas, was die streng katholisch erzogene Mechtild Brand befremdete. Ebenso faszinierend fremd war ihr der bildungs-/großbürgerliche Lebensstil, den einige der von ihr besuchten jüdischen Hammer Familien in Israel pflegten, selbst wenn sie in der neuen Heimat nicht mehr an ihr altes Leben hatten anschließen können und in prekären Verhältnissen lebten. Damals sah sie in der israelischen Öffentlichkeit noch viele Auschwitzüberlebende, erkennbar an den auf den Armen tätowierten Häftlingsnummern. Ihre Beobachtung, dass fast alle Ausgewanderten in Israel einen Neuanfang geschafft hatten, nur die allermeisten Juristen nicht, sollte sich auch bei ihrer späteren Flüchtlingsarbeit bestätigen.

Die Beschäftigung mit Flüchtlingen und Sinti:zze

Mit ihrer Rückkehr wollte Mechtild Brand 1969 an der noch jungen Ruhr-Universität Geschichte studieren, doch der Professor, bei dem sie dies tun wollte, war zurück nach Tel Aviv gegangen. Stattdessen setzte sie ihre Arbeit als Lehrerin an einer Grundschule in Bochum fort und bezog eine Wohnung am Südpark – weit weg von der Mutter. Nach der Adoption zweier südkoreanischer Mädchen, über die Vermittlung von durch terre des hommes möglich6, zog es sie vier Jahre später in den Kreis Soest, wo sie an eine Grundschule in Borgeln wechselte. Um sich ein Bild von den Lebensbedingungen der Schüler:innen im ländlichen Raum machen zu können, hat sie alle ihre Schüler:innen zu Hause besucht. Durch ihre Recherchen in Hamm und Israel war sie es gewohnt, sich den Menschen über ein Gespräch zu nähern.

Inzwischen in einem Haus in Welver-Schwefe lebend, kam sie 1981 mehr durch Zufall als mit Absicht zur Flüchtlingsarbeit: „Die brauchten jemanden zum Übersetzen, weil sie einkaufen wollten oder zur Verwaltung mussten.“ Die Flüchtlingsunterkunft im Ort hatte damals über 60 Bengalen, Tamilen und einige Pakistani. „In einem Dorf mit 450 Einwohnern ist das durchaus ein Sprengstoff.“

Diese ehrenamtliche Arbeit macht sie bis heute, arbeitet zum Teil eng mit den Ausländerämtern in Hamm und Soest zusammen und hat Familien u. a. aus dem Kosovo, aus Bulgarien, Rumänien Ägypten, Afghanistan, Tadschikistan, Georgien, Indien, Guinea, Nigeria, Somalia, Eritrea und den Maghreb-Staaten betreut. Dabei ist die Arbeit mit den Flüchtlingen am „einfachsten“, die aus ihren Heimatländern staatliche Strukturen kennen und hiesige Regeln akzeptieren können. Das gilt vor allem für die große Gruppe der syrischen Flüchtlinge, denn „sie wissen, wie ein Staat funktioniert, sie kennen Krankenversicherung und Schulbildung. Das heißt, wir haben eine gemeinsame Basis.“ Eine gute Zusammenarbeit sei natürlich auch eine Vertrauensfrage „und das dauert auch schon einmal länger. Aber ich bin nicht dazu berufen, alle Menschen zu retten.“ Das mag man kaum glauben, wenn man ihr zuhört und die Fotos sichtet, auf denen sie mit zahlreichen Flüchtlingen zu sehen ist.

1985 erhielt sie für dieses Engagement den Bundesverdienstorden, zu ihrer eigenen Verwunderung auf Antrag der Männer aus Welver. Sie trägt den Orden, über den sie sich als Geste der Anerkennung gefreut hat, nur sehr selten, wie z. B. beim Festakt 2005 zur Erinnerung an die Befreiung der französischen Offiziere aus der Kriegsgefangenschaft in Soest. Vier Jahre später bekam sie den Hammer Wappenteller für den Kontakt mit den Hammer Juden überreicht.

Neben der Arbeit als Lehrerin und ihrem Ehrenamt in der Flüchtlingshilfe arbeitete Mechtild Brand an ihrem ersten Buch. 1991 erschien „Geachtet – geächtet. Aus dem Leben Hammer Juden in diesem Jahrhundert“ mit ihren langjährigen Rechercheergebnissen aus Ämtern, Archiven und den zahlreichen Zeitzeugeninterviews. Das Schicksal von NS-Verfolgten beschäftigte sie weiter und daher verbrachte sie von 1992 bis 1994 ihre Sommerferien in Auschwitz, untergebracht in der ehemaligen SS-Standortverwaltung mit Blick auf den Galgen, an dem der KZ-Kommandant Rudolf Höß 1947 erhängt worden war. Zu diesem Zeitpunkt – kurz nach dem Mauerfall – hatte die Gedenkstätte rund 60.000 Sterbeurkunden, die in Auschwitz ausgestellt worden waren, aus Leningrad erhalten. Bei ihren dreimaligen Aufenthalten sichtete sie diese auf der Suche nach Opfern aus Hamm, vor allem nach den Bewohner:innen des Hammer „Zigeunerlagers“.

Im Sommer 1994 beteiligte sie sich an der dortigen Gedenkveranstaltung anlässlich des 50. Jahrestages der „Liquidation“ des „Zigeunerlagers“ und verfasste für die Gedenkpublikation – neben dem international bekannten „Nazijäger“ Simon Wiesenthal und dem renommierten Essener Historiker Michael Zimmermann – einen Aufsatz.7

Das sprach sich herum und daher fragte sie kurz darauf der Hammer Schulrat Niesmann, ob sie sich der dem Schulunterricht fernbleibenden Kinder der Hammer Sinti-Familien annehmen könne. Mechtild Brand fand an der Aufgabe Gefallen, sagte zu und ließ sich an eine Schule in Hamm versetzen. Schnell war für sie klar, warum die Kinder dem Unterricht weitgehend fernblieben: „Unter Maria Theresia und unter dem Alten Fritz sind die Kinder den Eltern weggenommen worden. Lehrer waren also neben der Polizei die Gruppe, von der sie wahnsinnige Angst hatten. Man muss diese Ängste verstehen, zumal sie alle Nachkommen von Auschwitz-Überlebenden waren, ohne Ausnahme, und eine ganze Generation Kinder war gerade in Auschwitz ermordet worden. Das hatten alle im Kopf!“

Sie ging anfangs ähnlich wie bei den Hammer Juden vor: beim Friedhofsamt erkundigte sie sich nach der Familienadresse eines Sinti-Grabs, das sich in Nähe der Grabstätte ihres Vaters befand, und nahm Kontakt mit der ältesten Frau dieser Familie auf, mit Olga Bamberger. Über sie, die hohes Ansehen innerhalb der Sinti-Familien genoss und über die sie später einen Aufsatz verfasste8, sowie über die Katholische Zigeunerseelsorge erhielt Mechtild Brand Kontakt mit der gesamten Community. Durch Gespräche erwarb sie sich Vertrauen und holte kurz darauf fast jedes schulpflichtige Sinti-Kind von Zuhause ab: „Morgens um halb sieben musste ich spätestens los, um die Leute um sieben aus dem Bett zu schmeißen. Und dann habe ich sie im gesamten Stadtgebiet in die Schule gebracht.“ Bringen und Abholen erfolgten nur anfangs durch sie persönlich, später machten das die Mütter. „Wenn heute ein älterer Sinto, der seinen Namen immer noch nicht richtig schreiben kann, über seine Tochter stolz sagt ‚Mine macht Fachabitur‘, dann ist da eine Menge passiert.“

In Auschwitz hatte sie die Unterlagen des Hammer „Zigeunerlagers“ zusammengetragen und so beschäftigte sich Mechtild Brand nebenbei forschend auch mit dieser lokalen NS-Opfergruppe. „Das Buch soll Material zugänglich machen, um den betroffenen Menschen offener zu begegnen, als das bis heute im Allgemeinen geschieht. Die Mehrheitsbevölkerung hat sich kritisch zu fragen, wie sie mit der Minderheit der Sinti und Roma umgegangen ist und wie sie diese heute behandeln. Die Beispiele aus verschiedenen historischen Epochen belegen, dass es genügend Gründe zur selbstkritischen Auseinandersetzung gibt“, so ihr Vorwort in dem 2007 erschienenen Buch „Unsere Nachbarn. Zigeuner, Sinti, Roma. Lebensbedingungen einer Minderheit in Hamm“. Dabei ging es nicht nur um die historischen Zusammenhänge, sondern auch um die Bewältigung der aktuellen Lebenswirklichkeit der örtlichen Sinti:zze-Gruppe. Zusammen mit ihnen gründete sie am 17. Januar 1995 den Trägerverein „Arbeitsgruppe Am Schüttenort.e.V.“, der bis in die Gegenwart die lokale Sinti:zze-Arbeit trägt.9

Französische kriegsgefangene Offiziere und Zwangsarbeiter:innen

Nachdem sie bereits in der Hammer Geschichtswerkstatt aktiv war, trat Mechtild Brand nach ihrer Pensionierung 2004 auch der 1995 gegründeten Geschichtswerkstatt Französischen Kapelle e.V. (GFK)10 in Soest bei. Sie recherchierte und besorgte zum Beispiel Rote-Kreuz-Berichte aus Genf, „und zwar über Mitglieder der Aktion Sühnezeichen, die ich von Polen her kannte.“ Diese Berichte wurden u. a. angefertigt über das in Soest ansässige OFLAG VI A, einem Lager für kriegsgefangene Offiziere, die von 1940 bis Kriegsende im April 1945 in einer Kaserne im Süd-Westen der Stadt Soest untergebracht waren. Die Berichte des Roten Kreuzes informieren über Belegungsstärke, Versorgung, Hygiene, Bekleidung etc. – vermitteln also einen relativ guten Einblick in das (privilegierte) Häftlingsleben in einem Offizierslager.
Über die Frage nach dem Umgang mit Forschungs- und Rechercheergebnissen kam es mit der früheren Geschäftsführerin der GFK bald zum Bruch.

Und so wendete sie sich einer weiteren NS-Opfergruppe zu: den Zwangsabeiter:innen.11 Mechtild Brand erstellte einen Fragebogen, den sie an die Stiftung „Polnisch-Deutsche Aussöhnung“ in Warschau und an die ukrainische Nationale Stiftung „Verständigung und Aussöhnung“ in Kiew schickte. Dieser wurde übersetzt und an Betroffene verschickt, die im Kreis Soest Zwangsarbeit geleistet hatten. Unterstützung fand sie in diesem Fall bei einer ukrainischen Wissenschaftlerin, die den gesamten Prozess eng begleitete. Mechtild Brand suchte frühere Arbeitsplätze in der Region auf und, soweit das möglich war, befragte deutsche Zeitzeugen, recherchierte in Archiven, Standes- und Pfarrämtern. „Das Resultat all dieser Bemühungen liegt nun vor. Hoffentlich hilft es, den betroffenen Zwangsarbeitern, die sehr unfreiwillig den Kreis Soest kennen gelernt haben, eine Stimme zu geben.“12

Was sie zu Beginn „überhaupt nicht auf dem Schirm“ hatte, waren die im Soester Kreis geborenen Kinder von Zwangsarbeiterinnen. Mechtild Brand hat 800 von ihnen namentlich recherchieren können! Eine ihrer ersten Kontakte war eine 1944 in Soest geborene Frau, deren Vater ein Bauernsohn im Kreis Soest sein sollte. Sie selbst wurde von ihrer Mutter nach deren Rückkehr nach Polen in einen Brunnen geworfen und überlebte nur dank eines Querbalkens, an dem sie hängen blieb. Nun suchte sie ihre westfälischen Wurzeln. In einem anderen Fall war die in Polen geborene 2. Tochter auf Einladung von Mechtild Brand zu Besuch in Soest. Gemeinsam besuchten sie die Orte, wo ihre Mutter als Zwangsarbeiterin gelebt und gearbeitet hatte. Dort lernte die Tochter ihre Mutter besser verstehen.

2010 erschien dann Brands viertes Buch „Verschleppt und entwurzelt. Zwangsarbeit zwischen Soest, Werl, Wickede und Möhnetal.“ Kaum jemand sonst hat sich bis heute mit dieser Thematik ähnlich intensiv beschäftigt und nur eine weitere Person, eine Lehrerin, hat ehemalige Zwangsarbeiterinnen nach Soest eingeladen. Stadt und Kreis Soest halten sich bis heute zurück.

Später ist sie der GFK erneut beigetreten, „weil ich das Thema so spannend finde“. Sehr zum Vorteil der Aufarbeitung der Lokalgeschichte, die in „Weggesperrt. Kriegsgefangenschaft im Oflag VI A Soest“13 und und in mehrere themenbezogenen Einzelaufsätze14 eingeflossen ist. Auch hierfür arbeitete Mechtild Brand akribisch und nach wissenschaftlichen Kriterien, recherchierte in den Arolsen Archives, dem belgischen Militärarchiv und dem Archiv der niederländischen Stiftung „Leven Achter Prikkeldraad 1940–1945“, kontaktierte zahlreiche Nachfahren und Wissenschaftler:innen, stellte Anfragen in polnischen Institutionen und ließ die Datenbank der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, in der deutsche Karteikarten von verstorbenen sowjetischen Kriegsgefangenen ausgewertet werden, von einem Kollegen sichten. „Zu den wichtigsten Quellen für das Oflag VI A in Soest gehören die acht Berichte der Delegierten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, die das Lager regelmäßig besucht haben. … Außerdem war es möglich, sie durch weitere Dokumente aus dem Bestand des Internationalen Suchdienstes vom Roten Kreuz in Arolsen zu ergänzen.“ Doch etwas war dieses Mal anders: „In allen meinen seit 1963 zur lokalen NS-Geschichte von Hamm und Soest erschienenen Dokumentationen standen immer die Zeitzeugen und ihre Berichte im Mittelpunkt. Die Suche nach ihnen war über Jahrzehnte hinweg der eigentliche Schwerpunkt der Arbeit, und der persönliche Kontakt mit ihnen war die bislang unabdingbare Voraussetzung für die Erstellung der Texte. Das ist jetzt zum ersten Mal nicht mehr der Fall.“ Alternativ zu den bisher geführten Zeitzeugengespräche sichtete sie publizierte Tagebücher und „Berichte von ehemaligen französischen Insassen des Soester Lagers …, die ich vorwiegend durch Recherche im Internet aufgespürt habe.“ Und sie betrieb Quellenkritik: „Die Frage, inwieweit die Berichte in den veröffentlichten Biografien von ehemaligen Gefangenen des Oflag VI A in Bezug auf ihre Lagerzeit präzise und zuverlässig sind, kann ich genauso wenig überprüfen wie die Zeitzeugenberichte meiner früheren Dokumentationen. In die Bücher werden subjektive Wahrnehmungen und auch Unrichtigkeiten und Verzerrungen eingeflossen sein. Wie bei den übrigen Zeitzeugenberichten helfen auch in diesem Fall regelmäßige Vergleiche, um ein Gesamtbild zu erhalten. Der Rückgriff auf veröffentlichte Quellen belegt vor allem die für mich veränderte Ausgangslage.“15 Die skeptische Haltung gegenüber dem, was Menschen erinnern, wendet sie auch bei sich selbst an. „Man kann sich in seine Biografie auch hineinträumen“ sagt sie an einer Stelle, als sie positiv über ihren Vater spricht, der starb, als sie ein Mädchen von vier Jahren war.

Ihr enorm hohes Engagement wurde mit weiteren Preisen ausgezeichnet – zu den genannten kamen hinzu die Ehrenplakette der Stadt Soest, „Leben Helfen“ (der Preis des Katholischen Sozialdienstes Hamm, in deren Vorstand sie 20 Jahre aktiv war) und im März 2022 der Hammer Integrationspreis „Miteinander 2020“ des Runden Tischs gegen Radikalismus und Gewalt. Steht man Mechtild Brand gegenüber, meint man nicht, dass in dieser zierlichen Person derart viel Power, wissenschaftliches Interesse, Empathie und auch Hartnäckigkeit stecken. Trotz schwerer Erkrankung und fortgeschritten Alters hat sie noch einiges vor: „Ich muss da jetzt noch einer Familie den Bericht über ihren Onkel aus der Nase kitzeln, der als Kommunist 12 Jahre in Buchenwald war. Wenn ich den kriege, dann versuche ich dieses zerstörte Leben zu dokumentieren.“ Es wäre erfreulich, wenn ihr dies gelänge, denn mit ihrem Bearbeiten unliebsamer Teile der Lokal- und Regionalgeschichte sowie übersehener NS-Opfergruppen ist Mechtild Brand eine echte Größe innerhalb der Erinnerungskultur und Geschichtsschreibung des Ruhrgebiets.

Susanne Abeck, frauen/ruhr/geschichte

Veröffentlichungen
„… nach Auschwitz überführt …“ Verfolgung und Vernichtung von Sintifamilien aus Hamm (Westfalen) während des Dritten Reiches, in: Vereinigung der Rom in Polen (Hrsg.), Der 50. Jahrestag der Vernichtung der Roma im KL Auschwitz-Birkenau, Oswiecim 1994, S. 49–57
Geachtet – geächtet. Aus dem Leben Hammer Juden in diesem Jahrhundert, Hamm 1991
Die vergessene Verfolgung. Der Zigeunerbeauftragte aus Soest und seine Opfer, in: Soester Zeitschrift, Heft 107, Soest 1995, S. 103–120
Unsere Nachbarn. Zigeuner, Sinti, Roma – Lebensbedingungen einer Minderheit in Hamm Essen 2007
Keineswegs freiwillig: Ilse Schidlof und ihr Leben zwischen NS-Verfolgung und Gegenwart, Hamm 2008
Verschleppt und entwurzelt. Zwangsarbeit zwischen Soest, Werl, Wickede und Möhnetal (Hrsg.: Heimatverein Möhnesee e.V.), Essen 2010
Weggesperrt. Kriegsgefangenschaft im Oflag VI A Soest, Essen 2015
Zeitenwechsel. Schatten und Schweigen. Jules Wolf und seine (un)freiwillige Biografie, in: GFK e.V. (Hg.), Zeitenwechsel, Heft 2022, S. 9–29
Wie durch ein Brennglas. Lebensbedingungen von Flüchtlingen vor Ort, Hamm 2022
Zahlreiche Beiträge auf der Website des Hammer Geschichtsvereins e. V., https://geschichtsverein-hamm.de/archiv/referenten/mechtild-brand/ [Zugriff am 20.04.2023]

Mitarbeit an Sammelbänden:
  • „Bei Alsberg wird geplündert“, „Die Synagoge hat doch überhaupt nicht gebrannt…“, Ein Denkmal für Juden in Hamm, in: Hammer Lesebuch, Essen 1991
  • Zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und eigener Entscheidung – Drei Frauengenerationen der Familie Herz / Bertha Meyberg, Ida Goldstein und Helene Lauter – Jüdische Freuen im Geschäftsleben / Für Olga Bamberger, in: Die vergessene Geschichte – 775 Jahre Frauenleben in Hamm, Hamm 2001
  • Zur Zwangsarbeit an die Möhnetalsperre, in: Ein Jahrhundert Möhnetalssperre, Bönen 2013
Zitation: , Mechtild Brand, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/mechtild-brand/

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Judith Neuwald-Tasbach

„Ich habe mir das so nicht vorgestellt. Der Job ist laut Satzung ehrenamtlich, aber als sie verfasst wurde, hat niemand daran gedacht, dass damit einmal so viel Arbeit verbunden sein könnte!“.1 Als Judith Neuwald-Tasbach im Jahr 2007 für die Repräsentanz der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen kandidierte, hatte sie weder damit gerechnet, am Ende zur Vorsitzenden gewählt zu werden, noch damit, wie nachhaltig dies ihr Leben verändern würde.

Geboren 1959, hatte Judith Neuwald-Tasbach hatte nach ihrem Abitur Verkehrsbetriebswirtschaft studiert, „Transportwesen, Bereich Personenbeförderung“, und danach in verschiedenen Jobs gearbeitet, „meistens im Bereich der Personenbeförderung oder in der Touristik, später auch einmal bei einem Automobilzulieferer, und schließlich bei einem Automobilclub“. Als Ende der 1990er/Anfang der 2000er-Jahre ihr über 90-jähriger Vater Kurt Neuwald erkrankte, entschloss sie sich, zunächst in Teilzeit zu arbeiten und dann vorübergehend ganz ihren Beruf aufzugeben, um sich um ihn kümmern zu können. Er wohnte in ihrer Heimatstadt Gelsenkirchen, sie zu diesem Zeitpunkt in Sauerland. Schließlich starb der Vater 2001, und eine hochbetagte Verwandte wurde pflegebedürftig, und auch hier übernahm Judith Neuwald-Tasbach die Betreuung.

In der Zwischenzeit wurde sie von der Gelsenkirchenerin Karin Clermont angesprochen, ob sie sich engagieren wolle bei den Planungen zum Bau einer neuen Synagoge in Gelsenkirchen. Neuwald-Tasbachs Vater Kurt war bis 1992 Vorsitzender der jüdischen Gemeinde gewesen. Auf der Trauerfeier nach seinem Tod, an dem auch NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD) teilnahm, sprach sein Nachfolger Fawek Ostrowiecki (1927–2017) erstmals öffentlich den Wunsch zur Errichtung einer neuen Synagoge aus, denn die alte von 1957/58 platzte nach der Zuwanderung zahlreicher Juden und Jüdinnen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion in den 1990er-Jahren aus allen Nähten. Judith Neuwald-Tasbach engagierte sich nun – obwohl sie weiterhin im Sauerland wohnte – gemeinsam mit Karin Clermont und weiteren Mitstreiter*innen in verschiedenen Gremien in und außerhalb der Gemeinde für die neue Synagoge und wurde später auch offizielle Beauftragte der Gemeinde für den Synagogenbau.2

Aber ihren Beruf dauerhaft aufgeben, dass wollte sie eigentlich nicht. Nach der Fertigstellung und Einweihung der Synagoge im Februar 2007 wollte sie in ihren Beruf zurückkehren. Doch nun trat der bisherige Gemeindevorsitzende Ostrowiecki bei den Gemeindewahlen nicht mehr an – und schließlich ließ sie sich „breitschlagen“. Ihr war schnell klar: „Das ist das Ende meiner beruflichen Pläne – aus dem Grund, weil ich Dinge immer nur ganz machen kann! Ich habe mir gedacht: Wir ziehen jetzt um in ein neues Gebäude und es wird wahnsinnig viel Arbeit sein, das alles einzurichten. Wenn du nebenher noch einen Vollzeitjob hast, wahrscheinlich auch mit vielen Überstunden, dann wird das für dich ganz schwierig, hier richtige Arbeit zu leisten“, erinnert sich Judith Neuwald-Tasbach. Sie übernahm das Amt als erste Frau und blieb über 16 Jahre lang bis Mai 2023 die Gemeindevorsitzende.

Finanziell möglich war dieser Fulltime-Ehrenamts-Job nur, weil sie 2002 geheiratet hatte und ihr Mann berufstätig war. „Mein Mann ist immer mein bester Berater, bis heute, muss ich sagen. Und ich bin dankbar und glücklich, dass er das alles mitträgt“, sagt Judith Neuwald-Tasbach. Eine Arbeitsteilung, die auf den ersten Blick traditionell klingt: er der „Ernährer“, sie ehrenamtlich tätig. Aber dieses Ehrenamt war ein von Verantwortung und Umfang her besonders herausragendes. Sie wurde eine Führungskraft ohne Bezahlung.

Die Herausforderungen waren groß. Mit der Zuwanderung von Juden und Jüdinnen aus den Nachfolgestaaten war die jüdische Gemeinde in Gelsenkirchen, wie viele andere Gemeinden bundesweit, erheblich gewachsen – von gerade einmal 79 Mitgliedern im Jahr 1989 auf 441 im Jahr 2005. Viele der neuen Mitglieder sprachen nur wenig Deutsch und hatten nach der Übersiedlung nach Deutschland beruflich nicht mehr richtig Fuß gefasst. Der Gemeinde verlangte dies einiges an Integrationsleistung ab und sie veränderte sich schließlich auch selbst strukturell von Grund auf, denn die wenigen „alten“ Mitglieder waren nun in der Minderheit.3

In Gelsenkirchen war es dem Engagement von Menschen wie Karin Clermont zu verdanken, die selbst keine Jüdin ist, dass nun die Chance ergriffen wurde, den Jüdinnen und Juden wieder einen sichtbaren Platz in der Stadt zu geben und ausreichend große Räumlichkeiten – was mit dem Bau der Neuen Synagoge inklusive Gemeindezentrum und Büros auch gelang. Schon der Tag der Einweihung der Synagoge zeigte Judith Neuwald-Tasbach, dass die jüdische Gemeinde fortan eine ganz neue Rolle in der Stadt spielen würde: „Wir wurden ja alle am Tag der offenen Tür nach der Einweihung von unglaublich vielen Menschen überrannt. 12.000 Menschen haben an dem Sonntag vor der Tür gestanden und da wurde mir klar, dass unser Leben ein anderes ist. Wir sind aus einem abgeschiedenen Hinterhof direkt in die Öffentlichkeit gekommen, an einen schönen Platz, der viel Bedeutung für uns hat, mit einem wundervollen Gebäude.“

Durch den Neubau war die Gemeinde trotz öffentlicher und privater Unterstützung hochverschuldet und musste jeden Cent umdrehen, wie Neuwald-Tasbach erläutert: „Das war eine ziemlich anstrengende Zeit und manche Nacht habe ich da nicht schlafen können, weil ich immer gedacht habe: ‚Wie wird das weitergehen?‘ Immer mit diesen Engpässen, wir mussten unsere Kredite bedienen, wir haben hier hohe Kosten. Am Anfang haben uns diese Kosten sozusagen erschlagen.“

„Mein Vorgänger im Amt [Fawek Ostrowiecki] hat einmal gesagt: ‚Als Vorsitzende der Gemeinde bist du nicht die Vorsitzende, sondern du bist die Dienerin der Gemeinde.‘ Und das habe ich immer berücksichtigt in meinem Leben, dass ich immer Gleiche unter Gleichen bin. Hier drinnen bin ich eine von vielen und nach draußen habe ich die Aufgabe, die Gemeinde zu vertreten. Aber ich stehe nicht über den Menschen, sondern ich bin hier mit den Menschen und das ist, glaube ich, eine ganz wichtige Erkenntnis für die Arbeit. Das ist wichtig, dass man das verinnerlicht.“

Mit Judith Neuwald-Tasbach wurde eine Frau Vorsitzende der Gemeinde, die auch aufgrund ihres familiären Hintergrunds in der Lage war, die Schnittstelle zu bilden zwischen der sich neu findenden Gemeinde mit Menschen, die sich wenig in den kulturellen und politischen Kontexten auskannten, und der Gelsenkirchener Gesellschaft und Politik. Ihre Eltern waren beide Holocaust-Überlebende.

Der Vater Kurt Neuwald wurde 1906 in eine Gelsenkirchener Kaufmannsfamilie geboren, die bereits seit 1880 ein Bettenfachgeschäft in der Innenstadt führte. Er war dessen Geschäftsführer und Mitinhaber, bevor es durch die Nazis verwüstet und durch die Behörden schließlich „arisiert“ wurde. Er heiratete 1939 die aus Essen stammende Rosa Stern. 1942 wurden er und seine Familie zunächst nach Riga, dann in weitere Lager deportiert. Seine Frau und 23 weitere Familienangehörige überlebten die Shoah nicht. Getrennt von seiner Familie durchlief Kurt einen Leidensweg durch verschiedene Konzentrationslager, er und sein Bruder überlebten schließlich die Zeit der Verfolgung und Vernichtung. Kurt wurde aus einem Außenlager des KZ Buchenwald befreit und kehrte im April 1945 nach Gelsenkirchen zurück.4

Mit anderen gründete er zunächst ein jüdisches Hilfskomitee, dann eine neue jüdische Gemeinde in Gelsenkirchen, deren Synagoge, Schule und weitere Gebäude 1938 während und infolge der antijüdischen Pogrome zerstört worden waren. Von den Juden und Jüdinnen, die 1945, nach der Befreiung, in Gelsenkirchen lebten, war Kurt Neuwald einer der ganz wenigen, der von dort stammte. Die meisten hatte es aus anderen Städten, Regionen oder Ländern nach Gelsenkirchen verschlagen, wo sie im nationalsozialistisch beherrschten Europa verfolgt worden waren, Familie, Freunde und Heimat verloren hatten.5 Darunter auch Cornelia Basch (geb. 1929), eine aus Ungarn deportierte Jüdin, die in einem KZ-Außenlager in einem Hydrierwerk in Gelsenkirchen-Horst Zwangsarbeit leisten musste und hier befreit worden war.6

Kurt Neuwald und Cornelia Basch heirateten, und eine ihrer beiden Töchter war Judith, die 1959 geboren wurde, kurz nachdem die neu gegründete Gemeinde eine kleine Synagoge im Hinterhof eines Gebäudes an der Von-der-Recke-Straße hatte bauen und eröffnen können.7 Etwa 117 Mitglieder hatte die Gemeinde zu diesem Zeitpunkt, doch trotz des Nachwuchses einiger Familien ging die Zahl in den kommenden Jahren immer weiter zurück – durch Wegzug (darunter Auswanderung nach Israel) und durch Überalterung.8

Judith Neuwald-Tasbachs Kindheit war von der Situation der nach der Shoah in Deutschland gebliebenen Juden und Jüdinnen tief geprägt: „Viele waren hier gestrandet, wollten aber ursprünglich gar nicht in Deutschland bleiben, sondern nach Israel. Sie hatten quasi die Koffer gar nicht ausgepackt. Dann kamen die Kinder in den Kindergarten und man verschob die Ausreise, sie kamen in die Schule und man wartete erneut. So schafften viele den Absprung nicht, einige gingen dann doch, wenn die Kinder groß waren, oder die Kinder selbst gingen als junge Erwachsene nach Israel.“ Ein anderer Teil der Juden „war hier fest angekommen und hat auch den Koffer ausgepackt, entschied sich zu bleiben. So war es bei meiner Familie. Das ist ein großer Unterschied in meiner Kindheit gewesen.“ Die Eltern bemühten sich, ihrer Tochter ein Leben mit Freundschaften auch zu nicht-jüdischen Kindern zu ermöglichen, aber das war keineswegs bei allen Gemeindemitgliedern üblich. „Es war immer ein reger Betrieb bei uns zuhause, ich brachte Schulfreunde mit, manchmal kamen auch Eltern zu Besuch. Wie schwierig dies war [gerade einmal 15 bis 20 Jahre nach Kriegsende, S.N.], bekam ich damals zuerst gar nicht mit, habe ich dann aber später begriffen. Meine Eltern mussten ja damit akzeptieren, mit Menschen an einem Tisch zu sitzen, die im Nationalsozialismus im besten Fall geschwiegen haben und passiv waren und im schlimmeren Fall aktiv mitgemacht haben bei der Verfolgung der Juden.“ Andere Gemeindemitglieder blieben entsprechend wesentlich misstrauischer gegenüber ihrer Umgebung, hier durften die Kinder keine Schulfreunde mit nach Hause bringen, sie konnten, so Neuwald-Tasbach, „niemals Normalität im Umgang mit anderen erleben“.9

Die Mutter starb 1969 mit 47 Jahren vermutlich an den Spätfolgen ihrer Deportation, Haft und Zwangsarbeit – Judith war zu dem Zeitpunkt noch keine 10 Jahre alt. Der Vater blieb bis ins hohe Alter Gemeindevorsitzender und engagierte sich auch überregional für die jüdische Gemeinschaft. So war er u. a. von 1963 bis 1994 Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe und gehörte von 1951 bis 1994 dem Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland an.10 Mit seinem Engagement für die jüdische Gemeinschaft in Judith Neuwald-Tasbach also groß geworden. „Hitler soll nicht im Nachhinein noch Recht bekommen, indem Deutschland ‚judenfrei‘ wird“, so sei seine Überzeugung nach ihrer Erinnerung gewesen. Dieses „Jetzt erst recht“ habe er auch seinen Kindern auf den Lebensweg gegeben.11

Anders als in der Zeit vor der Shoah, als es in Deutschland ein sehr vielfältiges Judentum mit orthodoxen, konservativen und mehrheitlich liberalen Gemeinden gab,12 waren die sehr kleinen Synagogengemeinden der Bundesrepublik bis 1989 überwiegend Gemeinden mit traditionell-orthodoxen Vorstellungen, aber aus pragmatischen Gründen keinen allzu strengen religiösen Vorschriften im Alltag. Man war froh, dass es überhaupt wieder Gemeinden, Synagogen und Gottesdienste gab.

Die Orthodoxie ist auch gegenwärtig noch die überwiegende Strömung innerhalb der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden, 2021 waren über 90 Prozent traditionell-orthodox ausgerichtet.13 So auch die Gelsenkirchener Gemeinde. In der Neuen Synagoge gibt es daher einen getrennten, aber nicht streng abgeriegelten Sitzbereich für Frauen, die im Rahmen der orthodoxen Gottesdienste keine Funktionen übernehmen dürfen. Gefragt, wie sie als weibliche Gemeindevorsitzende damit umgehe, sagt Judith Neuwald-Tasbach: „Für mich ist es kein Konflikt […] Wenn ich durch die Synagogentür gehe, dann sitze ich hinten bei den Frauen. Und ich sage mir immer: ‚Wichtig ist, dass man in den Herzen der Leute vorne sitzt.‘ Da spielt es keine Rolle, ob ich in der ersten Reihe vorne sitze oder ganz hinten an der Wand. […]  Judentum unterdrückt Frauen nicht, sondern Frauen haben eben keine Aufgabe in der Synagoge im orthodoxen Judentum. Aber wir haben Aufgaben im familiären und sozialen Bereich. Und wenn ich dann durch die Synagogentür wieder hinausgehe, dann bin ich natürlich eine sehr emanzipierte Frau, die sich auch früher schon in einer Männerwelt durchsetzen konnte.“

Judith Neuwald-Tasbach vertrat als einzige Frau im Vorstand ihre Gemeinde im Bund traditioneller Juden in Deutschland e. V. (BtJ), in dem Gemeinden Mitglied werden können, die „sich dem traditionellen Judentum, d. h. der jüdischen Religion und Lehre in ihrer über tausendjährigen Tradition des toratreuen Judentums in Deutschland, verpflichtet fühlen“.14 Knapp 30 Gemeinden wirken darin mit, die alle auch dem Zentralrat der Juden in Deutschland, der wichtigsten jüdischen Dachorganisation, angeschlossen sind. Auch in dessen Direktorium war Neuwald-Tasbach stellvertretende Delegierte für den Landesverband der jüdischen Gemeinden in Westfalen-Lippe.

In den vergangenen Jahren, nach der Einwanderung von Juden und Jüdinnen aus der ehemaligen Sowjetunion, beginnt wieder eine stärkere Ausdifferenzierung innerhalb des deutschen Judentums. So gibt es inzwischen eine Reihe liberal-progressiver Gemeinden, z. B. in Köln, Oberhausen, Unna und Bielefeld, die in der Union progressiver Juden in Deutschland und in einem entsprechenden Landesverband in NRW organisiert sind. Von 2015 bis 2021 amtierte Natalia Vezhbovska für den Verband als Rabbinerin, seit 2022 ist sie Gemeinderabbinerin in Bielefeld und damit eine von über zehn Rabbinerinnen in Deutschland.15

Judith Neuwald-Tasbach sieht dies in keiner Weise dogmatisch: „Im Leben meines Vaters gab es die Vorstellung nicht, dass eine Frau auch eine Rabbinerin sein kann, einfach, weil er es nie gesehen oder gehört hatte, obwohl es auch schon vor dem Dritten Reich Rabbinerinnen gab. Also ich persönlich denke, das Judentum ist eine wunderbare Religion mit so vielen Facetten, und es ist schön, dass auch Frauen Rabbinerinnen werden können oder Vorbeterinnen, Kantorinnen. Ich kenne auch einige und ich denke, es ist gut, dass es auch liberale Gemeinden gibt. Und ich bin auch froh, dass es wieder ganz orthodoxe Gemeinden gibt, die sich sehr intensiv dem Glauben widmen in sehr orthodoxer Hinsicht. Aber ich bin einfach dankbar, dass das Judentum wieder vielfältig ist, denn das ist ja das, was das Dritte Reich endgültig zerstört hat bei uns, es hat nicht nur die Menschen und die Gebäude hinweggenommen, sondern auch die Vielfalt im Judentum und das Wissen um das Judentum. Deshalb freue ich mich, dass wir heute wieder Vielfalt im Judentum haben, wobei meine persönliche Welt das traditionell orthodoxe Judentum ist.“

Die jüdische Gemeinde Gelsenkirchen ist Mitglied im „Interkulturellen Interreligiösen Arbeitskreis Gelsenkirchen“ und sucht darin den Kontakt zu Christ*innen und Muslim*innen. „Wir versuchen, im Interkulturellen Arbeitskreis miteinander die Dinge zu besprechen und mehr Gefühle füreinander zu entwickeln. Ich glaube, letztendlich ist das immer eine Sache des Kennenlernens, wenn man sich kennt, dann werden Vorurteile abgebaut. Es ist der eine einzige Weg zu begreifen, dass wir es nur miteinander schaffen werden“.

Umso mehr hat Judith Neuwald-Tasbach es als Rückschlag empfunden, als am 12. Mai 2021 eine Menge von überwiegend muslimischen Demonstrant*innen, die vorgab, sich mit den Palästinenser*innen in Israel und den besetzen Gebieten zu solidarisieren, vor der Gelsenkirchener Synagoge israel- und judenfeindliche Parolen rief, darunter auch „Juden raus“.16 „Ich habe mich noch nie so schlecht gefühlt in meinem Leben wie nach diesem schrecklichen Aufmarsch. Man muss hart daran arbeiten, dass man wieder Vertrauen fasst und Mut hat weiterzumachen und auch in die Öffentlichkeit zu gehen“, so schaut Judith Neuwald-Tasbach auf diesen Tag zurück.

Generell macht ihr der wachsende Antisemitismus große Sorgen. „Er hat sich verändert, er ist härter geworden, brutaler. Es ist so, dass er sich in den sozialen Netzwerken ausbreitet und manchmal wissen die Menschen gar nicht, warum sie das tun, aber sie tun es und sie begreifen nicht, was sie damit anrichten. Ich glaube, dass jemand, der einmal beschimpft oder angegriffen worden ist als Jude, der wird sein Leben lang ein Trauma haben, weil er sich einfach in einer Eigenschaft angegriffen fühlt, die man nicht ablegen kann. Man kann die Haarfarbe vielleicht verändern, aber man ist Jude und wenn man deshalb beschimpft wird, dann spürt man, dass etwas Grundlegendes in diesem Land nicht funktioniert, nämlich das Grundgesetz, dass uns ja alle schützen soll.“

Zwar werde in Gelsenkirchen viel getan gegen Antisemitismus, besonders in und mit den Schulen. Dennoch sieht sie die Gefahr, dass die antisemitische Stimmung auf Dauer den Schrumpfungsprozess vieler jüdischer Gemeinden verstärken könne. „Wenn die Leute immer Angst haben, von Jugendlichen in der Schule beschimpft zu werden, kommt der Moment, wo man sich nicht mehr als Jude outet, wo man sich von seiner Religion entfernt.“ Aufgrund der demografischen Situation ist in vielen Gemeinden sowieso ein Mitgliederrückgang zu verzeichnen. Nur in großen Städten wie Frankfurt, München, Berlin, Düsseldorf und Köln ist das anders. „Aber Judentum ist eine Religion, die ortsnah gelebt werden muss“, sagt Neuwald-Tasbach. „Ich bin der Meinung, dass man die vielen kleinen Synagogen erhalten muss, um den Menschen vor Ort jüdische Betreuung, jüdisches Leben und jüdischen Spirit zu geben. Das ist ganz wichtig, dass sie hier eine Anlaufstelle haben, sozusagen ihre jüdische Familie, wo sie hingehen können. Das würde ich sehr befürworten, dass man das so lange wie möglich aufrechterhält.“

Es ist also noch viel zu tun, und Judith Neuwald-Tasbach möchte sich auch in Zukunft engagieren – aber ab 2023 nicht mehr als Gemeindevorsitzende.17 Sie wird nicht mehr für dieses Amt kandidieren. Zuvor hat sie jedoch noch eine wichtige strukturelle Veränderung in ihrer Gemeinde auf den Weg gebracht: der oder dem zukünftigen ehrenamtlichen Gemeindevorsitzenden wird endlich ein*e Geschäftsführer*in zur Seite gestellt.

Die 22 Jahre Engagement für die Gemeinde kamen Judith Neuwald-Tasbach in der Rückschau wie 44 vor – eine extrem intensive Zeit, die sie nicht missen möchte. Die Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen, aber auch die Gelsenkirchener Stadtgesellschaft hat ihr sehr viel zu verdanken.18

Stefan Nies

Orte:

Synagoge Gelsenkirchen, Georgstr. 2, 45879 Gelsenkirchen

 

Literatur:

Ahrens, Jehoschua: Orthodoxes Judentum in Deutschland, Beitrag auf Website der Bundeszentrale für politische Bildung, 11.05.2021 https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/juedischesleben/329224/orthodoxes-judentum-in-deutschland/, Abruf 21.11.2022
Dritter Bericht der Antisemitismusbeauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen, Fakten, Projekte, Perspektiven, Berichtszeitraum Januar bis Dezember 2021, [Düsseldorf 2022], online: https://www.land.nrw/media/27883/download, Abruf 11.11.2022.
Goch, Stefan, Jüdisches Leben – Verfolgung, Mord, Überleben. Ehemalige jüdische Bürgerinnen und Bürger Gelsenkirchens erinnern sich, Essen 2004.
Nies, Stefan, Die Neue Synagoge und das Gemeindeleben bis zur Gegenwart, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust: Die jüdische Gemeinde Gelsenkirchen nach 1945, Essen 2021 (Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte – Materialien, 13), S. 126–151.
Nies, Stefan, Neubelebung des Judentums ab 1990, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust, S. 107–125.
Nies, Stefan, Juden und Jüdinnen in Gelsenkirchen nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust, S. 49–55.
Nies, Stefan, Der Neubeginn der jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust, S. 71–80.
Nies, Stefan, Auf gepackten Koffern? Jüdischer Alltag bis 1989/90, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust, S. 81–85.
Sobotka, Heide, Kurt Neuwald – Auf immer Vorbild. Erinnerungen zum hundertsten Geburtstag von Kurt Neuwald, in: Jüdische Allgemeine, 23. November 2006.

Zitation: Nies, Stefan, Judith Neuwald-Tasbach, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/judith-neuwald-tasbach/

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Johanna (Ruth) Eichmann

„Mischehe“, „Schutztaufe“, „Zwangsarbeit“ – diese Begriffe deuten einen dramatischen und wechselreichen Kontext bereits an, in dem sich das Leben der in Recklinghausen aufgewachsenen Ruth Eichmann abspielte. Und wenn noch die biografischen Stichworte Ordens-Oberin, Schulreformerin und Geschichtswerkstatt hinzutreten, wird es erst recht spannungsreich.

Ruth Eichmann wurde am 24. Februar 1926 in Münster geboren und wuchs in einer jüdisch geprägten mittelständischen Mehrgenerationen-Familie in Recklinghausen auf. Eine als Köchin gerühmte dominante Großmutter, ein patriotischer Großvater, eine der jüdischen Gemeinde sehr verbundene Mutter und ein katholischer Vater, der in einem Marler Möbelgeschäft arbeitete, bildeten die behütende Umgebung, die recht bald durch die Diskriminierungen der frühen NS-Zeit in Frage gestellt wurde. Ab 1932 besuchte sie, weil der Familie die lokale jüdische „Zwergschule“ nicht ausreichend erschien, eine katholische Volksschule. Als der städtische Schulträger im September 1933 die jüdischen Kinder aus den allgemeinen Schulen verwies, wurde beschlossen, das Kind taufen zu lassen – mit der katholischen Lehrerin als Patin, die wohl sehr besorgt war um die angemessene christliche Erziehung in einer so jüdischen Umgebung. Bezeichnenderweise wurde diese Zeremonie nichtöffentlich in der Sakristei der St. Petruskirche abgehalten.

Doch blieb und steigerte sich für Ruth unter den sich verschärfenden Bedingungen die Position einer Außenseiterin – „ich habe ungeheure Ängste gehabt“, bekannte sie 2004 in einem Interview.1 Was die Großeltern „Risches“ nannten, nahm merklich zu – mit antisemitischen Ausgrenzungen, Schmähungen, Pöbeleien der anderen Schüler*innen, den SA-Horden und ihren blutrünstigen Liedern auf den Straßen. Zwar gaben die „Schutztaufe“ und der ehedem als „Goi“ nicht ganz willkommene Vater nun, erst recht nach dem Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze 1935, der Familie einen unerwarteten Schutz. Aber das Gerücht von einer Schule, in der es anders zugehe, brachte die 10-Jährige auf die Idee, in das „Pensionat“ genannte Internat des Ursulinen-Ordens im benachbarten Dorsten zu wechseln; dessen Oberin genehmigte den Übertritt zu Ostern 1936.

Schonraum Kloster-Internat
„Das Leben im Pensionat war streng reguliert, aber es war angstfrei“ und „Endlich war ich wieder Kind unter Kindern“, erinnerte sich Ruth/Johanna Eichmann in ihren Memoiren.2 Die offene Atmosphäre, die sie dort empfand, verband sich bald auch mit diskreten Hinweisen der Lehrerinnen, dass ihre jüdische Herkunft kein Makel und kein Grund zur Scham sei. Die Klöster und ihre Einrichtungen gerieten zwar immer mehr unter den Druck nationalsozialistischer Schikanen, doch in Dorsten wurden weiterhin mehrere jüdische Kinder beschult. Dass unter den Dorstener Ursulinen hochgebildete und weitsichtige Frauen, wie z. B. die mit der Philosophin Edith Stein befreundete Oberin Petra Brüning, tonangebend waren, wird zu dieser klugen Resistenz beigetragen haben.

Die Ereignisse rund um den 9. November 1938 signalisierten sowohl ihrer Familie als auch den Schüler*innen in Dorsten, dass die schon lange verkündeten Nazi-Gewaltakte näher rückten. Die Wege ihrer Verwandten – etwa des Großvaters, ab Anfang 1939 im belgischen Exil und später deportiert und ermordet – müssen hier ausgeklammert werden.3 Doch auch der Schonraum von Kloster und Ursulinenschule schwand; die schon ab 1939 geplante Verstaatlichung der Schule wurde im Sommer 1941 mit Verspätung realisiert, eine „Nazisse“ als Leiterin installiert. Die schwierige Frage, ob eine „halbjüdische“ Schülerin jetzt noch haltbar sei, wurde zunächst vertagt durch einige Monate Landeinsatz bei ostwestfälischen Bauern. Doch im Herbst 1942 erfolgte der Schulverweis und warf die Frage nach Alternativen auf. Ohne klare Pläne absolvierte Ruth Eichmann dann an einer privaten Sprachenschule in Essen (dort wurde nicht nach dem „Ariernachweis“ gefragt) eine neunmonatige Dolmetscherausbildung in Französisch und nahm in der Essener Verwandtschaft auch die damals schon recht deutlichen Nachrichten über Deportationen „nach Osten“ wahr. Sie begab sich arbeitssuchend, eher zufällig einer Freundin folgend, nach Berlin.

Berliner Chaos 1943–1945
Die dortige Deutsche Arbeitsfront (DAF) sah sich für die Arbeitsvermittlung von „Nichtarierinnen“ nicht zuständig, Im „Commissariat général pour les travailleurs français en Allemagne“,4 einer der Pétain-Vichy-Regierung (und der DAF) verbundenen Agentur in der Nähe des Alexanderplatzes, die Zwangs- und Zivilarbeiter*innen betreute, wurde sie jedoch ab Dezember 1943 angestellt; hier ging es um Sozialbetreuung und Kontakte der nach Deutschland Verschleppten zu ihren Familien. In einem von Nonnen geleiteten Wohnheim fand sie Unterkunft und tauchte zugleich ein in die unübersichtliche, bereits von Bombardierungen und partiellem Kontrollverlust gekennzeichnete Großstadt, schloss Freundschaften mit anderen Marginalisierten wie z. B. ukrainischen Zwangsarbeiterinnen, sah lesbische Freundschaften in ihrem Wohnheim, machte ergreifende Theatererfahrungen. Auch ein Berlin-Besuch ihrer Mutter war im Sommer 1944 noch möglich. Doch im September dieses Jahres zerbrach der Schutz der „privilegierten Mischehe“: Martha Eichmann wurde in ein Lager der Organisation Todt in Nordhessen verschleppt und nach der Tochter wurde gesucht. Und auch die Arbeitsstelle beim Commissariat wurde gekündigt – nun waren auch dort „Halbjuden“ nicht mehr tragbar. Einige Wochen lang erprobte Ruth Eichmann das gefährliche „Untertauchen“, aber ihre Netzwerke waren zu labil und sie wollte ihre Freundinnen nicht weiter gefährden. Dann schickte die Deutsche Arbeitsfront sie zwangsverpflichtet in eine Tischlerei in Berlin-Weißensee, wo sie Hilfs- und Büroarbeit leistete. Ein Bunker in der Albrechtstraße, nahe der Weidendammer Brücke, war dann ihr gespenstisch-surrealer Aufenthaltsort der letzten Kriegstage im April 1945, wo sie auch die hysterischen Reaktionen von Nazifrauen auf den Tod Hitlers studieren konnte. Es gelang ihr nach der sowjetischen Eroberung Restberlins, sich zu ihren ukrainischen Freundinnen durchzuschlagen, die über ihre Beziehungen zur Künstler*innen-Bohème um Marianne Hoppe eine Villa in Halensee nutzen konnten.

„Heim“-Weg?
Als Verfolgte konnte Ruth Eichmann einen Passierschein zum Verlassen Berlins erlangen und auf verschlungenen Wegen – über Jüterbog, Leipzig, Erfurt und Bebra – bewegte sie sich nach Westen bis nach Recklinghausen. Nachbarn halfen ihr, die dort empfangene Nachricht zu verarbeiten, dass ein Paul Eichmann nun (von den Amerikanern ernannter) „Oberbürgermeister von Marl“ sei, und da in den letzten Kriegswochen auch Ruths Mutter aus der Zwangsarbeit befreit worden war, erlebte sie die Wiedervereinigung der Familie in Marl.

Was tun mit der abgebrochenen Schulausbildung? Weil die Neubelebung der Dorstener Ursulinenschule sich zu lange hinzog, besuchte sie einen sogenannten Förderkurs an einer Recklinghäuser Oberschule und legte im Oktober 1946 ihre Abiturprüfung ab. Übrigens nicht ohne Widerstände: die auf ihrem bisherigen Weg recht selbstbewusst gewordene junge Frau eckte bei den Lehrer*innen durchaus, auch politisch, an. Auf dem Zeugnis fand sich die Notiz „Ruth Eichmann will Journalistin werden.“

„ich vagabundierte…“
Schon zum Wintersemester desselben Jahres schrieb sie sich für die Fächer Publizistik und Romanistik an der Universität Münster ein und „vagabundierte durch verschiedene Fakultäten auf der Suche nach einem Faszinosum“, wie sie rückblickend vermerkte. So etwas fand sie dann eher bei den Philosophen und Germanisten, z. B. bei den Professoren Joachim Ritter und Benno von Wiese.5 1948 konnte sie ein Stipendium für ein Studienjahr in Toulouse/Frankreich erhalten; sie schaffte es auch, ungeachtet der eben erst beendeten Kriegs- und Besatzungserfahrungen, bei einer französischen Familie unterzukommen. Eine notdürftig möblierte und geheizte Garage wurde ihr asketisches Zuhause für dieses Jahr voll neuer Erfahrungen und Eindrücke in Frankreichs Süden. Ihr Staatsexamen legte sie dann Anfang 1952 in Münster ab.

„den Nonnenhut!“
Als sei es das Selbstverständlichste, verkündete Ruth Eichmann in diesem Frühjahr 1952 ihren Willen, dem Orden der Ursulinen in Dorsten beizutreten. Es war für ihre Eltern eine schockierende Wende, weil dies angesichts der damaligen Ordensregeln eine radikale Reduktion von Kontakten bedeutete; und auch andere Wegbegleiter*innen wunderten sich, dass sie nicht eher eine Promotion anstrebte. Attraktive Lockrufe ihrer nach Brasilien geretteten Verwandten konnten an dieser Entschlossenheit nichts ändern. Ihre Motive für diese Entscheidung waren wohl eine enorme Dankbarkeit gegenüber der Gemeinschaft der Ursulinen, aber auch die erfahrungsgesättigte Aussicht, an diesem Ort ihre jüdisch-christliche „Zwischenidentität“ entwickeln und leben zu können.6

Der Orden – damals noch charakterisiert durch eine Hierarchie von „Laienschwestern“ und „Chorschwestern“ – nahm sie am 1. November 1952 auf und verlieh ihr den neuen Namen „Schwester Johanna“. Abgesehen davon, dass die junge Frau diesen Schritt als Rückkehr in eine klare Zugehörigkeit empfand, glitt sie schnell in neue Rollen hinein, indem sie an den beiden vom Orden getragenen Schulen (Gymnasium und Realschule) Unterricht erteilte und pädagogische Aufgaben außerhalb des Unterrichts übernahm. Übrigens war sie zu diesem Zeitpunkt nicht die einzige „Exotin“ im 60-köpfigen Konvent, war doch bereits zwei Jahre zuvor die Künstlerin Tisa von der Schulenburg nach einem weltläufigen Bohème-Leben und zwei Ehen hier als Kunsterzieherin Schwester Paula eingezogen.

Seit Mitte der 1950er-Jahre und verstärkt mit dem II. Vatikanischen Konzil (1962–1965) wurden der Katholizismus und auch die Ordensgemeinschaft der Ursulinen von großen Modernisierungswellen durchgeschüttelt – in der Sprache des Vatikans ein „aggiornamento“. Die Neuerungen – weniger Hierarchie, mehr Hinwendung zur „Welt“, Reform der anachronistischen Ordenskleidung, Abschaffung der „Klassengesellschaft“ von dienenden und lehrenden Schwestern – wurden in Dorsten und auch von Schwester Johanna bejaht, ja als Rückkehr zu den eigentlichen Intentionen dieses Ordens angesehen, die mit der bisherigen nicht nur räumlichen, sondern auch „geistigen Klausur“ unvereinbar schienen. Die ursprünglich innerweltliche Laiengemeinschaft habe sich von kirchlichen Mächten wie dem Jesuitenorden zu Lebensformen drängen lassen, die die ursulinischen Gründungsabsichten – u. a. die einer umfassenden Mädchenbildung und einer Synthese von Aktion und Kontemplation – einschränkten.7 Die damalige Dorstener Oberin, die bald zur engen Freundin von Johanna Eichmann wurde, konnte als Beraterin am Konzil in Rom teilnehmen und die öffnenden Entwicklungen vorantreiben. Übrigens wagte dieses Konzil auch erste vorsichtige Revisionen der traditionellen katholischen Judenfeindschaft.8

Schule als Lebensaufgabe
Im Frühjahr 1964, als die Ordensschwestern noch entscheidend den Unterricht prägten, wurde die damals 38-Jährige überraschend zur Leiterin des Gymnasiums bestimmt. Sie fügte sich dem erwarteten Gehorsam, sollte jedoch bald unerwartete Schussfolgerungen ziehen, die zum zunächst abwertend gemeinten, später aber von ihr als Ehrentitel verstandenen Etikett „rote Johanna“ führten. Diese Etikettierung ist nur aus den bildungspolitisch überhitzten 1960er- und 1970er-Jahren zu verstehen – eigentlich ging es hier lediglich um pädagogische Neuerungen, die in der Luft lagen und wenige Jahre später quasi zum schulischen Allgemeingut wurden. Die insgesamt nicht erst seit 1968 in Bewegung geratende Gesellschaft ließ die Rufe nach Schulreformen allmählich lauter werden. Und die neue Direktorin, damals möglicherweise die jüngste Schulleiterin in ganz Nordrhein-Westfalen, wagte probierende Reformen: Dazu gehörten die Auflösung der Klassenverbände in der Oberstufe, eine partiell freie Fächerwahl und viele Arbeitsgemeinschaften, mehr Schülermitbestimmung, Förderung des Übergangs von der Realschule zum Gymnasium. Der Status der „Privatschule“ machte es möglich, mit solchen Experimenten lange vor den allgemeinen Schul- und Oberstufenreformen Ernst zu machen. Die im konservativ-katholischen Bürgertum der Stadt sehr umstrittene Öffnung der Mädchenschule für Jungen war ein weiterer revolutionärer Schritt.9 Auch in diesen Fragen dürfte Johanna Eichmanns immer wieder durchgearbeitete Rückbesinnung auf die autonomen Intentionen der Ordens-Gründungszeit beflügelnd gewirkt haben: „Ursulinen erziehen anders!“10

„Ich habe nie aufgehört, Jüdin zu sein“
Schon seit Mitte der 1960er-Jahre befasste sich Johanna Eichmann mit dem jüdisch-christlichen Dialog, auch inspiriert durch die päpstliche Enzyklika „Nostra aetate“ von 1965. Debatten mit Rabbiner Robert Raphael Geis, Tagungskontakte und eine erste Studienreise nach Oświęcim/Auschwitz, wo im August 1943 ihr geliebter Großvater ermordet worden war, waren erste Stationen eines von ihr als „Rückkehr zu den Wurzeln“ bezeichneten Weges. 1983, mit einer Ausstellung der ein Jahr zuvor gestarteten Geschichtswerkstatt „Dorsten unterm Hakenkreuz“, erfuhr sie den Anstoß zu einer intensiveren Auseinandersetzung. Sie wurde aktives Mitglied dieser kleinen, zunächst sehr misstrauisch beäugten Gruppe, die insgesamt fünf Bände zur jüdischen Lokalgeschichte der Nazizeit sowie zur lokalen Vor- und Nachkriegszeit publizierte. Der Beitritt der strengen Schulleiterin und hochgeachteten „Honoratiorin“ dürfte damals erheblich zum Abbau von Vorurteilen gegen die „Nestbeschmutzer*innen“ beigetragen haben. Und für sie wurde dieser Arbeits- und Freundeskreis zum Rahmen einer langen Selbstbesinnung, die ab 1988 auch ganz demonstrativ, in Zeitungsinterviews etc., eine Präsentation ihrer Doppel-Identität erlaubte.

Weitere Forschungen, Vorträge und Wanderausstellungen, Kontakte zu jüdischen Überlebenden in Israel und den USA führten in diesem Kreis zum nächsten Projekt: der Idee nämlich, ein kleines Dokumentationszentrum zur jüdischen Lokalgeschichte zu errichten. Bis zur Eröffnung und Etablierung des Jüdischen Museums Westfalen dauerte es dann noch einige Jahre, doch der 1987 gegründete Verein erfuhr nun so viel Unterstützung aus Lokal-, Regional- und Landespolitik sowie der Wissenschaft, dass 1991/92 ein Gebäude aus den 1890er-Jahren renoviert und im Juni 1992 eröffnet werden konnte. Die 1991 pensionierte Schulleiterin Johanna Eichmann übernahm die ehrenamtliche Museumsleitung und übte dieses Amt – gestützt von einem großen Team Freiwilliger – 14 Jahre lang aus. Dies war nicht nur eine dekorative Rolle – vielmehr leitete sie das gesamte Veranstaltungsprogramm, arbeitete am Lobbying und der Vernetzung der neuen Institution so erfolgreich, dass schon vor ihrem Ausscheiden eine allmähliche, aber deutliche Professionalisierung und Qualifizierung möglich wurde. Sichtbarstes Zeichen dieser Weiterentwicklung war ein 2001 eröffneter Neubau, in dem eine von Johanna Eichmann mitkonzipierte neue Dauerausstellung Platz fand, die endlich auch den anfangs etwas kühnen Anspruch erfüllte, die jüdische Geschichte Westfalens zu präsentieren. Die Funktion dieses Hauses, den während der Naziherrschaft in alle Welt Vertriebenen und ihren Familien einen Anknüpfungspunkt zum neuen Deutschland zu geben, war ihr überaus wichtig. Doch trotz dieser unbezweifelbaren Bezüge blieb ihr programmatisches Motto, wie sie 2003 in der Museumszeitung schrieb: „Im Blick von heute hat die Phase der Zerstörung jedoch nicht das letzte Wort.“

Themen ihrer publizistischen und Bildungsaktivitäten blieben der jüdisch-christliche Dialog, aber ebenso die Rolle jüdischer Frauen, die NS-Politik gegenüber den „Mischehen“, die Historie und die Wandlungen jüdischer Traditionen und Rituale. Als Zeitzeugin konnte sie nun ihre Familiengeschichte in Schulen, Volkshochschulen, Akademien, aber auch in muslimischen Gemeinden der Region vorstellen.

Frauen: Autonomie und Macht
Es ist unübersehbar, dass Johanna Eichmanns seit den 1980er-Jahren geführte Auseinandersetzungen mit den jüdischen Traditionen auch ein Ringen um die eigene Identität bedeutete. Weibliche Autonomie war dabei eines ihrer subkutanen Themen – nicht nur in der Wiederentdeckung ursulinischer Freiheiten in der Ordenstradition oder in der weiblich dominierten Museums-Gründungsgruppe, sondern auch im Judentum. So äußerte sie in einem Aufsatz 1996:
„Man wird der Stellung der Frau im traditionellen Judentum nur gerecht, wenn man sich die Hochachtung vor Augen hält, die ihr als Ehefrau und Mutter erwiesen wird. Gegenüber dem Mann als ‚Kult- und Kulturträger‘ mag sie zwar nach außen hin als Unter- bzw. Nachgeordnete erscheinen, tatsächlich ist aber sie die ‚Erschafferin, Gestalterin und Hüterin des jüdischen Heimes‘. Sie ist dessen Mittelpunkt schlechthin. Das Zentrum des jüdischen Lebens ist ja nicht die Synagoge, in der die Männer in der Regel das Sagen haben; das Zentrum des jüdischen Lebens ist das jüdische Haus, in dem die Frau das Sagen hat. Sie bestimmt die geistige Richtung der Familie, von ihr lernen die Kinder die ‚primären Prinzipien des Judentums‘; von ihr hängt es ab, ob das Haus ein jüdisches Zuhause ist, ob Jüdischkeit das Leben in der Familie prägt.“ 11

Solch zurückgewonnenes jüdisches Selbstbewusstsein, das im oft von Johanna Eichmann zitierten Titelmotto „Unser Rüthchen bleibt ein Jüdchen“, einem Ausspruch ihrer Großmutter, deutlich wird, machte es auch möglich, dass sie einzelnen jungen Frauen aus der Gruppe der „Kontingentflüchtlinge“ in den 1990er-Jahren informellen jüdischen Religionsunterricht erteilte.
Parallel dazu – von 1995 bis 2007 – bekleidete sie das Amt der Oberin des Dorstener Ursulinenkonvents. Viele Auszeichnungen – darunter die Ehrenbürgerschaften der Stadt Dorsten und des Vestischen Kreises Recklinghausen – erreichten sie. Besonders erfreut war sie über die Verleihung der Dr. Ruer-Medaille der Jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen, weil sie sich damit auch von jüdischer Seite „angenommen“ sah.
Johanna Eichmann verstarb am 23. Dezember 2019 in Dorsten; die Stadtgesellschaft bereitete ihr einen würdigen Abschied an ihren wichtigsten Wirkungsstätten Kloster, Ursulinenschule und Museum. Die Bildungs-Initiative „Zweitzeugen“12 bemüht sich um die anhaltende Vermittlung ihrer Lebenserfahrungen.

Dr. Norbert Reichling
Transparenz-Hinweis: Der Autor arbeitete 10 Jahre lang mit Johanna Eichmann im Trägervereins-Vorstand des Jüdischen Museums Westfalen zusammen.

Orte:

Ursulinenkloster und Gymnasium St. Ursula, Ursula-Str. 8-12, 46282 Dorsten
Jüdisches Museum Westfalen, Julius Ambrunn-Str. 1, 46282 Dorsten

Zitation: Reichling, Norbert, Johanna (Ruth) Eichmann, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/johanna-ruth-eichmann-1926-2019/

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Hajra Dorow

Erinnerungen an ihre Kindheit in Kakanj1 in Bosnien-Herzegowina zaubern Hajra Dorow ein Lächeln ins Gesicht. Sie schwärmt vom Leben in einer Nachbarschaft mit vielen Kindern, in denen das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und verschiedener Religionen eine Selbstverständlichkeit war.

Um dies zu beschreiben, greift die 57-Jährige an ihrem Küchentisch in Bottrop zu Stift und Papier. Damit zeichnet sie „ihre“ Etage des Hauses, in dem sie aufgewachsen ist: Ein Quadrat mit einer Treppe an einer der Querseiten. Rechts der Treppe wohnte eine serbische, orthodoxe Familie mit zwei Kindern, daneben ein katholisches Paar aus Slowenien. In der nächsten Wohnung wuchs sie mit ihrem Bruder und der Mutter auf, der muslimischen Religion angehörend, aber atheistisch erzogen. Links der Treppe schließlich lebte eine Familie aus Österreich, die katholisch war.2

Multikulturelle Hausgemeinschaften

„In jeder der vier Etagen unseres Hauses gab es so eine Mischung. Ob es tiefreligiöse Orthodoxe waren oder genauso strenggläubige Katholiken; Moslems, die ihre eigenen Feste feierten – die Türen waren alle immer offen. Ich meine, nicht nur nicht abgeschlossen, sondern sie standen wirklich offen! Wenn ich etwas wollte, bin ich einfach direkt zu Tetta Elizabetha oder Tetta Rosalia in die Wohnung gelaufen“, erzählt Hajra Dorow. In drei baugleichen Häusern wohnten rund 60 Kinder, die zusammen spielten und zwischen deren Eltern ebenfalls Freundschaften bestanden. „Wenn Orthodoxe einen Feiertag hatten, gab es immer Spanferkel. Das habe ich geliebt, es war mein Lieblingsessen. Oder Griebenschmalz mit Zwiebeln und frischem Brot, auch sehr lecker!“, schwärmt Hajra und ihre Augen beginnen zu leuchten. „An unseren Feiertagen, zum Beispiel Ramadan, hat meine Mutter aus Tradition Kuchen gebacken, eine Tafel vorbereitet und die Leute zu uns eingeladen. So war das!“ Hajra legt den Stift aus der Hand und erzählt, diese Offenheit anderen Kulturen gegenüber habe sie geprägt. Eine Vielfalt, die sich auch in der Stadtgesellschaft von Kakanj widerspiegelte und die Daten aus der Volkszählung 1991 belegen: Von den 55.857 Menschen, waren 55 Prozent Muslime, 30 Prozent Kroaten, 9 Prozent Serben, 4 Prozent Jugowslawen und 2 Prozent „andere“. Der Stadtkern hatte damals 12 016 Einwohner.3 Im direkten Umfeld von Hajras Zuhause war diese Vielfalt deutlich sichtbar: Vor ihrer Haustür stand eine orthodoxe Kirche. 800 m weiter im Stadtkern lebten vor allem die kroatisch-katholischen Familien rund um ein altes Franziskanerkloster herum. Nur 200 m entfernt davon steht noch heute die älteste Holzmoschee in Bosnien. Während Hajras Kindheit wäre es jedenfalls unvorstellbar gewesen, dass die Nachbarn Jahre später zu Todfeinden werden könnten.

Beim Grubenunglück starb der Vater

Dieses gute Leben, an das Hajra sich so gerne erinnert, begann unter schwierigen Bedingungen: Sie wurde am 1. Juni 1965 als zweites Kind der Familie Alajbegović im Dorf Donji-Kakanj geboren, rund 50 km von der Hauptstadt Sarajevo entfernt. Nur wenige Tage später, am 7. Juni, ereignete sich in der Stadt Kakanj ein furchtbares Grubenunglück. Hajras Vater war einer der 128 Bergleute, die dabei ums Leben kamen. Nun lebte ihre Mutter mit ihrem zweieinhalbjährigen Sohn Almas und ihrer neugeborenen Tochter Hajra bei den Schwiegereltern, bis sie 1972 nach Kakanj zogen.
Nach der Bergbaukatastrophe hatte sich ein Verein gegründet, der die Witwen und mehr als 400 Kinder mit praktischen Hilfen und finanziell unterstützte. Hajras Mutter setzte sich hierbei aktiv für den Schutz der Witwen ein und begegnete auch hier Frauen aus verschiedenen Kulturen, denen sie ohne Ansehen ihrer Herkunft half. Für die Kinder ergab sich aus der finanziellen Unterstützung die Pflicht, Schule und Ausbildung zu absolvieren. Die Kosten für die Ausbildung wurden mit Erreichen eines Abschlusses annulliert. „Falls wir den nicht schafften, hätte unsere Mutter bezahlen müssen. Auch mit einer neuen Heirat hätte sie alle Ansprüche für sich und uns verloren. Sie blieb bis an ihr Lebensende Witwe“, zählt Hajra die Bedingungen und Konsequenzen der Unterstützung auf, die ihr eine gute Bildung ermöglichte. Nach der 8. Klasse wurden die Kinder aufgrund von IQ-Tests auf weiterführende Schulen, meist Internate, in ganz Bosnien-Herzegowina verteilt. Ihr Bruder lernte Elektrotechnik im 300 km entfernten Mostar und arbeitete später im dortigen Elektrizitätswerk. Da dies später auch kriegswichtig war, wurde er zum Glück nicht eingezogen. Er arbeitet noch heute dort. Hajra kam mit 15 Jahren in ein Internat in Sarajewo, machte eine Ausbildung zur Sekretärin und bekam eine gute Stelle als Chefsekretärin des Bergbaudirektors. In dieser glücklichen Zeit entwickelte sie sich auch zur erfolgreichen Sportschützin. Doch als sie 27 Jahre alt war, änderte sich mit dem Jugoslawienkrieg alles.

Nachbarn wurden zu Feinden

Im April 1992 begann der Bosnienkrieg mit der Belagerung der Hauptstadt durch die Jugoslawische Volksarmee und der serbischen Territorialverteidigung. Zuvor hatte die Europäische Gemeinschaft die Unabhängigkeit Bosniens und Herzegowinas anerkannt. Während große Teile der serbischen Bevölkerung in der jugoslawischen Föderation bleiben wollten und einen engen Verbund mit Serbien anstrebten, gab es insbesondere bei den Bosniaken den Wunsch, einen eigenen unabhängigen Staat zu bilden. Der Krieg sollte bis zum Dezember 1995 dauern, mehr als 100. 000 Tote fordern und über zwei Millionen Menschen in die Flucht treiben. Er reihte sich ein in mehrere Kriege, die den gewaltsamen Staatszerfall Jugoslawiens prägten und gilt als der grausamste Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.4 Innerhalb weniger Wochen veränderte sich der Alltag auch in Kakanj völlig. Bereits im Sommer 1992 litten die Menschen unter Hunger, gegenseitiger Verfolgung, Gewalt und Tod. „Die Propaganda gegen die jeweiligen Religionen war so stark, dass Nachbarn zu Feinden und Stadtgebiete aufgeteilt wurden. Die Mischung der Bevölkerung hatte ein Ende“, bedauert Hajra.

Ausgehend vom Stadtkern begann die Vertreibung der muslimischen Bevölkerung. Obwohl alle zuvor friedlich zusammengelebt hatten, zogen nun paramilitärische Organisationen durch die Straßen, bedrohten die Leute und töteten sie. Auch Hajra wurde von einem früheren Arbeitskollegen mit der Waffe bedroht, als sie ihm auf der Suche nach Lebensmitteln an einem Kontrollpunkt begegnete. Nur weil er sie erkannte, habe er sie nicht erschossen, vermutet Hajra.

Angst wirbelt durch ihren Kopf

Im Bergwerk gab es für sie nichts mehr zu tun. Deshalb schloss sie sich dem Roten Kreuz an, verteilte Lebensmittel und Bedarfsmaterial. In den Augen der Menschen begegnete ihr Angst, große Angst. Aus ihrem Wohnzimmerfenster sah sie ihre drei Cousins in den Krieg ziehen, erfuhr von furchtbaren Vergewaltigungen. Hajra entschied sich zur Flucht, in der Hoffnung, ihre Mutter und ihren Bruder nachholen zu können.

„Wenn ich an die Zeit zurückdenke, dann geht ein Wirbel durch meinen Kopf. Aus der Angst um mein Leben entwickelte sich die starke Triebkraft zu fliehen und mich zu retten. Umgekehrt hatte ich Angst, meine Mutter und meinen Bruder zu verlassen, nicht zu wissen, was aus ihnen wird. Und schließlich die Angst, allein loszugehen durch ein Kriegsgebiet. Ich bin in die totale Ungewissheit aufgebrochen“, beschreibt Hajra Dorow ihre Gefühle.

Am 27. Juli 1992 bestieg sie mit vielen anderen Frauen und Kindern einen organisierten Bus, in der Tasche einen Passagierschein mit der Erlaubnis, die Kampfgebiete zu durchqueren. Die Flucht ging Richtung Kroatien, doch das Land war nicht mehr offen für alle Flüchtlinge. Nur Christen hatten noch eine Chance, Muslime waren nicht mehr willkommen. Und so geriet Hajra an der Grenze zu Kroatien in eine gefährliche Situation. Muslime wurden aus dem Bus geworfen. Bis heute kann sie sich nicht erklären, weshalb sie und zwei weitere muslimische Frauen mit ihren Kindern im Bus bleiben durften.

Fliehen, aber wohin?

Dass Hajra entschied, nach Deutschland zu fliehen, lag an Verwandten und einer Freundin, die in Deutschland lebten und die sie früher bereits besucht hatte. „Ich empfand Deutschland immer als Wunderland, ein Land, in dem ich gerne leben würde. Die Sprache fand ich toll und hatte sie nach der Schule in einem Volkshochschulkurs auch schon ein wenig gelernt.“
Aber ihre Verwandten und Freunde konnten sie nicht aufnehmen. Nach einer lebensgefährlichen und abenteuerlichen Flucht landete Hajra schließlich in der zentralen Aufnahmestelle in Münster. „Ab da war mein Leben dem Zufall überlassen. Es war eine schwierige Situation, denn ich war schwer magenkrank und dadurch abgemagert. Natürlich kannte ich auch niemanden. Der erste Schock war, als ich erfuhr, dass in der vorherigen Nacht eine Frau vergewaltigt worden war, und dass man die Zimmertüren nicht verschließen konnte. In unserem Zimmer haben wir einen Stuhl unter die Türklinke geschoben“, erinnert sich Hajra.
Schließlich wurde Hajra nach Bottrop zugewiesen. Zusammen mit einer Familie aus dem Kosovo wurde sie vor dem Sozialamt abgesetzt und kam schließlich in einer Sammelunterkunft mit vielen Nationen an der Horster Straße unter. Dort lebte sie sozusagen in einer 1-Zimmer-Mädchen-WG mit zwei Frauen, eine aus dem Kosovo und eine aus der Türkei.

Sprachkenntnisse öffnen Türen

Ihre deutschen Sprachkenntnisse waren zu dieser Zeit noch rudimentär, aber sie öffneten Hajra viele Türen. Hajra bemühte sich, anderen Geflüchteten zu helfen und bei Behördenterminen zu übersetzen. So wurde sie immer häufiger von der Polizei als Dolmetscherin angefordert und bekam schließlich eine erste Stelle im Sozialamt für gemeinnützige Arbeit und 1,50 DM in der Stunde. „Es war eine herausfordernde Arbeit, der ich versuchte, mit meinem ,Indianerdeutsch‘ gerecht zu werden. Ich hatte auch Angst, ob ich richtig übersetze, aber letztendlich war es die beste Art, Deutsch zu lernen“, stellt Hajra im Rückblick fest.

Wie ehemaligen (?) Feinden begegnen?

Einmal wurde sie zu Beginn ihrer Zeit in Bottrop vom Sozialamt zur Registrierung einer Familie aus Bosnien bestellt. Bei der Aufnahme persönlicher Daten stellte sich heraus, der Mann stammte aus dem christlich geprägten Klosterviertel in Kakanj. In ihrer impulsiven Art zeigte Hajra ihre Freude, wieder jemanden aus der Heimat zu treffen: „Schön, dass Du da bist, ich komme auch aus Kakaj!“, begrüßte sie ihn. Der Mann fragte nach ihrem Namen und als er den muslimischen Frauennamen „Hajra“ hörte, zuckte er zurück, die Atmosphäre im Raum kühlte ab. „Da bin ich auf ihn zugegangen, habe gesagt: ,Hab keine Angst, ich bin neutral. Lass Dich nicht von meinem Namen beirren! Wir sind vielleicht zuhause verfeindet, aber alle, die hier sind, haben einen Grund zur Flucht gehabt. Wir sind jetzt aufeinander angewiesen, uns gegenseitig zu helfen. Ich will Dir helfen!‘“, berichtet Hajra.

Wie geht man mit Menschen aus dem verfeindeten Lager um, die man noch während des Krieges oder in den Jahren danach kennenlernt? Auch 27 Jahre nach Ende des Krieges ist es noch immer ein vorsichtiges Abchecken, wenn jemand seine bosnische Herkunft bekennt: Zu welchem Lager gehörst du? Wie gehen wir miteinander um? „Oft malt sich Vorsicht ins Gesicht, wenn jemand entdeckt, dass sein Gegenüber zur ehemals verfeindeten Gruppe gehört“, erzählt Hajra Dorow. Sie hat für sich eine Strategie entwickelt: „Ich gebe der Person eine Chance, damit ich erkennen kann, ob diese explizite Person gute Werte mit sich bringt. Es gibt Menschen, die schlechte Taten tun, die bereuen und sich wieder ändern.“

Auch in Deutschland nicht sicher?

Das Gefühl, in Sicherheit zu sein, verflog bereits ein Jahr später im Juni 1993. Die Bottroper Polizei warnte, man habe verdächtige Bewegungen vor ihrer Flüchtlingsunterkunft beobachtet. Dies war kurze Zeit nach dem rechtsextremistischen Mordanschlag auf das Haus der türkischen Familie Genç in Solingen, bei der fünf Personen ums Leben kamen. „Da haben wir Flüchtlinge mit dem Trauma leben müssen, auch in Deutschland zu Opfer werden zu können. Das war ungeheuerlich für mich. Ich entschied, nach Bosnien zurückzukehren, wollte lieber im Krieg sterben, als hier ein ,No-Name-Opfer‘ von Rechtsradikalen zu werden“, schildert die Bosnierin ihre damalige Einstellung. Bis dahin hatte sie noch keinen Kontakt zu ihrer Familie gehabt, wusste nicht, ob ihre Mutter und ihr Bruder noch leben, denn Bosnien war von der Welt abgeschnitten. Als es im Juli 1993 humanitären Organisationen gelang, Telefonverbindungen herzustellen, konnte sie ihrer Mutter ein Jahr nach der Flucht endlich ein Lebenszeichen geben.

Bei der geplanten Rückreise sollte ihr Uwe Dorow helfen, ein Kollege aus der Volkshochschule, in dessen Büro sie zwischenzeitlich arbeitete. Doch eine Rückkehr nach Bosnien war wegen des Krieges nicht möglich, Asyl in Deutschland aber auch nicht leicht zu erreichen. Der Antrag wurde abgelehnt, eine Klage dagegen führte zu einer Duldung. Da hatte sie sich längst in Uwe verliebt. Mit ihm gründete sie später eine Familie. 1996 kam ihr Sohn und 1998 ihre Tochter zur Welt.

Hajra beschreibt sich als eine Macherin, als Anpackerin. Ihr Schulabschluss wurde auf den Realschulabschluss herabgestuft, ihre Ausbildung zur Sekretärin nicht anerkannt. Aber sie biss sich durch, machte sich einen Namen als versierte und zuverlässige Frau. Man bot ihr immer neue Herausforderungen an. Nach der Erziehungszeit arbeitete sie viele Jahre in der Bildungs- und Teilhabebetreuung der AWO und heute in der Offenen-Ganztagsbetreuung der Fichteschule.

Besuche in Bosnien

Die Sommerurlaube bis zur Corona-Pandemie verbrachte die Familie Dorow in Hajras Heimat. Nach ihrer Heirat im Frühjahr 1996 reisten Uwe und Hajra zum ersten Mal nach dem Krieg dorthin. Bei der Erinnerung daran wird Hajras Stimme ganz leise: „Es war ein Schock, die Kriegsschäden zu sehen, die Gräber, zu erfahren, wer nicht mehr da ist, wer geflohen ist.“ Über die Jahre pflegt Hajra den Kontakt zu ihren Angehörigen in Bosnien. Die räumliche Trennung und die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in den beiden Ländern sind für die familiären Beziehungen allerdings manchmal eine Herausforderung. Diese Erfahrung teilt sie wohl mit den meisten Menschen, die über Länder- und Kulturgrenzen hinweg migrieren. Besonders bitter war für Hajra, dass sie nicht bei ihrer geliebten Mutter sein konnte, als diese nach einer Infektion mit dem Coronavirus starb.

Geprägt durch Flucht und Neubeginn

Sie empfindet eine starke Prägung durch die Flucht und den erzwungenen Neubeginn in Deutschland. Daher gibt es Werte, die sie selbst vermitteln möchte. „Menschen, die Leid, Krieg oder einen anderen Schicksalsschlag erlitten haben, wissen viele Dinge zu relativieren. Sie haben eine ganz andere Wertschätzung für das Leben und für die Freiheit, so zu leben, wie man möchte. Sie ist für mich das Größte, was man haben kann. Dies Menschen zu vermitteln, denen noch nie die Freiheit entzogen wurde, ist sehr schwierig. Dabei erweitert das freiheitliche, multikulturelle Zusammenleben den Horizont. Man geht ganz anders miteinander um. Für mich ist die multikulturelle Gesellschaft etwas Wunderschönes,“ fasst Hajra ihre Grundanschauung zusammen.

Politisches Engagement für die Integration

So ist es wohl folgerichtig, dass die Bosnierin mit dieser Einstellung in der Kommunalpolitik aktiv ist. Als Vertreterin der SPD sitzt sie im Stadtrat und wurde vor zwei Jahren zur Vorsitzenden des Integrationsausschusses gewählt. Sie arbeitete mit daran, dass sich die Stadt Bottrop zum „Sicheren Hafen“ für Geflüchtete erklärt und unterstützt die Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine. Ihr Zielt ist, dass in den Bereich Kultur, Bildung und in der Stadtverwaltung Strukturen bestehen, in denen internationale Herkunftsgeschichten nicht im Vordergrund stehen. Sie beschreibt es als mühsamen Weg, Völkerhass und Ausgrenzung zwischen den Kulturen zu überwinden, nicht nach „Ihr“ und „Wir“ zu trennen. „Viele Probleme entstehen durch Vorurteile. Und diese basieren meistens auf Angst. Wir Menschen mit Migrationshistorie leben immer unter dem Druck, uns zu beweisen, zu signalisieren, dass wir keine negativen Leute sind. Ich möchte, dass wir das Beste versuchen, um friedlich miteinander in Bottrop zu leben!“, ist Hajra Dorow politisches Statement.5

Gerburgis Sommer / Angekommen in Recklinghausen/Gelsenkirchen/Bottrop – Migrationsgeschichten aus vier Generationen

Orte:

Donji-Kakanj// Kakanj // Münster // Bottrop

Zitation: Sommer, Gerburgis , Hajra Dorow, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/hajra-dorow/

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Aufmüpfige Frauen in Schwerte

An einem Sonntag im Juli 1816 – die Quelle gibt kein genaues Datum an – versammelten sich in Schwerte vor dem Ostentor mehr als 100 „Weiber“, um ihre Kühe in den Kämmereiwald zu treiben, der in Schonung gelegt war. Im Juli 1816 wurde Schwerte von einem wahrlichen Frauen-Aufstand heimgesucht. In dem beschaulichen Städtchen im mittleren Ruhrtal lebten zu diesem Zeitpunkt 1.550 Menschen.1

Aktenkundig geworden sind von diesen aufmüpfigen Frauen Anna Catharina Rösener, Anna Maria Glaser und Anna Maria Sauerland.2Die Frauen starteten ihre Zusammenrottung am Sonntag, an welchem Ruhe und Stille zu herrschen hatte. Sie entheiligten den Sonntag durch „wildes Geschrei und ungehörige Äußerungen“. 3 Am nächsten Tag wiederholte sich das Schauspiel noch einmal und Bürgermeister Mitsdörffer (1849-1858) hielt fest: „Wer das wilde Geschrei gehört und das Durcheinanderlaufen der Weiber gesehen, konnte nicht anderes glauben, als sähe er eine Rotte Menschen aus dem rohesten Welttheile“.4 Bürgermeister Mitsdörffer stellte mit dieser Formulierung vom „rohesten Welttheile“ die Schwerter Frauen außerhalb mitteleuropäischer Zivilisation, schloss sie aus seiner Stadtgesellschaft aus und machte sie wahrlich zu Fremden. 5

Allmendewirtschaft

Seit Jahrhunderten hatten die in einzelnen Nachbarschaften organisierten Bürger diverse Nutzungrechte und bestimmte Hegepflichten in Bezug auf den Kämmereiwald: Er diente zur Schweinemast mit Eicheln und Bucheckern im Herbst, lieferte Holz  und Laub für den Brennstoffbedarf, Holz für den Hausbau oder die Renovierung. 6 Der Rechtsbegriff für dieses Gemeingut lautete Allmende. Diesem alten Rechtebegriff ist die Gemeinschaft freier Männer und ihre gemeinsame Verfügung über Wald und Wiesen bereits eingeschrieben. 7 Die Allmende ist als neudeutscher Begriff Common aktuell wieder in der Diskussion.8 Wegen des hohen Gemeinnutzes schützte die lokale Obrigkeit den Wald. Die Nutzung von Allmenden war seit langem genauestens geregelt. Im Rahmen nachhaltiger Waldbewirtschaftung wurden immer wieder bestimmte Abschnitte für Vieh gesperrt und aufgeforstet. Der Ordnung halber sei angemerkt, dass die Vorsitzenden der Nachbarschaften – in Schwerte nannten sie sich Schichtmeister und bildeten ein reines Männergremium, weil Frauen nicht in diese Funktion gewählt werden konnten  – einer Abtretung der Weiderechte am Wald 1814 zugestimmt hatten und seit 1816 der Staat Preußen die Forstaufsicht führte. 9 So war im gleichen Jahr der junge Eichenwald in Schwerte für das Vieh gesperrt worden.

Gegen diese Sperrung verstießen nun die mehr als 100 Schwerter Frauen, als sie sich vor dem Ostentor trafen, um ihre Kühe in den Wald zu treiben. Das Ostentor war das größte und bedeutendste Tor der Stadt, alle Bewegungen in Richtung Dortmund, Unna und den östlichen Hellwegraum mussten dieses Tor passieren. Zu vermuten ist, dass die Frauen mit ihrer Blockade auch ihren Protest gegen die Entscheidung der Schichtmeister hinsichtlich der Abtretung der Rechte auf die Waldweide kundtaten.

Das Jahr ohne Sommer

Doch handelten die Frauen aus Verzweiflung. Im Jahre 1816 herrschte – nicht nur – in Westfalen eine unglaubliche Hungersnot und Teuerungskrise. Die Chronik von Schwerte-Westhofen berichtet von einer großen Nässe, wodurch die Aussaat erstickte, die Kartoffeln verfaulten, das Heu verdarb und das Vieh krepierte. 101816 führten schwere Regen und Hagelschauer zu Überflutungen. Das nasse Klima vernichtete auch das in den Gärten angebauten Sommer- und Wintergemüse, das eine wichtige Nahrungsquelle in städtischen Gebieten darstellte. Schlacht- und Milchvieh litt unter dem Mangel an Futter und war in schlechtem Zustand. Ausreichende Vorräte konnten wegen der bereits kärglich ausgefallenen Ernten 1814/1815 nicht angelegt werden. Die besonderen Belastungen durch die Befreiungskriege von 1813 bis 1815, mit denen die französische Vorherrschaft unter Napoleon Bonaparte in Europa beendet wurde, hatten die Lage noch verschärft.11 Abziehende französische Truppen zogen seit 1813 auch an Schwerte vorbei, die Stadt musste Einquartierungen und Vorspanndienste leisten. „Die Menschen begegnen ihrem Schicksal nicht passiv, sondern interagieren mit ihrer Umwelt. Sie fällen Entscheidungen zur Linderung der Not, passen sich an die widrigen Verhältnisse an, versuchen die Ursachen zu bekämpfen und ihr individuelles Wohlbefinden zu verbessern.“ 12 So auch die Schwerter Weiber. Die Frauen trieben das Vieh in die Eichenschonung, weil das Gras überall schon abgegrast war. Mit ihrer in der Not geborenen Strategie durchkreuzten sie die auf Nachhaltigkeit angelegte forstwirtschaftliche Logik.

Turbulente Wetter

Bereits im viel zu kühlen Mai hatte es 1816 angefangen zu regnen – und es hörte einfach nicht mehr auf. Unter einer geschlossenen Wolkendecke und mit außergewöhnlich kühlen Temperaturen (nachts zum Teil nur noch 3 Grad Celsius im Mai) verging der gesamte Sommer, der bis in den September permanent Regen, Sturm und Hagel bescherte. Die katastrophale Missernte brachte eine flächendeckende Hungersnot. Die Preise für Brotgetreide stiegen ins Unermessliche, Straßen und Wege versanken im Morast, große Gebiete standen unter Wasser, die wirtschaftliche Infrastruktur brach zusammen.

Ein Vulkanausbruch

Dieses „Jahr ohne Sommer“ hatte eine präzise zu identifizierende Ursache, die ein Jahr zuvor am anderen Ende der Welt seinen Anfang genommen hatte: Am 10. April 1815 – auf dem Wiener Kongress teilte man gerade Europa unter den Großmächten neu auf und rüstete sich für eine letzte Offensive gegen den wieder an die Macht gekommenen Napoleon – brach auf der indonesische Insel Sumbawa der Vulkan Tambora aus.13 Er verursachte die schwerste vulkanische Eruption seit etwa 25.000 Jahren. Nach neueren Forschungen wurden zwischen 30 und 50 Quadratkilometer Magma herausgeschleudert.14 Zum Vergleich: Waren es im Jahre 79 u. Z. beim Ausbruch des Vesuv in Italien noch etwa drei Megatonnen Staub und Asche, unter denen die Städte Pompeji und Herculaneum begraben wurden, waren es im April 1815 150 Megatonnen, das sind 150 Milliarden Tonnen vulkanischer Auswurf. Sie lösten eine weltweite Katastrophe aus. 15 Klimatologische Auswertungen zum Vulkanausbruch zeigen, dass sich der katastrophale Sommer des Jahres 1816 „in ein ohnehin schon allgemein kühles Jahrzehnt einreihte.“ 16 Nach einer warmen Phase um 1800 sank die Temperatur deutlich und erreichte im Sommer 1816 einen Tiefpunkt, die Auswirkungen des Tamboraausbruches verschärften diesen Trend  noch. Die Wissenschaft vermutet als Ursache für die Abkühlung des Klimas einen Vulkanausbruch 1808 oder 1809, Vulkanerosole sind aus dieser Zeit in Eisbohrkernen abgelagert, sie konnten jedoch keinem konkreten Ereignis zugeordnet werden. 17 Die Dimensionen der Eruption waren ungeheuerlich: Die Schallwellen der Tambora-Explosion waren noch in rund 1.800 km Entfernung, in Benkulen an der Westküste Sumatras zu hören.18 Im Umkreis von 600 km herrschte Tage lang finstere Nacht. Eine gewaltige Staub- und Aschewolke machte sich in einer interkontinentalen Diagonale langsam auf den Weg Richtung Europa und verharrte über dem Nordatlantik. Dort setzte sie ab Frühjahr 1816 die sogenannte nordatlantische Oszillation außer Kraft, das ist das für das westeuropäische Klima maßgebliche Wechselspiel von Tiefdruckgebieten bei Island und Hochdruckzonen bei den Azoren. Während es in der Arktis taute und Eisberge bis vor die irische und schottische Küste trieben,19 veränderte sich das Klima über Europa und über Nordamerika für mehrere Monate: In den Alpen schneite es, Lawinen gingen im Hochsommer 1815 in der Nordschweiz ab, während Deutschland im Dauerregen versank und für Monate die Sonne nicht zu sehen war. Durch Kälte und hohe, zum Teil mit Hagel verbundene Niederschläge im Sommer bzw. während der Vegetationsperiode 1816 reiften viele Bestände landwirtschaftlicher Kulturen nicht aus, faulten oder wurden durch Überschwemmungen oder Hagelschlag geschädigt oder gar vernichtet. Folge waren Hungersnöte, die aber nicht allein auf die klimatischen Auswirkungen des Tamboraausbruchs zurückzuführen sind.

Die Bevölkerung in Schwerte verzehrte das für 1817 vorgesehene Saatgut und schlachtete sein Vieh. Dieses fehlte danach für die Milch- und Käseproduktion, aber auch als Zugtiere und die Äcker konnten nicht mehr gepflügt werden. Die Not  verschärfte sich immer weiter. Selbst Baumrinde und Blätter von Laubbäumen wurden ausgekocht und als Nahrung verwendet. Die allgemeine Sterblichkeit, vor allem unter Kindern, stieg deutlich an, immer größere Ansammlungen von bettelnden Menschen zogen übers Land und verursachten bei ihrer Suche nach Essbarem wachsende Unruhe bei der Landbevölkerung. In der geschwächten Bevölkerung brachen Typhus und Tuberkulose aus. Zur Behebung der größten Not gewährte Preußen zwei Millionen Taler zum Ankauf von Getreide für Westfalen und das Rheinland, geleitet von dem Gedanken, die Integration ihrer westlichen Provinzen in das Staatsgebilde zu fördern. Die Hilfslieferungen erreichten die Bedürftigen erst im Juli 1817. Weitere staatliche Regulationen lehnte Preußen jedoch aufgrund wirtschaftsliberaler Erwägungen ab. Zur Milderung der Not waren die Betroffenen vollkommen auf bürgerliche Wohlfahrtsorganisationen und die kommunale Armenfürsorge angewiesen, die jedoch hoffnungslos überfordert waren.20

Solidarität und Zusammenhalt

In Schwerte verliefen die polizeilichen Untersuchungen nach den Zusammenrottungen im Sande, weil die revoltierenden Frauen zusammenhielten, einander nicht verrieten und Unwissenheit vortäuschten. 21Selbst die Androhung einer zweijährigen Haftstrafe durch Bürgermeister Mitsdörffer konnte nichts bewirken. Der Schwerter Frauen-Aufstand lässt sich einordnen in eine Reihe von Tumulten, Protesten und Hungeraufständen, die fast überall in Europa  angesichts der Missernten und Preissteigerungen ausbrachen.22

Das Ende der Gemeinheiten

In Schwerte blieb die zentrale Frage nach dem gemeinwohlorientierten Kämmereiwald auf der politischen Tagesordnung, auch als sich die wirtschaftliche Lage entspannt hatte. Zeitgenössische Ökonomen plädierten im Sinne des Staates für eine Auflösung, da so der Wald besser bewirtschaftet und das Vieh besser versorgt werden könne. Wir würden heute Marktliberalismus dazu sagen. In Schwerte bildeten sich zwei Parteien – eine um den reichsten Schwerter Bürger Leopold Doerth – die andere um Magistrat, Bürgermeister Mitsdörffer und den Pfarrer, Arzt und Universalgelehrten Bährens (1765-1833), die sich für die Erhaltung des ungeteilten Waldes einsetzten. Bährens schätzte die Markenteilung äußerst negativ ein. So habe sie zu einer Halbierung des Viehbestandes in der damaligen Ackerstadt Schwerte geführt.23 Es begann ein langwieriger Prozess, der letztlich der Position des Magistrates mit seinem Pro für einen gemeinschaftlichen Kämmereiwaldes Recht gab. Dieser Prozess zog sich bis 1828 hin. 24Auch eine Revision bestätigte noch einmal den Erhalt des Kämmereiwaldes. Doch die preußische Regierung, die seit 1815 in ihrer Provinz Westfalen eine neue Verwaltungsstruktur eingeführt hatte, löste staatlicherseits ab 1821 grundsätzlich die Gemeinheiten auf. 25

Dr. Uta C. Schmidt / frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Kreuzung Ostenstraße/Bethunestraße, 58239 Schwerte

Zitation: Schmidt, Uta C., Aufmüpfige Frauen in Schwerte, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/schwertes-aufmuepfige-frauen/

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Safiye Ali-Krekeler

Die Medizinerin und Wissenschaftlerin Safiye Ali-Krekeler (1891 [1894]1-1952) aus Konstantinopel (heute Istanbul) war die erste Ärztin der Republik Türkei. Sie absolvierte ein Medizinstudium in Würzburg. Später betrieb sie eine Arztpraxis in Dortmund auf der Hohen Straße. Auf dem Dortmunder Hauptfriedhof wurde sie auch begraben. Ihre Lebensgeschichte steht für das frühe Frauenstudium im Osmanischen und Deutschen Reich, für die Zirkulation der Frauenbewegungen und ihrer Ideen sowie für die Bedeutung von Frauenfragen für nationalstaatliche Formierungen. Die Geschichte ihres Lebens eröffnet eine interkulturelle Verflechtungsgeschichte, die über unser Wissen zum 1961 geschlossenen Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und der Bundesrepublik weit hinausweist.

 

Transformationen des Osmanischen Reiches

Die Biografie Safiye Ali-Krekelers führt hinein in die Transformationen des Osmanischen Reiches über die Tanzimat-Reformen (zwischen 1839 und 1876) bis hin zur Zweiten Verfassungsperiode des Reiches seit 1908 mit ihren Modernisierungsansätzen. Diese schlossen auch eine neue gesellschaftliche Rolle der Frauen, Frauenrechte und Frauenbildung mit ein. Die Frauenfrage wurde gleichsam zum Signet eines an westlichen Vorstellungen orientierten neuen Staatsverständnisses. Im Bereich der Medizin, der später auch Safiye Ali-Krekelers Domäne sein wird, zeigt sich dieser Umschwung in der Frauenbildung unter anderem durch die Einführung der Hebammenkurse an der medizinischen Hochschule in Istanbul im Jahr 1843. Ab 1893 konnten Frauen als Gasthörerinnen die Medizinschule besuchen und 1899 wurden sie zum Studium der Medizin zugelassen.2  Nach Mediha Göbenli erreichte die Diskussion intellektueller osmanischer Männer um die Gleichberechtigung der Frauen zur Zeit der Zweiten Konstitutionellen Regierung ab 1908 ihren Höhepunkt.3 Zugleich begann sich in dieser Zeitspanne auch langsam eine durch Frauen aus den urbanen Eliten getragene Frauenbewegung zu artikulieren. Sie zeigte sich in der Gründung von Zeitschriften und Organisationen.4

Bei einer Rekonstruktion der Lebensgeschichte Safiye Ali-Krekelers müssen die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen, die das Osmanische Reich und das Deutsche Kaiserreich pflegten, mit in den Blick genommen werden. Die osmanische Armee war nach Plänen des deutschen Militärs umstrukturiert worden. Die im Februar 1914 in Berlin gegründete Deutsch-Türkische Vereinigung und die im Oktober 1915 in Konstantinopel gegründete Türkisch-Deutsche-Freundschaftsgesellschaft flankierten diese „Waffenbrüderschaft“ und die gegenseitigen wirtschaftlich-geopolitischen wie strategisch-kulturellen Interessen der Reiche durch bildungspolitische und kulturelle Maßnahmen.5

 

Gesellschaftliche Herkunft

Safiye Ali wurde am zweiten Februar 1894 als Hatice Safiye Ali in Konstantinopel geboren.6 Die Wurzeln ihrer Familie reichen von Tripolitanien bis nach Damaskus. Ihr Vater war Ali Kırat Paşa, einer der Berater von Sultan Abdülaziz und Abdülhamit II, ihre Mutter war Emine Hasene Hanım, die Tochter von Şeyhülharem Hacı Emin Paşa. Sowohl ihr Vater als auch ihr Großvater mütterlicherseits trugen den Titel Paşa, der im Osmanischen Reich hohen Militärs und Beamten vorbehalten blieb.7 Safiye Ali wuchs somit als jüngste von vier Töchtern in einer wohlhabenden Familie der gesellschaftlichen Führungsschicht auf.8

Heute würden wir Safiye Ali wahrscheinlich eine Hochbegabung zuschreiben. Sie war eine wissbegierige und fleißige Schülerin. Bereits in jungen Jahren interessierte sie sich für Literatur, Musik und Fremdsprachen. Neben der schulischen Bildung erhielt sie auch Privatunterricht.9 Wie Mediha Göbenli herausgearbeitet hat, erfuhren Töchter der städtischen und politischen Führungsschichten des späten Osmanischen Reiches nach europäischem Vorbild intellektuelle Erziehung in Sprachen, Literatur und Musik durch europäische Gouvernanten und Hauslehrer. So entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine weibliche Intellektuellenschicht, die aufgrund ihrer Fremdsprachenkenntnisse an europäischen Diskursen (nicht nur) über die gesellschaftliche Stellung der Frauen teilnahm.10

Im Alter von achtzehn Jahren wechselte Safiye Ali auf das als protestantisches Missionsprojekt gegründete Amerikanische College für Mädchen in Arnavutköy auf der europäischen Seite Istanbuls. 11 Das Amerikanische College für Mädchen war zu dieser Zeit die einzige Einrichtung für höhere Mädchenbildung im Nahen Osten.12 In einem Werbeprospekt von 1912 heißt es: „Das Ziel des Colleges ist es, eine breite und hohe intellektuelle Kultur und eine hohe charakterliche Entwicklung zu bieten. Es ist ein christliches Kolleg, mit dem Ziel, die Lehren Christi zur beherrschenden Kraft im Leben der Studentinnen werden zu lassen. Doch werden keiner Schülerin aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen die Aufnahme in das College, Abschlüsse oder Ehrungen verweigert“13 Safiye Ali schloss das College im Januar 1916 ab.14

Staatliche Stipendiatin

Im Mai desselben Jahres konnte sie mit finanzieller Unterstützung des Osmanischen Bildungsministeriums (Maarif Nezareti)15 ein Medizinstudium an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg aufnehmen. Es schickte ihr über die Mendelson Bank in Berlin monatlich 350 bis 400 Reichsmark und übernahm die Studiengebühren. 16 Prinzregent Luitpold von Bayern hatte 1903 an seinen drei Universitäten Frauen gleichberechtigt zum Studium zugelassen, so dass dieses Medizinstudium in Bayern möglich war.17 Zuerst kamen 29 männliche Studenten aus dem Osmanischen ins Deutsche Reich sowie Emine Müzeyyen und Zehra Hakkı, die die zuerst in Frankreich Modedesign („Tailoring“) studierten und dann in Berlin ihre Ausbildung fortführten. Safiye Ali gehörte zu einer Gruppe von 22 weiteren Studentinnen, die zum Studium nach Bonn, Dresden, Erfurt, Freiburg, Hamburg, Heidelberg, Lübeck, München, Würzburg und vor allem nach Berlin gingen. Sie studierten Sprachen, Psychologie, Philosophie, Pädagogik, Malerei und Musik, Zahnmedizin, „Kindergarten Teaching“ und, wie Safiye Ali, Medizin.18  Nicht alle waren mit einem Stipendium des Bildungsministeriums, der Türkisch-Deutschen Freundschaftsgesellschaft oder der Deutsch-Türkischen Gesellschaft ausgestattet, sondern sie wurden auch von ihren Familien finanziert, ein Zeichen, dass diese Pionierinnen des Frauenstudiums aus privilegierten Gesellschaftsschichten stammten.

Das Osmanische Bildungsministerium verfolgte mit der Förderung des Medizinstudiums von Frauen in Europa konkret eine Professionalisierung der Gesundheitsfürsorge und der Gesundheitsversorgung von Frauen.19 Es sah das Frauenstudium als Ausdruck von gesellschaftlichem Fortschritt im Sinne einer Westernization.20 Seit der Jungtürkischen Bewegung kam der Wissenschaftsorientierung als Gegenposition zum Religionsbezug eine große Bedeutung zu. In der Vorstellung ihrer intellektuellen Führer – so wie Mustafa Kemals, des späteren Gründers der Türkischen Republik – beschleunigte Wissenschaft den Fortschritt, während Religion ihn hemmte.21Die jungtürkischen Intellektuellen befürworteten deshalb tendenziell eine gesellschaftliche Transformation nach westlichem Muster, in der der größeren gesellschaftlichen Sichtbarkeit von Frauen eine geradezu emblematische Rolle als Ausweis von Modernität zukam: „Gleichberechtigung der Frau in einem öffentlichen Bildungswesen war für sie die Grundvoraussetzung für den Fortschritt in der Gesellschaft. Sie argumentierten, dass die Frauen als Mütter und Ehefrauen verantwortlich für die Schaffung einer neuen, aufgeklärten Generation wären“.22 Damit machten sie sich Argumente zu eigen, mit denen auch die bürgerlichen Frauenbewegungen im Deutschen Reich größere gesellschaftliche Teilhabe forderten. Während der Zweiten Konstitutionellen Periode ergaben sich für Mädchen und Frauen neue Bildungsmöglichkeiten, existierende Schulen wurden neu aufgestellt und Einrichtungen der höheren Mädchenbildung geschaffen. In seinem 1910 erschienenen Buch Islamiyette Feminizm setzte sich der Schriftsteller Halil Hamit sogar für das Frauenwahlrecht ein.23

Die Auswirkungen dieses Umdenkens zeigten sich auch im Bildungswesen. 1914 wurde in Istanbul das erste Lyzeum für Mädchen eröffnet, welches Türkisch, eine Fremdsprache, Religionsunterricht, Geschichte, Geographie, Arithmetik, Geometrie, Naturwissenschaften, Chemie, Pädagogik, Hauswirtschaft, Gesang und Turnen unterrichtete.  Die Universität in Istanbul bot Kurse für Frauen in Geschichte, Naturwissenschaften, Kindererziehung, Hygiene und Kursen zu den Rechten der Frau an.24 Nun war es auch osmanischen und muslimischen Mädchen erlaubt, nichtmuslimische Bildungseinrichtungen in ausländischer Trägerschaft zu besuchen.25

Berufswunsch: Ärztin

Als Ärztin zu wirken, dieser Wunsch wurde – so Safiye Ali später – durch die Rektorin ihres amerikanischen Colleges, Mary Mills Patrick (1850-1940), bestärkt. Modern gesprochen war diese Lehrerin ihr Role Model.26 Mary Mills Patrick eröffnete während ihrer Amtszeit als Rektorin die medizinische Fakultät am College (Department of Medicine, Constantinople Women’s College) und betrachtete dies als einen der wichtigsten Meilensteine in ihrem Leben.27 Safiye Ali schrieb später, dass die prägenden Ideen ihrer Schulzeit sie in dem Wunsch bestärkten, gesellschaftlich schöpferisch und gestaltend wirken zu wollen.28 Um Medizin zu studieren, musste Safiye Ali jedoch noch ins Ausland.

Der Berufswunsch mag zusätzlich durch Safiye Alis Erfahrungen gestützt worden sein. Die Spätzeit des Osmanischen Reiches wurde von Gewalt und Kriegen bestimmt: während der Jungtürkischen Revolution 1908 zur Wiedereinsetzung der Verfassung von 1876, während der Balkankriege 1912/13, in denen das Osmanische Reich seine europäischen Provinzen verlor, während des Ersten Weltkrieges, in dem das Osmanische Reich an der Seite von Deutschem Reich und Österreich-Ungarn kämpfte. Bürgerliche Frauen in den kriegsführenden Ländern engagierten sich in der Betreuung von Verwundeten.29 Safiye Ali wurde später die Präsidentin des Kinderschutzvereins (Çocuk Esirgeme Derneği) und spendete als Teil der internationalen Frauenbewegungen für das Neutral House des Völkerbundes in Istanbul für armenische Flüchtlinge.30

Studienjahre in Würzburg

Zum Sommersemester 1916 nahm Safiye Ali ihr Medizinstudium an der Julius-Maximilians-Universität (JMU) auf. Im Würzburger Universitätsarchiv befinden sich noch Studiendokumente. So war sie auf der Würzburger Pickelstraße 2p gemeldet, ganz nahe bei der Universität gelegen. Auch die Inskriptionslisten der Jahre 1916 bis 1921 bezeugen ihr Studium in Würzburg. Safiye Ali belegte vom Sommersemester 1916 bis zum Wintersemester 1920/21 68 Vorlesungen, Seminare und Praktika.31 Dieses Studienprogramm war für die damalige Zeit außergewöhnlich. Zu ihren Professoren gehörte eine Reihe bekannter Persönlichkeiten, so der Nobelpreisträger Wilhelm Wien, bei dem Safiye Ali Kurse in Physik belegte. Bei Karl Marbe, einem der bedeutendsten Vertreter der Würzburger Schule der Denkpsychologie, belegte sie Psychologie. In Würzburg lehrten und forschten zudem der Anatom Wilhelm Lubosch, der Professor für Kinderheilkunde Hans Rietschel und Karl Wesseley in der Augenheilkunde.32

Die Semesterferien von Februar bis Mai 1918 nutzte Safiye Ali, um sich bei Prof. Müller in der Medizinischen Poliklinik weiterzubilden.33 An den Nachmittagen nahm sie Privatunterricht in Philosophie und Geschichte. Außerdem bereitete sie sich auf das Physicum vor. Sie hatte sich als Auslandsstudentin das Ziel gesetzt, diese Prüfung mit Jahrgangsbestleistung abzuschließen. Das bayerische Bildungsministerium wollte ihr die Teilnahme an der Prüfung zunächst verweigern, da sie ihre amerikanische Hochschulzugangsberechtigung aus Konstantinopel nicht anerkannte. Dank der Intervention ihrer Professoren und der Universitätsleitung konnte sie am 22. Juli 1918 das Physicum ablegen und schloss die Prüfung als Erstplatzierte mit überragendem Erfolg ab.34 Ab dem 1. August 1918 arbeitete die am Pathologischen Institut der Universität.35

Unruhige Zeiten

Safiye Ali absolvierte ihr Studium in unruhigen politischen Zeiten: Während des Ersten Weltkriegs konnte sie sich nicht sicher sein, ob weltpolitische Geschehnisse und Verlagerungen in der Bündnispolitik von Osmanischem und Deutschem Reich sie nicht doch zwangen, die Universität in Würzburg vor Abschluss des Studiums zu verlassen. Sie erlebte in Würzburg das Ende des Deutschen Reiches und die Ausrufung der Weimarer Republik im November 1918. Im Osmanischen Reich entwickelte sich nach Beendigung des 1. Weltkriegs zwischen 1919 und 1922 ein neuer, der Griechisch-Türkische Krieg.36 Und: Die angehende Medizinerin befand sich gen Ende ihres Studiums mitten in einer verheerenden Pandemie, der Spanischen Grippe, die zwischen 1918 und 1920 in drei Wellen weltweit etwa 500 Millionen Menschen infizierte.37

In dieser Zeit lernte sie den aus Ottenhausen im Paderborner Land stammenden kriegsversehrten katholischen Studenten Ferdinand Krekeler (1895-1970) kennen. Dieser hatte nach dem Abitur 1916 am Theodorianium in Paderborn ein Studium in Würzburg begonnen, sich dann als Kriegsfreiwilliger gemeldet und eine schwere Verwundung erlitten, bei der er ein Bein verlor. Nach der Genesung nahm er das Studium in Würzburg wieder auf und promovierte 1920 zum Doktor der Medizin.  Er strebte den Facharzt für Augenheilkunde an. In den folgenden Jahren arbeitete er als Medizinal-Assistent und Oberarzt an der Würzburger Universitätsklinik.38

Frau Doktor

Safiye Ali legte im Mai 1921 ihre Arbeit zur Erlangung der Doktorwürde mit dem Titel Über Pachymeningitis haemorrhagica interna im Säuglingsalter vor. Im selben Jahr erhielt sie die Approbation, die staatliche Zulassung als Voraussetzung für die ärztliche Niederlassung. Die Approbation war nicht nur an ein erfolgreiches, abgeschlossenes Medizinstudium geknüpft, sondern auch an ausreichende deutsche Sprachkenntnisse. Sie kehrte mit diesem Zertifikat nach Istanbul zurück. Nach einem Aufenthalt von sechs Wochen reiste sie wieder nach Deutschland zurück. Sie strebte die Spezialisierung als Fachärztin für Gynäkologie und Pädiatrie an.39

Ärztin in Istanbul

Safiye Ali, die als Tochter eines osmanischen Paşas nach Europa gegangen war, erhielt als erste Frau in der am 29. Oktober 1923 ausgerufenen Türkischen Republik eine Lizenz als Ärztin.40 Sie eröffnete 1923 eine Praxis in Konstantinopel. Ihr Studienkollege Ferdinand Krekeler folgte ihr.41 Standesamtlich heiratete das Paar am 28. November 1924 in der deutschen Botschaft in Istanbul.42 Sie eröffneten eine Praxis im Stadtviertel Cağaloğlu in der Nuruosmaniye-Straße.43 Sie betrieb unter dem Namen Safiye Ali eine Praxis für Gynäkologie und Kinderheilkunde und ihr Mann unter dem Namen Ferdi Ali eine Praxis für Augenheilkunde.44 Durch Zeitungsanzeigen machten sie ihre Praxen bekannt. Sowohl in der Milliyet als auch in der Cumhuriyet aus dem Jahr 1927 sind folgende Informationen herauszulesen: Frau Dr. Safiye nimmt täglich außer freitags und sonntags und nachmittags in ihrer Praxis in der Nuruosmaniye-Straße 52 in Istanbul Patientinnen und Kinder an. Die Telefonnummer lautet: Istanbul 2866.45

Hohes Ansehen genoss Safiye Ali bei Frauen, die aus ärmeren Verhältnissen stammten. Diese vertrauten dem Wissen einer studieren Person, egal ob Mann oder Frau, und suchten daher ihre Hilfe. Doch einige ihrer Patienten und Patientinnen glaubten, es wäre in Ordnung, einer Frau trotz gleicher Qualifikation und Erfahrung, allein aufgrund ihres Geschlechts, weniger zu bezahlen als männlichen Kollegen.46 Safiye Ali verlangte von allen, die ausreichend Geld besaßen, geschlechtsunabhängig ein angemessenes Honorar und vertrat eine aktuelle Forderung: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.

Safiye Ali in der Sozial- und Gesundheitspolitik der Türkischen Republik

Ihre Praxis lief erfolgreich. Zugleich betreute sie als Medizinerin die deutsche und die amerikanische Botschaft. Sie war außerdem an vielen öffentlichen sozial- und gesundheitspolitischen Initiativen rund um die Aufklärung von Müttern und Kinderpflege beteiligt. Safiye Ali leitete die vom französischen Roten Kreuz gegründete Organisation Süt Damlası (dt.: Milchtropfen), die das Stillen propagierte und Milchküchen einrichtete, um die Kindersterblichkeit zu senken. Im Sinne eines internationalen Wissenstransfers stellte sie deutsche, französische und englische Fachliteratur zusammen und erweiterte diese um eigene Erfahrungen im Bereich der Säuglingsfürsorge aus ihrer Arbeit für Süt Damlası.47 Ihr Engagement hat Süt Damalsı in der Öffentlichkeit äußerst beliebt gemacht. 1927 gründete sie eine von der Türkischen Frauenförderation (Türk Kadin Birliği) betriebene Kinderartzpraxis. Neben zahlreichen Fachartikeln zur Kinderheilkunde publizierte sie zwei medizinische Fachbücher.48 Sie lehrte zudem Gynäkologie und Geburtshilfe am amerikanischen College für Mädchen.49

Safiye Ali nahm an drei großen internationalen Ärztinnenkongressen in London, Wien-Budapest und Bologna teil. Sie war somit die erste weibliche Delegierte, die die Türkei auf einem internationalen Kongress vertrat. Der erste Kongress in London fand vom 14.-24. Juli 1924 statt und wurde von der Internationalen Vereinigung der Ärztinnen (The Medical Women’s International Association (MWIA)) organisiert.50 Die Internationale Vereinigung für Kinderhilfe (The International Save the Children Union) lud die Hilal-i Ahmer Gesellschaft der Türkischen Republik (Kızılay) zum vierten Kongress ein, der vom 6. bis 8. Oktober 1924 in Wien und vom 8. bis 11. Oktober 1924 in Budapest stattfand. Als Delegierte nahmen Dr. Safiye Ali und Dr. Besim Ömer Paşa teil.51  Vier Jahre später fuhr Safiye Ali zum internationalen Kongress der Ärztinnen nach Bologna. Dort wurde über die Bekämpfung von Kinderkrankheiten und Kindersterblichkeit beraten, über Hilfen für schwangere Frauen und wie Maßnahmen zur Erziehung gesunder Kinder aussehen könnten.52 Die Gesundheit von Kindern hing eng mit der Aufklärung von Müttern zusammen. Safiye Ali-Krekeler wollte hier vor allem arme Familien erreichen. Die Debatten um einen Wohlfahrtsstaat, der Gesundheits- und Sozialeinrichtungen für Mütter und Kinder einrichtet, hatten einen starken Eindruck bei ihr hinterlassen und regten sie zu ähnlichen Projekten in der jungen Türkischen Republik an.53

Die frühe Frauenbewegung in der Türkei

Die Verhältnisse, die die Studentinnen in ihrem Auslandsstudium in anderen Ländern beobachten konnten, führten auch dazu, dass sie nach ihrer Rückkehr politisch und zivilgesellschaftlich aktiv wurden.54 Safiye Ali gehörte zur Frauenbewegung im Übergang vom spätosmanischen Reich hin zur frühen republikanischen Ära. Im Jahr der Gründung der Türkischen Republik 1923 gründete Nezihe Muhiddin (1889-1958) die Volkspartei der Frauen. Dieser wurde jedoch die Zulassung verweigert, „da sie dem Charakter des Einparteienregimes zuwiderlief und unterdessen die Gründung der ‚Republikanischen Volkspartei‘ (Cumhuriyet Halk Partisi) vorbereitet wurde. Man empfahl den Frauen einen Verein zu gründen“, so die Literaturwissenschaftlerin Mediha Göbenli.55 Man könnte auch sagen, dass den  Parteigründern der Republikanischen Volkspartei bei aller Unterstützung weiblicher Emanzipationsbewegungen eine Frauenpartei doch wohl zu weit gegangen wäre bei der Institutionalisierung ihrer Macht. Daraufhin initiierte Nezihe Muhiddin den Türk Kadınlar Birliği, die Türkische Frauenunion, um sich für das Frauenwahlrecht einzusetzen.56 Die Türkische Frauenunion war eingebunden in das Modernisierungskonzept der jungen Türkischen Republik und wurde, nachdem 1935 das Frauenwahlrecht eingeführt worden war, auf Anordnung Atatürks aufgelöst, da keine Notwendigkeit für eine Frauenorganisation mehr bestünde – schließlich sei die Gleichberechtigung nun in der Republik erreicht.57 Die bis in die Spätzeit des Osmanischen Reiches zurückreichende Frauenbewegung wurde auf diese Weise durch den Staatsfeminismus der Republik „absorbiert“.58

Sowohl die Gründerin des Türkischen Frauenbundes, Nezihe Muhiddin, als auch Safiye Ali gerieten unter starken politischen – patriarchalen – Druck. Sie gab die Leitung der Organisation Süt Damlası zurück. Frauen organisierten daraufhin öffentliche Proteste vor dem Haus ihres Nachfolgers. Ihre politischen Gegner:innen beschuldigten sie, diese Proteste selber organisiert zu haben.59 Safiye Ali trat von all ihren Positionen im öffentlichen Gesundheitswesen zurück. Im Januar 1928 war sie nur noch als Ärztin tätig.60Zu diesem Zeitpunkt war sie die einzige Frau in der Istanbuler Ärzteschaft.61 Noch war die Praxis, dass eine Frau als Mediziner tätig sein kann, gesellschaftlich so ungewohnt, dass sie als „Safiye Ali Bey“ in der Malûl Gaziler Büyük Ticaret Salnamesi62 firmierte – der Zusatz „Bey“ wurde zwar auch als Ehrentitel für Männer dem Namen hintangestellt, er wurde und wird aber auch für die männliche Anrede verwendet. Die weibliche Entsprechung hätte „hanım“ lauten müssen.63

Safiye Ali stand für das staatlicherseits propagierten Idealbild einer republikanischen, gebildeten Frau mit großer öffentlicher Reputation.64  Dies machte sie zur Zielscheibe konservativer wie religiöser Gegner und Gegnerinnen des eingeleiteten Modernisierungskurses, der der Gesellschaft viel abverlangte: vom Verbot des Fez als traditioneller Kopfbedeckung über die Einführung des Lateinischen Alphabets (anstatt der arabisch-persischen Schrift) bis zur Namensreform nach westlichem Vorbild. Die meisten von der Regierung aufgelegten Reformen wurden vom Großteil der Bevölkerung als Zumutung, Zwang und als Zerstörung religiöser Traditionen wahrgenommen.65 Westliche Frauen wie Safiye Ali galten dem Patriarchat geradezu als Verkörperung dieser Zwangsmaßnahmen. Safiye Ali sah sich mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert. Die Milliyet titelte: „Werden wir Zeugen eines Kampfes zwischen Männern und Frauen?“66Der Druck auf Safiye Ali und ihre Mitstreiterinnen lässt sich im Umkehrschluss auch als ein Zeichen für ihren Erfolg interpretieren.

Die Jahre in Dortmund

1929 verließen Safiye Ali-Krekeler und Ferdinand Krekeler Istanbul und zogen nach Dortmund. Im Einwohnerbuch 1929 ist zunächst nur der Augenarzt Ferdinand Krekeler mit seiner Praxis im Rosental 11 verzeichnet. Seine Sprechstunden waren vormittags von 10-12 Uhr und nachmittags von 2-6 Uhr. Ab 1930 steht dann im Adressbuch: auch „Safiyeh (!) Krekeler, Frau, Dr. med., Aerztin“. Die Krekelers führen beide ihre Praxen auf der Hohen Straße 15 mit dem Fernsprechanschluß 24510. Sie wohnen dort auch. Ihre Sprechzeiten sind: 11-12 und 2-5 Uhr.67 Zunächst fällt als Befund auf, dass Safiye Ali-Krekeler im Adressbuch 1936, also zur Zeit des Nationalsozialismus, ihren Vornamen nicht mehr nennt. Sie ist als „Krekeler, Ali, Dr. med.“ verzeichnet, es gibt mehrere „Krekeler“ als Nachname und „Ali“ könnte auch einfach ein gewohnheitsmäßiger Rufname sein.68 1940 und 1941 hatte Ali Krekeler laut Adressbuch ihre Praxis auf der Straße der SA, in die die Hohe Straße mittlerweile umbenannt worden war.69  Im Adressbuch von 1950 schließlich finden wir wieder den richtigen Vornamen: Safiye Krekeler. Ihre Praxis befindet sich am Hiltropwall 2, Fernsprechanschluß 23334. Das Ehepaar wohnt Plauener Str. 43. Im Namensverzeichnis ist sie als Safiye Krekeler gelistet.70  Sollte sie aus Angst vor rassistischen Übergriffen im Nationalsozialismus ihren vollständigen Namen lieber nicht in das offizielle Adressbuch hat aufnehmen lassen? Über die Positionierung der Krekelers im Nationalsozialismus ist wenig bekannt. Im Bundesarchiv liegen für Safiye Ali-Krekeler und Ferdinand Krekeler Karteikarten aus dem Reichsarztregister vor. Das Reichsarztregister wurde von der 1933 gegründeten Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD) geführt und erfasste alle Ärzt:innen mit entsprechender Zulassung im Deutschen Reich. Daher war die Registrierung auch für die Krekelers unabdingbar. Eine frühe Mitgliedschaft in der NSDAP lässt sich für Ferdinand Krekeler nachweisen. Im Bundesarchiv liegt seine Mitgliedskarte der NSDAP mit der Mitgliedsnummer 2797378 vor. Sein Eintritt in die Partei datiert auf den 1. Mai 1933. 71

Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs blieb das Ehepaar in Dortmund und kümmerte sich weiterhin um die ärztliche Versorgung, obwohl sie fünfmal durch Bombenangriffe Wohnung und Praxis verloren. Graf Wolff-Metternich zur Gracht in Vinsebeck bei Steinheim im Kreis Höxter, der Herkunftsregion Ferdinand Krekeler, bot ihnen übergangsweise eine Notbehausung an. Das Vinsebecker Schloss diente ebenfalls der britischen Armee als Hauptquartier.72 Als das Leben in Dortmund wieder möglich war, kehrten sie zurück. Nach einem Aufenthalt in der Türkei ließen sich die Krekelers endgültig 1948 in Dortmund nieder und eröffneten ihre Praxen.73 Am 9. Juli 1952 starb Safiye Ali an Krebs. Sie fand ihre letzte Ruhestätte auf dem Dortmunder Hauptfriedhof.74

Tod und Erinnerung

Heute erinnert eine Klinik (Sağlık Ocağı) in der Türkei, die Dr. Safiye Ali Sağlik Ocağı (in Çekmeköy/Istanbul) heißt, an die Medizinerin.75 Die Stadt Dortmund plant einen Dr. Safiye Ali Krekeler-Preis für Kindermedizin und -gesundheit, der alle zwei Jahre für herausragende Leistungen der Kindermedizin und Kinderchirurgie sowie für die Förderung der Kindergesundheit verliehen werden wird. Mit der Auszeichnung ist ein Preisgeld von 20.000 Euro und eine Festveranstaltung verbunden. Zudem erhält ihre Grabstelle auf dem Dortmunder Hauptfriedhof einen Gedenkstein. Seit 2022 trägt eine Straße in der Dortmunder Nordstadt den Namen Dr.-Safiye-Ali-Str. Leider wird häufig, auch beim Bedürfnis, die Person Safiye Ali zu ehren, ein Foto von Safiye Hüseyin Elbi (eine der ersten Krankenpflegerinnen der Türkei) verwendet. Dieses Foto ist unter anderem auf der Wikipedia-Seite über Safiye Ali zu finden oder auf dem Portal der Stadt Dortmund. Dieses Foto diente auch als Vorlage für die Doodle-Illustration zum 127. Geburtstag von Safiye Ali.76 

Okzident, Orient

Deutsche wie türkische Forschung zu Safiye Ali-Krekeler durchzieht die latente Tendenz, Safiye wie Ferdinand der jeweiligen Kultur einzuverleiben: Ferdinand Krekeler praktizierte in Istanbul unter dem Namen Ferdi Ali, was noch lange nicht bedeutete, dass er zum Islam konvertiert sein musste. Nuran Yıldırım deutet diesen Namen eher als ein strategisches Vorgehen seitens Krekeler, um sich in seinem neuen Umfeld zu integrieren.77 Es lässt sich auch einfach als kluge Marktstrategie deuten, diesen griffigen Namen zu führen, zumal in einer Zeit, als in der jungen türkischen Republik das Namensrecht insgesamt in Bewegung geraten war. Doch kann Ferdinand Krekeler nur über die Frage nach Konversion in osmanisch-türkischen Deutungshorizonten eine Position zugewiesen werden. In der deutschen Rezeption wiederum ist die Eheschließung der Muslima 78 Safiye Ali mit einem Katholiken von Interesse. Doch heirateten beide zur Zeit der Weimarer Republik, als die Zivilehe eingeführt worden war. Eine kirchliche Trauung war nun nicht mehr notwendig. Stephan Lücking schreibt: „Die kirchliche Trauung fand nach Genehmigung des Vatikans in Rom am 25. Oktober 1928 im Stift Haug in Würzburg statt. Ein Novum jener Zeit. Die Ehe blieb kinderlos“.79 Damit wird ein riesiger Bogen aufgespannt bis hin zum Papst im Vatikan, von dessen Autorität der Segen dieser religionsverschiedenen Paarbeziehung abzuhängen scheint. Stephan Lücking bezieht sich bei seiner Formulierung wahrscheinlich auf ein Gespräch mit der Nichte von Safiye Ali-Krekeler aus Steinheim-Ottenhausen.80 Safiye Ali kann hier nur im Sinn- und Denkhorizont eines christlichen Abendlandes mit Vatikan und Papst positioniert werden.

Nachforschungen im Würzburger Bistumsarchiv zu dieser kirchlichen Trauung blieben leider ergebnislos, da die Kirchenbücher der Pfarrei Stift Haug am 16. März 1945 beim Angriff auf Würzburg verbrannten.81 Auch das Archiv der Pfarrei Stift Haug wurde 1945 größtenteils vernichtet. Ähnlich verhält es sich mit Überlieferungen der Zentralverwaltung des Bistums für den entsprechenden Zeitraum. Die Dispenserteilung – also die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung – bei Eheschließungen religionsverschiedener Personen war laut kanonischem Recht von 1917 nach Beantragung durch einen Ortsbischof oder andere (lokale) Amtsträger möglich, es musste also nicht ‚der Vatikan‘ als Gottes Staat auf Erden bemüht werden, um Dispens zu erteilen. Die mit der Ausnahmeregelung geschlossene Ehe war im katholischen Sinne zwar nicht sakramental, so doch unauflösbar. Insgesamt suchte das kanonische Recht mit dieser Regelung die „Gefahr für den Glauben des kath. Gatten u. seiner Kinder“ auszuschließen.82

Ein Nachruf als beziehungsgeschichtliche Quelle

In einem Nachruf von „Dr. Krümmer“ in der Rheinischen Post aus dem Jahre 1952 wird Safiye Ali wegen ihrer Tätigkeit als Ärztin im Zweiten Weltkrieg zur Zeit der Luftangriffe auf Dortmund 1944/45 als „türkische Bunkerärztin“ heroisiert.83 Wenn man weiß, dass Bunkergeschichten in der deutschen Nachkriegsgeschichte dazu dienten, sich als Opfer alliierter Angriffe zu deuten und den Nationalsozialismus als Ursache für den Bombenkrieg zu verdrängen,84 dann heilt die Lichtgestalt der türkischen Bunkerärztin im übertragenen Sinne auch nach ihrem Tode noch die bundesdeutsche Leidensgemeinschaft und die Ärztin kann so als Teil deutscher Identität vereinnahmt werden.

Dieser Nachruf auf Safiye Ali aus der Rheinischen Post ist eine gewichtige Quelle, das zu studieren, was Edward W. Said als „Orientalismus“ benannt hat.85 Sie zeigt zudem, wie ‚Orient‘ als historisches Konstrukt und machtvolle Imagination im Alltag eines bundesdeutschen Massenmediums funktionierte: So wird Safiye Ali als „eine echte muselmanische Türkin“ gezeichnet, „die dem Glauben ihres Volkes treu geblieben und doch in Wissenschaft und Arbeit, Nächstenliebe und Pflichtauffassung zu einem Vorbild abendländischen Wesens geworden ist“.86 Dr. Krümmer beschreibt die Atmosphäre, in der Safiye als Tochter eines Paschas aufwuchs, als eine, „in der alttürkische Haremstraditionen sich mit europäischen Kultureinflüssen maßen“. Hier müssen sich Kulturen messen. Laut Nachruf wuchs in dem jungen Mädchen der Wunsch, „die Fesseln der islamischen Daseinsform endgültig abzustreifen“ und an einer deutschen Universität zu studieren. „Die Luft, die sie hier atmete und der Geist, den sie hier verspürte, zogen sie immer mehr in den Bann“. Abgesehen davon, dass Safiye Ali laut Überschrift des Artikels zwar als große Türkin starb, doch nur an der Seite ihres Mannes Wirksamkeit entfalten konnte, musste sie doch etwas Besonderes sein, als „Ärztin und Frau, als Orientalin und Vertreterin westlicher Sozialauffassungen“.

Für Edward W. Said ist Orientalismus eine Strategie, die dem Westen erlaubt, „in allen möglichen Beziehungen zum Orient stets die Oberhand zu behalten“,87 wobei er Orient nicht als naturräumliche oder geografische Kategorie, sondern als eine soziale und historische Konstruktion sowie als „Symbol der europäisch-atlantischen Macht“88 fasst – mithin als „Menschenwerk“.89 Orientalismus steht für ihn als „Zusammenhang von Wissen und Macht, der ‚den Orientalen‘ erst gebiert und gleichzeitig in gewissem Sinne als Mensch auslöscht“.90 Diese Auslöschung  findet sich im Nachruf des Dr. Krümmer mit seinen Bildern von der „Frau“ und der „Orientalin“, gefesselt  in „alttürkischen Haremstraditionen“ und der „islamischen Daseinsform“.

Bei allem Bemühen, die Ärztin mit diesem Nachruf zu ehren, ist die Machtposition des Schreibenden aus jeder Letter deutlich herauszulesen. Auf allen Ebenen behält er die Deutungshoheit und verhandelt über die Imagination ‚der Orientalin‘ eigentlich die eigene zeitspezifische deutsche Nachkriegsgesellschaft: So betont er, dass sie „dem Glauben ihres Volkes treu geblieben ist“. Hier äußerst sich eine Stimme, die sich dieser Haltung noch einmal vergewissert, auch wenn sie nun – 1952 – durch den Nationalsozialismus allerorten diskreditiert zu sein scheint. Nicht ganz schlüssig wird jedoch auch herausgehoben, dass Safiye Ali-Krekeler zugleich die „Fesseln der islamischen Daseinsform“ abstreifen konnte, nun unter Einfluss europäischer Kulturtraditionen aufopferungsbereit im Bombenhagel ihre Pflicht tat und – dies ist besonders wichtig – sich nicht einfach in ihre eigentliche Heimat, die Türkei, aus dem Staub machte. Es sind militärische Tugenden wie Arbeit, Treue, Aufopferungswillen, Pflicht und Standhaftigkeit, die hier über das Bild der ‚Orientalin‘ verhandelt werden.

Es gibt in diesem Nachruf eine Passage, die angesichts der „ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus der Gegenwart“ in der Mobilisierung von Frauenrechten durch nationalistische und rechtspopulistische Parteien aufhorchen lässt:91  Schon 1952 imaginiert Dr. Krümmer als Schreiber des Nachrufs auf Safiye Ali-Krekeler Europa kulturell höherstehend gegenüber dem rückständigen Orient, weil die Befreiung der Frau schließlich in Europa seit dem ersten großen Krieg (gemeint ist der 1. Weltkrieg, B.K.) vorangeschritten sei, einer Zeit, als die „Befreiung der türkischen Frau noch nicht mehr war, als der Wunschtraum einiger westlich beeinflussten Fortschrittler“.92 In diesem Nachruf wird geradezu mustergültig vorgeführt, wie die ‚Orientalin‘ hergestellt, als Mensch mit einer eigenen Geschichte ausgelöscht und ein hierarisches Verhältnis zwischen Okzident und Orient hergestellt wird.

Forschungsperspektiven

Die Recherchen, die der hier erarbeiteten Biografie von Safiye Ali-Krekeler zugrunde liegen, sind noch nicht abgeschlossen. Ihr Leben, medizinisches und gesundheitspolitisches Wirken eröffnen eine Perspektive, „vor der eine Erinnerungskultur der Einwanderungsgesellschaft neu und ergänzend kontextualisiert und thematisiert werden kann“ – wie es sich Nesrin Tanç wünscht.93 Vor allem die Verflechtungen bürgerlicher Frauenbewegungen und gesundheitspolitischer Fachkollegien im transkulturellen Austausch wären ein spannendes Thema. Hatte Safiye Ali-Krekeler in Dortmund Kontakt mit lokalen Frauenbewegungen? Finden sich die Krekelers im Vereinswesen der Stadt? Lassen sich Spuren finden? Elife Biçer-Deveci hat mit ihren Forschungen zu den Verflechtungen internationaler Frauenorganisationen, in denen sie auch Safiye Ali-Krekeler als Vertreterin der jungen Türkischen Republik berücksichtigt, ein spannendes Feld für weitere Forschungen eröffnet.94 Für eine transkulturelle Medizingeschichte wäre interessant, ob es Überlieferungen zum Aufenthalt Safiye Ali-Krekelers in Düsseldorf gibt, wo sie als junge Medizinerin zum Austausch weilte.95 Dort wirkte Arthur Schloßmann (1867-1832) als „einer der bedeutendsten dt. Kinderärzte seiner Zeit“.96 Er gilt als Begründer der sozialen Pädiatrie und setzte sich für die Einrichtungen von Mütterberatungsstellen und Fürsorgeeinrichtungen sowie die Ausbildung von Fürsorgerinnen, Hebammen und Kinderkrankenschwestern ein – ein Programm, das auch Safiye Ali-Krekeler für die junge türkische Republik in Angriff nahm.

Büşra Kahraman

Zitation: Kahraman, Büşra, Safiye Ali-Krekeler - die erste Ärztin der Türkei in Dortmund, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/safiye-ali-krekeler/

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Soula Palatianou

Soula Palatianou ist 1950 als Soula Dikoliakou im Dorf Dafnoudi geboren, im Norden Griechenlands, nahe der Stadt Serres. Soula ist die Älteste von 3 Kindern. Schon als Mädchen von elf Jahren unterstützte sie ihren Vater Theofanis beim Anbau von Tabak. Das Einpflanzen im Mai war die schwierigste Arbeit, viele anstrengende Einzelschritte waren dafür nötig. Von einem Feld wurden die Setzlinge eingesammelt, um diese dann auf einem anderen, weit entfernten Feld wieder einzupflanzen. Das bedeutete viel Lauferei, Schlepperei, Plackerei.

Wir mussten alle auf die Knie. Wir fingen morgens um halb sechs an und arbeiteten bis neun oder zehn abends. Danach mussten wir dann noch eine Stunde zurück ins Dorf laufen.

Tabak

Im Juli bis September wurde geerntet. Auch die Ernte sei schwierig gewesen, erinnert sich Soula Palatianou heute. Immer habe ihr Vater sie und ihren jüngeren Bruder um zwei oder drei Uhr geweckt, er habe Kaffe gemacht, um die schlaftrunkenen Kinder aus dem Bett zu locken:

Wir hatten einen Esel und ein Pferd. Papa saß immer auf dem Esel, und wir beide auf dem Pferd, rechts und links in den Körben drin. Er hat uns da reingesetzt, und wir konnten nochmal schlafen. Bis zum Feld war es bestimmt eine Stunde. Manchmal schlief auch mein Vater auf dem Esel ein. Einmal sind mein Bruder und ich aus unseren Körben gefallen, da haben wir auf der Straße weiter geschlafen. Und unser Vater ist erst auf halbem Weg aufgewacht und hat gemerkt: da waren keine Kinder mehr! Damals gab es keine Autos, Gott sei dank!

Auf dem Feld erzählte der Vater seinen Kindern Märchen. Wie das der Stringla, einer Hexe oder Vampirin, die allen, die es mit ihr zu tun bekommen, Unheil bringt. Das Märchen war nicht kindgerecht. Aber es war spannend; und erfüllte damit seinen Zweck, die Kinder zur Arbeit zu motivieren.

Bis in die 1950er Jahre war die ganze Region von Makedonien, Thessalien und Thrakien vom Tabakanbau (auf dem Land) und von der Tabakverarbeitung (in den Städten) abhängig. Die Hafenstädte Kavala und Saloniki galten als Hauptumschlagplätze für den sogenannten „orientalischen“ Tabak.

Wie Soula stammen die meisten griechischen Auswanderer, die nach dem Anwerbeabkommen vom 30. März 1960 zur Arbeitsaufnahme nach Deutschland kamen, aus diesen nördlichen Provinzen. Als die griechische Tabakindustrie durch das Vordringen des amerikanischen Virginia-Tabaks nahezu vollständig zum Erliegen kam, hatte das für die ökonomische Situation in den „Armenhäusern“ der nordgriechischen Peripherie katastrophale Folgen. Vielen Familien blieb als letzter Ausweg nur die Migration. Wie auch in der Familie von Soula Palatianou.

So war unser Leben. Sehr arm, aber in der Familie ganz liebevoll. Im Sommer habe ich auf den Tabakfeldern gearbeitet. Im Winter habe ich das Schneidern gelernt. So war mein Leben, bis ich 21 Jahre alt war. Ich wollte weg von dem Dorf. Ich wollte weg von dieser Arbeit. Damals kam eine Bekannte ins Dorf, meine spätere Schwiegermutter. Sie lebte schon in Deutschland. Sie hat mich gesehen, und hat gesagt: Ach, das ist ein schönes Mädchen, es wäre gut, um ihre Hand anzuhalten. Ich kannte meinen späteren Mann überhaupt nicht. Man sagte mir einfach: Dann brauchst nicht mehr in den Tabak, dann hast du ein besseres Leben! So wurden wir von einem auf den andern Tag verlobt. So ging das damals, die Liebe kam mit der Zeit. Ein Jahr nach der Verlobung haben wir geheiratet, und er nahm mich nach Deutschland mit.

Migrantinnen in der Mehrheit

Soula ist die Vertreterin einer ganzen Generation griechischer Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, die zwischen 1960 und 1973 nach Deutschland kamen. Spätestens, als die Bundesrepublik Spaniens Wunsch nach einem Anwerbeabkommen stattgibt, sieht man sich von Seiten des Auswärtigen Amtes und des Bundeswirtschaftsministeriums außerstande, dem griechischen Drängen nach einer Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes noch länger standzuhalten: Am 29. März 1960 wird das Deutsch-Spanische und am 30. März das Deutsch-Griechische Anwerbeabkommen unterzeichnet. In Athen wird die Germanikin Epitropin, die Deutsche Kommission Griechenlands eingerichtet. Die Außenstelle der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg soll im Auftrag der deutschen Unternehmen geeignete Arbeitskräfte rekrutieren, die berufliche und gesundheitliche Eignung der Bewerber feststellen und die Reise nach Deutschland organisieren. Anfang 1961 nimmt die so genannte „Außenstelle“ in Thessaloniki ihre Arbeit auf, bald schon werden hier aber wesentlich mehr Kräfte abgefertigt als von Athen/Piräus. An nur einem einzigen Tag stellen sich in Saloniki bis zu 6.000 Personen vor. Es sind die gesundheitlichen Eignungsprüfungen und die bürokratischen Hürden der deutschen Kommissionen, die vor den Augen der Migranten schier unüberwindliche Hindernisse aufrichten. Ein Teil der Bewerber darf direkt vor Ort den Vertrag unterzeichnen. Zeigt das Röntgenbild aber Lungentuberkulose oder einen Leistenbruch, so wird der Bewerber abgelehnt. Bekommen die Anwärter die „Prassini Karta“ (die „Grüne Karte“), dann dürfen sie passieren, und die legendäre Fähre Kolokotronis setzt sie von Piräus aus über in ein anderes Leben. Auch im Sonderzug Thessaloniki – München wird für viele von ihnen der Grenzübertritt zur „Weichenstellung“ fürs Leben. Wie für Soula Palatianou:

Mein Traum war es zu emigrieren. Ich wollte von der Landwirtschaft weg! Ich hatte immer nur im Kopf, eines Tages werde ich gehen, emigrieren und in einer Firma arbeiten. Mit vielen Menschen, nicht immer nur alleine.

In Thrakien und Mazedonien gab es kaum eine Familie, die nicht von dieser Migration betroffen war. Ein regelrechtes „Migrationsfieber“ brach aus, ganze Dörfer entvölkerten sich. Oftmals herrscht das Bild des männlichen Gastarbeiters vor. Doch bedarf dieses Klischee einer Korrektur: Bei der Deutschen Kommission in Thessaloniki, bei der deutsche Firmen Arbeitskräfte rekrutierten, bezogen sich von Anfang an viele der Anfragen auf Frauen. Im Mai 1961 waren es 58 % – ein Rekord in der gesamten Geschichte der organisierten Anwerbung. Hier in Thessaloniki wurde auch die Firma Johann Wilhelm Scheidt vorstellig, um das Personal für ihre Kammgarnspinnerei in Essen Kettwig anzuwerben. Man erwartete sich von handarbeitserprobten Frauen wie Soula Palatianou ein besonderes „Fingerspitzengefühl“, um sie als Spulerin oder Ringspinnerin einzusetzen.

Die Deutschlandbilder der griechischen Arbeitsmigrant*innen setzten sich aus unterschiedlichen Fermenten zusammen: aus persönlichen Erinnerungen über Greultaten der Deutschen während der Besatzungszeit 1941-44, die sie hier „I Katochi“ nennen. Aber ebenso aus idealisierenden Bildern vom „Wunder“ der deutschen Wirtschaft, wie es in der heimischen Kino-Wochenschau projiziert wurde: Die Deutsche Mark strahlte große Faszination aus, man spürte, dort, in „Europa“, ging etwas vor sich, und man könnte Anteil daran haben. Gleichzeitig war es auch ein Abenteuer, die Heimat zum ersten Mal zu verlassen. Die Hoffnungen auf ein besseres Leben waren groß, ebenso wie die Ängste vor dem Unbekannten, erinnert sich Soula Palatianou:

So schön war es am Anfang nicht in Deutschland. Es war ein schwerer Start. Wir wohnten in nur zwei Zimmern, gemeinsam mit den Schwiegereltern. Auch mit der Sprache hatte ich Probleme. All das machte mich traurig und krank.

Soula Palatianou möchte sich im Ruhrgebiet als Schneiderin selbstständig machen. Aber nach ihrer Ankunft ist das noch nicht möglich. So arbeitet sie zunächst für ein halbes Jahr in der Fabrik.

Ich wollte arbeiten, ich war gewohnt zu arbeiten, vor der Arbeit hatte ich keine Angst. Ich war so fleißig. Ich war immer schneller als die anderen. Genau wie im Dorf, so auch später in der Fabrik. Ich habe viele Überstunden gemacht, in sechs Monaten kamen zwei Monate Überstunden zusammen. Und der Aufpasser sagte zu mir: Soula, du musst ein bisschen langsamer machen, die anderen kommen nicht mit.

Zum magic moment zwischen Frauen und Männern aus Griechenland und Deutschland kam es nur selten. Das Volkslied in Griechenland warnte die Söhne seines Volkes eindringlich, sich in der „schwarzen Fremde“ nur nicht auf eine Frau einzulassen. Hätte ihn die fremde Frau erst einmal in ihre Netze verstrickt, wäre er für seine Heimat verloren. So blieben die meisten Griechinnen und Griechen unter sich und warben um einander. So entspannen sich im Ruhrgebiet unzählige Liebesgeschichten. Soula wurde schwanger, und sie bekam mit ihrem Mann Ioannis ihr erstes Kind, Dakis.

Trennungsgeschichten

Wie viele der damaligen Gastarbeiterinnen will sie sich für einige Jahre aufs Geldverdienen konzentrieren, so schickt sie ihren erstgeborenen Sohn nach Griechenland zu den Großeltern. Es war durchaus üblich, dass so genannte „Gastarbeiterkinder“ bei ihren Großeltern in Griechenland aufwachsen.

Um die Eltern, die zum Arbeiten in Deutschland sind, an der Entwicklung ihrer Kinder Anteil nehmen zu lassen, ließen Großmütter damals die Hände der Enkel und Enkelinnen auf Papier aufmalen. Und wenn die Mädchen die Sehnsucht nach ihrer Mutter überkam, dann gingen sie zu ihrem Kleiderschrank und atmeten den Duft ihrer Kleider ein. Häufig dauerten diese Trennungsgeschichten zwischen Eltern und Kindern über zehn Jahre. Soula hält es nicht so lange aus. Als die Fabrik schließt, holt sie Dakis wieder zu sich nach Essen Kettwig zurück. Und sie beginnt wieder zu nähen.

Ich fand eine kleine Näh-Tätigkeit bei einem Änderungsschneider, die ich daheim erledigen konnte.

Zur Zeit der Anwerbung der Gastarbeiter ist der Zenit der Industriearbeit paradoxerweise bereits überschritten. Die Struktur der Arbeitswelt hat sich seit der Mitte der Siebziger Jahre umfassend transformiert. Die Ära des blue collar-worker ist vorbei, Fließbandarbeit und Massenarbeit geraten in die Krise. Zahlreiche Griechen in Essen Kettwig machen sich in dieser Umbruchphase – die für viele von ihnen zugleich eine Phase der Niederlassung ist -, selbstständig, zunächst mit einfachsten Mitteln. Sie eröffnen Tavernen oder Schneidereien. Zunächst kommen Soulas Aufträge über eine Freundin. Dann bekommt sie selbst eine Anstellung in der Schneiderei. Zwei Jahre arbeitet sie hier und lernt das Schneiderhandwerk noch einmal von Grund auf.

Dabei wuchs in mir immer mehr der Wunsch, mich auf diesem Gebiet selbstständig zu machen. Es war sehr schwer, geeignete Räumlichkeiten zu finden, tatsächlich tat sich dann etwas auf. Mein Mann Ioannis ist handwerklich sehr begabt und hat meinen Laden ganz alleine eingerichtet. Er selbst arbeitete in der Wechselschicht bei Axel Springer und druckte dort die Bildzeitung.

Fünf Jahre arbeitet Soula nun als selbstständige Schneiderin. Doch als sie mit dem zweiten Kind schwanger wird, wird es selbst für die unerschrockene Frau immer schwieriger, ihr Leben zu meistern.

Ich war schwanger mit unserem zweiten Kind Maria. Dennoch musste auch der Betrieb meiner Änderungschneiderei weiter laufen. Ich hatte keine Hilfe beim Nähen, ich musste alles alleine machen. Selbst mit dem hochschwangeren Bauch kniete ich zu den Anproben auf dem Boden. Die Kunden liebten mich, und ich wollte niemanden enttäuschen. Aber das war einfach zu viel für mich.

Nur eine Wochen nach der Geburt ihrer Tochter war Soula Palatianou schon wieder an der Arbeit. Sie nimmt das Baby mit in die Schneiderei. Doch Maria will versorgt werden, und so wird es immer schwieriger, das Leben als Geschäftsfrau und Mutter zu vereinbaren. Am Ende schlagen die Schwierigkeiten in echte Verzweiflung um.

Einmal kam eine Kundin. Und ich hatte Maria im Arm, und das Kind weinte. Und ich weinte auch, ich war einfach total überfordert. Und da sagte die Frau: Wenn Sie wollen, ich kann Ihnen helfen. Ich kann das Kind mitnehmen. Ich fragte nur: Wo wohnen sie denn? Sie sagte da und da: Ich hab einen Wagen und ich nehme sie mit. Und dann hab ich ihr Maria einfach mitgegeben! Heute klingt es unglaublich! Später war ich mit meinem Mann dort, sie hatte ein schönes Haus, sie war Fotografin. Das hat sie dann ein paar Monate lang so gemacht. Hat sogar Sachen für Maria gestrickt. Für mich war das ein Gottesgeschenk. Er hat auf einen Schlag alle Sorgen von mir genommen.

Griechische Infrastruktur

Die Wanderungsbewegungen seit dem Zweiten Weltkrieg, die im Kontext der Neuordnung Europas, dem Kalten Krieg und dem „Wirtschaftswunder“ in Westdeutschland standen, haben unsere Stadtgesellschaften grundlegend verändert. Migration ist nicht Randphänomen der Verstädterung, sondern vielmehr einer ihrer eigentlichen Motoren. In Essen Kettwig wird die Migration aus Griechenland im Stadtbild sichtbar. Von der Migration zur „Einwanderung“ ist es ein weiter Weg. Es bedeutet Anspannung, sich in einem fremdsprachlichen Raum zu bewegen. Es kostet Anstrengung, neben und nach der Arbeit eine Sprache zu lernen. In der Begegnung mit den Einheimischen ist da immer ein Gefälle: Wo der eine stottert, um jedes Wort ringt, da zeigt der Andere sein Heimrecht schon allein, indem er die Sprache beherrscht. Aber allmählich gewöhnt man sich ein. Die Gewöhnung stiftet den Zusammenhang, macht aus den Gegenständen, die in der Umwelt lagern, einen Orientierungsraum: Einem Blinden gleich, der lernt in der vertrauten Umgebung ohne Stock zu gehen – und ohne Zögern. Eine Erfahrung, die mit der Zeit auch Soula Palatianou machte: Sie verstand immer mehr. Sie wurde mutiger. Machte Ausflüge in die Umgebung. Der vielleicht wichtigste Treffpunkt – und zugleich einer der zentralen Erinnerungsorte der Griechen von Kettwig – war die Ruhr. Hier am „Ententeich“, wie der Kettwiger Mühlengraben genannt wurde, verabredete man sich im Sonntagsstaat zur „Volta“. Hier machte man Picknick, spielte auf griechische Art mit Murmeln, las Zeitung oder schaute sich die Passanten an, die von Kettwig Vor der Brücke herüberkamen. Jedenfalls, wenn man bei all der Arbeit dafür die Muße fand.

Damals hatten wir noch nicht so viel Kontakt zu Deutschen. Was uns aber immer besonders gefiel war die Weihnachtszeit. Alles war so schön geschmückt, die Bäume und die Weihnachtsmärkte mit den vielen Lichtern waren wunderschön und uns nicht bekannt aus unserer Heimat. Auch meine Eltern kamen uns meistens zu dieser Zeit besuchen. Und der Sonntag war ein besonderer Tag. Da haben wir uns schön angezogen. Schöne Kleidung hat mir immer gefallen, schon seit ich ein kleines Mädchen war, und dann durch meine Arbeit als Schneiderin.

Die Religion der ersten Migrantengeneration ist eine „delokalisierte Religion“ – eine Religion, die in der Fremde wiedererrichtet wird. Die Kirchendiener der Orthodoxen sind anfangs mobile Einheiten, die im Bedarfsfall einer Hochzeit, einer Taufe oder einer Beerdigung zum Einsatz kommen. Die „sieben Sachen“ für die Liturgie haben sie im Auto, zelebriert wird überall, im Wohnheim, im Park, in gemieteten Sälen oder den Schwesternkirchen. Man improvisiert viel: baut Ikonostasen aus Kalenderblättern, der Waschzuber wird zum Taufbecken umfunktioniert.

Sonntags haben wir regelmäßig in Düsseldorf den Gottesdienst besucht. Auch da waren immer viele griechische Familien. Aber ansonsten gab es für uns nur Arbeit, Arbeit, Arbeit.

Das Projekt der Gastarbeiter:innen sieht vor, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld zu verdienen. Dieser Wunsch kollidierte bei Soula Palatianou mit dem eigenen Verständnis von Mutterschaft. In ihrer Geschichte ist diese Doppelbelastung spürbar. Und ihre Erzählung belegt, wie wichtig auch Zivilcourage war, um ihre Kinder in Deutschland „durchzubringen“.

Patatadiko in Essen Kettwig

Mit zwei Kindern konnte ich nicht länger in der Schneiderei arbeiten, während mein Mann seine Schichten fuhr. Eine Freundin hatte eine Pommesbude. Sie hat gesagt: Soula, wir gehen nach Griechenland zurück, und wir wollen verkaufen. Das ‚Patatadiko‘ haben wir dann übernommen. Um das Geschäft aufbauen zu können – wir hatten noch keine Unterstützung – habe ich dann auch Maria zu den Großeltern nach Griechenland geschickt. Das war sehr schwierig für mich, ohne meine Tochter Maria zu sein. Weihnachten hab ich sie schon wieder zurückgeholt. Da hatten wir einen zusätzlichen Mitarbeiter für die Pommesbude gefunden, und ich konnte bei den Kindern bleiben.

Mittlerweile gab es in Essen Kettwig eine gut vernetzte und weit verzweigte griechische Subkultur. Neben griechischen Ärzten und Anwälten fanden sich hier in den 1970er und 1980er Jahren auch griechische Lebensmittelgeschäfte, Schneider, Schuster, Versicherungen, Reisebüro, Kulturvereine, Cafeterias. Man besucht das „Kafenion“, versorgt sich in einer eigenen Videothek mit griechischen Filmen. Im Hexenberg-Kino gab es in regelmäßigen Sonntagsmatineen die Möglichkeit, griechische Heimatfilme zu sehen. Hier war es sogar erlaubt, die griechischen Sporia – Sonnenblumenkerne – zu knacken und zu kauen. So bot das Kino Unterhaltung und ein Gemeinschaftserlebnis der besonderen Art. Im Molin Rouge in der Altstadt, später in Akropolis umbenannt, konnte man abends seinen Ouzo trinken, oder deutsches Bier, und Karten spielen. Hier mussten Kinder ihre Väter abholen, dass sie nicht den ganzen Lohn verspielten. Hier steht auch eine Musikbox. „Nostalgia, Nostalgia, Nostalgia“ scheint in den frühen Jahren der Migration das alles beherrschende Motiv zu sein und Musik das Medium par excellence, ihr Ausdruck zu verleihen. Stelios Kazantzidis war die große Stimme der sehnsuchtsgetränkten griechischen Gastarbeiterballade: „Der Zug fährt ab und pfeift ständig, wie ein Klagelied, Trostlos beklage ich mein Schicksal, Warum kann meine Heimat ihre Kinder nicht ernähren, Sie haben uns verkauft, Hier, wo wir aus dem Leben ausgesperrt sind, Ich fühle eine schwere Müdigkeit in meinem Körper und im Herzen …“

Ich hatte aber immer auch Heimweh nach Griechenland. Wir haben auch jedes Jahr mit den Kindern Urlaub in Griechenland gemacht. 5-6 Wochen. Wir haben das immer sehr genossen mit unseren Eltern.

Soula Palatianou hatte Sehnsucht nach Griechenland. Ins Kettwiger Nachtleben zog es sie weniger. Für Unterhaltung dieser Art hatte sie keine Zeit.

Ich hab meinen Mann abgelöst [im Imbiss], damit er zu Hause Pause machen kann. Währenddessen habe ich immer mit den Kindern telefoniert, um Kontakt zu halten und zu hören, was sie machen. Einmal hat mein Sohn Dimokratis dann am Telefon gesagt, die kleine Maria hätte einen Pfennig in den Mund gesteckt und verschluckt. Jetzt könnte sie nicht mehr sprechen. Ich hab gesagt, er soll sofort seinen Vater wach machen. Mein Mann kam dann in den Laden, und ich bin schnell nach Hause. Ich habe Maria genommen, und wir sind zum Doktor Remi. Der hat sie gesehen und meinte, vielleicht sei sie nur erkältet. Ich hab gesagt, nein, sie hat eine Münze verschluckt! Geröntgt hat der Arzt sie trotzdem nicht. Er meinte, wir sollen sie zwei Tage beobachten, sonst sollen wir wiederkommen. Ich war dann einen Tag mit ihr zu Hause, hab ihr Essen gegeben, aber sie konnte es gar nicht herunter schlucke!. Ich hatte wirklich ein sehr ungutes Gefühl. Also bin ich wieder zu dem Arzt, dann hat er sie endlich geröntgt. Und gesehen, der Pfennig steckte quer in ihrem Hals! Da sagte er, das Kind muss sofort ins Krankenhaus. Und die Ärztin im Krankenhaus hat den Pfennig rausgeholt, ohne Operation, Gott sei Dank!

Später ging Maria in den Kindergarten, dann wurde es einfacher. Dann haben wir auch eine neue Wohnung bekommen, direkt neben dem Imbiss. Maria konnte in der Pommesbude ihre Schulaufgaben machen, so hatte ich sie in der Nähe. In der Pommesbude gab es eine Ecke mit Spielautomaten. Da kamen auch die Jugendlichen von der Schule, und Maria lernte lauter Worte, die sie eigentlich nicht lernen sollte. Ich war damals Anfang 30, und wurde zur Mutter für alle Kinder und Jugendlichen in Kettwig. Sie kamen in den Laden und riefen: ‚Mutter, gib mir eine Pommes, gib mir ein Schaschlik Spieß.‘ Der Laden lief gut. Von dem Geld konnten wir auch das alte Haus in Griechenland, mein Elternhaus, niederreißen und ein neues bauen, und ein weiteres Grundstück kaufen. Wir haben mit nichts angefangen, und dann doch etwas aufgebaut.

Anwesenheit und Abwesenheit

Im Familienalbum der Familie Palatianou finden sich Bilder der Anwesenheit und der Abwesenheit. Anwesend im Ruhrgebiet war die Familie, die Soula und ihr Mann gegründet hatten. Abwesend waren dagegen die Familien, denen sie selbst entstammten, die in Nordgriechenland geblieben waren. Wie Soula von der Selbstständigkeit träumte, so auch davon, ihre Familie über die Generationen eines Tages wieder zu vereinen.

Wir dachten immer, wir gehen nach Griechenland zurück. Wir haben nicht gedacht, dass wir hier in Essen Kettwig bleiben würden. Ich wollte immer meinen Eltern helfen, wenn sie alt sind. Wir hatten eine sehr gute Beziehung. Ich habe meinen Vater so lieb und er hat mich auch so lieb. Eines Tages wurde mein Vater plötzlich krank, 1989, Krebs. Das war ein großer Schlag für mich, für uns alle. Ich bin direkt nach Griechenland aufgebrochen, doch ich konnte es nicht ändern: innerhalb von nur einem Monat ist er gestorben. Damals hab ich gedacht, so ist das Leben, nur ein Monat, und alles kann vorbei sein. Danach war ich richtig angeschlagen, erschöpft, ängstlich – der Schock hat mich krank gemacht.

Der Tod des Vaters traf Soula Palatianou schwer. Doch in der Folge erlebte sie eine Art Erweckung – oder Bekehrung. War sie auch ihr Leben lang jeden Sonntag mit den Kindern in den orthodoxen Gottesdienst in Düsseldorf gegangen, hatte sie doch nie die Bibel gelesen, hatte nicht wirklich nach Gott „gesucht“. Das änderte sich nun:

Dann kam ich nach Deutschland zurück, und noch immer war ich unendlich traurig. Damals, 1993, hat Maria im Garten eine kleine Katze gefunden. Und wir hatten mit unserer deutschen Nachbarin Probleme deswegen. Wir hatten richtigen Streit, sie hat die Tür im Hausflur geknallt und meinen Sohn angeschrien. Das hat bei mir eine richtige psychische Krise ausgelöst.

Bis dann ein frommer Mann ins Haus kam, der Dr. Weiß von der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde, der wollte uns versöhnen. Unsere Nachbarin ging zu einer Seniorenstunde der Gemeinde. Ich hatte Kuchen gemacht, damit wir uns zusammensetzen und reden. Und Dr. Weiß hat dann angefangen mit uns zu beten. Da hat Gott irgendwie mein Herz aufgemacht. Ich wollte dann jeden Sonntag in die evangelisch-freikirchliche Gemeinde gehen und mehr von Gottes Wort hören. Maria nahm ich mit. Für mich ist der Glaube das größte Geschenk, das ich in Deutschland schließlich gefunden habe. Das Kostbarste. Etwas, dessen Wert sich gar nicht bemessen lässt.

Heute hat die Mehrheit der Griechen ihre Zelte in Essen Kettwig abgebrochen: Sie sind heute die Besitzer jener Bauten rund um den alten Dorfkern, Altersvorsorge in Beton gegossen. Andere wie Soula haben den Traum von der Rückkehr nie aufgegeben, aber immer weiter aufgeschoben. Im Alter können sie nicht mehr auf die Zukunft wetten, die Rückkehroption entpuppt sich als eine Illusion. Soula Palatianou ist heute mehrfache Oma. Ihr Sohn Takis hat eine Familie gegründet, ebenso wir ihre Tochter. Maria hat an der Folkwang Universität in Essen Design studiert und ihren Abschluss mit einem Buchprojekt über Begegnungsorte von Griechen und Deutschen gemacht, wie die Pommesbude der Familie eine war.1 Heute haben Soula Palatianou und ihr Mann die Pommesbude abgegeben. Soula macht gelegentlich noch Schneiderarbeiten von zu Hause aus. Und sie liest immer noch jeden Tag in der Bibel, verfasst sogar selbst kleine Predigten, die sie in Form von Sprachnachrichten an ihre Freunde schickt. Für diese spirituelle Berufung lässt die ehemalige Gastarbeiterin Soula Palatianou sogar mal ihre Arbeit liegen.

Dr. Manuel Gogos/ Geistige Gastarbeit

Orte:

Imbiss: Hauptstraße 44, 45219 Essen.

Zitation: Gogos, Manuel, Soula Palatianou, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/soula-palatianou/

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Arbeiterinnenleben im Ruhrgebiet in der Nachkriegszeit

Die Herrenwäschenäherinnen in Recklinghausen

In seiner Schrift „Die Deutsche Bildungskatastrophe“ stellte Georg Picht 19641 fest, dass die ‚Katholische Arbeitertochter vom Land‘ im Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland zu den besonders Benachteiligten zählte. An ihr ließe sich eine Mehrfachbenachteiligung festmachen. Die katholischen Arbeitertöchter im Ruhrgebiet hatte er nicht im Blick. Nicht nur er, sondern auch der größte Teil der späteren feministischen Bildungsforschung hat sich kaum mit ihnen befasst.

Seit Beginn der 1980er Jahre gab es eine Fülle von Veröffentlichungen zur Bildungsbe(nach)teiligung von Mädchen und Frauen ebenso wie zu deren Erwerbssituation. Bei dem Versuch, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, stößt frau auf zahlreiche Forschungsergebnisse zu Lehrerinnen, Frauen in sozialen Berufen, Ärztinnen, Krankenschwestern und Akademikerinnen fast aller Fachrichtungen. Auch die Karrieremöglichkeiten in anderen Berufen wurden thematisiert.

Gemeinsame Blickrichtung fast aller Untersuchungen und Veröffentlichungen ist der soziale Aufstieg durch Bildung. Der verborgene Subtext lautet zugespitzt: Alle Frauen – selbstverständlich auch die katholischen Arbeitertöchter – sollten nach Möglichkeit mit Bildung und einer entsprechenden Berufswahl versuchen, dem ihnen drohenden Schicksal einer abgehängten und abhängigen Existenz zu entgehen.

Über die tatsächliche Lebens- und Bildungsrealität der Arbeitertöchter in der Nachkriegszeit gab und gibt es kaum Untersuchungen.2 Das war aber das Thema, das uns – den Arbeitskreis Recklinghäuser Frauengeschichte – besonders interessierte. Unser Augenmerk richtete sich auf diejenigen Mädchen und Frauen, die in der Nachkriegszeit im Ruhrgebiet in der Bekleidungsindustrie Ausbildungen und Arbeitsplätze gefunden hatten. Auch in Recklinghausen gab es entsprechende Erwerbsmöglichkeiten. Als wir mit unseren Recherchen zu diesem Thema begannen, war uns nur bekannt, dass es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in der Recklinghäuser Innenstadt mindestens eine Bekleidungsfabrik gegeben hatte, bei der vor allem Frauen beschäftigt waren. Nähere Informationen dazu gab es – auch im städtischen Archiv – so gut wie gar nicht.

Erst ab 2017 kamen wir über verschiedene Artikel in der Recklinghäuser Zeitung in Kontakt mit Zeitzeuginnen, die uns an ihren Erinnerungen teilhaben ließen und uns vor allen Dingen private Fotos, Zeugnisse und Dokumente zur Verfügung stellten. Wir führten zahlreiche interessante Gespräche mit lebensklugen und zupackenden Frauen, die – trotz widriger Bedingungen – ihr Berufsleben gemeistert, Kinder großgezogen und z. T. interessante Berufswege genommen hatten. Zehn der 15 von uns porträtierten Frauen3 möchte ich im Folgenden darstellen und ihre Gemeinsamkeiten herausarbeiten. Es handelt sich um: Margarete Kijak, geb. 1929, Ursula Westhues, geb. 1930, Edelgard Holtbrügge, geb. 1931, Christa Werdnik, geb. 1931, Maria Knicia, geb. 1934, Elisabeth Recktenwald, geb. 1935, Gisela Schiwkowski, geb. 1936, Maria Hettmer, geb. 1938, Christel Schlüter, geb. 1939 und Helga Töpfer, geb. 1942.

Familiärer und zeitgeschichtlicher Hintergrund
Die zehn hier vorgestellten Frauen gehören den Jahrgängen 1929 bis 1942 an. Alle sind Töchter aus Arbeiter- bzw. Handwerkerfamilien. Sieben von ihnen wurden in Recklinghausen bzw. Herten geboren, zwei in Pommern, eine in Polen. Die Hälfte der Zeitzeuginnen hatte als Kind bzw. Jugendliche Fluchterfahrungen, aufgrund von Evakuierungen im Zweiten Weltkrieg auch zwei der gebürtigen Recklinghäuserinnen.

Wie nachhaltig diese Ereignisse die Frauen geprägt haben, wurde in den Gesprächen mit ihnen deutlich. Ursula Westhues beispielsweise konnte noch sehr ausführlich ihre Erfahrungen bei der schwierigen und z. T. gefährlichen Rückreise von der Kinderlandverschickung in Bayern nach Recklinghausen schildern. Christel Schlüter flüchtete mit Mutter und Bruder von Danzig nach Dänemark. Dort wurde sie eingeschult. Auch bei ihr waren diese Erfahrungen noch sehr präsent. Erst ab 1947 lebte die Familie wieder zusammen mit dem Vater in Recklinghausen.

Die Schwierigkeiten der Nachkriegsjahre spiegeln sich insbesondere in den Berichten der ältesten Zeitzeuginnen wider. Margarete Kijak berichtet davon, dass die Familie dringend auf ihr Erwerbseinkommen angewiesen war. In der Erzählung von Christa Werdnik werden die Existenzsorgen daran deutlich, dass die Angst bestand, dass Flüchtlingskinder keine Lehrstelle bekommen würden. Dank der Tatsache, dass ihr Vater in einem Kaufhaus (Banniza) in der Innenstadt arbeitete, in dessen Räumen in der ersten Etage eine Bekleidungsfabrik (Textilfabrikation GmbH, später Turf) ihre Arbeit aufgenommen hatte, konnte sie dort 1947 eine Lehre als Herrenwäschenäherin beginnen.

Bildungswege und Berufswahl
Wie in der damaligen Zeit üblich haben alle Frauen die achtklassige Volkschule besucht. Das bedeutet, dass i. d. R. die Grundbildung mit 14 bzw. 15 Jahren abgeschlossen war. In allen Gesprächen – auch mit den hier nicht porträtierten Zeitzeuginnen – wurde deutlich, dass die Suche nach einer Lehrstelle für die Mädchen wie für ihre Familien eine Selbstverständlichkeit war. Bis auf eine Frau haben alle eine Ausbildung absolviert, allerdings nicht immer in dem von ihnen gewünschten Beruf. Frau Kijak machte eine kaufmännische Ausbildung. Nachdem sie diese Stelle verloren hatte, bewarb sie sich bei der Firma Povel und arbeitete dort als Plätterin und Hemdenlegerin.

Frau Westhues hatte gerne Lehrerin werden wollen, aber in den Wirren der Nachkriegszeit gab es keine Möglichkeit zu einem weiteren Schulbesuch oder einer entsprechenden Ausbildung. Da sie über die notwendigen Fertigkeiten verfügte, konnte sie in einem Handarbeitsgeschäft und bei einer Herrenausstattungsfirma arbeiten. Durch eine Anzeige wurde sie darauf aufmerksam, dass die Fa. Povel Näherinnen suchte. Im Januar 1949 begann ihre Beschäftigung in der Waldstraße. Sie hat keine Lehre gemacht, sondern wurde angelernt und hat dann Schürzen und Hemden genäht.

Vier der Frauen gaben an, dass sie gerne Schneiderin geworden wären. Edelgard Holtbrügge wollte Putzmacherin werden. Helga Töpfer wäre gerne Verkäuferin geworden, was sie nach der Familienphase (ab 1980) auch umsetzen konnte. Nur eine von ihnen, Maria Hettmer, absolvierte eine Schneiderinnenlehre. Bei ihr waren die familiären Beziehungen dafür sicher auschlaggebend. Ihre Tante, Frau Dodt, betrieb eine Schneiderei, in der sie schon als 12-jährige mitgeholfen hatte. Die wenigen kleinen Schneidereien in der Stadt konnten gar nicht so viele Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen, wie sie von den jungen Frauen nachgefragt wurden.

Das Ausbildungsplatzangebot für Mädchen mit Volksschulabschluss war in dieser Montanregion in der Nachkriegszeit insgesamt nicht sehr umfangreich. Da waren die Ausbildungsplätze für eine Anlernausbildung in den vor allem seit 1947 in Recklinghausen ansässigen Bekleidungsfabriken eine gute Möglichkeit. Sieben der zehn Zeitzeuginnen haben die eineinhalbjährige Ausbildung absolviert. Wichtig war, dass mit der Ausbildung im Anschluss an den Schulabschluss begonnen werden konnte.

Die Entscheidungen für einen bestimmten Ausbildungsberuf wurden in den Familien recht unspektakulär getroffen. Anzeigen oder Informationsveranstaltungen der Fabriken bildeten die Ausnahme. Bereits bestehende Arbeitsverhältnisse von Angehörigen ebenso wie Hinweise von Familienmitgliedern, Nachbarinnen und Nachbarn waren die Entscheidungsgrundlage. Hinzu kam die – im Verhältnis zu anderen Berufen für Mädchen und junge Frauen – relativ gute Bezahlung in den Bekleidungsfabriken.

Anlernausbildung
In Recklinghausen gab es ab Ende der 1940er Jahre vier mittelständische Betriebe mit 300 bis 500 Beschäftigten. Die Firmen: Wilhelm Laarmann Bekleidungswerk GmbH, Textilfabrikation GmbH (später Turf), Münsterländische Textilgesellschaft mbH (später Condor) und Paul Povel KG bildeten Herrenwäschenäherinnen aus. Die Lehrlinge arbeiteten dort unter Anleitung einer für die Ausbildung zuständigen Direktrice. Die Ausbildung zur Herrenwäschenäherin war eine duale Ausbildung, d. h. die Mädchen waren fünf Tage die Woche im Betrieb und gingen samstags in die Berufsschule. In manchen Fabriken gab es eine gesonderte Anlernwerkstatt, die von einer Direktrice geleitet wurde, in anderen sogenannte „Storchenbänder“, an denen die Lehrlinge und Schwangeren arbeiteten.

1954 schildert Magdalene Küper, Ausbildungsdirektrice bei der Fa. Povel in der Betriebszeitung die ersten Wochen der Ausbildung: „Zuerst mußten die Mädchen mit den elektrischen Maschinen vertraut gemacht werden. Manch schwerer Seufzer wurde dabei zum Himmel geschickt, und jede glaubte, das Maschinennähen nie zu lernen. Immer wieder mußte ich helfend einspringen und Mut machen. Nachdem wir die ersten Nähversuche hinter uns hatten und jede mit der Maschine umzugehen wußte, übten wir fleißig Nähte, Säume, Falten, Biesen usw. In der zweiten Woche gingen wir schon ein Schrittchen weiter. Da wurden Flicken eingesetzt, Knopflöcher ausgesteppt, Paspeln geübt, Kanten mit Schrägstreifen eingefaßt und Schlitzbesätze gesteppt. Und dann wurde die Arbeit schon interessanter (…). Zum Abschluß der ersten vier Wochen gab ich den Mädchen eine kleine Prüfungsarbeit. An einem Mustertuch sollten sie mir nun ohne Hilfe zeigen, was sie bisher gelernt hatten.“ (Küper 1954).4

Bei Christel Schlüter werden 1955 in ihrem Berichtsheft auch andere Seiten der Ausbildung bei der Fa. Turf erwähnt: „Meine tägliche Arbeit ist, morgens Staubputzen und wenn ich dieses verrichtet habe, darf ich nähen. Zuerst mußte ich gerade Nähte nähen üben, dann durfte ich Unterkragen nähen und Stäbchentaschen annähen. Dann durfte ich Kragen vornähen und sie an der Presse umdrehen und pressen. Am anderen Tag durfte ich die Kragen übersteppen und einnähen und Manschetten vornähen und übersteppen. Dieses aber war nur alles Übungsarbeit. Jetzt näh ich schon Kragen und Manschetten, die gebraucht werden. Das macht mir auch viel mehr Mut und ich streng mich auch viel mehr an, als bei den Übungsarbeiten, weil diese Sachen ja gebraucht werden müssen. Ich hoffe auch, daß ich nach meiner 1 1/2jährigen Lehrzeit erfolgreich weiterkomme.“5
Nachdem die Lehrlinge die Probezeit bestanden hatten, begann das Hemdennähen. Und mit zunehmender Sicherheit war „vorgesehen, dass die Mädchen zwischendurch auch im Nähsaal in der Produktion eingesetzt werden, damit sie die Bandarbeit gründlich kennenlernen“ (Küper 1954).

Ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung im Betrieb war das Führen eines Berichtsheftes, das alle sechs bis acht Wochen von den Chefs oder der Direktrice abgezeichnet werden musste und auch in der Berufsschule vorgelegt werden sollte. Nicht alle Auszubildenden haben diese immer so umfassend ausgefüllt, wie es zu unserem Glück Gisela Schiwkowski (geb. 1936) und Christel Schlüter (geb. 1939) gemacht haben, deren Berichtshefte uns vorliegen. Manchmal finden sich Stichworte zu den Tätigkeiten der Woche, manchmal wurden die Arbeiten ausführlich beschrieben sowie Zeichnungen und Stoffproben eingefügt. Im Heft von Gisela Schiwkowski fand sich auch eine genaue Schilderung des Betriebsausflugs im Jahr 1953.

Der Berufsschulunterricht für die Herrenwäschenäherinnen fand samstags in der Berufsschule in die Kemnastraße statt. Leider liegen uns nur wenige Daten dazu vor. 1952 z. B. besuchten 354 Mädchen die Klassen im Bereich Textilherstellung und -verarbeitung. Das lässt vermuten, dass es außer den vier mittelständischen Herrenwäschefabriken noch andere Ausbildungsbetriebe gab, zu denen uns allerdings leider keine Daten bekannt sind.

Einige der Zeitzeuginnen haben sehr anschaulich über die Aufgaben bei der praktischen Lehrabschlussprüfung erzählt. Konkretisiert werden diese im Berichtsheft von Gisela Schiwkowski mit den „46 Schritten bei der Herstellung eines Herrenoberhemds“. Diese Arbeitsschritte mussten die angehenden Herrenwäschenäherinnen in eineinhalb Stunden erfolgreich abarbeiten, um die praktische Prüfung zu bestehen.

Mit diesem Prüfungsteil der Anlernausbildung und der ebenfalls erfolgten theoretischen Prüfung durch die Industrie- und Handelskammer6 war die Schulpflicht der jungen Frauen noch nicht beendet. Diese ging bis zum 18. Lebensjahr. Sie arbeiteten fünf Tage die Woche in der Fabrik und gingen am Samstag weiter zur Berufsschule. Wie man aus zwei uns vorliegenden Abschlusszeugnissen der Berufsschule ableiten kann, wurden sie in den nun folgenden Schuljahren vor allem auf ihre künftige Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereitet. Sie lernten u. a.: Gesundheitspflege, Säuglingspflege, Ernährungslehre und Nahrungszubereitung. Die berufsfachlichen Fächer entfielen.

Die Berichtshefte der Frauen und vor allem ihre Lehrverträge und IHK-Zeugnisse brachten zutage, dass es sich bei der eineinhalbjährigen Anlernausbildung um eine von der Industrie- und Handelskammer anerkannte und mit einem Zertifikat abgeschlossene Ausbildung handelte. Bisher war in der entsprechenden Fachliteratur davon kaum etwas zu erfahren. Erst mit der Berufsbildungsreform am Ende der 1960er Jahre wurde die Unterscheidung in Lehrausbildung (i. d. R. dreijährig) und Anlernausbildung (i. d. R. eineinhalbjährig) durch ein Stufensystem ersetzt. Der Begriff des „Angelerntseins“ muss daraufhin eine neue Bewertung erfahren. Den jungen Frauen wurden nicht nur wenige Tage bzw. Wochen die notwendigen Handgriffe gezeigt, sondern die Anlernausbildung war durchaus eine anspruchsvolle und in Praxis und Theorie die Auszubildenden herausfordernde Ausbildung. Sie waren nicht „nur“ angelernt, wie es vielfach genannt wurde.

Erwachsenwerden in der Fabrik
Die von uns befragten Frauen waren beim Beginn ihres Erwerbslebens noch sehr jung, da die Volksschule damals nur acht Schuljahre umfasste. Sie waren zwischen 15 und 17 Jahre alt, Helga Töpfer sogar 14 Jahre. Das bedeutet, dass sie die ersten Schritte ins Erwachsenenleben in der Bekleidungsfabrik verbrachten.

Für diese Jugendlichen war die Firma nicht nur Lern- und Arbeitsort, sondern sie bot ihnen auch das Erlebnis der Zusammenarbeit in einer Gruppe Gleichaltriger. In ihren Erzählungen betonten sie dessen Bedeutung dadurch, dass sie den Zusammenhalt unter den Kolleginnen hervorhoben, z. B. die gegenseitige Unterstützung bei Reklamationen. Manche trafen sich schon auf dem gemeinsamen Weg zur Arbeit, sei es zu Fuß, mit dem Fahrrad oder der Straßenbahn. Fast alle hatten eine Kindheit erlebt, die vom Krieg und dessen Auswirkungen geprägt war. Durch die Arbeit und das Zusammensein mit Gleichaltrigen ergaben sich neue Perspektiven und vor allem gemeinsame Unternehmungen.

Die meisten der Zeitzeuginnen erinnerten sich gerne an diese Zeit und berichteten von langjährigen Freundschaften unter den Lehrlingen. So sagte z. B. Maria Knizia: „Ich hatte eine wunderschöne Lehrzeit. Wir Lehrlinge haben auch nach der Lehrzeit noch viel zusammen gemacht.“ Fast alle erzählten sehr positiv über die jährlichen Betriebsausflüge und Betriebs- wie Weihnachtsfeste, z. B. Gisela Schwikowski über den Betriebsausflug: „Gegen 9:00 Uhr nachts waren wir wieder in Recklinghausen. Ein wunderschöner Tag lag hinter uns, an den wir immer wieder gerne zurückdenken.“7 Viele der Frauen haben über die Jahrzehnte Fotos von Lehrlingsgruppen, Festen und Ausflügen aufbewahrt, die deren persönliche Bedeutung unterstreichen.

Arbeit in der Herrenwäschefabrik
Ebenso wie es selbstverständlich war, dass die jungen Mädchen eine Ausbildung machten, war es selbstverständlich für die meisten Mädchen wie für die Betriebe, dass die Ausgebildeten übernommen wurden. Hermann Hamm, Inhaber der Fa. Turf betonte z. B. 1972 im Prospekt zum 25-jährigen Firmen-Jubiläum, dass an seinen Bändern ausschließlich gelernte Fachkräfte arbeiteten.

Der größte Teil der Frauen arbeitete als Näherin im Akkord am Band. Dort war die Bezahlung für alle gleich und richtete sich nach dem Akkordergebnis. Pro Stunde gab es eine fünfminütige Pause des Bandes, die als Pinkel- und Rauchpause vorgesehen war, von den Frauen aber vor allen Dingen dazu genutzt wurde, um kleine Reklamationen zu erledigen oder Verzug aufzuholen. Disziplin und Pünktlichkeit war bei diesen Pausen notwendig, denn das Band wurde erst wieder gestartet, wenn alle Frauen an ihrem Platz waren. Am besten bezahlt wurden die Kragennäherinnen, die vor dem Band arbeiteten. Etwas weniger verdienten die Armabwärtsnäherinnen. Am wenigsten erhielten die Abfädlerinnen, die heraushängende Fäden abschneiden mussten. So berichteten die Zeitzeuginnen.

Bevor die Näherinnen am Band beginnen konnten, fand die Arbeit der Zuschneiderinnen statt. Bei der Fa. Povel z. B. waren das oftmals Näherinnen mit einer Zusatzausbildung, aber auch gelernte Schneiderinnen, wie Maria Hettmer, die über die entsprechende Ausbildung verfügte. Wenn die Schnittmuster für alle Einzelteile auf dem Stoff lagen, musste mit dem Bandmesser der Stoff geschnitten werden. Diese Arbeit erforderte einiges an Präzision und war nicht ungefährlich. Die zusätzliche Qualifizierung erwarben sich die Frauen im zweimonatigen Abendkurs der Privatschule Müller und Söhne, den diese dreimal in der Woche abends in Recklinghausen anbot. Die Anforderungen dieser Tätigkeit korrespondierten mit der persönlichen Herausforderung der Zuschneiderinnen. So sagte Maria Hettmer dazu: „Es war mein Ehrgeiz, die Schnittmuster so hinzubekommen, dass möglichst wenig Verschnitt entstehen konnte.“8

Nach der Währungsreform und vor allen Dingen am Beginn der 1950er Jahre gab es in der Bundesrepublik einen Konsum-Nachholbedarf. Entsprechend steigerte sich die industrielle Bekleidungsproduktion, in Recklinghausen erkennbar am Ausstoß an Herrenoberhemden. Bei der Fa. Povel wurden Anfang der 1950er Jahre täglich bis zu 1.200 Hemden angefertigt. Die anderen drei Firmen standen dem in nichts nach. Ein Symbol für diesen Produktionserfolg ist das sogenannte ‚Jubiläumshemd‘. Nach unseren Recherchen wurde es 1952 aus Anlass der Herstellung des Millionsten Herrenoberhemdes der Fa. Paul Povel KG in Recklinghausen hergestellt.

Dieser Umsatzerfolg bedeutete, dass es reichlich Arbeit für die Beschäftigten gab. Da blieben extra entlohnte Überstunden nicht aus. Deren Bezahlung und die Akkordlöhne waren für die jungen Frauen, die sich gerade in der Phase der Familiengründung befanden, ein willkommenes Zusatzeinkommen. So konnte es geschehen, dass Ursula Westhues als Fabrikarbeiterin mehr verdiente als ihr künftiger Ehemann als Angestellter. Zusätzlich zur recht guten Bezahlung gab es für die Frauen noch die Möglichkeiten, günstig Stoffe zu erwerben. Da viele von den beschäftigten Frauen zu Hause für ihre Familien Kleidungsstücke nähten, wurde es ihnen nach Absprache erlaubt, Reststücke Stoff zu kaufen. Das war eine Gelegenheit, die die meisten von ihnen – wie sie erzählten – gerne wahrnahmen.

Wie auch schon beim Sprechen über ihre Erfahrungen in ihrer Lehrzeit waren die Berichte der Frauen über den Berufsalltag sehr positiv. Frau Kijac z. B. schrieb in ihren Erinnerungen9: „Es war eine harte Arbeit, ich war abends immer ziemlich geschafft (…). Die Arbeitszeit war von morgens 8:00 Uhr bis nachmittags um 17:00 Uhr. Wir hatten eine Stunde Mittagspause. Wer sich sein Mittagessen warm mitgebracht hatte, konnte es sich in den Behältern in einem Bottich mit heißem Wasser warm halten. Wenn wir morgens ankamen, mussten wir zuerst unsere Karte, die sich in einer großen Steckwand neben der Stempeluhr befand, abstempeln. Das gleiche geschah nach Feierabend. Alle die weiter weg wohnten, sind mit dem Fahrrad zur Arbeit gekommen, so auch ich. Jeden Tag ergab dies pro Weg, ob es regnete oder schneite, eine gute halbe Stunde Strampelei.“10

Auch Ursula Westhues erinnert sich sehr positiv an die Zeit: Dort „… zu arbeiten, war ein Geschenk. Das Allerschönste war das Verhältnis mit den Kolleginnen. Es war so ein herzliches Miteinander.“11

In den Firmen wurde – nach unserem Eindruck aufgrund der Gespräche und auch vorliegenden schriftlichen Unterlagen – viel Wert auf die Pflege des Betriebsklimas gelegt. Bei der Paul Povel KG gab es in den 1950er Jahren mehrere Ausgaben einer Betriebszeitung12, in der nicht nur über betriebliche Abläufe und Betriebsfeiern, sondern auch über Heiraten und Geburten ihrer MitabeiterInnen berichtet wurde. 1949 beteiligte sich die Fa. Povel an den öffentlichen Feiern zur Geburt der 100.000sten Einwohnerin Recklinghausens, der ‚Großstadt-Ilse‘, deren Vater einer ihrer Beschäftigten war.

Die Angaben über die Arbeitszeiten und deren Lage waren in den Gesprächen unterschiedlich. Der Zeitumfang betrug laut Tarifvertrag bis 1965 42 Stunden. Präzise Angaben zur Lage der Arbeitszeit liegen uns nur von der Fa. Turf vor. Dort wurde von 7:00 bis 15:45 Uhr gearbeitet, an zwei Tagen in der Woche bis 16:45 Uhr, mit 15 Minuten Frühstückspause und einer halben Stunde Mittagspause. Wie schon im obigen Zitat von Frau Kijac dargestellt, brachten sich auch in den späteren Jahren die meisten Frauen ihr Essen im Henkelmann mit. Bei Turf wurde 1964 eine Werksküche für die Frühstücks- und die Mittagspause der Beschäftigten eröffnet.

Auf einen wichtigen Gesichtspunkt müssen wir noch zu sprechen kommen, der auch in den nächsten Lebensgeschichten noch eine Rolle spielen wird: Die meisten in der Bekleidungsindustrie als Näherinnen oder Plätterinnen in der Produktion arbeitenden Frauen waren Arbeiterinnen. Im 21. Jahrhundert ist uns selten noch bewusst, wie wichtig damals die Unterschiede zwischen Arbeiterinnen und Angestellten in den Betrieben, aber auch in der sozialen Umgebung waren. Die Statusunterschiede spiegelten sich im betrieblichen Alltag, unterschiedlichen Kleidungsvorschriften, aber auch der sozialen Absicherung wider. Arbeiterinnen und Angestellte waren in verschiedenen Krankenkassen und Rentenversicherungen, hatten damit z. T. unterschiedliche Leistungsansprüche und vor allen Dingen unterschiedliche Kündigungsfristen. Welche Konsequenzen das hatte, werden wir an zwei nachfolgend geschilderten Beispielen sehen.

Heirat und Mutterschaft
Bis auf eine der von uns befragten Frauen, haben alle Anfang bis Mitte ihrer 20er Jahre geheiratet. Allerdings wissen wir nur von einer von ihnen (Edelgard Holtbrügge), dass sie auf den Wunsch ihres Ehemannes ihr Erwerbsleben beendete. Eher wurde die Berufstätigkeit nach der Geburt des ersten Kindes beendet. Manche Frau schilderte: „Als mein Kind geboren wurde, sagte mein Mann, jetzt brauchst Du nicht mehr zu arbeiten.“ Aufgrund der damals nur unzureichend verfügbaren Betreuungsmöglichkeiten für Kleinkinder blieb vielen der Frauen gar nichts anderes übrig. Nicht nur der Wunsch des Ehemannes und die nicht verfügbare Kinderbetreuung, auch das geltende Familienrecht (Bürgerliches Gesetzbuch § 135613) sah die Rolle der Ehefrau darin, „das gemeinsame Hauswesen zu leiten„. Allerdings spielte die Unterstützung durch die Großmütter in vielen Familien eine nicht unwesentliche Rolle, da die junge Familie auf das Einkommen durch die Arbeit in der Fabrik angewiesen war. Zumal aufgrund von Akkordarbeit dort mehr verdient werden konnte als z. B. im Einzelhandel.

Das bedeutet allerdings nicht, dass die Frauen sich für ihr ganzes weiteres Leben auf ihre Funktion als Ehefrau und Mutter beschränkten. Bis auf wenige von ihnen berichteten die Frauen von weiteren Berufsverläufen, die in anderen Bereichen stattfanden. Helga Töpfer hat nach ihrer Familienphase endlich ihren Traumberuf als Verkäuferin ausgeübt. Maria Hettmer hat als technische Zeichnerin gearbeitet. Christa Werdnik war als Haushaltshilfe tätig. Gisela Schiwkowski arbeitete als Verkäuferin im elterlichen Geschäft, das sie später übernommen hat. Die meisten von ihnen haben nach ihrem Ausscheiden aus der Fabrik ihre nähtechnischen Fertigkeiten dafür genutzt, für sich und andere Wäsche und Kleidung herzustellen und zu reparieren.

Auch die nicht stattgefundene Karriere von Maria Knizia will ich hier nicht vergessen. Die Münsterländische Textilgesellschaft mbH, bei der sie gelernt hat, produzierte Anfang der 1950er Jahre nicht nur Herrenoberhemden, sondern auch Damenblusen. Der damalige Chef entdeckte, dass die Auszubildende Maria sich gut als Mannequin (heute als Model bezeichnet) für die Blusen eignete und setzte sie dafür auf Messen und bei Präsentationen in der Firma ein. Er wollte sie gerne in dieser Funktion behalten und bot ihr eine einjährige Ausbildung zum Mannequin an, für die sie nach Düsseldorf hätte gehen müssen. Maria Knizia schlug, da sie bereits verlobt war, dieses Angebot aus. Wie sie uns aber erzählte, hat sie auch nach dem Verlassen der Firma noch manchmal in dieser Funktion gearbeitet.

Interessant ist in diesem Zusammenhang der Generationenunterschied. Die fünf in der Nachkriegszeit geborenen, von uns befragten Frauen sind mit einer viel größeren Selbstverständlichkeit nach dem Größerwerden ihrer Kinder über Jahrzehnte berufstätig gewesen, allerdings nicht in der Bekleidungsindustrie.

Weitere Berufsverläufe
Die Verweildauer der von uns befragten Frauen in der Bekleidungsindustrie erstreckte sich von zwei bis zu 39 Jahren. Nur zwei unserer Zeitzeuginnen haben fast ihr ganzes Erwerbsleben in den Bekleidungsfabriken verbracht. Elisabeth Recktenwald blieb ledig und arbeitete vom Beginn ihrer Ausbildung (1952) bis zur Schließung des Betriebes insgesamt 25 Jahre bei der Münsterländischen Textilgesellschaft mbH (ab 1967 Condor Herrenwäschefabrik GmbH) und anschließend noch zehn weitere Jahre in anderen Bekleidungsfabriken. An ihrem Erwerbsverlauf kann illustriert werden, welche Entwicklungsmöglichkeiten sich den Herrenwäschenäherinnen boten.

Nach der Lehre arbeitete sie zunächst als Näherin. Ihr innerbetrieblicher Aufstieg begann damit, dass sie nach sechs Jahren als Musternäherin eingesetzt wurde. In dieser Funktion verblieb sie fünf Jahre, um danach als Ausbilderin für die circa zehn Lehrlinge im zweiten Lehrjahr zuständig zu sein.

Dieser Wechsel ihrer Funktion hatte auch einen Wechsel ihres Status von der Arbeiterin zur Angestellten zur Folge. Deutlich sichtbares Zeichen war der weiße Kittel der Angestellten anstelle des bunten Kittels der Arbeiterinnen. Als Angestellte erhielt sie nicht nur eine bessere Bezahlung, sie wurde auch Mitglied einer anderen Krankenkasse und der Rentenversicherung der Angestellten. Der verbesserte Kündigungsschutz der Angestellten zeigte seine Wirkung als die Firma Condor Anfang der 1970er Jahre in finanzielle Schwierigkeiten geriet und Personal abgebaut wurde. Ein Effekt ihres Status als Angestellte war, dass Frau Recktenwald wegen langjähriger Betriebszugehörigkeit nicht so schnell gekündigt werden konnte. Daher wurde sie ins Gewebelager versetzt. 1977 durch den Konkurs der Fa. Condor GmbH endete nach 25 Jahren ihre Tätigkeit in der Bekleidungsindustrie in Recklinghausen. In Recklinghausen gab es keine neue Beschäftigung für sie. In Dortmund arbeitete sie vier Jahre als Nähsaalleiterin bei einer Firma für Arbeitsbekleidung, bis auch diese Konkurs machte. Eine weitere sechsjährige Tätigkeit als Nähsaalleiterin bei einer Hemdenfabrik in Essen endete ebenfalls mit deren Konkurs. Ende der 1980er Jahre gab es für sie keine entsprechende Vollzeitstelle in der Region. Für eine alleinstehende Frau reichte jedoch der Verdienst der ihr angebotenen Teilzeitstellen nicht aus. Die strukturellen Veränderungen der Recklinghäuser Bekleidungsindustrie hinterließen in der Biografie von Elisabeth Recktenwald ihre Spuren.

Von all unseren Zeitzeuginnen hat Christel Schlüter am längsten in der Bekleidungsindustrie gearbeitet, die meiste Zeit (1955–1994 mit einer kurzen Unterbrechung) in der gleichen Firma, der Turf-Herrenwäschefabrik GmbH. Am 1. April 1955 begann sie dort ihre Lehre als Herrenwäschenäherin. Sie hatte Schneiderin werden wollen, aber für diesen Beruf fand sie keine Lehrstelle. Nachbarschaftliche Beziehungen ermöglichten ein Bewerbungsgespräch. Zum Gespräch nahm sie einige ihrer Handarbeiten mit. Diese überzeugten sowohl den Chef als auch die Direktrice.

Nach Beendigung der Lehre arbeitete Frau Schlüter als Springerin. Sie war schon früh sehr ehrgeizig und wollte ihre beruflichen Möglichkeiten ausprobieren. Daher kündigte sie 1960 bei Turf. Im Zeugnis der Firma wird die Wertschätzung für ihre Arbeit deutlich: „(Sie) gehörte zu den besten Näherinnen unseres Betriebes. Aus diesem Grunde wurde sie als Springerin für alle Arbeitsgänge am Herrenhemd eingesetzt.14

Zusammen mit einer Freundin wechselte sie zur Firma Bauer und nach kurzer Zeit zur Firma Laarmann. Dort lief es aber nicht zu ihrer Zufriedenheit. Arbeitsbedingungen und Arbeitsabläufe entsprachen nicht ihren Vorstellungen. So kam es ihr 1961 sehr gelegen, dass sowohl der Firmeninhaber der Firma Turf als auch der Betriebsleiter und die Direktrice sich darum bemühten, ihre ehemalige Mitarbeiterin wieder für den Betrieb zurück zu gewinnen. Schon sehr früh begann ihr innerbetrieblicher Aufstieg. Als 22-jährige wurde sie erst Vorarbeiterin, dann Bandleiterin und Ausbilderin. Diese Funktionen übte sie fast 30 Jahre aus.

Nach der Heirat 1965 erfüllte sich ihr Kinderwunsch leider nicht. Wie schon Anfang der 1960er Jahre suchte sie nach einer Verbesserung ihrer beruflichen und vor allem auch finanziellen Möglichkeiten. Trotz ihres Aufstiegs hatte sie immer noch den Status einer Arbeiterin. Eine Bekleidungsfirma aus Herne wollte sie abwerben und bot ihr das Angestelltenverhältnis an. Das blieb der Direktrice der Fa. Turf nicht verborgen. Sie sorgte dafür, dass Frau Schlüter ins Angestelltenverhältnis eingruppiert wurde. Damit verbunden war eine erhebliche Verbesserung ihres Verdienstes auf circa 1.000 DM.

Die Fa. Turf wurde in den 1980er und später vor allem in den 1990er Jahren nicht verschont von den strukturellen Veränderungen, die durch internationale Arbeitsteilung und vor allem die Öffnung des Ostblocks hervorgerufen wurden. Bereits Anfang der 1990er Jahre wurde die Produktion umorganisiert. Auch ein Geschäftsführerwechsel beschleunigte die Veränderungen. Der größte Teil der Maschinen wurde nach Rumänien gebracht, um dort neue Produktionsstätten aufzubauen. Einige Mitarbeiterinnen von Turf waren bereits dort mit dem Aufbau beschäftigt. In dieser Phase war Christel Schlüter in Recklinghausen als Musternäherin tätig. Auch ihr Arbeitsplatz sollte nach Rumänien verlagert werden. Ihre dort schon tätigen Kolleginnen hatten ihr von den dortigen schweren Arbeitsbedingungen und der katastrophalen Unterbringung berichtet. Christel Schlüter stellte sich die Frage, ob sie sich dieses in ihrer gesundheitlichen Situation – nach zwei Krebserkrankungen – noch zumuten sollte und entschied sich dagegen. Sie wählte 1994 die Frühverrentung.

Wie auch andere Zeitzeuginnen hat Christel Schlüter – trotz eines wenig positiven Endes ihrer dortigen Tätigkeit – sehr positiv über ihre Arbeitserfahrungen, das – in der meisten Zeit – angenehme Betriebsklima, die regelmäßigen Betriebsfeiern (auch über das Ende der Beschäftigung hinaus) und den Zusammenhalt unter den Kolleginnen berichtet.

Resümee
Es war eine tolle Zeit mit den von uns interviewten Frauen. Wir haben im Zusammenhang mit der Ausstellung15 und manchen Veranstaltungen die Chance gehabt, uns wiederzusehen und interessante Gespräche zu führen. Vieles in den Gesprächen mit Schnittmusterzeichnerinnen, Herrenwäschenäherinnen und Plätterinnen hat uns immer wieder berührt und beeindruckt. Hervorzuheben ist ihr Durchhaltewillen und ihre Zielstrebigkeit. Wir haben Frauen kennengelernt, die in der bisherigen Frauenforschung kaum einen Platz gefunden haben und die auch in der regionalen Geschichtsschreibung bisher nicht angemessen gewürdigt worden sind.

Je mehr wir uns mit ihnen beschäftigt haben, desto mehr wuchs unser Respekt vor ihnen, ihrer zupackenden Art, ihr Leben zu meistern, ihrer Lebensklugheit und Energie. Wir erhielten Einblick darin, wie sie mit den eher traditionell vorgegebenen Frauenbiografien umgingen und ihren Weg fanden. All dieses motivierte uns, ihre verborgene Geschichte zum Leben zu erwecken und für Andere sichtbar zu machen. Wir bedanken uns bei ihnen für diese Erfahrungen.

Dr. Karin Derichs-Kunstmann, Arbeitskreis Recklinghäuser Frauengeschichte

Der vom AK herausgegebene Katalog kann über die Website des AK – www.frauengeschichte-re.de – für 12 € (+ 2,50 € Versandkosten) bezogen werden.




		
Zitation: Derichs-Kunstmann, Karin, Arbeiterinnenleben im Ruhrgebiet in der Nachkriegszeit, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/arbeiterinnenleben-im-ruhrgebiet-in-der-nachkriegszeit/

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Appolonia Pfaus

Appolonia Pfaus war eine in Bochum lebende Sintezza, die 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Über ihr Leben wissen wir nur wenig. Um Appolonia Pfaus im Kontext ihrer Kultur und Geschichte besser zu verstehen, machen wir zunächst einen großen Sprung in die Vergangenheit.

Der Weg der Romvölker durch Europa war stets vor allem von Ausgrenzung und Armut geprägt und von einem großen Misstrauen der Einheimischen. Ihre Ankunft 8./9. Jahrhundert in Europa war Resultat von Krieg und Gewalt, Konstruktionen über ihre Herkunft und ihren Charakter begannen kurz danach, ebenso wie weitere Verfolgungen.1 Die Romvölker waren eine Gruppe von Menschen mit denen wenig und über die viel gesprochen wurde. Ihre Geschichte war immer auch Faszinationsgeschichte, und sie wurde ohne die Einbeziehung derer geschrieben, die sie betraf. Zuschreibungen und Fremdbestimmung gingen Hand in Hand. Da Geschichte(n), Gesetze, Traditionen und Wissen bei ihnen mündlich überliefert wurden, waren diese wichtigen kulturellen Leistungen aus europäischer Sicht schlichtweg nicht vorhanden. Sie wurden damit ebenso abgewertet wie Völker außerhalb Europas, die als „Wilde“ galten.2

Imaginationen und rassistische Wissenschaft

Anthropolog:innen um 1800 zeichneten ein vergleichsweise wertschätzendes Bild, was damit zusammenhing, dass sie den Ursprung der Romvölker in Indien ausgemachten und ihre Sprache als vom Sanskrit abstammend – damit identifizierten sie die Sinti und Roma als indo-europäisch, damit passten sie in eine Kategorie, und die große Frage nach dem „woher?“ war damit beantwortet. Wissenschaft, Behörden und Teile der Literatur ließen aber nicht davon ab, sie als parasitäres Pariavolk einzustufen und darzustellen. Gleichzeitig entstand das forthin populäre Literaturgenre der „Zigeunerromantik“ als Gegenentwurf zum bürgerlich-industriellen Lebensideal und Selbstbild Europas.3 Doch galten solche Gegenentwürfe zum „zivilisierten“ Europa für den Rest der Gesellschaft nicht als erstrebenswert, und der imaginäre Raum der Romantiker, in dem Geheimnisvolles und Wunderbares und damit auch die Romvölker eine theoretische Akzeptanz fanden4, war eben genau das: imaginär. Die negativen Zuschreibungen, von Tier bis Teufel, enthielten meist schlicht all das was dem (Selbst-)Bild des zivilisierten Europäers nicht entsprach. So wurde die Romvölker für grundsätzlich uneuropäisch erklärt, Naturwesen, dem Tier näher als dem Menschen, unnütz für die Gesellschaft, auf einer niedrigen Entwicklungsstufe über die man sie auch mit Mühe nicht hinausbekommen konnte.5

Binäre Vorstellungen und Projektionen von Natur vs. Kultur, Emotionalität vs. Rationalität begegnen uns im Verlauf der Geschlechtergeschichte auch immer wieder in Bezug auf Frauen und Mädchen. Da überrascht es nicht, dass das Bild der „Zigeunerfrau“ oder des „Zigeunermädchens“ zentral für die Faszination aber auch Abwertung gegenüber Romvölkern war: Schönheit, Wildheit, Verführung, Abgründigkeit, extreme Emotionalität waren hier dominante Motive.6 Und wie im Sexismus und im Anti-Ziganismus üblich liegen Verehrung/Verklärung und tödliche Verachtung gefährlich nahe beieinander. Ein intersektionaler Blick auf die spezielle Diskriminierung von Sintezza und Romnja hilft also dabei, ihre Situation in ihrer Tragweite besser zu verstehen.

Ende des 19. Jahrhunderts gab die biologistische „Rassenlehre“ als „naturwissenschaftlicher“ Blick auf die Romvölker den ethnografischen Erkenntnissen über ihre verschiedene Gruppierungen einen neuen Rahmen, denn nun erhielt jeder Mangel an Anpassung, jede Gesetzesübertretung seitens Sinti und Roma einen angeblich wissenschaftlich bewiesenen Grund: die Biologie.7 Jede Diskussion über Armut, Ausgrenzung und Druck als Ursachen z.B. für Kriminalität mussten damit erst gar nicht geführt werde, das eigene Wahrnehmen und Handeln musste nicht mehr hinterfragt werden. Irrationale Ängste, Vorurteile und Machtinteressen erhielten damit einen pseudo-rationalen, pseudo-objektiven Anstrich mit dem Ruf nach staatlichem Eingreifen. So erreichte die Fremdbestimmung eine neue, in letzter Konsequenz tödliche Stufe.

Sinti:zze und Rom:nia in Bochum und Wattenscheid

Sinti:zze und Rom:nia im Ruhrgebiet gehörten zur Kirmeskultur, die sich rund um den Cranger Pferdemarkt seit dem späten Mittelalter entwickelt hatte. In der örtlichen Berichterstattung zur Cranger Kirmes lässt sich genau nachzeichnen, wie sich die romantisierende Verklärung des „fahrenden Volkes“ hin zum menschenverachtenden Rassismus im Nationalsozialismus verschoben hat.8 In Bochum und Wattenscheid wurden vor der Nazizeit Plätze an  Sinti:zze und Rom:nia verpachtet, doch dies stieß oft auf großen Widerstand der Bevölkerung: Es wurde bemängelt, dass die Plätze keine Sanitären Anlagen hatten, behauptet, dass die Sinti:zze und Rom:nia Krankheiten verbreiten würden, ihre Kinder schmutzig seien, zu viele Menschen auf zu engem Raum lebten. Selbst wenn – trotz in der Tat fehlender sanitärer Anlagen – die Befürchtungen hinsichtlich Krankheiten, Reinlichkeit und Platzmangel widerlegt werden konnten, nahm der Druck zu, und die Menschen mussten umziehen, auf Plätze außerhalb der Stadt, was ihnen Handel und Produktion für ihren Lebensunterhalt erschwerte. Und sanitäre Anlagen hatten diese zugewiesenen Plätze erst recht nicht, aber das spielte dann für die besorgte Bevölkerung keine Rolle mehr. Auch, dass viele deutschstämmige Arbeiterfamilien in ihren Wohnungen zum Teil deutlich beengter lebten als Sinti:zze und Rom:nia in ihren Wagen und Hütten, kam nicht zur Sprache.9

Diskriminierungen

Wie sahen  Abwertung und Vorurteile gegenüber Sinti:zze und Rom:nia aus im Vergleich zur Diskriminierung von Jüdinnen und Juden? Letztere wurden gesehen als das „Andere“, als das, was man nicht werden konnte und wollte: Eine Gruppe die fixiert ist auf wirtschaftliche Macht, ohne Bindung an Heimat oder Kultur. Die „Zigeuner“ dagegen wurden gesehen als etwas, das Angst vor einem Abstieg (z.B. durch extreme Armut, Krankheit oder Alter) machte: Eine Gruppe, deren Angehörige ohne Zivilisiertheit und Zugehörigkeit als Kreaturen der Natur ohnmächtig ihr Dasein fristeten. Beiden wurden unterstellt, als „Parasiten“ die Gesellschaft zu schädigen. In beiden Fällen wurde dass, was Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft an sich selbst ablehnten und nicht mit ihrem Selbstbild vereinbaren wollten, auf andere projiziert und in deren Vernichtung versucht auszulöschen.10 Damit verriet und verlor Europa letztlich alle Ideale von Zivilisiertheit, Menschlichkeit, Sitte und Anstand.11

Die im Kaiserreich und der Weimarer Republik praktizierte Idee,  Sinti:zze und Rom:nia zur Anpassung zu zwingen – also Sesshaftigkeit, Aufgeben von Sprache, Traditionen und Kultur – wurde bald von drastischeren Maßnahmen abgelöst. Eine auf „Rassenlehre“ basierende Gesetzgebung gegen Romvölker gab es bereits 1926. Während der NS-Diktatur ereignete sich dann das dunkelste Kapitel ihrer Leidensgeschichte: Die systematische Ermordung von Sinti:zze, Rom:nia und anderen Romvölkern – in Romanes Porajmos genannt. Die Nationalsozialisten benutzen die rassistische Idee vom  „Zigeuner“ als eine „minderwertige Rasse“ mit genetischer Veranlagung zum Stehlen und Vagabundieren, als „artfremdes Element, dass nie ein vollwertiges Glied eines Gastvolkes werden wird“.12 Anfang 1934 trat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft, das die Zwangssterilisation von Menschen aus Romvölkern legitimierte. Ihre körperliche Unversehrtheit war nicht mehr garantiert 

In Bochum wurden die Menschen auf speziellen Plätzen und in Obdachlosensiedlungen in Stadtrandgebieten angesiedelt, dort waren sie leicht zu kontrollieren, Razzien waren an der Tagesordnung. Ab 1939 erfolgte die komplette Erfassung durch Gesundheitsamt und Arbeitsamt, die Einstufung lautete „asozial“, „arbeitsscheu“, und ohne medizinischen Befund auf soziale Ausmerzung zielend: „angeborener Schwachsinn“. Dies war die Grundlage für KZ-Haft, und damit Folter und Ermordung 13. Die weit verbreitete Sterilisation14 von Frauen und Mädchen in den Lagern wurde kostengünstig ohne Narkose durch Injektion von Säure vorgenommen, die oft bis in den Bauchraum gelangte und zu schweren Blutungen und Schmerzen führte.15 Ab dem Frühjahr 1939 wurden Sintezze und Romnia vor allem ins KZ Ravensbrück deportiert,16 Männer mehrheitlich nach Sachsenhausen, Buchenwald und Mauthausen.

Sinti:zze und Rom:nia waren auch immer wieder Forschungsobjekte. Eva Justin, stellvertretende Leiterin der „Rassehygienischen und Bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt“ hatte über über „Zigeunerkinder“ in einem Kinderheim promoviert, sprach sich deutlich für Sterilisation aus, und war in Ravensbrück für die „Begutachtung“ von jugendlichen Sintizze und Romnia zuständig17 Hinzu kamen Folter und Ermordung als Versuchsobjekte von KZ-Ärzten.

Porajmos – Genozid an den Romvölkern

Etwa 17.000 Sinti:zze und Rom:nia wurden zwischen 1938 und 1945 in Konzentrationslagern ermordet, viele Namen und Lebensdaten sind nicht mehr zu ermitteln. Informationen über die Opfer wurden in vielen Fällen komplett vernichtet. Wie kompliziert sich die Forschung zum Beispiel in Bochum gestaltete, wird im Vorwort der VVN-Veröffentlichung „Verachtet, vertrieben, verfolgt. Die Verfolgung der Sinti:zze und Rom:nia in Bochum und Wattenscheid“ dargestellt: Herausforderungen waren die schwierige Auffindbarkeit der Akten, ungenaue Angaben in den Unterlagen, Rechtschreibfehler, beschädigte, unleserliche Dokumente. Hilfreich waren neben Akten des Gesundheitsamtes vor allem die Entschädigungsakten. So konnten Informationen über Appolonia Pfaus18 gefunden werden, nach der seit 2007 auf Anregung der VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten) nach Beschluss des Rates der Stadt Bochum sogar ein Park an der Windmühlenstraße in der Bochumer Innenstadt benannt ist .

Appolonia Pfaus

Appolonia Pfaus wurde am 18. Januar 1878 oder 79 in der französischen Schweiz geboren. Ihr Mann war der Sinto Josef Winter. Die unterschiedlichen Nachnamen sind dadurch zu erklären, dass Sinti:zze nach eigenen Bräuchen und nicht standesamtlich heirateten. Die so geschlossenen Ehen wurden staatlich nicht anerkannt, ihre Kinder galten damit als unehelich. 19 Sie und ihr Mann Josef Winter hatten elf gemeinsame Kinder. Drei starben früh. Appolonia Pfaus zog nach dem Tod ihres Mannes zu ihrem Sohn Peter nach Bochum. Die Familie wurde in einem Obdachlosenheim in der Meesmannstr. 117 untergebracht20, dies war in Bochum eine übliche Maßnahme seitens der Behörden, da es anders als in Wattenscheid hier kein spezielles Lager für die ethnischen Minderheit gab.21 Sie war mittlerweile Großmutter von 13 Enkelkindern. Auch ihr Sohn Michael lebte mit seiner Familie in Bochum, sowie auch weitere ihrer Kinder. Appolonia Pfaus‘ Sohn Georg war Soldat in der deutschen Armee,  Sinti und Roma wurden ab dem 1. September 1939 zunächst wie alle anderen wehrfähigen Männer eingezogen. 1941 und 42 wurde zwar ihr Ausschluss aus der Wehrmacht angeordnet wurde, doch dies wurde – einfach weil Soldaten gebraucht wurden und sicher auch Kameradschaft eine Rolle spielte – nicht konsequent umgesetzt. Georg Pfaus fiel 1942 in Russland. Ab 1943 wurden von Romvölkern abstammende Soldaten meist gegen den Widerstand ihrer Vorgesetzten und oft noch in Uniform von der Front weggeholt und nach Auschwitz gebracht.22

Appolonia Pfaus Sohn Peter war eigentlich Korbmacher. Auch er lebte in Bochum und arbeitete in der Rüstungsherstellung im Bochumer Verein. Dort wurden viele  Sinti:zze und Rom:nia beschäftigt, doch wurden sie im Zuge von Deportationen schnell durch „billigere“ Zwangsarbeiter ersetzt.23

1943 wurden Sinti und Roma aus den umliegenden Städten nach Bochum gebracht um von hier aus nach Ausschwitz deportiert zu werden. Am 21. Oktober desselben Jahres wurden Peter Pfaus und seine Familie deportiert, ebenso Michael Pfaus mit seiner Familie. Appolonia Pfaus, die noch keinen Deportationsbescheid bekommen hatte, entschied sich, mit ihrer Familie mitzufahren. Die Ehefrauen von Peter Pfaus und von Michael Pfaus waren schwanger. Erika, geboren am 08.12. 1943, starb am 09.02.1944; Renate, geboren am 15.01.1944, starb am 12.02.1944. Beiden hatte man, so wie allen Neugeborenen im Lager24 bereits Häftlingsnummern tätowiert. Insgesamt haben nur drei der elf Kinder von Appolonia Pfaus und nur vier ihrer fünfzehn Enkelkinder den Genozid der Nazis an den Romvölkern überlebt. Wir wissen das, weil in einer weiteren wichtigen Quelle, dem größtenteils erhaltenen „Hauptbuch“ des sogenannten „Zigeunerfamilienlagers“ in Auschwitz Birkenau, unter anderem auch Menschen aus der Familie Pfaus registriert wurden.

Die Hauptbücher des sog. „Zigeunerfamilienlagers“

Die Hauptbücher wären, wie viele andere Unterlagen gegen Kriegsende beinahe von den Tätern vernichtet worden, das ganze „Zigeunerlager“ sollte dem Erdboden gleich gemacht werden. Doch zwei polnische Häftlinge, Roman Frankiewicz und Tadeusz Joachimowski, die als Schreiber im Lager arbeiten mussten und so Zugang zu den Büchern hatten, retteten die wichtige Dokumente. Sie vergruben sie in einem Eimer neben der Baracke Nr. 31. Dort blieben die Bücher etwa vier Jahre verborgen. Dann wurden sie, Auschwitz war mittlerweile eine staatliche Gedenkstätte, von Mitarbeitern der Gedenkstätte ausgegraben. Anwesend war dabei auch Tadeusz Joachimowski. Damit konnten zumindest einige Menschen vor dem Vergessen bewahrt werden. Appolonia Pfaus ist im Hauptbuch mit dem Sterbedatum 12. Mai 1944 verzeichnet. Vier Tage später wurde das „Zigeunerfamilienlager“ geräumt, gegen den Widerstand der Häftlinge, der erbarmungslos niedergeschlagen wurde.25

Nach dem Krieg bemühten sich überlebende Angehörige um eine Entschädigung, die ihnen als Verfolgten des NS-Regimes zustand. Wie diese Prozesse häufig verliefen, und welchen Erfolg die Angehörigen der Familie Pfaus hatten, schildern die Autor:innen der VVN-Broschüre: „Da wurden für Appolonia Pfaus […] nur 2.700 DM als Entschädigung gezahlt, weil anzunehmen war, daß in einem Vernichtungslager eine mehr als 65-jährige höchstens fünf Monate zu leben hatte. Und das erst nach 1960, so lange dauerte dieser unwürdige Prozeß. Für die schwierige Beschaffung des Erbscheins sind allein 3.500 bis 4.000 DM fällig gewesen. In diesen Verfahren sind die Sinti und Roma ein zweites Mal ermordet worden.“26

Rassismus heute

Und heute? Viele Angehörige der Romvölker sind längst in Verbänden organsiert, zum Beispiel im Bundesromaverband und im Zentralrat der Sinti und Roma, auf deren Internetseiten https://www.bundesromaverband.de/ und https://zentralrat.sintiundroma.de/ es viele spannende Informationen gibt. Die Vorsitzende des Romaverbandes, Anwältin Nizaqete Bislimi, hat ein Buch über ihr Leben geschrieben, dass mit Vorurteilen aufräumt. Die Sängerin Marianne Rosenberg überraschte viele, als sie in ihrer Autobiografie „Kokolores“ 2006 über ihre Sinti-Wurzeln erzählte.[erfn_note]Vgl. Roseberg, Marianne: Kokolores. Autobiografie, Berlin 2006.[/efn_note] Und Dotschy Reinhard, Enkelin des legendären Gitarristen Django Reinhardt, liefert in „Everybody‘s GYPSY. Popkultur zwischen Ausgrenzung und Respekt“ aufschlussreiche Analysen. Nach Jahrhunderten der Zuschreibungen werden Stimmen von Angehörigen der Romvölker endlich stärker wahrgenommen.

Doch neben all dieser Fortschritten ist die Situation von Sinti und Roma in vielen europäischen Ländern immer noch von Diskriminierung und Gewalt geprägt.27 Auch ohne Rassentheorien sind Vorurteile gegen sie äußerst lebendig: Urvolk, romantischer Mythos mit Gypsy- oder Boho-Style, Bohéme-Ideal, generationenübergreifend kriminelle Banden, Asoziale28. Bis in die 1980er Jahre mussten Romvölker darum kämpfen, dass ihre Erfahrungen in der Nazizeit als rassistische Verfolgung (und nicht nur als simple Strafverfolgung) anerkannt wurde, obgleich dies eigentlich schon in den Entschädigungsunterlagen zu lesen war29. In osteuropäischen Ländern beobachtet Klaus-Michael Bogdal, dass deren niedriger Status innerhalb der EU-Hierachie oft durch Abwertung von Sinti und Roma kompensiert wird – ein Aufwerten der eigenen Identität also auf Kosten anderer.30

Aus dem Kosovo flohen 1999/2000 nach Morden und Vergewaltigungen durch albanische Nationalisten im Rahmen von ethnischen „Säuberungen“ ca. 100.000 Roma und Aschkali31. Sie waren dort 650 Jahre lang sesshaft gewesen, waren gesellschaftlich gut integriert und meist wohlhabend.

Und hier in Deutschland ermordete Tobias Rathjen am 19. Februar 2020 in Hanau aus rassistischen und rechtsextremistischen Motiven elf Menschen32, darunter die Romni Mercedes Kierpacz sowie die Roma Vili Viorel Păun und Kaloyan Velkov. Filip Goman, der Vater von Mercedes Kierpacz, brachte die furchtbare Kontinuität jahrhundertelangen Hasses gegen unschuldige Menschen auf den Punkt als er sagte: „Mein Opa wurde im KZ vergast, meine Tochter in Hanau erschossen.“

Einige Jahre bevor die Situation von geflüchteten Menschen an den Außengrenzen Europas als moralische Katastrophe benannte wurde, stellte Klaus-Michael Bogdal 2011 ein ähnliches Versagen in Bezug auf die Romvölker in Europa fest, die mit 10 Millionen Menschen ein zentrales Thema der politischen, sozialen und kulturellen Gestaltung unseres Kontinents sind. „Nicht zuletzt wird sich die Zukunftsfähigkeit des geistigen Konstrukts Europa am Umgang mit den Romvölkern messen lassen müssen.“33 Der Weg scheint noch lang, zu lang – und wir als Mehrheitsgesellschaft müssen uns in den Worten des afroamerikanischen Autors und Aktivisten James Baldwin fragen lassen: „It’s taken my father’s time, my mother’s time, my uncle’s time, my brothers’ and my sisters’ time. How much time do you want for your progress?“34

Linda Unger

Zitation: Unger, Linda, Appolonia Pfaus, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/appolonia-pfaus/

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Ulrike Janz

Für Ulrike Janz, Jahrgang 1956, beginnt gerade eine ganz neue Lebensphase: Der sogenannte „Ruhestand“. Sie ist gespannt, wie sich der wohl anfühlt und wie er auf Dauer aussehen wird, sagt sie während wir in ihrer gemütlichen, mit Büchern gefüllten Wohnung im Dortmunder Beginenhof sitzen. Pläne und Ideen hat sie viele, wie sich das für eine leidenschaftliche Aktivistin und lebenslange Macherin gehört. Ulrike Janz ist seit ihrem Studium an der Ruhr-Uni Bochum in der Frauen-Lesben-Bewegung aktiv, politisch interessiert war sie aber schon als Schülerin, und ein Klassenbewusstsein hatte sie als Arbeiter:innentochter ebenfalls schon früh. Wie also hat alles angefangen, damals in Recklinghausen?

Klassenbeste

Ulrike war schon immer ein Bücherwurm. Allerdings gehörten die Praxis, das Machen, in ihrer Familie immer selbstverständlich dazu. Die Mutter, eine Kinderpflege-Assistentin aus einer Bergmannsfamilie, legte Wert auf Qualität und gepflegtes Äußeres und nähte ausgezeichnet. Der Vater, Maurer und LKW-Fahrer, hatte ein enormes handwerkliches Geschick. Beide brachten ihren Töchtern Ulrike und Susanne vieles bei, auch wenn Ulrike von sich sagt, dass sie im Vergleich zu ihren Eltern weder so perfekt schneidert wie die Mutter, noch so talentiert heimwerkt wie ihr Vater.

Dem Vater fehlte es wegen seines Mangels an formaler Bildung oft an Selbstbewusstsein, doch seine Töchter, die ihn als lebensklugen Menschen und höchst begabten Handwerker schätzten, stärkten ihn. Die Mutter wurde aufgrund ihres Stils sowie ihrer kommunikativen und offenen Art auch von ihren Freund:innen aus der Bürger:innenschicht hoch geschätzt. So verstand Ulrike früh: Formale Bildung ist wichtig, aber andere Arten von Wissen und praktische Fähigkeiten sind ebenso wertvoll; soziale Klassen existieren und müssen klar benannt werden, man sollte sich als Arbeiter:innenkind aber davon nicht einschüchtern lassen.

Als Ulrike mit zehn Jahren auf eine weiterführende Schule gehen sollte, griffen dann aber doch Unsicherheiten und Ängste der Eltern: Um der Tochter als Arbeiter:innenkind schlechte Erfahrungen zu ersparen, entschieden sie sich, das lernbegeisterte Mädchen nicht aufs Gymnasium zu schicken, sondern auf die Realschule, mit dem Ziel später mal z.B. bei der Sparkasse zu arbeiten. Ulrike weinte zwei Wochen lang. Mit den guten Noten war es aus reiner Verweigerung erstmal vorbei. In der  Realschule herrschte strikte Geschlechtertrennung und es ging höchst autoritär zu. Doch mit der Zeit siegte die Lust am Lernen, und in der 8. Klasse war klar: Ulrike würde nach dem Realschulabschluss zum Gymnasium wechseln. Als Jahrgangsbeste und Dank der sozialdemokratischen Bildungsreform mit Schülerbafög begann 1971 Ulrikes Gymnasialzeit. Während sie an der Realschule noch vor einem Abstieg der Zensuren auf der neuen Schule gewarnt wurde, genoss sie den respektvollen Umgang am Gymnasium und wählte Geschichte und Französisch als Leistungskurse. Neben der Schule bestand Ulrikes Leben vor allem aus Disko, Nähen und Lesen, mit 13 hatte sie ihren ersten Freund, außerdem war sie ein wenig in der Schülervertretung aktiv. Dort begeisterte sie sich für linke Politik.

Den Eltern machten die linken Ansichten ihrer Tochter etwas Sorgen, die Stimmung in Deutschland war bedingt durch Aktivitäten der Roten Armee Fraktion zunehmend nervös. Zudem trat sie mit 18 aus der Kirche aus, was sich bei der Arbeitssuche nachteilig auswirken konnte. Der Vater war zwar politisch interessiert, hatte aber aufgrund seiner persönlichen Geschichte großen Respekt vor Autoritäten und hätte sich nie zugetraut, politisch aktiv zu werden. Der mittelschichtsorientierten Mutter war vor allem wichtig, dass es ihre Töchter einmal besser haben würden als sie selbst. 1974 bestand Ulrike das Abitur – Ziel war der Numerus Clausus gewesen, die Mutter hätte ein Medizinstudium gern gesehen, doch Ulrike entschied sich für Psychologie. In Bochum wurde sie angenommen und liebte die Ruhr-Uni vom ersten Moment an. Für ihre Eltern war klar , dass sie ihre Tochter in allem unterstützen würden, was sie sich vornahm.

In der Betonschönheit

Mit langen blonden Haaren, schwingenden Röcken, Make up, hohen Absätzen und einem eleganten Fuchspelzmantel stößt Ulrike  in linken Kreisen der Uni auf  Vorurteile: Wegen ihrer Kleidung hält man sie für einen Mittelschichtstochter und traut ihr politisch wenig zu. Hier können privilegierte Bürger:innenkinder einiges von ihr lernen, zum Beispie,l dass man sich erst mal leisten können muss, in einer Gesellschaft, die Wert auf Äußerlichkeiten legt, absichtlich abgerissen herumzulaufen. Im Studiengang Psychologie sind 40% der Studierenden schon älter, weil sie über den zweiten Bildungsweg an die junge Ruhrgebietsuni gekommen sind. So findetUlrike schnell eine Clique von interessanten Menschen, mit denen sie persönliche und politische Schnittmengen hat. Bald zieht sie ganz nach Bochum, denn täglich mit dem Zug von Recklinghausen zur Uni zu pendeln nimmt zu viel Zeit in Anspruch.

Das Psychologische Institut mit den Schwerpunkten Verhaltenstherapie und Gesprächstherapie ist bis Mitte der 1970er Jahre den Geisteswissenschaften zugeordnet, dann werden Statistikvorlesungen und -prüfungen Pflicht. Und das Institut, ohnehin der linken Spontiszene nahe, rebelliert: Die Studierenden streiken, wenn Statistikklausuren auf dem Stundenplan stehen. Ulrike, die sich für Anarchafeminismus interessiert, findet das sehr sympathisch, macht aber trotzdem 1977 ihr Vordiplom. Im gleichen Jahr beginnt sie, in einer von Psychologiestudentinnen gegründeten Frauengruppe aktiv zu werden und belegt von Studentinnen ins Leben gerufene Frauenseminare – ihr „organisierter Einstieg in den Feminismus“, wie sie selber sagt. Als Ulrike Alice Schwarzers „Der kleine Unterschied“ liest, blättert auch die Mutter in dem Buch und fragt: „Musst Du dann auch lesbisch werden?“ Ulrikes ehrliche Antwort: „Aber Mama, Du weißt doch, dass ich nicht lesbisch bin.“

Der 1978 gegründete Frauenbuchladen heißt sie mit offenen Armen willkommen. Hier, in der Szene die viele Frauen- und Lesbengruppen umfasst, die zu verschiedenen Themen politisch arbeiten, sich treffen, diskutieren, Aktionen machen, findet sie nach und nach eine theoretische und praktische, politische und persönliche Heimat. Sie arbeitet von 1977 bis 1981 in der Bochumer Frauenhausinitiative mit, auch im Studium wird das Thema Gewalt gegen Frauen behandelt, ebenso wie  sexuelle Störungen, Verhütung und Abtreibung – Studentinnen bringen diese Aspekte in Seminaren ein. Außerdem ist Ulrike für einige Jahre im FrauenLesbenReferat der Uni aktiv und ist eine Weile Referentin.

Dass sie Frauen auch anziehend findet, wird ihr erst allmählich bewusst. Nach Wochenenden in Frauenzusammenhängen zurück nach Hause zu ihrem Freund zu kommen, fühlt sich irgendwann seltsam unpassend an. Der verständnisvolle junge Mann, selbst anarchistisch engagiert und in einer feministischen Männergruppe aktiv, unterstützt die nun lesbisch lebende Freundin, es gibt auch ein gemeinsames Abendessen mit ihm und einer Frau, mit der Ulrike eine kurze Beziehung hat, doch das ist keine Dauerlösung. In den Frauengruppen wird viel darüber diskutiert, ob für Frauen ein befreites Leben nach den aus der eigenen gesellschaftlichen Situation entwickelten feministischen Grundsätzen (Politik der Subjektivität) in Beziehungen mit Männern überhaupt möglich ist. Für Ulrike und viele andere Frauen lautet die Antwort: Nein. So ist das Jahr 1982 von vielen Veränderungen geprägt: Nach dem Examen 1981 ist das Studium nun zu Ende. Ulrike hat Röcke und Make Up seit einigen Jahren hinter sich gelassen, nun verabschiedet sich auch von ihrem langen Haar – und hat ihr Coming Out.

Vom Film zum Buch zur Zeitschrift

Eigentlich hatte die Frauengruppe am Psychologischen Institut den Plan, im Ruhrgebiet ein feministisches Therapiezentrum zu gründen. Doch viele der Frauen gehen nach dem Examen in den Beruf und haben keine Zeit mehr, sich außerhalb des Arbeitsalltags im großen Stil zu engagieren.

Ulrike beginnt, Autogenes Training zu unterrichten. Gemeinsam mit anderen Lesben sowie feministischen Heteras gründet sie eine Gruppe gegen Imperialismus und Bevölkerungspolitik, die sich bald auch kritisch mit Reproduktions- und Gentechnologien auseinandersetzt und sich dagegen engagiert. Mit ihrer ersten ernsthaften lesbischen Beziehung zieht sie 1983 in eine Lesben-WG, die anderthalb Jahre besteht und als Lebensmodell auch eine wichtige politische Dimension hat. Wie Beziehungen aussehen können und welche Gestaltungsmöglichkeiten es gibt, ist in der Lesbenszene ein großes Thema, denn bürgerliche bzw. patriarchale Muster wollen die Frauen in der Bewegung nicht reproduzieren.1

Gleichzeitig sind Vorurteile und Diskriminierung seitens der Gesellschaft nach wie vor ein großes Problem. Als Ulrike mit ihrer Freundin eine Wohnung sucht, meint die Vermieterin beim Kennenlernen: „Wir mussten Sie ja erst mal sehen – Sie könnten ja auch Lesben sein!“ Mit der Wohnung klappt es trotzdem, die Eltern schenken gutes Geschirr und freuen sich über das ordentliche Zuhause mit ordentlichen Möbeln. Denn den Grundsatz: „Wie haben zu wenig Geld, um billige Sachen zu kaufen“ hat Ulrike verinnerlicht, auch was ihre Kleidung angeht. Die Eltern sind weiterhin unterstützend: „Brauchse was, Kind? Kauf was ordentliches!“ Der Vater plaudert mit Ulrikes Partnerinnen gern über Autos.

1984 nimmt Ulrike eine Stelle als Filmvorführerin im Uni-Kino an– eigentlich kein Job für Frauen, wie man ihr sagt, aber eine Lesbe könnte den schon machen. Na, ein Glück! Die Arbeitszeiten sind ungünstig für das eigene soziale Leben, die Kino-Gutscheine bleiben ungenutzt, die Bezahlung ist schlecht, doch Ulrike kann zum Teil das Programm mitgestalten und viele Aushilfen – meist junge Männer – anlernen. Der Vater ist stolz, dass sie eine technisch anspruchsvolle Arbeit macht, die Mutter vermutet eher, dass der Job nicht ungefährlich ist. Schwester Susanne arbeitet eine Zeit lang an der Kinokasse. Doch nach einem Konflikt des Uni-Kinos mit der Bochumer Lesbenszene, die erfolglos eine reine Frauenvorführung für den Film „Desert Hearts“ fordert und schließlich Stinkbomben ins Kino wirft, geht Ulrike, die mit dem Anschlag nichts zutun hatte, auf die Suche nach einer neuen Arbeitsstelle.

Im Bochumer Frauenbuchladen Amazonas ist Ulrike seit Ende der 1970er Jahre eine gute Kundin. Seite 1987 arbeitet sie dort ein mal pro Woche unbezahlt mit. Für das Kollektiv aus 15 Frauen ist 1988 klar: Amazonas muss sich professionalisieren, um effektiv wirtschaftlich arbeiten zu können und langfristig zu bestehen. Ulrike beginnt als Geschäftsführerin, zunächst zusammen mit einer anderen Frau, dann alleine. Zusammen mit unbezahlt engagierten Frauen sowie einigen ABM-Stellen, hält der 1978 gegündete Laden bis 2006 durch – den vielen Veränderung am Buchmarkt, in der Gesellschaft und in der FrauenLesben-Szene zum Trotz. Der mit Privatgeldern und Krediten umgebaute Geschäftsraum wird zu Ulrikes zweitem Wohnzimmer. Sie arbeitet pro Woche bis zu 60 Stunden, macht Büchertische, liefert Bestellungen aus. Nachdem sie nicht mehr über ABM-Stellen arbeiten kann, macht sie sich als Geschäftsführerin selbstständig. Bald wird klar, dass die Arbeit für eine Person zu viel ist, eine weitere buchbegeisterte Feministin  wird ihre Kollegin. Sie konzipieren gemeinsam mit dem Laden-Kollektiv aus Studentinnen, Sozialhilfeempfängerinnen und Lehrerinnen Veranstaltungsprogramme – Autorinnen wie May Ayim sind zu Gast, Frauen mit Migrationsgeschichte berichten von ihren Erfahrungen, feministische Themen werden präsentiert und diskutiert. Auch Ulrikes Eltern unterstützen den Frauenbuchladen während einer extremen finanziellen Krisensituation.

IHRSINN

Die meisten Menschen wären mit der Leitung eines Buchladens ausgelastet, doch Ulrike Janz fehlte eine Ausdrucksmöglichkeit für politische Analysen aus lesbischer Perspektive. Auf Reisen in Kanada und Großbritannien hatte sie Lesbenzeitschriften wie Gossip, Lesbian Ethics und Sinister Wisdom kennengelernt, die lesbisch-feministische Theorie in gut lesbarer Form vermittelten. Manch eine würde vielleicht das Fehlen solcher Zeitschriften in Deutschland bedauern und an dem Punkt stehen bleiben. Ulrike hingegen sah die Lücke und sagte: „Super! Sowas machen wir hier auch!“ Zusammen mit anderen Bochumer Lesben gründete sie 1989 IHRSINN.2

Die Redaktion, die gleichzeitig ein Verein war, traf sich einmal pro Woche bei einer Redaktionsfrau zu Hause, die jeweilige Gastgeberin kochte – Ulrike machte meist Quiche und Salat – es wurde gemeinsam gegessen, dann lange, lange diskutiert, und zum Ausklang gerne ein Schnaps getrunken. Die erste Ausgabe ging mit 1000 Exemplaren an den Start. Das Feedback war unterschiedlich – den einen war IHRSINN zu akademisch, andere freuten sich über eine gut lesbare Zeitschrift mit spannenden politischen Analysen. Schon früh beschäftigten sich die Autorinnen mit Antisemitismus, Klassismus und Rassismus auch in der FrauenLesbenbewegung. Dies forderte die Leserinnen heraus, sich  auseinanderzusetzen – deshalb galten die Zeitschrift und ihre Macherinnen bei manchen als anstrengend. Doch Ulrike kannte über ihre Arbeit im Buchladen das Publikum, und die Mischung aus theoretischen und erzählenden Texten gelang: IHRSINN verkaufte pro Ausgabe zwischen 1000 und 2000 Exemplare und erschien zwei mal jährlich von 1989 bis 2004. Die Zeitschrift einer kleinen, radikalen Minderheit innerhalb einer Minderheit war einzigartig in Europa.

Ulrike Janz schrieb zum Beispiel über Lesben im NS, Gen- und Reproduktionstechnologien, Rassismus in der FrauenLesbenbewegung, über Klassenunterschiede bei Lesben, und über die Zwiespältigkeit von lesbischen Vorbildern aus der Geschichte. Ein Aspekt der viele Themen berührte, war das Thema Klasse. Arbeiter:innentochter zu sein, ist für Ulrike ein integraler, prägender Teil ihrer Biografie und für ihre linke, kritische Perspektive ein fundamentales Analyseinstrument. So zeigte sich die besagte Zwiespältigkeit von Lesben aus der Geschichte zum Beispiel darin, dass sie zum Teil als Aristokratinnen ihr Geld und ihre Privilegien nutzten, um Räume und Möglichkeiten für Frauen und Lesben zu schaffen. Gleichzeitig hielten einige von ihnen den Faschismus für das einzig wirksame und daher unterstützenswerte Mittel gegen die Ausbreitung kommunistischer Systeme.3 Statt lesbische Vorbilder zu verklären oder zu verdammen, zeigen die Texte von Ulrike Janz ein in der öffentlichen Diskussion selten gewordenes Gut: Differenziertheit und die Fähigkeit, unbequeme Widersprüche auszuhalten statt selbstgerecht bzw. unkritisch zu werden.

Von außen in den akademischen Diskurs

Ein weiteres Thema, das im Querschnitt viele andere berührt, ist das Thema Nationalsozialismus. Eine feministische Kritik an den Reproduktions- und Gentechnologien war deren Ursprung in Forschungen im NS sowie die eugenische Motivation dahinter. Eine Analyse der Widersprüche in die Lesben sich begeben, wenn sie diese Technologien nutzen, fand sich in IHRSINN ebenso wie die klare Benennung eines Gefälles zwischen Frauen im globalen Süden und denen in „westlichen Gesellschaften“.4 Aktionen gegen die Weiterentwicklung und das Nutzen von Reproduktions- und Gentechnologien gingen auch von Bochum aus und wurden zum Teil polizeilich verfolgt. Die Bewegung reagierte auf inhaltlicher Ebene auf die Repressionen, indem sie eine internationale Konferenz organisierte, bei der Aktivistinnen und Wissenschaftlerinnen auf die Situation von Menschen mit Behinderungen hinwiesen, auf die Verdinglichung weiblicher Körper, und auf die menschenverachtenden Praktiken, die zu Entwicklung der Technologien vor allem Frauen als Opfer des NS und Frauen ehemaliger Kolonien im globalen Süden betrafen.

Ulrike Janz‘ Forschungen zum Thema Lesben im Nationalsozialismus fanden komplett außeruniversitär statt, fanden aber in akademischen Kreisen schließlich auch Beachtung. Zunächst gab es zu dem Thema nur eine einzige Dissertation: „Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität“ von Claudia Schoppmann. So suchte Ulrike sich aus Büchern, Zeitschriften, Geschichten von Opfern zusammen, was es eben gab. Ihr Interesse war, selbst zu verstehen und verstehbar zu machen, wie das Merkmal „lesbisch“ in die komplizierten Opfer/Täter:innenstrukturen der KZs verwoben war. 5 Seit 1990 bot sie Workshops und Veranstaltungen zu Lesben im Nationalsozialismus an, beim Lesbenfrühlingstreffen 1992 in Bremen nahmen zum Beispiel 200 Frauen daran teil. Bald gab es deutschlandweit Einladungen, auch von Universitäten. Eine der wenigen Wissenschaftlerinnen, die sich mit dem Thema beschäftigten war Anna Hájková,6 die bis heute an der Universität Warwick in Großbritannien lehrt. Sie hatte mehrere Aufsätze verfasst, in der taz erschien ihr Artikel „Queering the Holocaust“. Ulrike schrieb ihr daraufhin – und bekam sofort eine Antwort: Die Professorin kannte alle ihre Texte, die allmählich auch von einem breiteren Fachpublikum wahrgenommen und zitiert, aber als grauen Literatur häufig nicht angemessen gekennzeichnet wurden, ein Problem über das Anna Hájková ebenfalls einen Artikel verfasste. Ulrike wurde zunehmend auch auf wissenschaftliche Tagungen eingeladen.

Sowohl in ihren 40ern als auch mit 50 hatte sie zwischenzeitlich die Idee zu promovieren und verfasste sogar ein Exposee. Doch Ulrike hätte aber noch mal Seminare zu Methoden etc. machen müssen, und das hätte besser in ihre 20er gepasst – es gab mittlerweile einfach so viel anderes zu tun, so viele andere spannende Themen. Die Eltern hätten zwar gern gesehen, wenn eine ihrer Töchter promoviert und eine akademische Karriere gemacht hätte: „Dass Du keinen Doktor heiraten wirst, ist ja klar!“ Und lange Zeit wollte Ulrike sich selber beweisen, dass sie das schafft – doch auch ihre Mutter fand schließlich: „Ach Kind, das musste jetzt auch nicht mehr machen.“

Ulrikes gesammelte Werke haben sicher den gleichen Umfang wie eine Promotion, und ob die mehr bewegt hätte als ihre vielen anderen Texte und Aktivitäten, ist schwer zu sagen. Sicher ist, dass Ulrike Janz das Thema Lesben im NS in den wissenschaftlichen Mainstream gebracht hat. Bevor sie sich aus der Forschung zurückzog, um andere Sachen zu machen, stellte sie Anna Hajkova ihre Texte für eine Internetplattform zur Verfügung.

Phasen-weise

Mit Beginn des neuen Jahrtausends zeichnete sich ab, dass für einige von Ulrikes Projekten und Tätigkeiten ein Ende in Sicht war und dass auch in der FrauenLesbenszene und ihren Orten Veränderungen anstanden.

Ulrike war 44 Jahre alt und hatte sich vorgenommen, mit 50 spätestens die Geschäftsführung des Frauenbuchladens niederzulegen. Mit Hilfe von Coachingstunden überlegt sie, wie der Abschied funktionieren könnte. Zunächst hörte ihre wichtigste Kollegin auf und Ulrike war einmal mehr die einzige Hauptamtliche. Doch es wurde eng für Frauenbuchläden: Zwar stieg der Umsatz im Bochumer Laden stetig, aber nicht mal eine Person konnte trotz zusätzlichen Anträgen und Spenden  wirklich davon leben. Ulrikes Hauptaufgaben, nämlich die Ladenarbeit, Bestellungen, Rechnungen, Büchertische, Auslieferungen, wurden zusätzlich zur  Redaktionsarbeit für IHRSINN einfach zu viel, und Zeit für Familie und Beziehung zu finden wurde immer schwieriger. Auch bei IHRSINN gab es Veränderungen: 15 Jahre nachdem die Zeitschrift ins Leben gerufen worden war, erschien die letzte Ausgabe. Der Abschied fiel Ulrike deutlich schwerer als der vom Buchladen, sie hätte die Redaktionsarbeit gerne fortgeführt und hatte bereits Ideen für eine Ausgabe zum Thema Wechseljahre. Statt dessen brachte sie 2006 ein Buch heraus, zu dem  ehemalige IHRSINN-Autorinnen Texte beitrugen: „Verwandlungen – Lesben und die Wechseljahre“.7

Ulrikes Plan, bei Amazonas aufzuhören stieß entweder auf Unglauben („Das machst Du eh nicht!“) oder auf politisch-moralische Einwände („Das kannst Du doch nicht machen!“). Ab 2004 wurden Frauen gesucht, die Ulrikes Aufgaben übernehmen könnten, doch es fand sich keine. Ab 2005 stand also die Frage im Raum: Wie wickelt man einen Laden ab? Ab Frühjahr war Ausverkauf, im Sommer gab es eine Reihe von Büchertischen. Viele Bücher gingen an Verlage zurück, die als politische Verlage solidarisch waren und die Remissionen gutschrieben. Auch das Antiquariat Doris Hermanns nahm zahlreiche Bücher ab. Am 31.12.2006 schloss Amazonas, der Bochumer Frauenbuchladen, nach 28 Jahren. Vielen Frauen fehlte er sehr, zumal auch das Frauencafé Tradinoi seine Türen geschlossen hatte und deshalb ein weiterer wichtiger Frauenort nicht mehr existierte. Auch Ulrike schmerzte der Abschied vom Laden bis zum letzten Tag – danach nicht mehr. Sie war bereits Anfang 2006 nach Dortmund gezogen, war seit 2007 zum ersten Mal seit ihrem Coming Out nicht in einer Beziehung – es war Zeit für einen Neuanfang.

Bei den Beginen

Beginenhöfe sind Frauenwohnprojekte, die es bereits im Mittelalter gab. Sie wurden ursprünglich von christlichen Frauen gegründet, die gemeinsam leben wollten, aber keine Nonnen waren. Heute sind Beginenhöfe nicht mehr an eine bestimmte Religion gebunden, Frauen aus verschiedenen Zusammenhängen, Lesben wie Heteras leben dort alleine oder in WGs, es gibt Gemeinschaftsräume und Gemeinschaftsprojekte.

Nur wenige im Dortmunder Beginenhof kannten Ulrike und ihre Arbeit. Sie „erfand sich neu“, auf einmal war alles offen – den Beginen des Mittelalters wäre dazu sofort ein Bibelzitat eingefallen: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ (Ps 31:9). Und wenn frau da steht, kann sie eigentlich auch tanzen. Und genau das tut Ulrike: Während ihrer „Auszeit“, die sie im Beginenhof mit Veranstaltungen, Gartenarbeit und Öffentlichkeitsarbeit für das NRW-weite Beginenhofnetzwerk verbringt, macht sie 2007 bis 2008 eine Tanzpädagogik-Ausbildung im Bochumer Zentrum für Tanz und Bewegung. Die Idee, sich mit Tanzkursen für älteren Frauen selbstständig zu machen, erscheint ihr zunächst interessant, aber mit 50 fühlte sich eine weitere Selbstständigkeit für Ulrike nur schwer vorstellbar  an. Statt dessen gibt sie Workshops bei Lesbenfrühlingstreffen und in anderen Zusammenhängen.

Doch auch sonst gibt es schnell wieder eine Menge zu tun. Im März 2007 beginnt sie bei der Anti-Gewalt-Beratungsstelle GESINE Intervention (Frauen helfen Frauen Ennepe-Ruhr-Kreis) zu arbeiten, von 2006 bis 2013 ist sie im Vorstand des Deutschen Lesbenrings e.V. aktiv und schreibt zu verschiedenen Themen für das Lesbenringinfo 8 ebenso in der Landesarbeitsgemeinschaft Lesben NRW.

Frau Janz tanzt weiter

Ulrikes Interesse und Engagement für lesbenpolitsche Themen ist auch jetzt, zu Beginn ihres Ruhestandes ungebrochen. Die Bochum-Bezüge haben nie ganz aufgehört, so ist sie immer noch im Bochumer Zentrum für Tanz und Bewegung aktiv, aber tanzt lieber für sich und mit der geliebten Tanztheater-Gruppe, als zu unterrichten. Die Gruppe ALTERnativLos für ältere Lesben (angesiedelt in der Rosa Strippe) koordiniert sie gemeinsam mit drei weiteren Lesben und organisiert dort auch  Veranstaltungen.

Besonders wichtig ist ihr seit Sommer 2021 die Mitarbeit in einer internationalen Unterstützungsgruppe für geflüchtete Lesben im kenianischen Flüchtlingscamp Kakuma. Ulrike hat eine  Möglichkeit zur finanziallen Unterstützung eingerichtet.9

Wenn sie heute auf ihre Biografie zurückblickt, fragt sie sich oft: Wie haben wir unsere vielen Interessen und Aktivitäten eigentlich unter einen Hut bekommen? Und es freut sie, dass die kleine radikale Minderheit innerhalb einer Minderheit mit großen Forderungen und mutiger Kritik über die Jahre doch einige Veränderungen in der Gesellschaft erreicht hat. Zwar sahen zum Beispiel radikalfeministische Lesben die Ehe äußerst kritisch und hätten sie am liebsten ganz abgeschafft, doch dass nun Lesben die Möglichkeit haben zu heiraten, wenn sie das möchten, findet Ulrike positiv. Und dass in Deutschland immer noch strengere Auflagen im Bereich Gen- und Reproduktionstechnologien existieren als in vielen anderen Ländern, hat auch mit der Aufklärungsarbeit von Feministinnen wie Ulrike Janz zutun, die immer wieder auf ihre Probleme hingewiesen haben und an ihre Anfänge in der NS-Ideologie erinnert haben. Also: Celebrate progress, not perfection.

Wenn sie könnte, würde Ulrike Janz ihrem jüngeren Selbst raten, einfach mal öfter eine Pause zu machen. Ihr jüngeres Selbst würde der heutigen Ulrike dagegen sagen: „Von wegen Ruhestand! Komm, lass uns loslegen, es gibt doch so viel Spannendes und Wichtiges zu tun!“ Klingt nach einem starken inneren Team, das sicher noch viel auf die (Tanz-)Beine stellen wird.

Linda Unger

Orte:

Der Frauenbuchladen Amazonas befand sich in der Schmidtstraße 12, 44793 Bochum. Dort war zuvor das Frauenzentrum.

Zum Zentrum Tanz siehe https://www-zentrumtanz.de

Zitation: Unger, Lina, Ulrike Janz, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/ulrike-janz/

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Dore Jacobs

Im „Bewusstsein eines sinnvollen Lebens“ – die Essener Sozialistin, Feministin und Bewegungslehrerin

Debora, genannt Dore, war das älteste von drei Kindern der Frauenrechtlerin Berta Marcus und des Juristen und Kantforschers Ernst Marcus; geboren wurde sie am 27. Juni 1894 in Essen. Schon in der Kindheit und durch fachkundige Anleitung kam sie mit tänzerischer Gymnastik in Berührung, einem Lernfeld, das ihre Berufswahl und ihren Lebensentwurf wie kein anderes bestimmen sollte. Die von ihren Eltern erwünschte höhere Bildung blieb Dore jedoch zunächst versagt. Erst auf Druck des Vereins „Frauenwohl“1 und nachdem der Preußische Landtag 1908 Reformen beschlossen hatte, stimmten die örtlichen Behörden einer zweiten Mädchen-Gymnasialklasse zu.2 Dore durfte nach mehrmonatigem, von Lehrkräften erteilten Privatunterricht das Goethe-Realgymnasium besuchen, und sie bestand 1911, mit 17 Jahren, die Reifeprüfung.3 Zu diesem Zeitpunkt schwebte ihr nach eigener Aussage der Lehrerinnen-Beruf vor. Als sie ein Jahr lang Mathematik und Physik in Heidelberg studiert hatte, wechselte sie 1912 an die Technische Hochschule Dresden. Mehr als die beiden Fächer interessierte sie das Angebot der berühmten Bildungsanstalt des Tanzpädagogen Émile Jaques-Dalcroze4 in der Dresdner Gartenstadt Hellerau. In zwei Jahren erlernte sie die „Rhythmische Gymnastik“ und schloss mit einem Diplom ab. Ihr sei klar geworden, dass „nicht die Studienrätin mein eigentliches Anliegen war […]. Die Rhythmik hatte mich ganz in ihren Bann gezogen.“5 Im Jahr 1914 kehrte Dore nach Essen zurück und heiratete ihren langjährigen Gefährten und früheren Mathematik- und Physiklehrer Artur Jacobs (1880–1968). Ihr Studium, nun an der Universität Bonn, führte sie bis 1915 eher halbherzig fort. Sie konzentrierte sich zunehmend auf Bewegungsbildungskurse für Kinder und junge Frauen.


Engagierte Jugendgruppenleiterin

In Heidelberg, so Dore Jacobs in einem Erinnerungstext, habe sie erstmals über die „Judenfrage“ nachgedacht und sich während der Bonner Monate von Referaten des Religionsphilosophen und Zionisten Martin Buber inspirieren lassen.6 Sie übernahm die Idee einer jüdischen „Heimstatt“ und erwog sogar, nach Palästina auszuwandern. Mit Rücksicht auf ihre Familie – 1918 war Sohn Gottfried geboren worden – blieb sie in Essen und gründete zusammen mit ihrem Bruder Robert (1901–1978) und gemeinsamen Freunden eine lokale Gruppe des zionistischen Wanderbundes „Blau-Weiß“.7 Ihre Initiative war nicht nur politisch begründet, sondern auch angeregt durch „wilde“ Wanderungen in der freien Natur mit Artur Jacobs und ihren Eltern.8 Die erste Zusammenkunft der Jugendlichen hatte im Wohnhaus der Familie Marcus, Schubertstraße 11, stattgefunden. Nach dem Umzug von Dore, Artur und Gottfried in ein geräumiges Haus am Eyhof (1931 umbenannt in Am Dönhof) fand sich die Gruppe regelmäßig in einem der Kellerräume, ihrem sogenannten Heim, zusammen. Dort diskutierte man über Leseerlebnisse, hielt Referate und schmiedete Zukunftspläne. Sonntags trafen sich alle bei Wind und Wetter um halb acht am Hauptbahnhof und unternahmen ganztägige Ausflüge. In den Ferien ging der „Blau-Weiß“ wochenlang „auf Fahrt“: „Meine Gruppe war die einzige, in der Mädchen und Jungen zusammen wanderten. Wir waren unbegrenzt einsatzwillig. Schliefen wir im Hause, so wurden die Kleinen in die Betten gepackt, und die Großen lagen auf dem Boden. Und wenn wir, wie meist, im Wald schliefen, wurden ein Großer und ein Kleiner zusammen in einen Schlafsack gepackt. Wir waren in jeder Hinsicht radikal in unserem Wanderleben.“9

Das selbstbewusste Auftreten der jungen Leute ebenso wie Dore Jacobs´ erzieherischer Einfluss stießen in vielen Elternhäusern auf Kritik. Wenig Gegenliebe fanden zudem die auf den Aufbau eines jüdischen Staates gerichteten praktischen Berufswünsche. Dessen ungeachtet hielten die jungen Zionistinnen und Zionisten an ihren Zielsetzungen fest. Bestätigung erfuhren sie durch Hugo Hahn, seit 1923 zweiter Rabbiner der Jüdischen Gemeinde; er lud sie zu Festveranstaltungen in die Synagoge am Steeler Tor ein, wo sie Lieder in hebräischer Sprache vortrugen.10 Diese Wandergruppe bestand bis 1924. Ein Teil der „Blau-Weiß“-Mitglieder schloss sich nach der Auflösung dem pfadfinderischen „Kadimah“ an, ein anderer fand über Dore Jacobs den Weg zum „Bund. Gemeinschaft für sozialistisches Leben“11, kurz „Bund“ genannt.


Dore Jacobs und der „Bund“

Gleichgesinnte aus der „Freien Gruppe“ der Essener Volkshochschule12, sieben Frauen und zwei Männer zwischen 25 und 45 Jahren, hatten sich im Jahr 1924 zum „Bund“ zusammengeschlossen. Dore und Artur Jacobs bildeten darin den Mittelpunkt. Diese Gründer:innen blieben, soweit sie nicht in der NS-Zeit Deutschland verlassen hatten, noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Krieg der respektierte „innere Kreis“. Mitglieder wurden sorgfältig ausgewählt, d. h. ein Beitritt aus eigenem Entschluss war nicht vorgesehen. Der Kreis suchte diese in Jugendgruppen, bei den „Naturfreunden“, in linken Parteien und Gewerkschaften, in Sportvereinen sowie in der Verwandtschaft.13 Bis zum Verbot 1933 gehörten schätzungsweise 200 Frauen und Männer zum „Bund“, organisiert in mehreren örtlichen Gruppen im Rhein-Ruhr-Gebiet – keineswegs durchweg Akademiker:innen. Sie hatten sich mit ihrem Eintritt bestimmten „Gesetzen“14 untergeordnet, dazu gehörten Entscheidungen über politische und berufliche Wege, die Abkehr von einer Konfession, Alkohol-Abstinenz, Experimente wie die „Bewährungsehe“ und die Kollektiverziehung. Der Zusammenschluss verstand sich als ein (beitragspflichtiger) Orden15, dessen Streben auf eine Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse gerichtet war und der Vorstellungen eines „ethischen Sozialismus“ und einer „ausbeutungsfreien Gesellschaft“ anhing. Dabei war weniger von der Marxschen Lehre als von Kants Philosophie die Rede.16 Mit einem rituellen Gelöbnis ging jede/r Einzelne die Verpflichtung ein, sein Leben fortan ausschließlich und aktiv diesem Zusammenschluss zu widmen.17 Anders als in Vereinen üblich, verzichtete der „Bund“ auf einen Vorstand, Statuten und Mitgliederlisten. Beschlüsse kamen in ständigem Gedankenaustausch zwischen dem „Inneren Kreises“ und den übrigen Mitgliedern zustande. Dore Jacobs beschrieb diesen sehr eigenen Weg der Willensbildung so: „Selbstverständlich nicht durch Befehl und Gehorsam. Aber auch nicht durch Abstimmung. Vielmehr durch klärende Aussprachen, durch gemeinsames Ringen um Erkenntnis, durch Einsicht und Einigung.“18

Der „Bund“ lebte Teile seiner Zukunftsperspektiven ganz unmittelbar, unter anderem indem ein dichtes Lern- und Arbeitsprogramm aufgestellt wurde; dazu gehörten häufige Zusammenkünfte und unzählige selbst verfasste Schriften und Papiere. Zugleich sollte durch Einflüsse insbesondere auf sozialistische Jugendgruppen eine revolutionäre Umgestaltung in Gang gebracht werden. Exemplarisch für den Schwung der Anfangszeit ist ein von Dore und Artur Jacobs initiiertes überparteiliches „Kulturkartell“; es setzte mit Bewegungs-Chören, Lesungen, einem „Arbeiter-Trio“ und anderen Darbietungen auf die Erneuerung proletarischer Ausdrucksformen.19 Ein pädagogisches Projekt war darüber hinaus auch die 1924 politisch erkämpfte Freie Schule in Essen-Rellinghausen.20 „Bund“-Mitglieder unterrichteten dort hauptsächlich Kinder aus Bergarbeiterfamilien. Sie vermittelten Lebenskunde statt des an anderen Volksschulen vorgeschriebenen Religionsunterrichts, und Dore Jacobs´ Gymnastik gehörte ebenso zum Lehrplan wie vielerlei naturverbundene Unternehmungen. In den Jahren hoher Arbeitslosigkeit richteten Lehrkräfte und Mütter eine Schulküche und eine Nähstube ein.21


Die Essener „Bundesschule für Körperbildung und rhythmische Erziehung“

Dore Jacobs entwickelte in vorsichtiger Absetzung von Jaques-Dalcrozes Körperbildung eine eigene Bewegungslehre, die „organische Gymnastik“, die sie seit 1920 systematisch vermittelte und darin ab 1925 hauptberufliche Bewegungslehrerinnen und -lehrer ausbildete.22 Ihr ging es darum, „Hemmungen fortzuräumen, die der Wiedergabe musikalischer Vorgänge durch Bewegung aus falschem körperlichen Verhalten erwuchsen.“23 Körperliches und Seelisches sollten zusammenfließen. Dabei legte Dore ihr Augenmerk auf die Beziehung zwischen der äußeren Bewegung und der „Innenbewegung“, der Atmung und dem Blutkreislauf.24

1926/27 errichteten „Bund“-Mitglieder in Essen-Stadtwald ein berghüttenähnliches Holzhaus als ständigen Ausbildungsort, an dem nun auch VHS-Kurse für Laien stattfinden konnten und der Wohnungen für Lehrerinnen bot. Das Gebäude, seine bescheiden zweckdienliche Ausstattung und seine Anmutung waren nicht zuletzt Ausdruck der von Dore Jacobs formulierten Ansprüche.25Die „Bundesschule“ lag nur einen Fußweg entfernt vom Wohnhaus Am Dönhof 18, in dem Dore, Artur und Gottfried mit Vertrauten aus dem „Bund“ kurzzeitig oder auch über Jahre zusammenwohnten.26 Nachdem die staatliche Anerkennung des Ausbildungsgangs für künftige Gymnastiklehrer:innen erteilt und das Blockhaus bezogen worden war, begann für die Beteiligten eine neue Schaffensphase. Dore bezeichnete diese verschiedentlich als eine besonders fruchtbare: „Wir waren glücklich, am Stadtrand nahe beim Wald zu sein und bei gutem Wetter auf der Schillerwiese unseren praktischen Unterricht und im eigenen Garten die Theoriestunden geben zu können.“27

Sie registrierte eine vermehrte Breitenwirkung ihrer Gymnastik sowohl durch die Kurse im Haus als auch durch ein Netz von mehr als zwanzig in der Region wirkenden Absolventinnen und Absolventen. Der Erfolg erlaubte es, erwerbslose Männer und Frauen kostenlos aus- und fortzubilden.


„Fragwürdigkeit des heutigen Frauendaseins“

„Bund“-Mitglieder standen den Zielen der bürgerlichen Frauenbewegung nahe, dem Streben nach umfassender Bildung und nach wirtschaftlicher Autonomie durch Berufstätigkeit. Ihre politischen Ziele adressierten sie gleichwohl in erster Linie an Frauen und Jugendliche aus dem Proletariat, geleitet vom Gedanken eines größeren emanzipatorischen Bildungszusammenhangs.28 In den VHS-Kursen von Dore Jacobs und anderen hatten „Frauen-Themen“ einen festen Platz, wiederkehrend beispielsweise „Die Lage der Frau in der heutigen Gesellschaft“ oder „Eheprobleme“. Für Vorträge und Arbeitsgemeinschaften zur Sexualerziehung und zur „Mädchenfrage“ warben sie in der Sozialistischen Arbeiterjugendbewegung; in dieser nahmen sie nämlich noch „Weibchenhaftigkeit“ und festgelegte Rollen wahr.29 Im „Bund“ dagegen waren Gleichheitsverhältnisse im Großen und Ganzen Realität geworden: Bezahlte pädagogische Kräfte übernahmen die Kindererziehung, und in den Wohngemeinschaften verrichteten Männer und Frauen die Alltagstätigkeiten zu gleichen Teilen.30 Grundsätze „moderner Haushaltsführung“ kamen in Bildungsveranstaltungen immer wieder zur Sprache, auch in den Mütterkreisen an der Freien Schule Rellinghausen. Die herkömmliche Arbeitsteilung sollte durch öffentliche Ernährung, Großhaushalte u.a. überwunden werden: „Die Forderung der berufstätigen Frau zieht unausweichlich grundsätzliche Folgen, tiefgreifende Umwandlung in Bezug auf Haushalt, Familie, Kindererziehung usw. nach sich. Hier gilt es: Nicht vor den Konsequenzen erschrecken! Nicht auf halbem Wege stehenbleiben!“31

Dore Jacobs vertrat schon während der Weimarer Republik eindeutig feministische Positionen, und erstaunlicherweise hing sie der noch kaum verbreiteten Auffassung vom Erwerben weiblicher und männlicher Eigenschaften an, dem Gendering, wie heute gesagt wird. Die „Bund“-Frauen insgesamt lehnten naturhafte Vorstellungen über jungen- und mädchenhaftes Aussehen und Verhalten entschieden ab; sie sahen in Erziehung und Sozialisation die maßgeblichen Faktoren. Das hieß: „Grundsätzlicher Verzicht auf jedes Streben nach männlicher oder weiblicher Eigenart – nicht aus Gleichmacherei, sondern gerade um der wahren Eigenart der Geschlechter willen, die sich nur in der Lebensluft völliger Gleichheit ungehemmt entfalten kann.“32 Wie weiblich oder männlich menschliche Wesen seien, sollte sich demnach im Verlauf des Aufwachsens herausstellen.


Unterrichtsverbot – illegale Arbeit – ein Hilfswerk

Der „Bund“, seit 1931 „Internationaler Sozialistischer Orden“ genannt, wurde, nachdem die SA das Blockhaus gewaltförmig inspiziert hatte, im September 1933 verboten. Auch hatten die NS-Machthaber Mitglieder vorgeladen, einige vorübergehend in „Schutzhaft“ genommen. „Bund“-Mitglieder, so behaupteten sie, leisteten „marxistischen Bestrebungen Vorschub“.33 Artur Jacobs hielt sich aus Furcht vor einer Verhaftung monatelang bei Verwandten in Wuppertal auf, auch andere verließen das Ruhrgebiet. Die VHS-Arbeit der „Freien Gruppe“ war seit dem Sommer untersagt, und die „Bundesschule“ musste ihre Arbeit Mitte 1934 einstellen. Einen Teil der Räume konnte Dore bis zum Ende der Naziherrschaft an die katholische Pfarrgemeine St. Lambertus vermieten. Geringe Einnahmen erzielte sie außerdem durch Privatunterricht, der sich zuletzt auf wenige jüdische Schülerinnen beschränkte. Ihr faktisches Arbeitsverbot gefährdete die Existenz der Familie, zumal Artur Jacobs aufgrund seiner politischen Überzeugungen Pensionsansprüche verloren hatte.34 Gottfried, mittlerweile 16 Jahre alt, verbrachte angesichts dieser Entwicklung mehrere Wochen in Hamburg bei seiner Tante Eva, Dores Schwester, bevor ihn nach Diskriminierungserfahrungen an Schulen im Harz und in Essen Verwandte in den Niederlanden aufnahmen.35

Nach dem Krieg schrieb Dore über den in vielerlei Hinsicht tiefen Einschnitt: „Im Äußeren war das ein schwerer Rückschlag. Unsere Arbeit hatte eben damals einen Höhepunkt erreicht, der es erlaubt hätte, die Schule nun auch nach der wirtschaftlichen Seite auszubauen. Alles das war abgeschnitten. Umso intensiver arbeiteten wir nach innen, im kleinen Kreise befreundeter Kollegen.“36
Der „Bund“ bemühte sich in jenen Jahren um Unauffälligkeit. Jede/r erwartete (zu Recht) Hausdurchsuchungen, Postkontrollen, Verhaftungen und Verhöre und hatte sich genauestens auf solche Situationen vorbereitet. Schriften, Papiere und Protokolle mussten vorsorglich versteckt werden. „In Rollenspielen übten Mitglieder, wie sie in bestimmten Fällen – zum Beispiel bei einem Verhör – reagieren würden, und wurden anschließend von anderen Gruppenmitgliedern kritisiert. Die für richtig befundenen Antworten wurden schließlich so oft wiederholt, bis alle sie im Schlaf aufsagen konnten.37 Gefahr drohte, wenn Nachbarn im Stadtwald der Gestapo „verdächtiges Verhalten“ meldeten, das meinte: häufiges Kommen und Gehen unkonventionell gekleideter Besucher:innen.38 Dem „Bund“ gelang es, einen wenngleich reduzierten Zusammenhalt zu bewahren. Politische Versammlungen fanden in „Bundhäusern“ statt, aber auch im Sauerland oder an der See, wo man Formen der Widerständigkeit beriet und verabredete. Das Wandern und die tänzerische Gymnastik gaben den Treffen einen harmlosen Anstrich. Auch dass Opposition und Widerstand in der NS-Gedankenwelt vornehmlich als männliche Verhaltensmuster galten, kam dem „Bund“ mit seinem hohen Frauenanteil zugute.39

Bereits vor der Machtübertragung an Hitler hatten die „Bund“-Genoss:innen Gefahren für Jüdinnen und Juden erkannt und Schutzmaßnahmen überlegt. Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 machte eine unmittelbare Bedrohung sichtbar, und der Vernichtungswille des Regimes zeichnete sich nach dem Überfall auf Polen und zwei Jahre später mit den ersten Deportationen aus dem Reichsgebiet unzweifelhaft ab. Als jüdischer Teil einer „Mischehe“ war Dore noch geschützt. Sie erlebte aber, wie von Entrechtung und Enteignung betroffene Freundinnen und Freunde Deutschland zu verlassen suchten oder, wenn dies misslang, in die Verfolgungs- und Mordmaschinerie der Nazi gerieten, darunter auch ehemalige Mitglieder ihrer „Blau-Weiß“-Gruppe.40 Sie und etliche „Bund“-Mitglieder hielten Kontakt zur jüdischen Gemeinschaft, halfen ganz praktisch bei der Flucht aus Deutschland. Auch schickten sie eine große Zahl von Briefen und Paketen an in Ghettos und Lager Verschleppte, u. a. nach Theresienstadt und Auschwitz. Durch Hilfsbereitschaft und Einfallsreichtum konnten außer Lisa Jacob, Marianne Ellenbogen und Dore Jacobs fünf weitere jüdische Menschen gerettet werden, meist mit falschen Papieren oder „untergetaucht“ bei „Bund“-Mitgliedern an wechselnden Orten (auch im Blockhaus in der Leveringstraße). In Nachkriegsberichten und sogenannten Auslandsbriefen bezeichneten sie ihr unglaublich stabiles Netz von couragierten Unterstützer:innen als „Judenhilfswerk“.41

Dore Jacobs floh im Frühjahr 1944 mit Artur von Wuppertal, wohin das Paar umgezogen war, nach Meersburg am Bodensee. Dore hielt sich bis zum Kriegsende in einer von „Bund“-Freundinnen betriebenen Pension auf, teils verborgen, teils unter falschem Namen gemeldet, zuletzt getarnt als „ausgebombte Arierin“. Sie entging so der im Herbst 1944 im Rheinland angeordneten Einweisung jüdischer „Mischehe“-Partner:innen in Arbeits- und Konzentrationslager.42 Ob Dore und Artur die Stadt aufgrund von Gerüchten oder Hinweisen rechtzeitig verließen, ist in Befragungen nach dem Krieg offengeblieben.43 Im Rückblick schrieb Dore über dieses nicht nur von Ängsten bestimmte Warten auf das Kriegsende: „Das trotz aller kleinen Nöte und großen Schicksale von Wesentlichem erfüllte und auf Übergeordnetes gerichtete Zusammenleben im letzten Kriegsjahr gab allen, die es miterlebten, ein Gefühl tiefer Verbundenheit und Zuversicht. Alles war Vorbereitung auf einen neuen Anfang, auf den wir hoffnungsvoll hinlebten.“44


Neubeginn mit Enttäuschungen

Im Herbst 1945 baute Dore Jacobs ihre Körperbildungsarbeit in Wuppertal auf, bevor sie ab 1947 wieder im Essener Blockhaus unterrichtete. Dore und ihre Mitstreiter:innen knüpften erneut (nicht immer ganz reibungslose) Verbindungen zu Volkshochschulen in der Region.45 Ihre Bildungsambitionen suchten sie nun unter dem Namen „Der Bund – Volkshochschulkreis e.V.“ zu verwirklichen.46 Es war geradezu selbstverständlich, dass sogleich Kurse für Hörerinnen stattfanden wie „Not und Aufgabe der Frau nach 12 Jahren Hitler-Zeit“ 1946 in der VHS Wuppertal, „Die Aufgabe der Frau im neuen Deutschland“ 1948 in Langenberg oder „Organische Gymnastik und Bewegungsschulung für Frauen“ 1948/49 in Mülheim.

Dore Jacobs´ ganzheitlich verstandene, vielen noch aus der Vorkriegszeit bekannte Gymnastik fand Zuspruch bei Erwachsenen wie in der jüngeren Generation, bei Laien und zukünftigen Gymnastiklehrer:innen. Die über 50-jährige, gesundheitlich geschwächte Dore blieb Lehrerin an der Schule, übergab die Leitung aber bald an ihre ehemalige Schülerin und Freundin Lisa Jacob (1899–1989).47 Die „Bund“-Zielsetzungen traten seither in den Hintergrund, was auch mit der staatlichen Anerkennung als private Berufsfachschule und der Notwendigkeit (partei)politischer Zurückhaltung zu tun hatte.48 Die Nachfrage stieg und erlaubte es, Schülerinnen und Schüler auszuwählen. Im Lehrplan der dreijährigen Ausbildung fanden sich nun deutlicher als zuvor Fächer wie Gesundheitsbildung, Pädagogik und Staatsbürgerkunde, und das Berufsfeld schloss nach und nach soziale Bereiche ein. Lisa Jacob leitete die Schule bis 1970; ihr folgte Karin Gerhard, die von Dore Jacobs und Lisa Jacob unterrichtet worden war.49

Nach 1945 hielt Dore Jacobs, wie alle im „Bund“, an Sozialismusvorstellungen fest, ebenso an forcierter Gleichstellungspolitik. Hinzu kam die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, welche Unterstützungs- und Wiedergutmachungsprojekte im In- und Ausland einschloss. Auch nahm der Verein Gesprächskontakte auf zur SPD, zu den Jusos, zur FDP, der Arbeiterwohlfahrt, den Quäkern sowie anderen ihm nahestehende Organisationen. Aber der erwartete Aufbruch blieb aus. Das lag zum einen an einer geringeren Mitgliederzahl – einige nach 1933 Geflüchtete waren nicht zurückgekehrt –, zum anderen an internen Debatten über Form und Inhalt der zukünftigen Arbeit. Trotz vieler Bemühungen, an denen Dore Jacobs aktiv beteiligt war, nicht nur mit einem fast 100-seitigen „Aufruf an die Jugend“, blieb die Resonanz verhalten – bis auf Gottfried, ihren Sohn, hielten auch die „Bund“-Kinder Distanz. Die Nachgeborenen scheuten, wie zu hören war, das Einhalten strenger Gebote.50 Auch ältere Mitglieder wollten ihr Leben nun nicht mehr völlig von „Bund“-Gesetzen bestimmen lassen. „Es stellte sich schließlich heraus, dass die Jahre unter dem NS-Regime nicht, wie gehofft, das Vorspiel einer Führungsrolle gewesen war, die man in einer Nachkriegsgesellschaft anstrebte, sondern seine Schicksalsstunde.“51 Der „Bund“ existierte dennoch bis in die 1990er Jahre hinein in Essen und an anderen Orten. Die nun mehrheitlich aus Älteren bestehende Gemeinschaft veranstaltete unbeirrt Tagungen, knüpfte und pflegte Verbindungen, spendete für politische und soziale Institutionen.

Ein Mensch mit Prinzipien

Dore Jacobs verstarb am 5. März 1979 in Essen. Ihr Nachlass enthält Erinnerungstexte, in denen sie auf ein gelungenes und „sinnvolles“ Leben zurückblickt.52 Ohne Zweifel war sie, stets begleitet von ihren Freundinnen und Freunden, Vorreiterin selbstbestimmter Lebensformen. Schon im Jugendalter registrierte sie die Benachteiligung von Frauen und trat vehement für Gleichberechtigung, Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten ein. Sie hatte, wie alle im „Bund“, ein weltbürgerliches Politikverständnis, hielt Verbindungen beispielsweise nach Belgien, Palästina/Israel, Südafrika, in die USA, dort auch zur schwarzen Bürgerrechtsbewegung, zur Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit. Die nach dem Krieg verfassten „Auslandsbriefe“ zeugen von diesen grenzüberschreitenden Kontakten. Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus bekämpfte Dore, solange ihr dies möglich war. Es gelang ihr, nachhaltige Strukturen zu schaffen: in mehreren Volkshochschulen, in der Jugendarbeit und vor allem an der Gymnastikschule, die lange nach ihrem Tod zu einem Essener Berufskolleg mit Körperbildungsschwerpunkt werden sollte und – ganz ihrer Denkrichtung entsprechend – Mädchen und Jungen aus allen Schichten Schulabschlüsse bis hin zur Hochschulreife ermöglicht.

In das Bild dieser schöpferischen Frau gehört auch ein aus heutiger Sicht irritierendes Elitekonzept, ein Denken in „organischen Rangordnungen“. Dore Jacobs schwebte einerseits eine klassenlose Gesellschaft vor, andererseits schrieb sie dem von strikten Regeln und hohen Ansprüchen getragenen „Bund“ eine Avantgardefunktion gegenüber den erwähnten Zielgruppen zu. Diese sollten nichts weniger als den Vorkämpfern reflektiert und bewusst nacheifern. Auch intern hat sie eine „klare Hierarchie“ (Mark Roseman) mitgetragen. Ausdruck fand diese in jenem „inneren Kreis“, bestehend aus den Gründer:innen und zentriert um Artur Jacobs. Dessen Autorität stellte, soweit bekannt, niemand infrage; er blieb bis in die 1960er Jahre hinein tonangebend in der Auseinandersetzung mit Gegenwartsfragen und in der Vorbereitung politischer wie lebensweltlicher Entscheidungen, die in allen Gruppen jeweils ausführlich diskutiert, nicht aber zur Abstimmung gebracht wurden. In diesem Sinn lehnte Dore das in anderen (linken) Zusammenschlüssen herrschende Prinzip der Mehrheitsentscheidung als „demokratische Gleichmacherei“53 ab. Widersprüchlichkeiten wie diese stellen ihr leidenschaftliches Engagement beim „Bau einer besseren Welt“, das bis in die Gegenwart ausstrahlt, schließlich nicht in Frage.


Erinnern, Lernen, Spurensuche

Dore Jacobs sei in ihrer Heimatstadt kaum bekannt, schrieb Mark Roseman vor zwei Jahrzehnten.54 Das sollte sich inzwischen geändert haben, denn neben anderen Autorinnen und Autoren stiftete er selbst mit imponierenden Veröffentlichungen Aufmerksamkeit für die „Bund“-Geschichte.55 Auch hat die Essener VHS bei verschiedenen Anlässen an die Kursleiter:innen aus dem „Bund“ erinnert und sie gewürdigt.56 Als wichtiger Multiplikator kann in diesem Zusammenhang das Dore-Jacobs-Berufskolleg gelten. Wer die Namensgeberin war und dass die Ausbildung mit den Schwerpunkten „Bewegung, Sport, Gesundheit“ auf Dores Pädagogik zurückgeht, erfahren die Schülerinnen und Schüler im Rahmen von Projektwochen oder Lerneinheiten. Eine Vielzahl von ihnen wird vermutlich nach einem berufsqualifizierenden Abschluss in entsprechenden Tätigkeitsbereichen etwas von dem erworbenen Wissen weitergeben. Für tiefergehende Einblicke in Dore Jacobs Lebenszusammenhang liegen Bücher und Aufsätze vor, vielfach von ihr selbst verfasst. Die Hinterlassenschaften umfassen ebenso Briefe, Broschüren und autobiographische Texte. Einen großen Schatz davon verwahrt die Alte Synagoge/Haus jüdischer Kultur in Essen. Archivalien finden sich darüber hinaus im Stadtarchiv/Haus der Essener Geschichte sowie im Dore-Jacobs-Haus in der Leveringstraße 30, das zu einem auratischen Erinnerungsort geworden ist.57 Auch Dore Jacobs´ langjährige Wohngemeinschaft mit Ehemann Artur, Sohn Gottfried und „Bund“-Mitgliedern wird im unzerstörten Gebäude Am Dönhof 18 vorstellbar. Und obwohl das ansehnliche, 1905 erbaute Haus in der Schubertstraße 11 nach dem Zweiten Weltkrieg durch einen schlichten Neubau ersetzt wurde: ein Spaziergang im Moltke- und Südviertel veranschaulicht, in welchem Umfeld die Geschwister Marcus aufwuchsen, auch die Nachbarschaft zur befreundeten Familie Levy in der Moltkestraße 28. Dore Jacobs´ letzte Ruhestätte auf dem Essener Südwestfriedhof allerdings existiert seit einigen Jahren nicht mehr.

Dr. Heidi Behrens

Zitation: Behrens, Heidi, Dore Jacobs, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/dore-jacobs-1894-1979/

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Alleinerziehende türkische sog. Gastarbeiterin

Erzähl‘ es ihnen1

„Söyle onlara. Onca muayneden geçtik, sağlıklıydık geldiğimizde hepimiz. Çoğu ölüp gitti. Baban da ölüp gitti. Bruckhausen ya da Meiderich, bugünkü şehir parkının etrafında bulunmuş olan yaşam alanları. Aslında yaşam alanları değillerdi. Bruckhausen, Meiderich, taşıyıcıları ve tekerlekleriyle kanlı canlı insanlardan mürekkep fabrikalardı. Bugünse fabrika borularının yerini minareler, camiler, artık kimseye yurt olmayan yurtlar ve kültür yerine hayatta kalma mücadelesi veren kültür merkezleri almış. İçerisi bembeyaz, dışarısı ise isten, zulümden kapkara. Sen sevgi dolu ailenin kanatları altında, bir kervana aitsin. Sana hep sahip çıkmış olan bir kervan bu. Biz diyerek. Aidiyeti eleme tehdidiyle koruyan bir sevgiyle. Şimdi biliyorum bunun böyle olduğunu. Gettolarda buna verilen ismi de. Biz mahalle derdik. Ve mahalle sevgi ve gurur ile ilgiliydi. Aidiyetle, isle. Her bir grup için böyleydi bu – öyle çoktu ki bu gruplardan, gerçekte hepsi birbirinin aynı olan.  Bu yüzden tüm Duisburg mahalle.“       

Erzähl´es ihnen: All die Untersuchungen mussten wir machen.  Beweisen, dass wir gesund waren, als wir hier ankamen. Die meisten sind gestorben. Auch dein Vater. Duisburg, Bruckhausen, Meiderich, Hochfeld waren keine Stadtteile, sondern Maschinen mit menschlichen Rädern und Trägerinnen aus Fleisch und Blut. Heute stehen dort nicht Fabrikrohre, sondern Kulturorte, in denen – sie sagen: Kultur drin ist. Jetzt stehen wir draußen.  In den Ghettos, wie sie hießen, wir nannten es Mahalle. Und es hatte mit Liebe zu tun. Mit Zugehörigkeit. Für jede Gruppe, denn es gab so viele von denen, die alle gleich waren im Grunde. Deshalb bleibt ganz Duisburg unsere Mahalle.

Von Ankara nach Deutschland

Ich bin in Ankara aufgewachsen. Meine Eltern habe ich mit 12 Jahren verloren. Meine vier älteren Geschwistern, besonders mein älterer Bruder haben die Geschäfte meines Vaters übernommen. Wir haben einen kleinen Einzelhandel geführt mit Lebensmitteln und Stoffen. Ich habe mich sofort in euren Vater verliebt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Wir haben geheiratet und sind kurz darauf nach Istanbul gezogen. 1970 standen wir am Haydarpaşa Bahnhof und haben ihn verabschiedet.

 Liegt im Anfang der Reise der Kern eurer Wut? Ist es die Reise? Der Anfang? Lag es an uns? Ist es meine Arbeit? Sein Tod? Den ersten Moment seiner Reise, den vergesse ich nie. Ihr anscheinend auch nicht. Obwohl Du ihn nur aus Erzählungen kennst. Ich stand mit Deinen Geschwistern am Bahnhof. Zwei waren dabei. Er war 6 als wir am Bahnsteig standen. ‚Weißt du noch, der Unfall…?‘, hatte Dein Bruder gesagt und es Dir erzählt, als Du sechs warst. Der Zug, in den Dein Vater gestiegen ist, hatte einen technischen Defekt und deswegen war ein junger Mann auf das Dach des Wagons gestiegen und dort muss er ein Kabel angefasst haben. Er ist vor unseren Augen verbrannt. Der Zug hatte stundenlang Verspätung. Das war der Zug nach Almanya, in den er gestiegen ist, mein Mann.

Die Sorgen um alles, um den Tag, um den Abend, um das Morgen und das Gestern.

Dass ich euch meine Gefühle und meine Gedanken, Vorstellungen und Bedürfnisse nicht schon früher mitteilen konnte, tut mir wirklich leid. Die Sorgen um alles, um den Tag, um den Abend, um das Morgen und das Gestern. Unsere Integration, die ehemaligen Gastarbeiterinnen mit Migrationshintergrund, das Provokationslevel des systematisierten Teilhabedefizits, Denkmäler solltet ihr bekommen habt ihr gesagt. Ich verstehe das heute.

Mir bleibt keine andere Wahl, als zu verdrängen. Ich müsste viel zu viel erklären, die Türkei, Kohl, den Hass, die Baseballschläger hier, das Militär dort und auf meine kompromisslose Erziehung eingehend, um Verzeihung bitten oder, um Nachsicht zu bekommen, eine Welt der Erinnerungen aufbauen, in der das logisch erscheint, was wir gemeinsam erlebt haben.

Ich möchte noch sagen, dass ich eure Wut immer erkannt habe, ihr aber keinen Platz geben wollte. Aus dem ganz einfachen Grund, weil ich auch meiner Wut keinen Platz geben konnte, während ich jede einzelne DMARK umdrehen, festhalten berechnen und zurücklegen musste, damit ihr hier leben könnt. In Freiheit und Sicherheit. Der Ausländerbehörde habe ich gesagt: ‚Mein Mann arbeitete als Schweißer, Möbelbauer hatte er in der Türkei gelernt. Er wollte hier  in der Nachbarstadt eine Werkstatt aufbauen. Er führte Tagebuch und organsierte und schrieb für türkische Zeitungen. Sieben Jahre nach seiner Einreise gab es einen Betriebsunfall. Er und alle unsere Leute, sie trugen keinen Atemschutz – lediglich Stiefel, die sie selbst bezahlen bzw. mieten  mussten – so wie unsere Mülltonnen in der Arbeiterwohnung. Wenige Monate nach dem Unfall in der Schweißerei stirbt er an Krebs. Die Kinder gehen hier zu Schule. Ich muss arbeiten.  Ich musste ihm am Sterbebett das Versprechen geben, in Deutschland zu bleiben.‘  Es hat nichts gebracht. Ich habe umsonst erzählt. Erzählt ihr es ihnen.

Strategien des Überlebens

Die Aufenthaltserlaubnis, immer nur befristet. Immer diese Angst und Sorge im Nacken, im Schweiß. Das ich das nur bewerkstelligen konnte, weil ihr bis zur Einschulung in der Türkei wart, war es ein Fehler? Heute tut es mir leid. Keine Arbeit, keine Arbeitserlaubnis, keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, keine Unterstützung. Und so weiter. 

Du sollst wissen, dass es auch mich verletzt hat, schon vor Euch: ohne Euch zu sein, damit ihr hier sein könnt. Ich dachte, du würdest es heraushören, in den  leisen Stunden, wenn ich nachts das schneeweiße und nach Lavendel und Olivenölseife riechende Baumwolltuch um den Kopf gewickelt habe, locker doch? Leichtigkeit und Schutz lagen darin im Flüstern der Suren, im bedachten Umwälzen der schweren Seiten, die wie hauchdünne Holzschnitte kurz in der Handfläche liegen, bevor sie sich auf der nächsten Seite wiederfinden. Wie ich mit dem Finger den arabischen Buchstanden folgend immer für Euch gebetet habe. Immer auch deinen Vater informiert habe, mit ihm nachgedacht, gegrübelt, verzweifelt geweint, um mich dann wieder mit Dir beruhigen zu können.

Kulturelle Traditionen

Obwohl Du das Kopftuch geliebt hast, Du Dich in ilahis verliebt hast, sie Dir innere Ruhe – sei es auch kurz – geben konnten. Erst wolltest Du – Du warst 15 – mit dem hijab in die Schule. Ich habe es Dir verboten, so wie ich Dir verboten habe zu demonstrieren. Du hast es geliebt, tığ işi und beten. Du fandest Ruhe darin und dann… das Kommando Rolle rückwärts. Deine Distanz und Deine Wut erbitten sich Ähnlichkeit mit denjenigen, die Dich dazu veranlassen so wütend zu sein. Wie klärt man so etwas auf?

 Alle wichtigen Traditionen der Zusammenkunft waren dir dann, ab einem gewissen Alter, zuwider. Wie genau kann ich den Zeitpunkt festmachen? War es dieses WIR? Ich suche noch. Ist es Deine sture Entscheidung, nicht über DEINE Herkunft zu reden? Du willst nicht dem Integrationsmarkt dienen –  das sei alles Deine Sache. Ist damit eine Distanz oder eine Nähe zu mir verbunden?“

Unerzählte Geschichten

Frauen, mit denen ich gesprochen habe, alleinerziehende Frauen, die in den 1970er Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind, keine von ihnen hat je die Öffentlichkeit gesucht. Sie haben inspiriert und gestärkt, im Schatten von Demonstrationen für ihr Recht gekämpft, indem sie ihre Kinder mit zur Arbeit brachten und sich von ihnen helfen ließen. Frauen, mit denen ich gesprochen habe, sind Witwen und aus diesem Grund alleinerziehend in Deutschland. Ihre Männer sind an den Folgen ausbeuterischer Arbeitsbedingungen verstorben. Es ist eine unerzählte Geschichte, die in den 1940er Jahren in Anatolien beginnt. Diese Frauen gehen auf Handwerksschulen oder in die Dorfinstitute in Ankara und Umgebung. Sie heiraten mit Anfang zwanzig. Sie bekommen Kinder und ziehen nach Istanbul. Von Istanbul aus bewerben sich die Männer als Arbeiter und steigen 1970 am Haydarpasa Bahnhof in die Züge Richtung Deutschland. Die Familien kommen innerhalb der nächsten 3 Jahre nach, was offiziell als Familiennachzug beschrieben wird, bis zum Anwerbestopp im November 1970.

Die Bundesanstalt für Arbeit richtete ab den 1960er Jahren eine Zentralkartei für nichtdeutsche Arbeitnehmer ein, in der diejenigen ausländischen Arbeitnehmer:innen geführt werden, die arbeitsrechtlich auffallen. Mittlerweile sind Belegschaften mit bis zu 90 Prozent Ausländeranteil entstanden. Arbeitsrechtlich auffällig sind all jene, die sich gegen die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen oder gerechtere Urlaubsverteilung äußern.

Die Lebenssituation alleinstehender Elternteile war stark davon geprägt, ob sie selbst erwerbstätig waren oder nur die Ehepartner und ob sie noch vor dem Tod der Ehepartner eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis hatten oder nicht. Denn nach dem Tod des erbwerbstätigen Partners gab es kaum Möglichkeiten, eine Arbeitserlaubnis und eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Die Toten wurden zurückgeführt. Es gab keine muslimischen Friedhöfe. Und die Sorge vor Grabschändung war und bleibt groß. Vor allem Mütter standen nach dem Tod ihrer Ehepartner alternativlos vor dem Problem, als Hausfrauen keine Kinderbetreuung zu erhalten und – im Gegenteil zu deutschen Frauen – keine Sozialhilfe beantragen zu können. Sie schickten ihre Kinder bis zum dritten oder siebten Lebensjahr zu Verwandten in die Türkei. Sie putzen in den Finanzämtern, Banken, Kulturinstitutionen den Dreck der Industrialisierung und des Aufschwungs weg. Zur Einschulung kamen die Kinder aus der Türkei zurück. Durch die Schulpflicht der Kinder wurde die Aufenthaltsgenehmigung – stets befristet –  verlängert.

Von Anfang an bestand der Bleibewunsch bei unseren Müttern und Vätern, auch wenn es die Ausländer- und Wirtschaftspolitik in den 1970er Jahren gänzlich anders sah:  Sie sind gekommen um zu bleiben.

Zur Geschichte der alleinerziehenden sog. Gastarbeiterin

Die Geschichte der alleinerziehenden sog. Gastarbeiterin aus der Türkei ist oftmals eine andere Geschichte, als die der maximalen Ausbeutung der „klassischen“ sog. Gastarbeiter der großen Firmen. Die Geschichte der alleinerziehenden sog. Gastarbeiterin aus der Türkei ist eine Geschichte von Arbeits- und Lebens-UN-bedingungen, der illegalen Arbeit, derjenigen Arbeit, die ohne Anstellung, ohne Sozialversicherung „unterm Radar“ erledigt wurde und deren Arbeiterinnen – und ihre Kinder – keine Rechte hatten. Es ist die Geschichte der Drecksarbeit und des Mangels an allem, was mit kapitalistischen Werten messbar wäre. Und folglich ist es auch eine Geschichte eines bedingungslosen optimistischen Überlebenskampfes in einem zutiefst patriarchalen Umfeld.

Halbes Brot

Kaum jemand hat sich der Geschichte von alleinerziehenden sog. Gastarbeiterinnen aus der Türkei und des Gedenkens an die Toten so angenommen wie der Schriftsteller Fakir Bayurt (1929-1999). Er ist aus unterschiedlichen Gründen zu nennen, wenn es um die Geschichte von alleinerziehenden sog. Gastarbeiterinnen aus der Türkei geht. Der Roman Yarım Ekmek (Halbes Brot) ist der letzte Band seiner Duisburg Trilogie. Er versammelt darin das absolutes Thema des Gedenkens und der Erinnerungskultur. Baykurt setzt mit diesem letzten Band der Trilogie ein Zeichen: Er schreibt nicht mehr ausdrücklich positiv über die Solidarität der Arbeiter:innen untereinander. Und es geht ihm detailliert darum, wie das geht: das Ankommen. Die Protagonistin des Romans, Kezik Acar, bringt die Überreste ihres in der Türkei begrabenen Mannes nach Deutschland zur Familie des Verstorbenen.

Baykurts Familiennachzug beschreibt genau das Gegenteil der deutschen Politik des Familiennachzugs, indem die Überreste eines Angehörigen aus der Türkei zu seiner Familie nach Deutschland geholt werden und zwar auch, um in Deutschland mit Ritualen an gesamtgesellschaftlichen Orten das Gedenken ausleben zu können.

Wichtig ist dabei – wie in allen Geschichten von Gruppen, deren Geschichte in der offiziellen Geschichtsschreibung bis zum Moment der Bearbeitung in der breiten Öffentlichkeit nicht präsent ist – dass jede noch so kleine Erzählung von Bedeutung ist. Dies gilt besonders, wenn dabei für unsichtbar erklärte Lebensmodelle erzählt werden, wie die der Witwen, der Alleinerziehenden.

Dr. Nesrin Tanç

Zitation: Tanç, Nesrin, Alleinerziehende türkische sog. Gastarbeiterin, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/alleinerziehende-tuerkische-sog-gastarbeiterin/

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Aya Alalawi

Aya Alalawi klopft auf den freien Platz neben ihr auf dem Sofa. Die Ungeduld in ihrer Geste vermittelt die Botschaft: Es soll endlich losgehen mit dem Interview. Die 22-Jährige mit den verschleierten Haaren möchte ihre Geschichte erzählen; die Lebens-, Flucht- und Migrationsgeschichte einer Syrerin, stellvertretend für die Gruppe junger geflüchteter Frauen, die in Deutschland eine neue Heimat finden wollen.1

Kindheit und Krieg in Aleppo
Ayas Geschichte beginnt mit ihrer Geburt zu Beginn des Jahrtausends in Aleppo in Syrien. Sie beschreibt sich als wildes, ungestümes Kind, das ihre Haare am liebsten kurz trug und fast lieber ein Junge als ein Mädchen sein wollte. Angst vor Hunden, wie sie im arabischen Kulturkreis verbreitet ist, hatte sie nicht, genauso wenig vor Kamelen, auf denen sie gerne geritten ist. Ihr Mut gefiel auch ihrem Vater. Im Haus der Familie in Aleppo gab es in der unteren Etage einen Computerraum, in dem sich die erwachsenen Männer aufhielten. Dort war die kleine Aya oft dabei und spielte PC-Spiele. Ihre Kindheit beschreibt sie als glücklich und sorglos. Die Familie war reich, besaß ein Auto, hatte Geld.

2011 hatte sich aus dem Arabischen Frühling – der anfangs friedlichen Demonstrationen gegen die autoritär herrschenden Regime und die politischen und sozialen Strukturen in mehreren arabischen Ländern – in Syrien ein grausamer Bürgerkrieg entwickelt. Die Freie Syrische Armee (FSA) und Truppen der Regierung lieferten sich in der Millionenstadt Aleppo erbitterte Kämpfe. Aya war elf Jahre alt, als ihr Vater im Jahr 2012 durch eine Bombe tödlich verletzt wurde. Den Verlust ihres Vaters sieht Aya im Rückblick als Ende ihrer Kindheit. Sie war nicht mehr in der Lage zu spielen, sondern fühlte sich wie ein „verantwortliches Mädchen“, welches sich um ihre Familie kümmern muss. Sie ist die Älteste, ihr Bruder war drei Jahre, ihre Schwester erst ein Jahr alt.

Leben im Bürgerkrieg
Mit dem Tod ihres Vaters änderte sich auch die soziale und finanzielle Situation. Die 32-jährige Mutter versuchte weiterhin einen normalen Alltag zu organisieren, damit ihre Kinder die Abwesenheit des Vaters, der als Mechaniker das Geld für die Familie verdiente, nicht so sehr spürten. Zwei Brüder ihrer Mutter zogen ins Haus mit ein. Aya gab ihr Zimmer ab und teilte sich fortan eines mit ihrer kleinen Schwester. Nach etwa zwei Jahren war ihre Mutter gezwungen, nach und nach viele Dinge zu verkaufen. „Ich weinte jede Nacht. Ich vermisste meinen Vater und immer, wenn meine Mutter eine Sache verkaufte, war ich sehr traurig“, erinnert sich Aya und zuckt mit den Schultern, „ich war ein Kind.“

Inzwischen hatte sich der Bürgerkrieg zu einem Stellvertreterkrieg mit vielen Akteuren entwickelt. Obwohl die Einschränkungen im Alltag immer größer wurden, wollte Aya unbedingt weiterhin die Schule besuchen. „Ich konnte nicht einfach zuhause sitzen und nichts machen. Oft ging ich zur Schule mit dem Gedanken, dass ich heute vielleicht nicht mehr nach Hause komme, vielleicht einfach sterbe“, erinnert sich die 22-Jährige an Tage, an denen Kampfjets die Stadt überflogen und Raketen fielen. Dann erzählt sie von dem Tag, an dem sie eine Französisch-Klausur schreiben musste. Morgens schlug im Nachbarhaus eine Rakete ein, das Fenster ihres Zimmers zersplitterte. Trotzdem machte Aya sich auf den Weg zur Schule und schrieb die Klausur. Bis zur neunten Klasse gelang der Schulbesuch noch sporadisch, dann wurde es endgültig zu gefährlich, das Haus zu verlassen.
Der Alltag wurde immer schwieriger, Lebensmittelpreise stiegen rasant. Verwandte und Bekannte fielen Anschlägen zum Opfer, starben durch Raketen oder im Gefängnis, flohen in die Nachbarländer oder nach Europa. Als 2015 eine Bombe die eigene Wohnung zerstörte, ging nichts mehr. „Wer solche Situationen nicht selbst erlebt hat, kann sich nicht vorstellen, wie es ist, in Angst zu leben“, reflektiert Aya heute.

Flucht aus Syrien: „Sprechen Sie von uns als Überlebende!“
Die Familie rettete sich in die Türkei, hielt sich mit Gelegenheitsarbeiten in Istanbul über Wasser. Die damals 15-jährige Aya und ihre Mutter arbeiteten in einer Teefabrik. An einen Schulbesuch war gar nicht zu denken. „Wenn ich auf dem Weg zur Arbeit im Bus saß, sah ich durch die Scheibe oft, wie die Mädchen zur Schule gingen. Das gab mir ein schlechtes Gefühl. Deshalb habe ich sofort mit der Schule begonnen, als ich nach Deutschland kam“, erklärt Aya. Nach drei Jahren in der Türkei flog die Familie im Rahmen des Familiennachzugs zu den schon länger in Gelsenkirchen lebenden Großeltern. Eine lebensgefährliche Flucht übers Mittelmeer oder die Balkanroute blieb ihr so erspart.

Dennoch erforderte das Leben in einem neuen Land einen großen Einsatz und viel Energie. Es stellte damals und stellt auch heute noch ihre Identität infrage. „Wenn ich als Flüchtling bezeichnet werde, dann fühle ich mich nicht gut. Dann sehe ich die Gedanken in den Köpfen der Anderen, die mir sagen: ,Aja, du kannst nicht‘, ,du weißt nicht‘, ,du bist eine Frau mit Kopftuch‘, ,du bist eine Frau ohne Ziel.‘“, sagt Aya Alalawi. „Viele ahnen nicht, welche Schwierigkeiten wir durchgemacht haben. Jede Familie aus Syrien betrauert eine getötete oder vermisste Person, trotzdem sind wir mit voller Kraft, Optimismus und auch Erfolgen hier. Deshalb möchte ich bitten: Sprechen Sie von uns nicht von Flüchtlingen. Sprechen Sie von uns als Überlebende!“ Diese Worte äußert die 22-Jährige sehr bestimmt. Es ist ihr ein Anliegen, anderen Menschen von ihren Erfahrungen als Überlebende zu erzählen. Dazu zählt auch ihre Fähigkeit, sich auf Umbrüche einzustellen.

Leben und Lernen in Deutschland
So einschneidend die Veränderungen in ihrem Leben mit der Ankunft in Deutschland auch waren, Aya haben sie nicht so sehr erschüttert. „Ich bin ein neugieriger Mensch, deshalb lerne ich gerne neue Dinge kennen. Mit allen Sinnen habe ich das Neue und Ungewohnte aufgesogen. Ich habe einfach akzeptiert, dass mein altes Leben in Syrien vorbei ist und ein neues Leben in Deutschland beginnt“, erläutert Aya ihre Strategie, mit dem Kulturschock umzugehen. Aktiv zu sein, half ihr dabei. Direkt nach ihrer Ankunft im Grenzdurchgangslager Friedland in der Nähe von Göttingen wandte sie sich an die Sozialarbeiter und bot ihre Hilfe an. Schon in Istanbul hatte sie begonnen, Deutsch zu lernen. Ihre einfachen Sprachkenntnisse reichten aus, um zu übersetzen, den Neuankommenden das Camp zu zeigen und ihnen zu erklären, wie sie was organisieren müssen und wo der nächste Supermarkt ist. Anderen Menschen zu helfen, ist ihr eine Herzenssache.

Klassenfahrt und Schulwechsel
Und dann endlich, konnte Aya nach fast fünf Jahren erzwungener Pause wieder regelmäßig zur Schule gehen. Das erste Schuljahr in Deutschland sei gut gewesen, bewertet Aya, die damals als 18-Jährige in die Internationale Förderklasse an einem Berufskolleg aufgenommen wurde. Als Klassenbeste war sie ihrerseits in der Lage, ihren Mitschüler:innen zu helfen. In den nächsten beiden Jahren verlief der Spracherwerb schleppender, da sich ihre Klasse ausschließlich aus Jugendlichen anderer Länder zusammensetzte. „Wir haben viel Arabisch gesprochen, sogar während der Teamarbeit im Unterricht. Die Lehrer hat das nicht gestört. Sie haben unsere Fehler auch nicht korrigiert“, kritisiert die junge Frau. Allerdings bescherte die Schule ihr auch „die zwei besten Wochen meines Lebens“. Eine Fahrt mit einer Lehrerin und fünf weiteren Schüler:innen nach Bulgarien war eine völlig neue Erfahrung. Erstmals ohne Familie zu verreisen, außerhalb ihres Zuhauses in einem Hotel zu schlafen, Museen zu besuchen und in einem Projekt mitzuarbeiten und zu diskutieren, das hat ihr einfach gefallen.

Aber es gab auch Rückschläge. Als Aya gesagt bekam, dass sie mit ihren mangelnden Sprachkenntnissen kein Abitur erreichen könne, fühlte sie sich falsch eingeschätzt. Auch einigen ihrer Freunde und Freundinnen mit Migrationsgeschichte wurden geringere Lernkompetenzen zugeschrieben. In Schule und Alltag erleben sie immer wieder Formen von Rassismus, indem sie wegen ihrer Sprachkenntnisse und Herkunft abgelehnt und falsch eingeschätzt werden. Dabei hat Aya erfolgreiche Vorbilder: Syrerinnen, die sehr gute (Abschluss-) Noten erzielt haben. Und in ihrer Heimat Syrien hat Bildung einen ebenso hohen Stellenwert wie in Deutschland. Daher zieht sie im Sommer 2022 die Reißleine: Mit dem Realschulabschluss beendet sie ihre Zeit am Berufskolleg und wechselt zum Weiterbildungskolleg Emscher-Lippe, um sich auf ihr Abitur vorzubereiten. Hier verliert sie ihre Angst, mündlich am Unterricht teilzunehmen. „Ich liebe es, hier zur Schule zu gehen und habe wieder Lust, mehr zu lernen. Hier habe ich auch neue Freunde gefunden, z.B. aus Holland, Ungarn und der Türkei – und wir sprechen Deutsch miteinander!“, triumphiert sie mit strahlenden Augen.

Kinder und Jugendliche stützen die Familien
Auch in Ayas Familie fiel mit dem wachsenden Wortschatz die Entscheidung, im Alltag untereinander Deutsch zu sprechen. Wie viele Migrantenkinder, die die Sprache im neuen Land schneller lernen als ihre Eltern, begann die Jugendliche bei Behörden- und Arztbesuchen zu übersetzen. Aya sieht sich als wichtige Stütze der Familie, fördert ihre Geschwister, wo sie kann, ist stolz darauf, dass auch ihr Bruder sein Abitur machen wird und bereits Nachhilfe gibt. Sie ist verantwortlich für alle Papiere, regelt den Schriftverkehr und Austausch mit Behörden, Krankenkasse, Bank und Ärzten. Ihre Mutter vertraut ihr, deshalb gibt Aya sich besonders viel Mühe, alle Themen schnell zu verstehen. Viele Kinder und Jugendliche mit einer Migrationsgeschichte teilen diese meist ambivalente Erfahrung. Die nicht altersgemäße Beschäftigung mit existenziellen Fragestellungen wirkt oft verstörend. Aber es gibt auch Kinder und Jugendliche, die daran wachsen und stolz auf ihre Fähigkeiten sind.

Zukunft in Deutschland oder in Syrien?

Was hat Aya nach ihrem Abitur vor? Nach ihren Zukunftsträumen befragt, nennt sie drei Dinge: Sie will das Vollabitur sehr gut bestehen (und dann Ernährungswissenschaften studieren). Sie will sich weiterhin freiwillig engagieren und Kinder unterrichten („Ich fühle mich gut, wenn ich Menschen helfen kann, glücklich zu sein.“). Und: Nach dem Koran, den sie gerade auswendig lernt, will sie auch noch die Bibel lesen („Ich will andere Religionen kennenlernen und herausfinden, was unterschiedlich ist.“).

Den Gedanken, nach Syrien zurückzukehren, hat sie für sich verworfen. Solange Krieg herrsche, sei es nicht möglich und ihr Vater lebe ja auch nicht mehr. „Ich fühle mich als Teil der deutschen Gesellschaft. In Gelsenkirchen ist das leicht, finde ich. Hier sind so viele Menschen aus anderen Ländern“, beschreibt Aya ihr neues Heimatgefühl. Allein 8.790 Menschen mit syrischer Staatsbürgerschaft leben im Juni 2022 in Gelsenkirchen, dazu Bürger:innen aus weiteren 146 Nationen; die größten Gruppen bilden Menschen aus der Türkei und den Balkanstaaten.2 In ihrer Nachbarschaft in Rotthausen fühlt sie sich wohl, hat Kontakt zu deutschen Nachbarn und Menschen aus aller Welt. Die Familie hat sich die Traditionen ihrer Heimat wie das abendliche Beisammensein in der Familie, das Schmücken der Wohnung zum Ramadan und das Feiern von Eid bewahrt und ist gleichzeitig offen für das Leben in der neuen Gesellschaft: Aya nimmt Klavierstunden und lernt schwimmen. Außerdem betreut sie ehrenamtlich Kinder in einer Moschee in Essen.

Syrisches und muslimisches Leben in Gelsenkirchen
Der Glaube an Allah bestimmt einen Großteil ihres Alltags, ist Motivation und, in einem christlich geprägten Land, zugleich eine Herausforderung. Aya trägt einen langen dünnen Mantel und einen Hidschab, der Haare, Hals und Ohren bedeckt, selbstbewusst und als äußeres Zeichen ihrer Verbindung zu Allah. Ihr Gesicht ist dezent geschminkt, die Augen sind ausdrucksvoll betont. „Das Kopftuch ist wie ein Gebet für mich. Aber es ist für mich auch okay, wenn Frauen es nicht tragen. Das ist ihre persönliche Entscheidung“, legt Aya Wert auf Toleranz. Bruder, Opa und Onkel dürfen sie auch ohne Kopftuch sehen; also alle Männer, die sie aus verwandtschaftlichen Gründen nicht heiraten dürfte. Zuhause und auf Festen, wenn nur Frauen zugegen sind, trägt sie auch raffiniert geschnittene kurze Kleider.

Als junge Frau findet Aya es schon schwer, in Deutschland ihre Religion zu leben, weiß von Kritik an und Vorurteilen gegenüber Frauen, die aus religiösen Gründen ihr Haar bedecken. „Es ist für mich persönlich wichtig, dass mich die anderen respektieren, egal wo ich herkomme, egal, welche Kleidung ich trage, egal was meine Religion ist. Ich respektiere, wie Deutsche und Menschen anderer Nationen leben. Mir macht es Spaß, andere Kulturen kennenzulernen“, erklärt Aya.

Deshalb fühlt sie ein starkes Bedürfnis, ihre Gefühle mit anderen zu teilen und ihre Religion zu erklären. Dazu ein Beispiel: Am ersten Tag in der neuen Schule fragte ein deutscher Junge Aya aus, die an diesem Tag ein schwarzes Kopftuch trug: „Trägst Du das Kopftuch freiwillig oder zwingt Dich Deine Familie dazu?“, „Kannst Du auch eine andere Farbe tragen?“ Aya ging offen mit diesen Fragen um und erreichte damit Akzeptanz. Sie findet es nicht richtig, wenn Eltern bestimmen, dass die Mädchen ein Kopftuch tragen sollen, denn das geschehe dann aus traditionellen Gründen, aber nicht für die Religion. „Ich hoffe, die Art und Weise zu ändern, wie die Welt die Muslime sieht. Wir sind warmherzige und nette Menschen“, äußert sie.

Überlebende müssen stärker sein als andere
Da ist es wieder, das Erklärenwollen und um Verständniswerben, das Aya so wichtig ist. „Wir haben viel durchgemacht. Wir Überlebende müssen stärker sein als andere. Wir müssen unsere Meinung sagen, sonst werden wir überhört.“
Mit einer Botschaft möchte Aya Alalawi sich besonders an Überlebende von Krieg und Flucht richten: „Mach weiter, egal, was du erlebt hast, lerne weiter, mach deine Hobbys. Sage nicht, du hast keine Zeit, lege dein Handy weg. Deutsch zu lernen ist nicht schwer, man muss es nur Schritt für Schritt lernen. Hilf den Menschen. Wenn Du dies tust, macht es dich glücklich und es gibt dir Kraft.“

Gerburgis Sommer / Angekommen in Recklinghausen/Gelsenkirchen/Bottrop – Migrationsgeschichten aus vier Generationen

Orte:

Aleppo
Istanbul
Gelsenkirchen-Rotthausen

Literatur:

Respekt: Rassismus im Schulalltag, Bayerischer Rundfunk, 09.03.2022, Zugriff am 21.10.2022 unter
https://www.br.de/extra/respekt/rassismus-schule-diskriminierung-chancengleichheit-100.html

Rassismus in der Schule. Rassistische Diskriminierung in Schulen: eine empirische Analyse, Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung DeZIM e.V., Berlin, Zugriff am 21.10.2022 unter https://www.rassismusmonitor.de/kurzstudien/rassismus-in-der-schule/

Marx, Ann-Kristin, Zuwanderung in der Metropole Ruhr. Wahrnehmung und Wirklichkeit, Regionalverband Ruhr, 2020, Zugriff am 21.10.2022 unter https://www.rvr.ruhr/fileadmin/user_upload/01_RVR_Home/03_Daten_Digitales/Regionalstatistik/03_Publikationen/2020-09_Regionalstatistik_Ruhr_Zuwanderung_in_der_Metropole_Ruhr.pdf

Ungleiche Bildungschancen. Fakten zur Benachteiligung von jungen Menschen mit
Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem, Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) GmbH, Berlin, 08. April 2020, aktualisierte Fassung, Zugriff am 24.10.2022 unter https://www.stiftung-mercator.de/content/uploads/2020/12/2020_Kurz_und_Buendig_Bildung_final.pdf

Zitation: Sommer, Gerburgis, Aya Alalawi, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/aya-alalawi/

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Veye Tatah

Energiegeladen, wortgewaltig, überzeugend, kommunikativ, mit einem herzhaften lauten Lachen gesegnet und immer tipptopp gekleidet – so lässt sich Veye Tatah kurz und knapp beschreiben. Sie ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau in den Bereichen IT-Beratung und Entwicklung, Projektmanagement und interkulturelle Kommunikation, Inhaberin der Firma „Africa Positive Catering und Events“, Netzwerkerin, Bildungs- und Integrationsexpertin, Familienfrau mit zwei Söhnen und vor allem: Kopf, Herz und Chefredakteurin des Magazins Africa Positive.

Veye Tath ist angetreten, unser Afrikabild nachhaltig zu verändern und das Bild von Europa auf dem afrikanischen Kontinent realistischer und vielschichtiger zu vermitteln. „Es entstehen positive wie negative Vorurteile, weil man kein differenziertes Bild entwickeln kann, hier das Land des Wohlstandsversprechen – dort der Kontinent des Hungers und Elends. Beide Bilderwelten bestärken sich in einer explosiven Mischung, die tief hinein in individuelle wie politische Haltungen und Entscheidungen wirken.“1 Deshalb hat sie aus einem inneren Antrieb heraus voller Überzeugung im Jahre 1998 das Magazin Africa Positive gegründet:  „Wenn ich wirklich überzeugt bin von einer Sache, dann bin ich bereit, ein Risiko einzugehen. Ob ich Geld verliere oder nicht, ist nebensächlich. Ich muss das machen. Das ist eine Frage des Charakters.“ 2

Von Nkambe über Bremerhaven …

Veye Tatah wurde 1971 in Nkambe im westafrikanischen Kamerun geboren. Sie gehört zum Volk der Nso aus dem Nordwesten Kameruns. Ihr Vater war Lehrer, später Zollbeamter, ihre Mutter Hebamme und Krankenschwester. Sie wuchs behütet in einer Mittelschichtsfamilie auf, die Wert auf die Bildung ihrer Kinder legte. Kamerun war von 1884 bis 1919 eine deutsche Kolonie.3Der Versailler Vertrag von 1919, der nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg die Abtretung aller Kolonien des Deutschen Reiches regelte, überführte Kamerun offiziell in die Hoheit des Völkerbundes, der Großbritannien und Frankreich ein Mandat zur Verwaltung des Landes übertrug. Kamerun war fortan in ein Britisch-Kamerun und ein Französisch-Kamerun aufgeteilt.

Veye Tatah gehört zur im Nordwesten des Landes lebenden englischsprachigen Minderheit. Sie besuchte dort eine katholische Internatsschule. Nach ihrem Abitur mit naturwissenschaftlich-mathematischem Schwerpunkt nahmen die deutschen Nachbarn ihrer Eltern sie als Au-pair-Mädchen mit nach Bremerhaven. Sie lernte im Alltag dieser Familie die deutsche Sprache. Im Wintersemester 1992/93 verließ sie Bremerhaven und schrieb sich an der Universität Dortmund für das gerade ganz neu entwickelte Fach „Angewandte Informatik“ ein. Auf die Frage, warum sie als englische Muttersprachlerin nicht nach Großbritannien zum Studium ging, sondern nach Deutschland, dessen Sprache sie erst lernen musste, antwortet Veye Tatah mit einem Schulterzucken: „Das Leben hat seine eigene Dramaturgie.“4

Mit Rassismus wurde Veye Tatah zum ersten Mal in Deutschland konfrontiert. In Kamerun hatte sie nur positive Erfahrungen mit weißen Lehrkräften gemacht und auch keine Diskriminierung durch die weißen Nachbarn ihrer Eltern erlebt.  Als sie in Bremerhaven hingegen dem Sachbearbeiter einer Behörde ihren Ausweis vorlegte, wechselte dieser sofort ihr gegenüber sein Verhalten, wurde unfreundlich und ablehnend, als er sie als Afrikanerin und nicht als schwarze US-Bürgerin identifizierte. „Dies war meine erste Begegnung mit Alltagsrassismus, der mir in Deutschland seitdem ständiger Begleiter ist“.5

Während ihrer ersten Zeit in Deutschland fällt ihr noch etwas auf: Der afrikanische Kontinent  wird in den Medien nur in Bildern von Krieg, Hunger, Krankheiten und Katastrophen vor- und dargestellt: „Als erstes fielen mir die Fernsehberichte und die schrecklichen Bilder von Schwarzen Menschen unangenehm auf.“6 Auch Plakate von Hilfsorganisationen arbeiten mit mitleidserregenden Gesichtern Schwarzer Kinder, um Spenden für das arme Afrika zu sammeln. Die Kameruner Studentin ärgert es zudem ungemein, dass sich Deutschland dem afrikanischen Kontinent wie einem Land nähert: „Was sagen Sie als Afrikanerin dazu?“ Dies zeugt von Nichtbeachtung oder Unkenntnis der vielen unterschiedlichen Nationen, Ethnien, Sprachen, Kulturen, naturräumlichen Gegebenheiten auf dem afrikanischen Kontinent.

… nach Dortmund

Für das Buch „Worauf wir uns beziehen können“ erinnerte Veye Tatah eine Begegnung, die einen verstörenden Eindruck gibt von dem Alltagsrassismus, mit dem Schwarze Menschen konfrontiert waren und sind: „Eines Tages fuhr ich in der Straßenbahn Richtung City und saß zufällig meinem Mathematik-Professor gegenüber. Die erste Frage meines Herrn Professors war, aus welchem Staat ich käme. Ich antwortete: ‚Aus Kamerun‘. Er fragte, in welchem Bundesstaat der USA Kamerun läge. Ich antwortete, dass Kamerun nicht in den USA sei, sondern in Westafrika liege. Da guckte er sehr verdutzt: „Sie sind Afrikanerin?“ Und ich bejahte. Dann fügte er hinzu: „Ich dachte, Afrikaner sehen komisch aus – nicht so, wie Sie.“ Dann fragte ich ihn, wie komisch Afrikaner denn aussähen. Dann fiel mir ein: Seine Sicht auf Afrika und dessen Bewohner*innen könnte durch die mediale Darstellung Afrikas entstanden sein. Der Professor hatte wohl einfach erwartet, dass ich als Afrikanerin abgemagert, hungrig und hässlich aussehen würde – also so, wie die Afrikaner*innen im Fernsehen. Für ihn konnte eine normal aussehende Schwarze Frau wie ich nur Amerikanerin sein.“7

Erfahrungen wie diese ließen in Veye Tatah den Entschluss reifen, etwas gegen dieses eurozentrische und koloniale Afrikabild zu unternehmen: „Ich muss positive Bilder über Afrika verbreiten“. Und zugleich wurde ihr deutlich, wie sich die Vor- und Darstellungen Afrikas in Europa und die von Europa in Afrika gegenseitig bestärken: „In Afrika sieht man nur die heile Welt Europa – das Paradies – , in Europa das chaotische Afrika. Es gibt nichts dazwischen“.8 Sie entschloss sich, ein Magazin herauszugeben, das seine Zielsetzung bereits im Name tragen sollte: „Africa Positive“ und das differenzierte Bilder der jeweiligen Gesellschaften und Staaten auf dem afrikanischen Kontinent kommuniziert.

Africa Positive

Doch war die Informatik-Studentin weder als Journalistin, noch als Verlegerin geübt. Sie hatte noch nie einen Artikel geschrieben. Niemand fand ihre Idee damals unterstützenswert: „Wer liest denn sowas?“. Doch Veye Tatahs Zielstrebigkeit führte zum Erfolg: Sie konnte sich Geld für den Start des Magazins leihen. Und sie fand Unterstützung durch Osman Sankoh, einen Studenten, der am Fachbereich für Statistik promovierte und bereits an seiner Universität in Sierra Leone für die Unizeitung geschrieben hatte. Er wusste, wie Zeitung gemacht wird. Für ihren allerersten Beitrag des ersten Heftes, brauchte Veye Tatah keine journalistische Ausbildung – sie schrieb sich aus dem Bauch heraus „Warum Afrika Positive?“ von der Seele.

Wenn sie von einer Idee überzeugt ist, dann ist Veye Tatah bereit, dafür alles zu tun, und auch die Konsequenzen zu tragen. Das ist für sie „Charaktersache“: „Ich war besessen. Ich musste was verändern in Deutschland“.9 Zur Zeit der Magazingründung war sie noch Studentin, bezog kein Bafög oder anderweitige Unterstützung und finanzierte ihren Lebensunterhalt durch diverse Aushilfstätigkeiten. Das Magazin entstand in ihrem Wohnzimmer. Die Zeitschriftengründung ging sie höchst professionell an, suchte sich mit dem traditionsreichen Lensing-Druck in Dortmund eine professionelle Druckerei und einen Vertrieb, der das Magazin in Buchhandlungen u.a. auch strategisch gut überlegt an Flughäfen brachte.

Im Jahre 2023 feiert Africa Positive sein 25-jähriges Jubiläum – es erscheinen vier Hefte jährlich mit Informationen zu Ländern, Menschen, Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport – Informationen aus Herkunftsländern und aus der Diaspora. Interessante Persönlichkeiten werden porträtiert, immer wieder auch Afro-Deutsche, die eine wichtige Rolle als Vorbild einnehmen können, wie Florence Brolowski-Shekete, Schulamtsdirektorin und Bestseller-Autorin10 oder Aminata Touré, Sozialministerin in Schleswig-Holstein.11 Hier bezieht sich Africa Positive auf Konzepte afrodeutscher Bildungsarbeit: Das positive Bild vom Menschsein entsteht im weißen Europa aus der Abwertung kultureller Ausdrucksformen von Menschen in anderen Teilen der Welt, deren Vergesellschaftungen, Sprachen, Religionen, Kunst im Vergleich mit der eigenen weißen Kultur und Gesellschaft abgewertet werden: „Schwarzen Kindern, die in Deutschland aufwachsen, wird durch solche Darstellungen ein positiver Zugang zu ihrer afrikanischen Herkunft erschwert. Ihnen werden subtil Gefühle von Unterlegenheit und Minderwertigkeit vermittelt, die sich hinderlich auf ihre Entwicklung eines positiven Weltbildes auswirken können (…).“12 Diesem kolonialen Muster entgegenzuwirken, Schwarze Kinder zu bestärken, darin sieht Veye Tatah eine ihrer zentralen Aufgaben im Rahmen postkolonialer Bildungsarbeit. Afrodeutsche wie Florence Brolowski-Shekete oder Aminata Touré, aber auch Künstler:innen, Wissenschaftler:innen und Unternehmer:innen vom afrikanischen Kontinent können in Subjektivierungs- und Bildungsprozessen Empowerment vermitteln und ein positives Selbstbild stärken.13

Blickwechsel

Äußerst informativ sind im Magazin Beiträge mit landeskundlichem Profil und zur Politik afrikanischer Staaten im Geflecht internationaler Beziehungen. Was mit „Blickwechsel“ gemeint ist, den Africa Positive vornimmt, verdeutlicht exemplarisch ein Beitrag zum Süßkartoffelanbau. Er springt deshalb ins Auge, weil während des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine am 31. Oktober 2022 Russland das Getreideabkommen aufgekündigt hatte, durch das Weizen aus der Ukraine zum afrikanischen Kontinent transportiert wurde. Afrika ist von Weizenlieferungen abhängig. Fernsehbilder zeigten am 31. Oktober 2022 riesige Massengutfrachter, die sich auf dem Marmara-Meer stauen, und Off-Kommentare sprachen von einer Hungersnot auf dem afrikanischen Kontinent. Unter der Überschrift „Afrika: Wie die Süßkartoffel verhindert, dass die globale Weizenkrise in Afrika Fuß fasst“ gab es einen Bericht von Dr. Maria Andrade in Africa Positive von den erfolgreichen Bemühungen um die Diversifizierung von Lebensmitteln und die Implementierung eines widerstandfähigen Nahrungsmittelsystem auf dem afrikanischen Kontinent, in dem der Süßkartoffel eine wichtige Rolle zukommt.14 Es geht um die Dekolonialisierung der Essgewohnheiten und des Nahrungssystems.

Der afrikanische Kontinent

In Veye Tatahs Büro hängt eine große Karte des afrikanischen Kontinents. Es ist für sie nicht hinnehmbar, dass der Kontinent in der deutschen Medienkommunikation wie ein Land dargestellt wird, in dem zudem nichts als Krieg, Seuchen, Armut, Krankheit herrschen, ein Bild, das  fatale wirtschaftliche Folgen für den gesamten Kontinent zeitigt. Sie findet klare Worte für die wirtschaftliche Ausbeutung Afrikas durch den Globalen Norden. Und zugleich kritisiert sie afrikanische Staaten, die ihre Politik nicht am Gemeinwohl, sondern an ethnischen Klientel ausrichten und mit ihrem „Tribalismus“ die während des Kolonialismus etablierten Strukturen des „Teile und Herrsche“ in  Gegenwart und Zukunft weitertragen: Im Tribalismus erfolgt Privilegierung nicht aufgrund von Hautfarbe, sondern aufgrund ethnischer Herkunft, ein starkes Herrschaftsinstrument in Ländern, in denen viele ethnische Gruppen zusammenleben – allein in Kamerun gibt es 250 ethnische Gruppen. Posten werden nicht nach Qualifikation, Können, Erfahrung, Leistung vergeben, sondern nach der Ethnie der Eliten. Und so appelliert Veye Tatah, die Forderung „Black lives matter“ endlich auch auf dem afrikanischen Kontinent Politik werden zu lassen.15

In ihren Editorials greift Veye Tatah immer wieder aktuelle Diskussionen auf, wie die um Rassismus in der Polizei, nachdem in Dortmund der 16-jährige Mouhamed Lamine Dramé aus dem Senegal bei einem Polizeieinsatz erschossen wurde: „Viele Menschen fragen sich unwillkürlich, ob dabei Rassismus eine Rolle gespielt hat. Wäre Mouhamed ein blonder suizidgefährdeter Junge gewesen, hätten die Polizisten auch dann so schnell tödliche Schüsse abgefeuert? Waren 11 Polizisten mit Maschinenpistole gegen einen psychisch Kranken überhaupt verhältnismäßig?“16 Sie klagt die Doppelmoral in Europa, in Deutschland bei der Aufnahme von Flüchtlingen an, die Menschen aus der Ukraine willkommen heißen, Menschen aus anderen Kriegsgebieten hingegen abweisen.17

Afro-Ruhr-Festival

1998 hat Veye Tatah mit Menschen afrikanischer und deutscher Herkunft den gemeinnützigen Verein „Africa Positive“ gegründet: Er organisiert Freizeitaktivitäten für Kinder und Jugendliche, Bildungsangebote für Personen aller Altersgruppen, interkulturelle Familientreffen, Antirassismustrainings und seit 2010 das jährliche Afro-Ruhr-Festival, bei dem auch weiße Bands mit afrikanischen Grooves und Tunes aufspielen. Dies führt unweigerlich zu der Frage nach kultureller Aneignung. Veye Tatah sieht in dieser kulturellen Aneignung afrikanischer Kulturen im positiven Sinne Formen der Auseinandersetzung, Anerkennung und Wertschätzung, die ganz in ihrem Sinne für Austausch und Kommunikation stehen.

Vielheit

Als Veye Tatah zum Wintersemester 1992/93 nach Dortmund kam, gab es kaum Schwarze Menschen auf Dortmunds Straßen. Einige wenige studierten. Nach ihrem Abschluss als Diplom-Informatikerin arbeitete sie sieben Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Dortmund. Als sie die Universität verließ, hatte sich das Stadtbild verändert. Schwarze Menschen wurden in der Stadt zunehmend sichtbar und forderten ihren Platz in der Gesellschaft ein. Veye Tatah reflektiert diese Transformation, so registriert sie, das offener Rassismus abnimmt, während struktureller umso schärfer hervortritt. Ihre Erfahrungen schildert sie in einem starken Beispiel: Wenn sie als Schwarze Frau hinter dem Lenkrad ihres Transporter sitzt und Catering ausfährt – hier fährt die Chefin persönlich – , dann signalisieren ihr Blicke, dass sie als Schwarze wahrgenommen wird, die einen Dienstleistungsjob macht – Schwarze Menschen machen eben schlechtbezahlte Jobs als Fahrer oder Köchin. Steigt sie hingegen auf dem Parkplatz gut gekleidet in ihren Sportwagen, dann werden Blicke böse und signalisieren: „Wie kann sie so ein teures Auto fahren?“. Blicke sprechen „Das steht dir als Schwarze Frau nicht zu!“ Sie wird als wohlhabend wahrgenommen. Und dies paßt nicht zum Klischee: „Sie erwarten, ich muss eine Putzfrau sei, ich muss Essen verkaufen, aber der Sportwagen, der steht mir nicht zu.“18 Blicke und Körpersprache drücken dies machtvoll aus. Für Veye Tatah äußert sich hier sinnenfällig das koloniale Dispositiv, das die Gesellschaft tief durchdringt, denn: „Schwarze Menschen müssen arm sein und wir hier, die Weißen, müssen ihnen Geld geben.“

Ehrungen aus Eisen und am Bande

Für ihre beharrliche Arbeit an diesen tiefsitzenden kolonialen Sinn- und Deutungsmustern erhielt Veye Tatah viele Ehrungen, wie den „Eisernen Reinoldus“, den ihr der Presseverein Ruhr 2015 verlieh. Er würdigte damit ihre journalistische und verlegerische Arbeit.

Am 25. Februar 2010 wurde Veye Tatah der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland,  das Bundesverdienstkreuz am Bande, verliehen.

Uta C. Schmidt /frauen/ruhr/geschichte

Zitation: Schmidt, Uta C., Veye Tatah, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/veye-tatah/

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Saadet Ikesus Altan

Die Opernsängerin Saadet Ikesus Altan verbrachte die Jahre 1935–1941 beinahe durchgängig in Deutschland. In ihrer Prominenz und Wirkung gilt sie als Schlüsselfigur in der Geschichte der türkischen Oper. Sie wirkte in der Spielzeit 1940/41 als Altistin an der Duisburger Oper. In dieser Funktion ist die Prägung Ikesus’ durch ihren Aufenthalt in Deutschland und ihr künstlerisches Engagement in Duisburg einer näheren Betrachtung wert.1 Ihre Biografie steht außerhalb der Arbeitsmigration, wie sie für die Geschichte des Ruhrgebiets zentral ist. Sie verweist auf das städtische Musik- und Kulturleben Duisburgs in den Kriegsjahren. Sie wird hier als konstitutives Merkmal und bewegendes Moment transkultureller historischer Prozesse gesehen: Ikesus’ Lebensgeschichte und ihr Engagement in Duisburg stehen im Kontext des Geflechts der beiden Bündnisstaaten Türkei und Kriegsdeutschland.

Kulturtransfer für die neue Republik Türkei

Fatma Saadet Ikesus wird am 3. März 1916 in Konstantinopel geboren und steht stellvertretend für eine Generation von Intellektuellen und Künstler:innen aus der Türkei, die in den 1920er und 1930er Jahren in Berlin, dem Hotspot der „Goldenen Zwanziger“ leben und studieren.  Ikesus steht ebenso für die neu gegründete Republik Türkei, die sich am europäisch-humanistischen Weltbild (samt Kriegsführung) orientiert.  Denn in der Zeit des Nationalsozialismus schickt die türkische Regierung Studierende nach Deutschland. In denselben Jahren steigt die Zahl der durch die nationalsozialistische Verfolgung ins türkische Exil nach Istanbul gelangenden Professor:innen und Akademiker:innen. Im Jahr 1935 sind um die 40 Wissenschaftler:innen im türkischen Exil.2 So auch Paul Hindemith. Seine Werke erhalten ab 1936 im Zuge der Kulturpolitik des NS-Regimes an deutschen Bühnen Aufführungsverbot. 3 Hindemith ist zwischen den Jahren 1935 und 1937 in Ankara am Konservatorium als Experte tätig und verfasst dort im Staatsauftrag „Vorschläge für den Aufbau des türkischen Musiklebens“.4 Ikesus ist 19 Jahre alt, als Paul Hindemith sie 1935 für die Musikhochschule Berlin vorschlägt. Die türkischen Auslandsstudierenden im Naziregime werden dabei mit staatlichen Stipendien aus der Türkei gefördert. Saadet Ikesus ist eine von diesen Studierenden.

Studienjahre in Berlin

Ikesus erhält das Stipendium der Türkischen Republik, um im „Konservatorium der Reichshauptstadt“ in Berlin Gesangs- und Bühnenunterricht zu bekommen.5   Sie lernt Wilhelm Furtwängler und Sigrid Onegin kennen, die ihrer Karriere einen erheblichen Aufschwung gewähren. 6 Aus persönlichen Briefen von Zeitzeug:innen an die Publizistin Ingeborg Böer werden die enge Verbundenheit und das gemeinsame gesellschaftliche Leben der Künstler:innen aus der Türkei mit der intellektuellen Elite der Vorkriegsjahre deutlich: „Und Furtwängler sagte nach ihrem Vortrag in solch einer Veranstaltung: ‚Sie wird es sein!‘“ 7 Einige Studierende, so auch Ikesus, wohnen im Zentrum Berlins, in der Nähe oder direkt am Kurfürstendamm „in den Wohnungen reicher deutscher Juden, die nicht an Deutsche vermieten durften“.8 Am 9. November 1938 erlebt Saadet Ikesus die Reichspogromnacht in Berlin. Sie beschreibt in ihrer einzigen autobiografischen Veröffentlichung – einem schmalen Buch, als Interview geführt und als Erzählband bezeichnet – die Reichsprogromnacht und die Auswirkungen des Krieges. 9 Sie verzeichnet darin, wie sie eine Mitgliedschaft in der Reichskulturkammer beantragt, doch die NS-Beamten ihr diese zunächst verwehren. Ein öffentliches kulturelles Leben ist zu Zeiten des NS Regimes ohne das Bekenntnis zur NSDAP, die ausschließlich nachweislich als „arisch“ einzuordnenden Personen den Zugang zu öffentlichen Institutionen gewährt, unmöglich. Folglich muss Ikesus, um auf deutschen Bühnen auftreten zu dürfen,  unbedingt Mitglied der Reichskulturkammer werden. 10 Die Reichskulturkammer gibt Ikesus’ Antrag auf Mitgliedschaft nur statt, weil sie zu dem Zeitpunkt bereits Anfragen für Radioauftritte beim Sender Radiokurzwelle für Hörer:innen in der Türkei arrangiert hat und diese abzusagen droht. 11 Als Ikesus im Februar 1939 im deutschen Radio auftritt, kann sie den Beginn des Zweiten Weltkriegs im September nicht ahnen. Sie baut weiter ihre Kontakte auf und beharrt auf ihrer Anwesenheit und ihrem Aufenthalt in Deutschland.

Im Sommer 1939 fährt sie mit ihrem Geliebten Helmut Henze, der im Konservatorium in der Dirigentenklasse studiert, zu den Wagner-Festspielen nach Bayreuth. Sie wollen heiraten, doch Ikesus kann Henze nicht heiraten, weil ihr wieder der damals „notwendige Ariernachweis“ zur Heirat mit einem Deutschen fehlt. 12 Am 20. August 1939, einige Tage vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, ergeht an alle Studierenden aus der Türkei die Aufforderung, unverzüglich die Heimreise anzutreten und auch Ikesus reist vorerst zurück. Wer Ikesus erneut zur Rückkehr ins Kriegsdeutschland einlädt, ist unklar. Jedoch kommt sie im Jahr 1940 nach Berlin.13 Sie wird ab Oktober 1940 Mitglied der Reichskulturkammer und erhält einen Vertrag für die Spielzeit 1940/41 an der Duisburger Oper.

Der Beginn ihrer Karriere: das Engagement an der Duisburger Oper

Saadet Ikesus beendet 1940 ihr Studium und ist vom 14. Oktober 1940 bis zum 3. September 1941 auf der Bauschenstraße 26 in Duisburg-Mitte – nur wenige hundert Meter von der Duisburger Oper entfernt – als Untermieterin bei Familie Schmöpf gemeldet. 1933 wird die Köhnenstraße in Bauschenstraße umbenannt. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Umbenennung in Bauschenstraße zu Ehren eines treuen NS-Funktionärs durchgeführt wurde. Die Bauschenstraße wird 1945 wieder in Köhnenstraße rückbenannt und trägt bis heute diesen Namen. 14 Ikesus’ erste Rolle ist die Magdalene im „Rigoletto‟ von Verdi. Insgesamt hat Ikesus im Spielplan 1940/41 der Duisburger Oper in ihren Rollen als Hänsel in „Hänsel und Gretel“, als Czipra, die Z***, in „Der Z***baron“ und in „Carmen“ brilliert. 15 In ihren Memoiren berichtet sie von Gastspielen als „Carmen“ in Düsseldorf, Essen und Regensburg. 16 Durch die Spielplanstatistik von Iris Melzer lässt sich rekonstruieren, wie viele Auftritte Ikesus in ihren Rollen an der Duisburger Oper durchgeführt hat. Nach Melzers Auflistung sind es 52 Vorstellungen, in denen Ikesus mitwirkt hat. 17 Ikesus durchschaut die nationalsozialistische Propagandamaschine, wie sich ihren Aufzeichnungen entnehmen lässt. So singt sie in den Duisburger Kasernen im Rahmen der „Kraft durch Freude‟-Kampagnen aus der Operette des jüdischen Komponisten Leo Fall „Die Rose von Stambul“ vor Wehrmachtssoldaten. Ikesus’ Erinnerungen an das Propagandaprogramm „Kraft durch Freude“ tragen eine – für heutige Leser:innen befremdliche – Leichtigkeit und Hingabe, wenn sie schreibt: „[…] es war unmöglich, sich vor diesem Auftrag zu drücken. Wir wurden in Militärlastwagen zu einer Kaserne gefahren. Eigentlich gefiel es uns, zu den Soldaten zu gehen. Sie applaudierten sehr herzlich und schenkten uns Wurst, Eier und sogar Strümpfe […]. Man empfing uns in der Kantine. Der General hatte erfahren, daß ich Türkin war, und rief mich zu sich. Er sagte: ‚Unser Heer läuft von einem Sieg zum andern. Auch wenn man es nicht im Radio hört: unser Sieg steht außer Frage. Selbstverständlich ist es mir nicht erlaubt, daß wir tanzen, während unsere Jungen an der Front ihr Blut vergießen. Aber wir können an diesem schönen Tag unsere Körper bewegen zur Musik, und ich nehme die Rose von Istanbul als Begleiterin und tanze voraus.‘ Ich glaube, daß der höfliche General nicht wußte, daß die Operette Die Rose von Istanbul das Werk eines jüdischen Komponisten ist.“ 18 Als Ikesus durch ihre Arbeit an der Duisburger Oper immer erfolgreicher und als „neue Diva“ bezeichnet wird, muss sie gegen ihren Willen zurück in die Türkei. Die türkische auswärtige Politik hält es für schädlich, dass eine Türkin als deutsche Diva gefeiert wird. So heißt es in ihrem Buch Kara Böcek: „Mein Start ins Berufsleben ließ Brillantes erhoffen, doch durch einen Befehl aus Ankara wurden meine Vereinbarungen mit der Duisburger Oper und die Vereinbarungen zwischen der Oper und unserer Botschaft unwiderruflich beendet.“ 19 Bis die Türkei dem Deutschen Reich im Februar 1945 den Krieg erklärt, bleiben Henze und Ikesus in Briefkontakt. Henze muss nach Kriegsbeginn als Soldat nach Russland. Nach Jahrzehnten wird es zwar ein Wiedersehen geben, beide sind dann allerdings bereits mit anderen Partnern liiert.

Als Sängerin von vielen in den Kriegsjahren an der Duisburger Oper hat Ikesus keinen Einfluß auf die Programmgestaltung. In der Türkei gehört Ikesus hingegen zur säkularen Kulturelite der neu gegründeten Republik.

Transnationale Ebenen

Es geht bei der Befassung mit Ikesus weniger um die Anerkennung ihrer gesanglichen Leistungen für die Duisburger Oper, sondern vielmehr darum, die Darstellung des Aufenthalts von Saadet Ikesus zu Kriegszeiten in Duisburg als Folie zu sehen, vor der eine Erinnerungskultur der Einwanderungsgesellschaft neu und ergänzend kontextualisiert und thematisiert werden kann:  In den meisten Ausführungen ist die Erinnerungskultur an die Vorfahren der Einwohner:innen gebunden. Das heißt, dass sie in einer bestimmten Region (oder Nation) historische Momente miterlebt oder sogar teilweise Ideologien mitausgeführt haben oder von bestimmten Ideologien geprägt wurden. 20 Dabei werden die transnationalen Ebenen, diejenigen, in der sich Staaten und Ideologien (Nationalsozialismus), Steuerungsmechanismen gesellschaftlicher Lebensweisen (Bildungsreformen) gegenseitig fördern, durch Austauschprogramme beeinflussen – wie im Falle von Ikesus – und miteinander kooperieren, nicht genug verdeutlicht. Die Geschichte von Saadet Ikesus in Duisburg weist keinerlei Gemeinsamkeit auf mit den bisher geschaffenen und geförderten Narrativen zum türkischen Leben in Deutschland oder zu einer Kultur, die in Verbindung steht mit dem kulturellen Leben und der Kulturgeschichte der Türkei. Eine Erklärung dafür ist, dass die Türkei und Deutschland eine andauernde historisch-politisch-kulturelle Verbundenheit haben, deren problematische Gewaltgeschichte im Bereich der Kulturpolitik auf beiden Seiten ausgeblendet wird. Ikesus Erinnerungen an das Kriegsdeutschland haben in der türkischen Rezeption bis heute keine Rolle gespielt.

 

Von Duisburg auf die Opernbühnen der Türkei

Nach ihrer Rückkehr in die Türkei baut Ikesus gemeinsam mit Carl Ebert die türkische Oper auf. Die Musikwissenschaftlerin Elif Güleç unterstreicht, dass Ikesus eine der ersten türkischen Opernsängerinnen ist, die auf europäischen Bühnen arbeitet und ihr Engagement an der Duisburger Oper als der Beginn ihrer Karriere angesehen wird.21 Sie wird zudem die erste Opernregisseurin der Türkei, bringt zahlreiche europäische Stücke auf die Bühnen der neu gegründeten Republik und fördert so die Implementierung der Kulturreformen.22 Ikesus wird in den wenigen Publikationen und Medienberichten, die zu ihr und ihrem Wirken vorliegen, als „Lehrkraft aller Lehrkräfte/Hocaların Hocası“ geehrt und somit stets in den Kontext der kulturellen Bildung der Zivilgesellschaft und der offiziellen Kulturpolitik gestellt.23 Saadet Ikesus ist in ihren persönlichen Ambitionen der westlichen Oper gegenüber ein Beispiel für den Kulturtransfer im Sinne der Formierung kultureller Identität.24

Ein Eklat zur Beerdigung

Saadet Ikesus Altan stirbt am 12. Dezember 2007 mit 91 Jahren in Ankara. Auch nach ihrem Tod wirkt sie noch wie ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse: Auf ihrer Beerdigung kommt es zum Eklat. Durch ihre säkulare Lebenseinstellung begründet, werden ihre Überreste nicht mit einem grünen islamischen Tuch bedeckt, sondern mit der türkischen Fahne. Das wird seitens des Imams der Trauerfeier boykottiert, so wie er ebenso zu unterbinden versucht, dass auf der Trauerfeier Schuberts Stück „An die Musik“ mit Applaus der Trauergemeinde begleitet wird. Es solle gebetet werden. Ikesus wird schließlich ohne das islamische Totentuch, lediglich mit einem grünen Tuch bedeckt, begraben. In diesem weiteren Kontext wird Ikesus’ Wirken für eine demokratisch-säkulare Gesellschaftsform in der Türkei in ihrer weitreichenden Bedeutung erneut greifbar.

Dr. Nesrin Tanç

Zitation: Tanç, Nesrin, Saadet Ikesus Altan, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/saadet-ikesus-altan/

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Alessandra Cuppini Alberti

1987, dem Jahr zunehmender Fremdenfeindlichkeit in Westdeutschland, gründete Alessandra Cuppini Alberti zusammen mit Ismet Kosan und anderen Gleichgesinnten aus Gewerkschaft, Schule und Wissenschaft den Senioren- und Migranten- „Verein für Internationale Freundschaften“, ViF Dortmund e.V., im Dortmunder-Norden. Sie prägte jahrzehntelang die Vereinsarbeit. In ihrer aktiven Zeit war sie die Stimme der Migranten und Migrantinnen in der Stadtpolitik, egal welcher Herkunft: im Ausländerbeirat, Sozialausschuss, Kulturausschuss und durch ihre Mitarbeit am Integrations-Entwicklungsplan. Jahrzehntelang initiierte oder leitete sie mit anderen Mitgliedern soziale Projekte für Frauen, Mädchen, Jugendliche und vor allem für die älteren, arbeitslos gewordenen Stahl- und Bergarbeiter – ehrenamtlich. Alessandra Cuppini Alberti hat im wahrsten Sinne ihre Stadt  gestaltet.1

Argelato bei Bologna

Alessandra Cuppini Alberti wurde in der kleinen Gemeinde Argelato bei Bologna als jüngstes von sieben Kindern des Stadtbeamten Ugo Cuppini geboren. 1940 war Krieg, in Italien stand Benito Amilcare Andrea Mussolini (1883-1945) als Diktator an der Spitze des faschistischen Regimes. Im Juni 1940 war er als Verbündeter des faschistischen Deutschlands in den Zweiten Weltkrieg eingetreten. Alessandra Cuppini Alberti kann sich an deutsche Soldaten erinnern, die in dem Haus ihrer Eltern einquartiert waren, an Freunde der Familie und nächste Verwandte, die sich den Partisanen gegen Mussolini angeschlossen hatten. Krieg und Bürgerkrieg schreiben grausame Geschichten: So wurde ihr Vater von einem Kommando fremder, nicht ortsansässiger Partisanen ermordet, angezeigt von Neidern im Dorf, als sie knapp vier Jahre alt war. Ihr Vater war kein Faschist, aber als Angestellter des Staates war er auch kein Gegner. Sein Bruder hingegen war Kommunist und Kommandeur der Partisanen im Kampf um die Vertreibung der Deutschen und den Sturz Mussolinis, doch er konnte den Bruder nicht retten. Später wurde auch Alessandras Lieblingsbruder Guido ermordet. Die Familie verarmte und hielt sich durch Schneiderarbeiten der Frauen für die bäuerlichen Familien der Umgebung über Wasser: Die Mutter und eine Schwester Alessandras hatten immer von einem eigenen Modesalon geträumt.

Der von Bernardo Bertolucci (1941-2018) inszenierte Monumentalfilm „Novecento“ (1900) gibt einen Einblick in die Herkunftsregion Alessandras, der Emilia-Romagna, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Alessandra Cuppini erinnerte sich an ihre Tante Lena, die ihr von den Kämpfen der Landarbeiter und Landarbeiterinnen gegen die „padroni“, die Gutsbesitzer, Anfang des 20. Jahrhunderts erzählte. Eingegangen sind diese Erfahrungen in das  auch bei uns bekannte Protestlied „Bella Ciao“, das von den Arbeiterinnen – den „mondine“ – im Reisfeld berichtet, „in risaia mi tocca andar“, die von morgens bis abends für einen „Hungerlohn“ unter sengender Sonne arbeiten mussten. Während der Arbeit war es verboten zu sprechen, und so sangen sie. Das Lied ist eine Klage, die zur Anklage und zum hoffnungsvollen Protest wird. Auf Melodie und Refrain griffen im Zweiten Weltkrieg die italienischen Partisanen zurück, die es zu einem über Italien hinaus bekannten antifaschistischen Lied machten.

Bella Ciao

Während die älteren Schwestern heirateten und einer ihrer Brüder in ein Priesterseminar eintrat, bekam Alessandra die Chance, in Bologna zur Schule zu gehen, zu studieren und zu promovieren. Sie studierte Germanistik: „Ich hatte gute Erinnerungen an unsere einquartierten Soldaten. Einer war aus Österreich, er half uns und besorgte Dinge zum Essen. Am meisten hat mich der Strudel begeistert, den er für uns machte. Dabei schlug er immer auf den Tisch ein ‚zack und klatsch, peng‘ und rief dazu ‚das ist für Hitler!‘ Wir mussten viel lachen“, erzählte sie später. Sie liebte die deutsche Literatur und schrieb ihre Doktorarbeit über E.T.A. Hoffmann: „Das Ende der Romantik und der Einstieg in die Realität“. Zu Beginn der 1960er-Jahre kam sie mit ihrer Studienfreundin Fausta zum ersten Mal nach Deutschland, an die Universität Kiel. Beide praktizierten eine frühe Form des heutigen „Erasmus“-Austauschs und besuchten während ihres Germanistikstudiums einmal im Jahr einen Ferienkurs an einer deutschen Universität. Sie studierten in Hamburg, an der Universität Frankfurt am Main und schließlich 1968 an der Westfälischen-Wilhelms-Universität in Münster: „Da empfahl man mir einen Studentenvertreter, er sei Italiener, der im Ausländerreferat besonders aktiv mit den ausländischen Studenten zusammenarbeitete. Es stellte sich heraus, dass er zwar einen italienischen Namen trug, aber kein Wort Italienisch konnte.“ Das war Peter Alberti. Beide heirateten 1970.

Die Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit hatten auch die Biografie Peter Albertis geprägt: Kurz nach dem Krieg nach Schottland geschickt, kam er in der Nachkriegszeit zurück zu seiner Familie nach Kahla in Thüringen in der Deutschen Demokratischen Republik, wo er mit seiner englischsprachigen Sozialisation Misstrauen und Ablehnung erfuhr. Später flüchtete er mit seinem älteren Bruder über das Lager Friedland nach Westdeutschland und begann ein Lehramtsstudium. Alessandra und Peter heirateten und zogen nach Dortmund, wo Peter Alberti eine Stelle als Lehrer fand. Auch Alessandra Alberti arbeitete als Lehrerin: Mit ihren kleinen Sohn Christian ging sie als Lehrerin zurück nach Italien, nach  Riccione und Rovereto, denn als Kriegswaise erhielt sie staatliche Unterstützung, die sie in Italien (ab)arbeiten musste. Sie kehrte später zu ihrem Mann nach Dortmund zurück.

Alessandra Alberti begann als Schwangerschaftsvertretung muttersprachlichen Unterricht im Dortmunder Norden zu erteilen: Es gab kein Material, sie musste es „erfinden“. Sie sah, in welch ärmlichen Verhältnissen ihre Schützlinge lebten und begann zu helfen. Es blieb nicht bei wohltätiger Hilfe. Mit italienischen Arbeitern und Arbeiterinnen gründete sie den ersten politischen italienischen Verein in Dortmund.

Autonome Organisation der italienischen Gemeinschaft

Fremdenfeindlichkeit und struktureller Rassismus zeig(t)e sich in vielen Zumutungen: Alessandra Alberti suchte an ihrem Wohnort Dortmund den Kontakt zur italienischen Community, die sich unter dem Dach der Caritas traf. In dieser Organisationsweise zeigt sich eine Struktur, die bis auf das Jahr 1962 zurückgeht, als die Bundesregierung mit drei Wohlfahrtsverbänden – der katholischen Caritas, dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirchen und der AWO – Verträge zur Betreuung der ersten angeworbenen Arbeitskräfte aus dem Ausland abschloss. Die Betreuung der aus einem katholischen Land stammenden italienischen Gemeinschaft übernahm die Caritas. Schon bald kam es zu Spannungen, da die Caritas mit paternalistischem Gestus gegenüber der zu betreuenden Community agierte und eine selbstbestimmte Arbeit der Zugewanderten verunmöglichte. Der sonntägliche Treffpunkt für die italienischen Familien wurde geschlossen. Italienerinnen und Italiener gründeten daraufhin einen Verein, dem sie in Anlehnung an italienische unabhängige und selbstständige, d.h. nicht staatliche Vereinigungen den Namen „Autonomes Zentrum der Italiener in Dortmund“ gaben. Ihnen war das deutsche Verständnis von „autonom“ nicht bekannt: Sie hatten einen politisch höchst umstrittenen Namen gewählt, in Deutschland verwies in den 1970er Jahren  das „autonom“ auf klassenkämpferische, linke politische Praxen.2 Dieses „autonom“ im Namen hat die Vereinsarbeit erschwert.

Arbeitskreis deutsche und ausländische Mitbürger

Bereits 1974 traf sich Alessandra Alberti im Dietrich-Keuning-Haus im „Arbeitskreis deutsche und ausländische Mitbürger“, der sich gegen die in Dortmund aktive rechtsextreme Szene und für eine aktive Ausländerpolitik einsetzte. Nach einer Demo gegen Neonazi-Organisationen wie die „Borussenfront“ am Borsigplatz, der damals als Zentrum der rechtsextremen Szene in Dortmund galt, wurden die Aktiven massiv bedroht und im spanischen Zentrum überfallen. Auch Alessandra Alberti erhielt aufgrund ihrer politischen Arbeit massive Drohungen in Briefform – das hieß in den 1980er Jahren noch nicht „Hate Speech“ und spielte sich nicht in sozialen Medien ab, doch die rechte Gewalt war nicht minder bedrohlich als heute.

Verein für internationale Freundschaften

Die Vereinsgründung ging aus der 1985 gegründeten und bis heute aktiven gewerkschaftlichen Initiative gegen Rechtsextremismus und Rassismus „Mach meinen Kumpel nicht an“ hervor. Die abwehrende gelbe Hand übernahm die Initiative als Logo von der französischen Initiative „SOS Racisme“. 1986 hatte sich auch in Dortmund bei Hoesch durch Mitglieder der Industriegewerkschaft Metall ein Verein „Gelbe Hand – mach meinen Kumpel nicht an“ unter dem Vorsitzenden Ismet  Kosan gegründet. Dieser wurde 1987 zum „Verein für Internationale Freundschaften Dortmund e.V.“ (ViF), um den Aktionsradius zu erweitern. Am 19.11.1987 wurde amtlich der Vereinsname geändert und Alessandra wurde zuerst stellvertretende, dann Vereinsvorsitzende. Sie machte ViF zu dem, was er bis heute ist: zu einer politischen Stimme von Zugewanderten und zu einem unabhängigen Treffpunkt für Menschen unterschiedlicher Herkünfte.

Die Gründung des „Vereins für Internationale Freundschaften“ erfolgte im räumlichen Umfeld der Westfalenhütte in der Dortmunder Nordstadt und zu einer Zeit, als die Stahlkrise viele der angeworbenen Arbeiter der ersten Generation bereits als Frührentner oder Arbeitslose „freigesetzt“ hatte. Werkswohnungen rund um den Borsigplatz wurden verkauft, die Mieten stiegen. Rentnerinnen, Rentner und ältere Arbeitslose meist türkischer und marokkanischer Herkunft wurden hart getroffen. Der Produktionsstandort schloss endgültig 2001. Die Hochöfen, die Sinteranlage und das Warmbreitbandwalzwerk wurden nach China verkauft und dort wieder aufgebaut. Die Vorstellung, die „sogenannten Gastarbeiter:innen“3 würden wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren, erwies sich als Trugbild. Bis zum Jahre 2000 galt in der Bundesrepublik das Staatsangehörigkeitsrecht von 1913: „‘Ausländer‘ wurden als vorübergehende Erscheinung angesehen und – wenn sie politisch aktiv waren – als potentielle Unruhestifter.“4 Diese Erfahrung hatte Alessandra Alberti auch bereits mit dem „Autonomen Zentrum der Italiener in Dortmund“ machen müssen. In dieser gesellschafts- und sozialpolitisch bedeutenden Transformationsphase mit zunehmend gewalttätiger Fremdenfeindlichkeit nahm der Verein seine Arbeit auf. Sein Name „Verein für Internationale Freundschaften“ drückt die Zeitgebundenheit seiner Gründung aus, denn er verstand (und versteht) sich nicht identitätspolitisch, sondern als ein Zusammenschluss von/ für Menschen mit verschiedenen Herkünften im Sinne gegenseitiger Verständigung und gemeinsamer Gestaltung der Gesellschaft. In der Formulierung „internationale Freundschaften“ kommt ein individueller Beziehungsaspekt zum Ausdruck, aber auch eine transnationale Vorstellung von vertrauensvoller und gleichberechtigter Beziehung jenseits von Herkunft, Klasse, Geschlecht, Religion.

Die erste Phase des Vereinslebens war geprägt von Aktionen gegen die Fremdenfeindlichkeit und die ‚Ausländerpolitik‘ bzw. ‚Integrationspolitik‘, ViF organisierte Veranstaltungen zu politischen Themen wie Rassismus, Folter, Frauenrechte oder für die doppelte Staatsbürgerschaft. Die Mitglieder engagierten sich 2003 gegen  eine Beteiligung der BRD am Irak-Krieg und beteiligten sich am interreligiösen Dialog zwischen den Glaubensgemeinschaften. 1989 trat der Verein dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtverband (DPWV) bei.

Vom ‚Ausländerbeirat‘ zum ‚Integrationsrat‘

Vor allem aber forderten die Vereinsmitglieder einen direkt gewählten „Ausländerbeirat“ als eigene politische Vertretung auf kommunaler Ebene und setzten damit die Frage nach politischer Repräsentation auf die Tagesordnung, denn Eingewanderte und ihre Nachkommen waren weder im öffentlichen Diskurs vorgesehen, noch durften sie ernsthaft politisch mitbestimmen. Sie unterstanden einer Sondergesetzgebung, dem „Ausländergesetz“, und wurden darin de facto als „Menschen zweiter Klasse“ festgeschrieben.5In Dortmund trafen sich Ende der 1980er Jahre Menschen als „Ausländerbeirat“ – darunter Sandra Alberti, Pili Gonzales und Viktoria Walz als „Grüne in Aktion“ – , um Rechte für Mitsprache und Gestaltung für Zugewanderte auf Kommunaler Ebene durch ein demokratisch gewähltes Vertretungsgremium und eine offensive Antidiskriminierungspolitik zu  fordern.6Im November 1993 waren sie endlich erfolgreich: Auf Beschluss des Rates der Stadt Dortmund wurde erstmalig offiziell ein „Ausländerbeirat“ als Vertretungsorgan direkt von den ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Dortmund gewählt. Damit war Dortmund die erste Stadt in Nordrhein-Westfalen, die diese Forderung nach politischer Vertretung von Migrantinnen und Migranten in der Kommunalpolitik umgesetzte. Mit der Neufassung der Gemeindeordnung im Jahr 1994 wurden dann Gemeinden, in denen mindestens 5.000 ausländische Einwohner und Einwohnerinnen ihre Hauptwohnung haben, zur Bildung von Ausländerbeiräten verpflichtet. Im Zuge einer Änderung der Gemeindeordnung 2009 wurde aus dem ‚Ausländerbeirat‘ ein ‚Integrationsrat‘. Auch Dortmund vollzog die Namensänderung: In der Begrifflichkeit ‚Ausländerbeirat‘ wird die historische Dimension dieser politischen Repräsentation deutlich – in der Verschiebung hin zum ‚Integrationsrat‘ manifestiert sich die Entwicklung im Migrationsregime.

ViF – Begegnungsstätte an der Flurstraße

1993 erhielt der Verein für internationale Freundschaften Nutzungszeiten in den von der Arbeiterwohlfahrt genutzten Räumlichkeiten einer städtischen Begegnungsstätte auf der Flurstraße in der Dortmunder Nordstadt, in denen er bis heute wirkt (Stand 2022). In der ersten Zeit auf der Flurstraße schlug dem Verein und seine Mitgliedern nicht allzu große Sympathie entgegen, er fühlte sich als „ungern gesehener Gast“. Im Grunde erhielt er die Räumlichkeiten nur, weil die AWO unter Mitgliederschwund litt und von der Stadtverwaltung jemand zusätzlich für die Nutzung der Räumlichkeiten gesucht wurde. Niemand sonst wollte in die Schmuddelecke am Borsigplatz ziehen und so bekam ViF zwei Tage zur Gestaltung seiner Angebote. Es gab viel Ärger, denn es waren selbstverständlich immer die „Ausländer“, die die Fenster angeblich nicht geschlossen hatten oder Dreck machten. Doch ViF entfaltete dort beharrlich und nachhaltig Seniorenarbeit von, für und mit Menschen der ersten Gastarbeitergeneration. Von Anfang an lag ein Schwerpunkt auf dem Handlungsfeld „Älter werden in der BRD“.7 

Alessandra Alberti versteht die Vereinsarbeit „international, praxisbezogen, selbsthilfefördernd, altersübergreifend“.8 Sie ruht auf drei Praxisfeldern zwischen Sozial- und Kulturarbeit: Es gibt erstens Informationen und Hilfen bei Antragstellungen, Übersetzungen, Fachvorträge, einen Ort zum Austausch, zum Treffen und Feiern; Gemeinsam unternehmen sie zweitens gemeinschaftsstiftende Ausflüge zu Kulturorten in Stadt und Region, zu Museen, zur Universität, zu Stätten der Industriekultur, Orte, die die Teilnehmenden kaum allein bereist hätten. Und drittens pflegen sie als Verein die deutsche Sprache: „Deutsch sprechen gegen die Einsamkeit“, reden und diskutieren, nicht nur in der eigenen Community in ihrer Muttersprache, so dass das Deutsch schnell wieder verlernt wird. Alessandra Cuppini Alberti hat dabei eigene didaktische Konzepte einer Hilfe zur Selbsthilfe entwickelt, so etwa, wenn nach Informationsveranstaltungen zur Gesundheits- oder Sozialpolitik alle gemeinsam mit den vortragenden Fachleuten Problemlösungen inhaltlich wie sprachlich durcharbeiten und sich darüber fit machen für Behördengänge, Antragsstellungen, Hilfegesuche.

Geschlechtersensible Alten- und Kulturarbeit

In einem Vortrag 2001 stellte Alessandra Alberti die Probleme zur Diskussion, die sich bei einer Öffnung der Einrichtungen der Altenhilfe und Gesundheitsbildung für Migranten und Migrantinnen ergeben. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Begegnungsstätte des ViF auf der Flurstraße von Menschen zwischen 50 und 80 Jahren aus Chile, Deutschland, Spanien, Italien, Indonesien, Iran, Ukraine, Marokko, Russland und vor allem aus der Türkei besucht: „Zu uns kommen Buddhisten, Christen, Muslime, Juden und Atheisten, ArbeitsmigrantInnen und AsylbewerberInnen“.9 Die Senioren und Seniorinnen mit deutschem Pass, die die Begegnungsstätte zu AWO-Öffnungszeiten frequentierten, waren zumeist hochbetagt und an Freizeitbeschäftigungen wie Kaffeetrinken und Kartenspielen interessiert. Sie hegten Vorurteile, Misstrauen, Angst, Ablehnung. Eine gemeinsame, vertrauensvolle Altenarbeit konnte sich nicht entwickeln. Denn die Migrantinnen und Migranten, die zum ViF kamen,  verstanden sich als aktive, junge ‚Alte‘, die nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes den Kontakt zur deutschen Welt nicht verlieren. Trotz deutscher Sprachdefizite wollten sie weiter in dieser Sprache über soziale und politische Themen diskutieren und ihnen war mehr als bewusst, dass sie für ein angstfreies und gelungenes Leben als Seniorinnen und Senioren in der Bundesrepublik aktiv etwas tun mussten. Alessandra Alberti ließ keinen Zweifel daran, dass die Doppelnutzung mit der Altengruppe der AWO schwierig war und eine gemeinsame Arbeit angesichts der Vorurteile auf deutscher Seite sowie, fehlender finanzieller und personeller Ressourcen nicht zu realisieren war.

Seit Ende der 1980er Jahre setzte sich der Verein unter dem Motto „Älter werden in der Fremde“ mit Wohnformen für Seniorinnen und Senioren auseinander, besichtigte Heime, Tagespflegeeinrichtungen, Altentreffs in Dortmund. Noch waren die Angebote nicht auf Bedürfnisse von Menschen mit nichtdeutschen Herkunftstraditionen ausgerichtet. Wie die meisten Deutschen auch wollten die zugewanderten Männer und Frauen in den eigenen vier Wänden, in der vertrauten Umgebung alt werden. Doch gab es Unterschiede: So verfügten sie über einen schlechteren Informationsstand und waren bei Pflegeanträgen leichter abzuwimmeln, Familien lebten oft auf engstem Raum, Platz für besondere Pflegeein- oder Umbauten stand nicht zur Verfügung. Ständig stieg auch die Zahl der Alleinstehenden. Sie lebten zumeist in Altbauwohnungen, die bei Beeinträchtigungen  schlecht altengerecht umzubauen waren. Zudem trug die stetige Verteuerung von Mieten und Nebenkosten zur Verarmung bei. Wichtig war in diesem Zusammenhang für Alessandra Alberti auch die Gesundheitsbildung: Informationsdefizite und Ängste, nicht gehört zu werden, führten oftmals zu schwierigen Krankheitsverläufen. An diesen Aktionsfeldern Alessandra Albertinis wird deutlich, dass das, was wir heute für die Soziale Arbeit als Standards ansehen, mühsam und in kleinen Schritten von den Senioren und Seniorinnen mit Einwanderungsgeschichte selbst erarbeitet wurde und immer wieder eingefordert werden musste.10 „Die deutsche Mehrheitsgesellschaft hat immer noch die Vorstellung, die Arbeitsmigranten und -migrantinnen gehen im Alter zurück in ihre Herkunftsländer oder werden in ihren großen Familien versorgt. Das ist schon jetzt immer weniger der Fall, weil sich die Kinder wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten in alle Winde zerstreuen“, erklärte Alessandra Alberti in einem Interview 2005.11 Armut, Krankheit, Isolation im Alter nähmen nicht nur eine herkunftsspezifische Dimension an, sondern auch eine Geschlechterdimension: Sie beträfen Frauen in spezieller Weise. Viele aus der ersten Zuwanderungsgeneration lebten von minimalen Renten unterhalb des Existenzminimums. „Sie waren eigentlich gar nicht vorgesehen, als man Arbeitskräfte anwarb“. So verstand Alessandra Alberti ihre Arbeit ausdrücklich auch frauenpolitisch – Frauen stark zu machen, um als Migrantinnen Rechte einzufordern.

Geschichte(n) erzählen

Am Ende ihrer aktiven Vereinszeit prägte Alessandra Alberti die Biografiearbeit, die ViF im Sinne einer aktiven Erweiterung der Erinnerungskultur um Themen wie Migration und Zuwanderung begann. Die Lebensleistungen der Zugewanderten gehören in die Geschichte der Bundesrepublik. Der ViF begann mit den Lebenserinnerungen von neun jungen Männern, die 14-, 15-jährig aus der Türkei ins Ruhrgebiet kamen, und am 1. April 1965 eine Lehre auf den Zechen Hansa, Germania, Schwerin und Emscher-Lippe begannen. Sie legten erfolgreich ihre Knappen- und Facharbeiterprüfung ab und wurden schließlich Techniker, Ingenieure, Steiger und Betriebsrat. Untergebracht waren sie während ihrer Lehrzeit in Pestalozzidörfern, die die Zechen nach dem Krieg für jugendliche Lehrlinge errichtet hatten, die ohne Familie aus den ehemaligen deutschen Gebieten östlich der Oder geflüchtet waren und nun Arbeit im Bergbau suchten. Sie wurden im Ruhrgebiet dringend gebraucht. Nachdem immer weniger Jugendliche für den Bergbau rekrutiert werden konnten, wurden türkische Jugendliche angeworben, die dann in diesen Pestalozzidörfern durch eine erfahrene Bergarbeiterfamilie als „Hauseltern“ betreut wurden.12Das Buch über ihre Lebensverläufe „Glückauf in Deutschland“13 wurde ein großer Erfolg. Die Wanderausstellung, die daraus entstand, zog durch Museen und Rathäuser des Landes. Der Verein erhielt zahlreiche Preise für seine Geschichtsarbeit.14 Im Jahr des Auslaufens des subventionierten Steinkohlebergbaus 2018 in Deutschland schrieben sich die neun Kumpels mit ihrem spannenden Buch und der interessanten Ausstellung in die allgemeine Industriegeschichte ein.

Es folgte das Projekt „Wir hier oben – ihr da unten: Die Frauen an der Seite türkischer Bergleute der ersten Stunde erzählen“. Acht Ehefrauen sprechen von ihren persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen übertage. Es war – so in ihrer Rückschau – ein erfülltes und erfolgreiches Leben mit und in zwei Kulturen. Doch war der Anfang schwer. Frauen deutscher Herkunft konnten Ende der 1960er Jahre keinen türkischen Freund mit nach Hause bringen. Taschengeldentzug, Ausgehverbot waren die Folge. Ein türkisches Mädchen hingegen, dessen Traummann in Deutschland arbeitete, landete nach kurzer Verlobungszeit und einer Fahrt im Ford 17M in einer schmucklosen Junggesellenbude zwischen Zeche, Halde und Kokerei – ohne Unterstützung durch eine türkische Nachbarschaft, die erst langsam  in den Zechensiedlungen entstand. Auch diese Erfahrungen und ihr Selbstverständnis als Bergmannsfrauen gehören zur Geschichte dieses Landes.15

Mit einem dritten Projekt widmete sich die Geschichtsarbeit des Vereins der heute zweitgrößten Zuwanderungsgruppe, den Eingewanderten aus der ehemaligen Sowjetunion, darunter auch jüdische Emigranten als sogenannte ‚Kontingentflüchtlinge‘: „Oma, woher kommst du? Du singst so schön.“16 Sie hatten als Jugendliche oder Kinder Krieg, Vertreibung oder Flucht erlebt, so ist es ihnen auch ein Bedürfnis, gegen Krieg und Diskriminierung anzuschreiben. Sie verließen sie die unsicheren Zustände nach dem Zerfall der Sowjetunion und kamen in den 1990er Jahren als Familien in die Bundesrepublik. Unter den Frauen waren hochqualifizierte Ingenieurinnen, Technikerinnen, die auf dem geschlechtsspezifisch segregierten deutschen Arbeitsmarkt keine ihrer Ausbildung angemessene Beschäftigung mehr finden konnten. Während sie in der Sowjetunion als ‚die Deutschen‘ galten, wurden sie hier zu ‚den Russen‘ und erfuhren Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Ausgrenzung.

Eine Italienerin in Deutschland

Alessandra Alberti ist keine typische Arbeitsmigrantin. Sie kam als Akademikerin nach Dortmund. Doch auch die „Dottora“ in Germanistik erlebte in Deutschland Fremdenfeindlichkeit: Sie sprach Deutsch, doch sie wurde als „Fremde“ markiert. Sie wurde beklaut und betrogen, so, als man ihr für drei Schweinekoteletts in der Metzgerei 12 DM (Deutsche Mark) abnahm. Sie war aus Italien gewohnt, dass Lehrpersonen mit Respekt gegenübergetreten wurde. Und nun in Deutschland wurde sie zur Seite gedrängt und nicht ernst, nicht für voll genommen.17Das war für sie klar und deutlich Fremdenfeindlichkeit. Bei der Geburt ihres Sohnes lag sie in den Städtischen Kliniken zwar erster Klasse – ihr Mann war Beamter – aber ihr Schreien und bitteres Rufen half nichts, als unter der Geburt die Schmerzen unerträglich wurden und sie Angst bekam. Sie wurde nicht beachtet. Sie hörte eine Schwester sagen: „Die Südländer schreien immer und übertreiben gerne.“  Erst eine Ärztin kam ihr zur Hilfe und leitete die Geburt ein: „Ich werde meine Not und diese Angst, dass mein Kind vielleicht sterben könnte oder krank zur Welt käme, nie vergessen.“ Diese Erfahrung nennt man heute wohl traumatisch. Alessandra Alberti erzählte, dass ihr Sohn – blond und blauäugig – sie in der gegenüber Fremden feindlich eingestellten Öffentlichkeit immer intuitiv unterstützte, so sprach er laut italienisch, damit sie sich nicht alleine fühlte.  In einer anderen Situation mit ihrem Sohn, mit dem sie italienisch sprach, damit er in zwei Sprachen aufwuchs, bat ein Verkäufer an der Haustür: „Rufen sie doch bitte die Hausfrau, ich möchte etwas vorstellen“, als sei sie das Hausmädchen. Stereotype wie diese, in denen sich die Herkunft auf die Arbeit überträgt, die den „Anderen“ in der eigenen Gesellschaft  zugewiesen werden, fasst die Soziologie heute unter „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“.18

POSTSCRIPTUM

Während diese Biografie zu Alessandra Cuppini Alberti entstand, lebte sie hochbetagt mit einer sehr schweren Form der Demenz in einem Pflegeheim der katholischen Kirche in Dortmund. Ljuba Schmidt, aktuelle Vorsitzende des ViF, kümmerte sich um sie, so, wie Alessandra sich um den Verein und um internationale Freundschaften gekümmert hat. Alessandra Alberti erkannte niemanden mehr und niemand wusste 2022, was sie von ihrer Umwelt noch aufnehmen konnte. So lassen sich einige biografische Hinweise für diesen Text nicht mehr vertiefen und Erzählungen konkretisieren. Zu einer bedeutenden Quelle wurden Gespräche, die Alessandra Cuppini Alberti anlässlich verschiedener Vereinsjubiläen mit Viktoria Waltz führte. In der WDR-Sendereihe „Erlebte Geschichte“ erzählte Alessandra Cuppini Alberti über ihre Erfahrungen als Italienerin im Ruhrgebiet und über ihr politisches Engagement.19 Ihr politisches (Vereins)Engagement lässt sich über die Vereinsunterlagen rekonstruieren, die sich mittlerweile im Dortmunder Stadtarchiv befinden. Alessandra Cuppini Alberti verstarb am 25. September 2023. Ihre letzte Ruhestätte liegt in ihrem Geburtsort Argelato

Viktoria Waltz, ViF/  Uta C. Schmidt, frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Internationale Altenbegegnungsstätte, Flurstraße 70, 44145 Dortmund

Stadtarchiv Dortmund, Stadtarchiv Dortmund Märkische Str. 14, 44122 Dortmund

Dietrich-Keuning-Haus Leopoldstr. 50-58, 44147 Dortmund

Borsigplatz, Dortmund

Westfalenhütte, Eberhardstr. 12, 44145 Dortmund

Zitation: Waltz, Viktoria/ Schmidt, Uta C., Alessandra Cuppini Alberti, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/alessandra-cuppini-alberti/

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Liselotte Rauner

Unterdrückung, Ausbeutung, Rechtlosigkeit, Krieg waren ihre Themen, der Alltag im Ruhrgebiet ihre Basis. Rezensenten und Gratulanten nannten sie wiederholt eine „Mutter Courage des Ruhrgebiets“, die mit lauter und kraftvoller Stimme ihre Widerstandsverse vortragen konnte. Viele ihrer Gedichte reimten sich, gaben eine Melodie vor und fanden in den 1970er und 80er Jahren in der Musikszene nicht nur des Ruhrgebiets großen Anklang. Die Sängerin Brigitte Lebaan, die Jazz-Interpretin Inge Brandenburg und Friedensaktivistin Fasia Jansen, der Sänger, Sammler und Archivar Frank Baier, die Liedermacher Dieter Süverkrüp, Werner Worschech und Klaus Hoffmann interpretierten ihre Texte musikalisch, nachzuhören auf mehr als 20 Schallplatten.

Ihre Biografie beschreibt Liselotte „Lilo“ Rauner um 1968 einmal lakonisch so: Geb. 21.2.1920 in Bernburg/Anhalt, Realschule, kaufmännische Lehre, Gesangsausbildung, 2-jährige Mitgliedschaft am Stadt- und Landestheater in Bernburg, seit 1948 wohnhaft in Wattenscheid, verheiratet, keine Kinder. Schreibe seit etwa dem 18. Lebensjahr aus Passion, keine Veröffentlichungen, erstmalig im Januar d.J. [1968] in der literarischen Werkstatt in Gelsenkirchen mit Gedichten an die Öffentlichkeit getreten, seitdem mehrere Lesungen und Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften. Vorgesehen für einige in Kürze erscheinende Anthologien und Reproduktionen mehrerer Arbeiten durch Frau Ursula Herking.1

Die Gelsenkirchener Werkstatt des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt und der Direktor der Stadtbücherei Gelsenkirchen, Hugo-Ernst Käufer, förderten und begleiteten ihre literarische Arbeit.
Sie gehörte zu den wenigen Lyrikerinnen des Ruhrgebiets, sie verwahrte sich aber gegen eine Zuordnung zur „Frauenliteratur“. Sie schrieb politische Lyrik, ihr ging es nicht um private Verhältnisse.

Anerkennung fand ihre Arbeit 1986 mit der Berufung in den Internationalen PEN- Club und als erste Preisträgerin des Literaturpreises Ruhr, bereits vorher war sie Preisträgerin im Reportage-Wettbewerb des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt (1969), Stipendiatin des Landes NRW (1977), Trägerin des Bocholter Kulturpreises (1978) und des Josef-Dietzgen-Literaturförderpreises (1982).

Der erste Gedichtband erschien 1970 unter dem Titel Der Wechsel ist fällig, es folgten weitere Gedichtbände im Oberhausener Asso-Verlag. Nach dem Tod ihres Mannes Walter 1992 stellte Liselotte Rauner ihr Schreiben ein, ohne ihn schien es unmöglich, Alltag und Schreiben zu bewältigen. Selbst von Freunden schottete sie sich fast völlig ab und trieb bewussten Raubbau mit ihrer Gesundheit.

1998 trat sie mit der Gründung der „Liselotte und Walter Rauner Stiftung“ zur Förderung neuer Lyrik, nach eigener Aussage die einzige private Literaturstiftung in Nordrhein-Westfalen, noch einmal an die Öffentlichkeit.

Hugo Ernst Käufer und Rainer W. Campmann beschreiben in ihren Nachrufen Lilo Rauner aus verschiedenen, gleichwohl bewundernd-liebevollen, sich ergänzenden Perspektiven. Käufer erinnert an den letzten Auftritt Rauners 2004: Ein Beweis dafür, dass nur sie selbst ihren Gedichten zur vollen Wirksamkeit verhelfen konnte. Das wußte sie auch.2 Campmann erinnert sich an das widersprüchlich-symbiotisch verbundene Paar Lilo und Walter, und während Käufer „die poetische Kraft ihrer Sprachbilder rühmte“ dachte er an den immer vorhandenen und unerfüllten Traum Rauners, eine Prosaarbeit zu schreiben.3

Lilo Rauner wird nicht vergessen, ihre Gedichte und Aphorismen, ihre Stiftung, eine nach ihr benannte Talentschule in Bochum und der Nachlass im Stadtarchiv Bochum (NAP 123) machen Werk und Person sichtbar und zugänglich.

Garantien der Obrigkeit
Ihr dürft alles tun
was wir euch sagen
doch ihr sollt nicht sagen
was wir euch tun

Ihr dürft alles ändern
was wir wünschen
doch ihr dürft nicht wünschen
daß wir uns ändern

Ihr dürft überall gehen
wohin wir wollen
doch ihr dürft nicht wollen
daß wir gehen
(1969)4

Zum 100. Geburtstag der Lyrikerin Liselotte Rauner am 21. Februar 2020 richtet die noch von ihr selbst 1998 ins Leben gerufene Liselotte und Walter Rauner Stiftung einen Lyrikwettbewerb aus. Politisch pointierte und freche Texte sollen prämiert werden, die der wehrhaften, für die Rechte der Zukurzgekommenen kämpfenden Schriftstellerin gefallen hätten.

Hanneliese Palm, Selm

Orte:

Liselotte Rauner Stiftung, Westring 32, 44777 Bochum

Liselotte Rauner-Schule, Bochum-Wattenscheid

Literatur:

Hugo Ernst Käufer (Herausgeber): Liselotte Rauner: Kein Grund zur Sorge, Oberhausen 1985

Rainer W. Campmann, Hugo Ernst Käufer (Hrsg.): Augenblicke der Erinnerung, Oberhausen 1991

Was gültig ist, muß nicht endgültig sein, Essen 1992

Zitation: Hanneliese Palm, Liselotte Rauner. Eine politische Lyrikerin des Ruhrgebiets, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/liselotte-rauner/

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Louisa Catharina Harkort, geb. Märcker

Das märkische Sauerland bot der Industrialisierung früh einen fruchtbaren Nährboden: Von der hier vorhandenen Wasserkraft, dem Metall- und Holzvorkommen profitierten zahlreiche ländliche Unternehmen. Eines der bekanntesten ist das Familienunternehmen Harkort mit dem Stammsitz auf Gut Harkorten bei Hagen. Materielle Grundlage der sozial und wirtschaftlich hervorgehobenen Stellung der Harkorts war der große landwirtschaftliche Betrieb auf Gut Harkorten, das bereits im Schatzbuch der Grafschaft Mark von 1486 erwähnt wird.1 Dabei konzentriert sich das Interesse hauptsächlich auf Friedrich Wilhelm Harkort (1793-1880), den Begründer der Maschinenfabrik in Wetter. Dass er die unternehmerischen Ressourcen zur Gründung hatte, verdankte er aber auch seiner Großmutter, Louisa Catharina Harkort, geborene Märcker. Denn diese leitete im 18. Jahrhundert das Unternehmen nach dem Tod ihres Mannes während drei Jahrzehnten und sicherte so seinen Bestand für die Familie und Nachkommen. Im Gegensatz zu ihrem Sohn und ihrem Enkel verfügt sie aber bis heute über keine ausführliche Biografie.2

Wirtschaftliche und gesellschaftliche Voraussetzungen

Der Märkische Raum war im 18. Jahrhundert eines der führenden frühindustriellen Gewerbezentren in Deutschland. Neben ihrem großen Landgut mit Äckern, Wiesen und Wäldern im Ennepetal bei Hagen bewirtschafteten die Harkorts ab 1753/63 das Gut Schede bei Wetter. Zusätzlich betrieben sie mehrere Hammerwerke sowie ein Handelsunternehmen, das um die Mitte des 18. Jahrhunderts über mehr als 200 Handelspartner verfügte.3

Das Lebensumfeld der Märckerin aus sozialer Sicht war durch die bedeutende Stellung der Familien Harkort und Märcker geprägt. Als Pastoren und Richter hatten ihre Vorfahren und diejenigen ihres Mannes in der ständisch-verfassten Gesellschaft des 18. Jahrhunderts einflussreiche Positionen inne.4 Der Familienstammbaum der Harkorts lässt sich gesichert bis auf das Jahr 1560 zurückführen; das Gut Harkorten, das 1705 gut 13 ha Land umfasste, wurde erstmals 1486 erwähnt. Handel in einem größeren Umfang führten die Harkorts bereits seit dem frühen 17. Jahrhundert.51754 zählte das Handelshaus unter Johann Caspar Harkort III., dem Ehemann der Märkerin, neben dem Handelshaus seines Onkels Carl Johann Harkort (1691-1761) in Hagen,6 zu den „prinzipalsten Kaufleuten so in Eisen-Waren fast durch ganz Europa handeln, die Fabrikanten in Arbeit unterhalten und da von ihr soutien haben.“7

Trotz ihres ländlichen Wohnsitzes traten die Harkorts im Kreis der städtischen Kaufleute und Unternehmer von Dortmund, Iserlohn, Lüdenscheid gleichberechtigt auf; in ihrer engeren Umgebung zwischen Hagen und Schwelm waren sie politisch und wirtschaftlich führend, in der gesamten Grafschaft Mark meinungsbildend.

Elternhaus und Ausbildung der Märckerin         

Louisa Catharina Märcker wurde 1718 in Hattingen in geboren. Zur Geburt hielt ihr Vater fest: „Anno 1718 den 2ten octobris hat der Liebe Gott morgens zwischen 6 und 7 Uhr uns mit einer jungen Tochter gesegnet, welche wir den 8. darauf durch die Tauffe von Sünden abwaschen und Louysa Catharina benamsen lassen.“ Taufpaten waren „die Hochwohlgebohrene Frau von Heider, gebohrene von Bousch, Frau zum Cliff, meine liebe Mutter Catharina Margaretha Cramers, und mein Schwiegervatter Bernh. Casp. Reinermann. Gott lasse es zu seiner Ehre und unserer Freude aufwachsen!“8 Der Vater, Johan Christoph Märcker (geboren 1688) stammte aus Essen, hatte an der Universität Utrecht 1711 in Medizin promoviert9 und hielt sich zeitweilig als „Medicina Doctor, Märckischer Landfisicus und hochfürstlich Essendischer Hof und Leib Fisicus“am Hof der Fürstäbtissin in Essen auf. Am 3.10.1716 hatte er sich mit Charlotte Maria Reinermann von Schede verheiratet (geboren 1691, gestorben nach 1738)10, die auf Gut Schede bei Wetter an der Ruhr aufgewachsen war.11

Louisa hatte zwei jüngere Brüder. Der Jüngere, Johann Friedrich (1723-1791), lebte und arbeitete nach ihrer Heirat mit den Harkorts auf Harkorten. Der ältere, Johann Christoph, wurde wie sein Onkel Hoffiscal zu Cleve.12 In ihrer Jugend verkehrte Louisa am Hofe der regierenden Fürstäbtissin von Essen, Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach.13 In Essen wurde sie auch am 5. Oktober 1732 evangelisch lutherisch konfirmiert.14 Das Essener Damenstift war kein Kloster – so lässt sich erklären, dass die Märckerin als Protestantin sich hier aufhalten konnte.15 Nicht nur hatte sie am Hof Zugang zu vielfältiger Literatur, sie war auch Teil des höfischen Lebens, übte sich im stilsicheren, selbstbewussten Auftreten und konnte Kontakte knüpfen, von denen sie in ihrem späteren Leben profitierte.16

Der Umgang mit Menschen außerhalb ihres eigenen Standes schärfte ihr Gespür für Repräsentation (im Sinne von Vertretung und Wahrung der eigenen (Standes)Interessen, welche in der Ständegesellschaft für die höheren Stände ein wichtiges Mittel zur Distinktion und zur Darstellung von eigener Macht, Bedeutung und Einfluss war.17 Louisa erwarb am Hof der Äbtissin somit wichtiges soziales und kulturelles Kapital.18

Bedeutungsvoll für ihre spätere Tätigkeit ist die Synthese, die dieses Kapital mit ihrer Herkunft aus dem landsässigen Bürgertum einging. Bürgerliche Tugenden wie Fleiß, Sparsamkeit und Gewissenhaftigkeit verbanden sich mit stilsicherem Auftreten und Kontakten in die höchsten Kreise und bereiteten die Märckerin bestens auf ihren künftigen Lebensweg vor, auf dem sie u. a. als „Fabriquendeputierte“ des Amtes Wetter die Interessen aller Hammerbesitzer gegenüber der preußischen Regierung zu vertreten hatte. Darüber hinaus wird in der Literatur zudem ihre Schönheit gerühmt; die jungen Männer sollen, so wird berichtet, ein Spalier gebildet haben, um ihr auf ihrem Weg zur Kirche den Weg freizumachen und sie zu bewundern.19

Louisa Catharina heiratete erst vergleichsweise spät mit dreißig Jahren: Ob dafür ihre protestantische Religionszugehörigkeit ausschlaggebend war oder ihre hohen Ansprüche an einen Ehepartner, muss offenbleiben.20Ebenso schweigen sich Quellen und Literatur darüber aus, wie sie ihren künftigen Ehemann kennenlernte. Dessen Wohnsitz lag allerdings nahe beim Gut der Mutter der Mäckerin.

Heirat, Ehefrau und Mutter

Im Juli 1748 heiratete Louisa Catharina Märcker den zwei Jahre älteren Johann Caspar Harkort III.21 Johann Caspar III. hatte den Stammsitz und einen Eisenhammer nach dem Tod seines Vaters 1742 übernommen. Für ihn war es die zweite Ehe; seine erste Frau war 1747 im Kindbett gestorben. Aus der Ehe von Louisa und Johann Caspar gingen sieben Kinder hervor, die beiden ältesten starben bereits kurz nach der Geburt. Fünf Kinder des Ehepaars, die beiden Jungen Johann Caspar IV. und Peter Niklas, sowie die drei Mädchen, Caroline Friederike, Louise Henriette und Helena Christina, geboren zwischen 1753 und 1759, erreichten das Erwachsenenalter.22

1756 ließ das Ehepaar auf Gut Harkorten ein neues, großes und repräsentatives Haus errichten, das Kontor- und Lagerräume enthielt und genügend Platz für die Unterbringung der zahlreichen Gäste aufwies. Treibende Kraft für den Neubau scheint die Märckerin und ihr Wille nach Repräsentation gewesen zu sein: Das Haus, errichtet von Eberhard Haarmann,23 gilt noch heute als eines der bedeutendsten Barock-Denkmäler in Berg und Mark.24  Der neue Wohnsitz hob sich in Ausführung und Pracht deutlich von den bisherigen und weiter bewohnten Häusern auf dem Gut ab. Schieferumkleidet, mit geschwungenem Giebeldach, repräsentativer Freitreppe vor der Eingangstür und reichen Holzschnitzereien legte es Zeugnis ab für den raschen Aufstieg der Familie und ihren großen Reichtum, zu dem sie in den Jahren vor dem Siebenjährigen Krieg gekommen war.25 Gleichzeitig war es aber auch, wie Ellen Soeding betont, ein äußerst zweckmäßiges Kaufmannshaus:
„Jeder Winkel unter Treppen und schrägen Wänden war durch Wandschränke ausgenutzt; die schöne Eichentreppe nahm wenig Raum ein, und die gleichmäßige Aufteilung der Zimmer, Comptoirs und Lagerräume erschien übersichtlich und klar.“26

Insofern kann das Haus als Sinnbild für die Art des Wirtschaftens und des gesellschaftlichen Anspruchs der Harkorts betrachtet werden: Klar strukturiert und zweckmäßig, vertrat es dennoch deutlich den Willen zur Prachtentfaltung und Repräsentation.27

Auch die Natur unterwarf die Märkerin ihrem anspruchsvollen Gestaltungswillen. Sie legte auf Harkorten ein Parkwäldchen mit importierten und fremden Pflanzen und Bäumen an, das „Boskett“ genannt wurde und allein der Muße und Freizeit gewidmet war. Bis dahin hatte es auf dem Gut nur Obst- und Nutzgärten gegeben.28 Das Anlegen eines Gartens in Anlehnung an das prachtvolle Vorbild der französischen Könige entsprach der damaligen Mode in den gehobenen Ständen und diente dem Ausdruck des Reichtums und des gehobenen Lebensstils der Familie Harkort.

Einen solchen zelebrierte die Mäckerin auch durch eine aufwendige Haushaltsführung. Dabei lebte die Märckerin aber durchaus maßvoll, leistete sich Luxus nur nach Möglichkeit und vermischte so adligen und bürgerlichen Lebensstil. Sie bestellte z. B., wie aus den Geschäftsbüchern ersichtlich ist, erst nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) erstmals nicht nur lebensnotwendige Waren, sondern auch silberne Tafelleuchter und eine große silberne Kaffeekanne.29

Soeding beschreibt die Märckerin als eine hervorragende Gesellschafterin, mit höfisch geprägten gesellschaftlichen Umgangsformen: „Ja, immer hatte sie Gäste im Haus, die kluge und schöne Märckerin; Verwandte, Bekannte, zahlreiche Geschäftsfreunde ihres Mannes. Sie liebte die Geselligkeit, die aus geistreichen Tischgesprächen bestand, aus Spaziergängen durch das liebliche Land und aus gemeinsamem Musizieren. Auch sie hatte ihre ‚Tafelrunde‘, und diese wurde bald zum geistigen Mittelpunkt der führenden Männer in der Grafschaft.“30

Gut Harkorten entwickelte sich nach der Einheirat der Märckerin zu einem gesellschaftlichen Mittelpunkt der Region, ja zu einer der Keimzellen der entstehenden frühbürgerlichen Gesellschaft des bergisch-märkischen Raumes. Gäste waren nicht nur durchreisende Handelspartner, sondern die benachbarte Kaufmannschaft, die örtlichen Pfarrherren und aufgeklärte preußische Verwaltungsbeamte wie der Freiherr vom Stein, der 1784 Direktor des Bergamtes in Wetter an der Ruhr wurde und die Entwicklung des Bergbaus und des Hüttenbaus in den westlichen Gebieten Preußens vorantrieb.31 Zu Besuch kam auch die Fürstäbtissin von Essen32 – bestehende soziale Kontakte pflegte die Märckerin kontinuierlich. Und als König Friedrich Wilhelm II. die Provinz Westfalen 1788 besuchte und sein Sohn in Hagen Aufenthalt nahm, wurden zwei Enkeltöchter der Märckerin ausgewählt, um diesen mit einem Blumenstrauß in seiner Unterkunft zu begrüßen.33So pflegte sie eine eigentliche Salonkultur in der preußischen Provinz – denn ein typisches Merkmal der Salons des ausgehenden 18. Jahrhunderts war, dass darin Standesgrenzen verschwammen: Adel und Bürgertum trafen unbeschwert zusammen. Die reibungslose Übernahme der Geschäfte nach dem Tod ihres Mannes lässt darüber hinaus darauf schließen, dass die Gespräche an den Gesellschaften nicht nur schöngeistig gewesen waren, sondern mit Sicherheit auch geschäftliche Themen betrafen.

Über die Erziehung der Kinder liegen kaum Quellen vor. Ellen Soeding betont die große Liebe der Märckerin zu ihren Kindern: „Diese Frau die ebenso klug wie umsichtig und energisch die Güter Harkorten und Schede verwaltete, die das Handlungsgeschäft und die Hammerwerke führte, als habe sie niemals etwas anderes getan, diese Frau war ihren Kindern gegenüber so zärtlich, so warm und voller Liebe, dass sie alle ihr Leben davon zehrten.“34

Davon zeugen insbesondere die wenigen erhaltenen Briefe der Märckerin an ihre Kinder.35 Zu den Pflichten der Märckerin als Mutter gehörte die Ausrichtung der Hochzeiten ihrer Kinder, wobei sie nicht an Kosten sparte. Gleichzeitig notierte sie jede Ausgabe akribisch, um sicherzustellen, dass alle Kinder gleichviel erhielten.36

Unternehmerische Wirksamkeit

1761 starb Johann Caspar III. überraschend an, wie die Quellen es bezeichnen, „Flussfieber37 und ließ neben seiner Witwe fünf unmündige Kinder im Alter zwischen zwei und acht Jahren zurück. Ihrem tiefen Schmerz gab Louisa in der Todesanzeige vom 12. Februar 1761 Ausdruck: „Es ist mir unmöglich, die Empfindungen des Jammers und des Schmerzes zu erklären, welche den 10ten Februaris des Abends um 9 Uhr meine Seele und mein Haus erfüllet haben. Die allerheiligste Vorsehung riss mir und meinen fünf unmündigen Kindern den Herrn Johann Caspar Harkort, diesen besten Ehegatten und zärtlichsten Vater, in dem 45sten Jahr seines Alters und in dem 13ten unser zufriedenen Ehe, nach einer langwierigen Schwachheit, durch den Tod von der Seite. Ich weiss, bey diesem, für mich und meine vaterlosen Waysen unersetzlichen Verlust mich mit nichts, als mit dem heiligen Willen des Ewigen und dem ungemeinen Glauben an den Heyland der Welt aufzurichten, womit mein würdigster Freund in den Genuss der Seligkeiten übergegangen ist.“38

Hatte sich ihr Mann bereits durch Unternehmensgeist ausgezeichnet,39 so stand ihm seine Witwe nun in nichts nach. Während der folgenden 34 Jahre führte sie das Unternehmen unter dem Namen „Johann Caspar Harkort Seelig Witwe“. Bis 1780 tat sie dies mit Unterstützung ihres Bruders Johann Friedrich Märcker und des Handlungsgehilfen Johann Caspar Wienbrack. Von 1780 bis zu ihrem Tod 1795 waren ihre beiden Söhne und sie zu gleichen Teilen Teilhaber und führten das Unternehmen gemeinsam als Compagnie-Handlung.40 Während dieser Jahre sicherte und mehrte sie mit großem unternehmerischen Erfolg Besitz und Vermögen ihrer Familie.

Dass sie die Handlung unter dem Namen ihres Mannes weiterführte, war durchaus üblich und zielte darauf, das Vertrauen der Kunden und Lieferanten in die Firma zu erhalten.41 Das Wort der „Wittib Harkort“ hatte Gewicht im Kreis der Verleger und Reidemeister an der Enneperstrasse in Westfalen.42 Dies ist nicht nur auf die einflussreiche Stellung der Familie Harkort zurückzuführen, sondern auch auf Person und Leistung von Louisa Harkort. Sie erhielt zwar Unterstützung von Bruder, Handlungsgehilfen und Söhnen – eine solche Hilfe fiel in einem Familienbetrieb aber auch einem männlichen Oberhaupt zu. Sie führte die Firma unbeschädigt durch den Siebenjährigen Krieg (1756-1763), wozu ihre guten Beziehungen zur Fürstäbtissin, die ihr einen Schutzbrief der Franzosen vermittelte, wodurch das Gut vor Plünderungen verschont blieb, nicht unwesentlich beitrugen.43 Sie leitete die Gutsverwaltung, baute den Export aus und legte neue Hämmer an. Das Unternehmen verfügte über drei Standbeine – den Handel, die Herstellung von Metallarbeiten im Verlagssystem sowie den Betrieb eigener Hammerwerke. Um alle drei Bereiche, sowie um die Vertretung der Interessen ihrer Berufsgruppe gegenüber der Regierung und um die Verwaltung ihres Gutes kümmerte sich die Märckerin mit Engagement.

Das Handelsgeschäft

Das Handelsgeschäft bildete den Haupterwerbszweig und die Quelle des wachsenden Wohlstands des Harkortschen Unternehmens. Dabei war der Handel eng verbunden mit der Produktion von Metallwaren und die Expansion des Handels im 18. Jahrhundert ging einher mit einer engeren Einbindung der Produktion in die Firma der Harkort.44 Der Schwerpunkt des Handels im ganzen 18. Jahrhundert lag im Export von märkischen Metallwaren wie Sensen und Messer in den Ostseeraum, vor allem nach Lübeck und Rostock, wo eigene Lager unterhalten wurden.45 Die Lübecker Geschäftspartner vermittelten die märkischen Metallwaren weiter nach Skandinavien und ins Baltikum. An weiteren Gütern wurden v. a. Lebensmittel und Luxuswaren gehandelt, oft wurden diese als Rückfracht von den Handelsplätzen der Nord- und Ostsee in die Grafschaft Mark importiert.46

Das Harkorter Handlungsgeschäft lieferte auf Anfrage alles, was bestellt wurde. Bestellt werden konnte, nach einer Zusammenstellung der Märckerin: „Ambosse! Axen und Beile, Nagelbohren, Friedbohren und Billancen, Caffeemühlen und Feuer Confoirs, Draht in allen Sorten … Feuerstähle, Fingerhüte und Nähringe, Feilen nach Steiermärker Art, Goldwaagen, Kuchen- und Waffeleisen, auch Tafelmesser aller Arten, Mundharpfen, Pfannen und Pulver, Sensen und Futterklingen aller Art, Baum- und Kerbsägen, Hand- und Spannsägen. Aller Arten von Schafscheeren, Heckenscheeren, Danziger Spaden und Schüppen, Schlösser, Schrittschuh, Schahl, metallene auch Compositionsschnallen, grosse Waagebalken und Winden. Geräthe für Zimmerleute als Hobels, Beitels und dergleichen.“47 Neue Artikel wie Kaffeemühlen, Waffeleisen oder Schlittschuhe wurden schnell ins Sortiment übernommen und von den Schmieden im Auftrag angefertigt.48 Ab 1770 kamen Wandkaffeemühlen und „Convoirs“ in Mode, eine Art Stövchen, um Kaffee und Tee auf dem Tisch warmzuhalten.49

Transportiert wurden die leichteren Handelsgüter über Land, die schwereren auf dem Wasser. Mut und Innovationskraft bewies die Märckerin, indem sie sich als eine der ersten an der Schiffbarmachung der Ruhr, die ab 1780 bis Herdecke schiffbar war,50 beteiligte. Da sie seit 1780 auf Gut Schede einen neuen großen Hammer betrieb, konnte sie bei dessen Roheisenversorgung über die Ruhr erhebliche Kosten sparen. Ab 1783 unterhielt sie mit dem Herdecker Kaufmann Bockmöller ein eigenes Schiff, das in den Sommermonaten zwischen Duisburg und Ruhrort verkehrte und die Harkorter Hammerwerke mit Eisen versorgte.51 Ruhrabwärts wurde Kohle transportiert. Die Organisation kostete viel Mühe. 1785 schrieb sie in einem Brief an ihren Schiffer: „Mein werter Herr Caspar! An den Unkosten muss gesparet werden, sonst wird mir die Wasserfahrt leid. Ich bemerke ungern, dass ich das Ein- und Ausladen noch bezahlen soll und die Schiffer nur müßige Zuschauer dabei sein sollen! Sodann soll ich auch Armengeld, Zollknechts-Geld und wer weiß wie viele Sachen noch bezahlen. Lieber Herr Caspar! Wir können uns beiderseits entbehren – aber auch nützlich sein. Lassen sie uns doch im Einverständnis bleiben. Ich gönne Ihnen zwar ihren Nutzen und habe ihnen ja die 6 Stüber, so die Schiffer in Cöln nach Wiesdorf geben müssen, zugekehrt… Lassen sie mir nun auch einen kleinen Vorteil, der mir gebühret für meine viele Mühe, die ich in der Sache habe.“52

Ab 1794 verlieren sich die Quellen, vermutlich war das Geschäft unrentabel. 1803 wurde das Schiff verkauft.53

Stand die Märckerin in allen bisher gezeigten Geschäftsbereichen ihren Mann bzw. ihre Frau, so musste sie in einem Bereich passen: bei den für die Firma so wichtigen Geschäftsreisen. Bei regelmäßigen Besuchen der Geschäftspartner pflegte man bestehende Kontakte, suchte und erschloss neue Absatzmöglichkeiten. In den 1760er Jahren unternahm der Bruder der Märckerin, Johann Friedrich, regelmäßig die Reisen nach Norddeutschland, ebenso der Handlungsgehilfe Wienbrack. In den 1780er Jahren wechselten sich die dann erwachsenen Söhne darin ab.54 Für Frauen schickte sich das Reisen nicht, ebenso delegierten auch häufig die älteren, männlichen Familienvorstände diese eher mühevolle Aufgabe an ihre Söhne.

Die Produktion von Metallwaren in den Hammerwerken

Der zweite wichtige Geschäftsbereich war die Metallwaren-Produktion, welche in der Zeit, als die Witwe Harkort das Unternehmen leitete, kräftig expandierte. Johann Caspar III. hatte fünf Hämmer besessen, 1780 betrieb die Witwe Harkort bereits acht Hämmer, die in allen drei Stufen des Verarbeitungsprozesses tätig waren: In der Herstellung von Rohstahl, bei der Anfertigung eines Vorprodukts sowie bei der Herstellung von Endprodukten.55 Kaum ein anderer Unternehmer betrieb im Amt Wetter mehrere Hammerwerke.

Die Märckerin kannte sich in ihrem Metier gut aus: So schrieb sie einem Stahllieferanten, dass sich sein Material nicht verschmieden lasse: „Sehen die Stahlkuchen glänzend aus, sind voller Christalle (Spalk oder Sprengel) und leicht brüchig, so sind sie streng im Schmelzen, geben harten Stahl und vertragen viel Zusatz. Fallen die Stahlkuchen dagegen ins Graue und wollen ungern beim Schlagen zerspringen, so schmieden sie sich zu weich und vertragen wenig Zusatz.“ 56 Zum Wachstumsschub der Firma trug bei, dass die Märckerin flexibel auf den Markt und die Nachfrage zu reagieren verstand und neue Produkte anbot und vertrieb. 1774 erweiterte sie ihr Angebot an Sensen um ein steiermärkisches Modell,57 nachdem ihr nach einer Weile der Erprobung die richtige Herstellung geglückt war. Die steirischen Ganzstahl-Sensen waren von besserer Qualität als die märkischen Sensen, bei denen nur die Schneiden verstählt wurden.58 Bereits im folgenden Jahr lieferte sie allein nach Petersburg 1.300 Stück steirische Sensen.59 Da das Unternehmen einen steten und hohen Bedarf an gutem Rohmaterial hatte, wurde nach neuen Lieferanten permanent Ausschau gehalten, und bei Bedarf auch sofort gewechselt. Selbst einem wichtigen Lieferanten in der Bendorfer Hütte bei Koblenz drohte die Märckerin im Mai 1784 angesichts einer Preiserhöhung unverhohlen mit dem Wechsel zur Konkurrenz: „Wenn auch das Eisen gut ist, so kann selbiges doch auch zu hoch im Preis werden. Dieß ist ietzo so, daß ich mich sehr irren müste, wenn deßen ietzo aus hiesiger gegend viel zu dem neuen Preise sollte bestellet werden, zumahl da sich ietzo zu Ründerorth ein gantz neues äußerst ergiebiges und vielversprechendes Bergwerck gefunden hat.“60

Ihr Umgangston mit Rohwaren-Lieferanten und Produzenten auf den Hämmern war durchaus resolut. Soeding beschreibt sie als klug, umsichtig und energisch.61 Unter ihrer Führung wuchs die Zahl der für die Harkortsche Firma tätigen Handwerker: Zu Beginn der 1790er Jahre waren 296 Kleinschmiede für die Compagnie-Handlung im Verlagssystem tätig,62d. h. sie verarbeiteten das vom Unternehmer gelieferte Rohmaterial zu dem von ihnen festgesetzten Preis. Dies weist auf die große Bedeutung der Harkortschen Fabriquen für die Bevölkerung der Mark hin. Die Witwe Harkort und ihr Sohn wurden von den übrigen Hammerwerksbesitzern denn auch immer wieder als Deputierte gewählt, um die Interessen der Unternehmer gegenüber der preußischen Regierung wahrzunehmen.63

So setzte sie sich gegenüber dem König für die Werbefreiheit ein, wovon ein Brief zeugt, in dem sie sich 1763 bei ihrem Geschäftspartner Hülsenbeck in Rohstock für eine verspätete Warenlieferung entschuldigt. Viele ihrer Arbeiter seien in die Armee abgeworben worden und die Hammerwerke standen ohne Schmiede da. „Anjetzowürden schon alle für Euch bestimbte Waaren unterwegens seyn, wan nicht die diesen gantzen Winter betriebene rogorense Königl Werbungen der F[abrique] einen abermahligen Stoss beygebracht, indem nicht allein sehr viele Fabric[anten] enrollieret, sondern auch viele aus den Landen gewichen, und noch jetzo ist man unsicher. Gegenwärtig sind wir hier darüber aus, von S[einer] K[öniglichen] M[äjestät] die werbefreiheit wenigstens für die Fabriq[ue] zu suchen. Hoffnung haben wir, solche zu erhalten. Wan darunter nicht reussiren, so ist es binnen Wochen um hiesige Gegenden geschehen.“64 1776 wurde die Frau Wittib Johann Caspar Harkort zusammen mit Johann Heinrich Elbers zu Hagen und Johann Heinrich Fischer von den Reidemeistern, Sensenfabrikanten, Amboß-, Reck- und Breitschmeiden des Gerichts Hagen an erster Stelle als Deputierte bevollmächtigt, sich für die Werbefreiheit und Beibehaltung der Holzkohlepreise einzusetzen.65

In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zeichneten sich Veränderungen ab: Neben den wichtigsten Handelsdestinationen Lübeck und Rostock, wo die Firma eigene Warenlager unterhielt, große Mengen von Messern, Sensen, Schneidemessern, Stahl und Pulver, breite Waren (Pfannen, Sägen) und kurze Waren sowie Kleineisenprodukte (Nägel, Nadeln, Waagen) absetzte, trat zunehmend der Handel mit kleineren Städten in Schleswig und Holstein, in Mecklenburg-Schwerin oder Pommern. Die Harkorts lieferten vermehrt direkt an die dortigen Kaufleute, die die Produkte den Endabnehmern verkauften: Die Handelskette wurde somit verkürzt und Kundenwünsche konnten vermehrt abgefragt und damit auch umgesetzt werden. In der Firma führte diese Entwicklung zur Konzentration auf einige wenige Produktegruppen. In den 1790er Jahren wurden nur noch Sensen und Stahl nach Lübeck geliefert.66 Diese Beschränkung auf wenige Produkte bewirkte eine Annäherung der Firma an die Produktionssphäre, ein Weg, der im 19. Jahrhundert von den Harkorts mit der Errichtung der Maschinenfabrik in Wetter 1819, des Puddelwerks 1837 und der Gießerei und Maschinenfabrik 1839, in der nach 1842 erstmals der Einsatz von Dampfmaschinen bezeugt ist, weiterverfolgt wurde.67

Diese Entwicklungen, die auch für andere zeitgenössische Unternehmen belegt sind, sprechen für einen intuitiven Geschäfts- und Unternehmerinnensinn der Märckerin. Der relativ späte Zeitpunkt, zu dem sie ihre Söhne als gleichberechtigte Partner in die Compagnie-Handlung aufnahm – Johan Caspar zählte 27 Jahre, Peter Niclas 25 Jahre und sie selbst bereits 62 Jahre –, lässt auch darauf schließen, dass sie an der Geschäftstätigkeit durchaus Spaß hatte und das Erbe ihres Mannes nicht bloß verwaltete und für ihre Söhne sicherte.

Nach der Französischen Revolution begann sich ein europaweiter Krieg anzukündigen. Die Märckerin packte im Herbst 1794 einige Kisten von Wertsachen, Silber und Kleidern, um sie nach Lübeck zu verschicken.68 Im Frühjahr darauf starb sie im März im Alter von 76 Jahren. Das Vermögen wurde zu gleichen Teilen an alle fünf Kinder vererbt; die beiden Brüder führten die Handlung bis 1810 gemeinsam weiter. Dann trennten sie sich und Peter Niclas zog auf Gut Schede.69

Gründe für ihren unternehmerischen Erfolg

Louisa Catharina Harkort führte das Unternehmen mit Erfolg, Weitsicht, großer Selbstverständlichkeit, und genoss unter ihren Geschäftspartnern hohes Ansehen. Die Gründe für ihren unternehmerischen Erfolg sind mehrere. Zum einen war mit dem Fideikommiß von 1732 ein Rahmen geschaffen worden, der das Unternehmen zusammenhielt: Die Märckerin verwaltete nach dem Tod ihres Mannes die Firma, um sie ihrem ältesten Sohn zu erhalten. Familie und Firma bildeten in den vorindustriellen Handelshäusern eine unauflösbare sozial-ökonomische Einheit. Die Geschäftspartner blieben als Gäste im Haus, die Heiratspartner kamen zumeist aus Kaufmannsfamilien und waren mit dem Geschäft vertraut. So hatte bereits die Ehefrau von Johann Caspar Harkort I., Ursula Catharina Hobrecker, die Handlung während der winterlichen Geschäftsreisen ihres Mannes geleitet und nach seinem Tod im Jahre 1714 während acht Jahren alleine geführt.70 Auch die Schwägerin der Märckerin, Helena Margaretha Harkort (1710-1800), eine ältere Schwester Johann Caspar Harkorts III., die 1731 den aus Lennep stammenden Tuchfabrikanten Johann Christian Moll (1702-1762) geheiratet hatte,71 führte nach dem Tod ihres Mannes 1762 das Unternehmen in Hagen während Jahrzehnten; die Familien beider Frauen standen in regem Kontakt.72

Zweitens verfügte Louisa Catharina Harkort über ein bedeutendes unternehmerisches Geschick und fachliches Knowhow, welches vergrößert wurde durch ihre Bildung, ihr Auftreten und die sozialen Kontakte, über die sie aufgrund ihrer Erziehung am fürstlichen Hof in Essen verfügte. Drittens sind die zeitgenössischen Sozialstrukturen sowie die Verfassung der Grafschaft Mark zu erwähnen: Allgemein prägte die Schichtzugehörigkeit Leben und Handeln im 18. Jahrhundert noch stärker als die Geschlechtszugehörigkeit.

Im Besonderen ist zudem die Verfassung der Mark, von Kirchspiel und Gericht Hagen und der Gemeinde Westerbauer, in der Gut Harkorten lag, anzuführen.73 Die Harkorts amteten hier seit dem 17. Jahrhundert als gewählte Rezeptoren, die die Steuern nach den Umlagequoten einzogen, die auf den Versammlungen der freien Einwohner, den Erbentagen, beschlossen wurden. Sie verwalteten auch das genossenschaftliche Markenerbe und das Schulkapital und übernahmen eine Sprecherrolle in der regionalen Wirtschaftspolitik. Gegenüber der staatlichen Obrigkeit vermochten sie ihre Interessen nicht nur zu artikulieren, sondern konnten sie auch durchsetzen. Diese Voraussetzungen und Strukturen prägten auch Spielraum und Wirkungsfeld der Märckerin: Denn Frauen und Witwen waren in Unternehmen in ganz Europa zu dieser Zeit kaum vertreten.74

Um 1800 begann der Übergang von der Ständegesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft, die Industrialisierung setzte ein und bewirkte eine verstärkte Trennung von Arbeits- und Wohnraum. Im Zuge dieses Wandels bildeten sich geschlechtsspezifische Rollenvorstellungen und Arbeitsteilungen heraus, die standesübergreifende Geltung beanspruchten und einforderten.75 Dadurch profitierte die Demokratisierung der Gesellschaft. Gleichzeitig wurde damit aber auch der Spielraum beschränkt, der Frauen aus führenden sozialen Schichten vor 1800 noch offen gestanden hatte.

Dr. Alexandra Bloch Pfister, Münster

Literatur:

Alexandra Bloch Pfister, Louisa Catharina Märcker. Eine großbürgerliche Unternehmerin aus dem 18. Jahrhundert, in: Ellerbrock, Karl-Peter und Tanja Bessler-Worbs (Hg.): Industriepioniere, Wirtschaftsbürger und Manager. Historische Unternehmerpersönlichkeiten aus dem Märkischen Südwestfalen, Dortmund 2007, S. 57-61 (= Gesellschaft für Westfälische Wirtschaftsgeschichte v.V., Kleine Schriften H. 32)

Alexandra Bloch Pfister, Louisa Catharina Harkort (1718-1795) – die Märckerin. In: Märkisches Jahrbuch für Geschichte, Bd. 112. Dortmund 2012, S. 66-88.

Zitation: Alexandra Bloch Pfister, Louisa Catharina Märcker. Eine großbürgerliche Unternehmerin aus dem 18. Jahrhundert, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/louisa-catharina-harkort-geborene-maercker/

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Marianne Kaiser

Auf ins Ruhrgebiet

In den 1960er-Jahren folgten Frauen ihren Ehemännern dorthin, wo sich für ihn berufliche Perspektiven eröffneten. Das galt auch für die meisten Studentenpaare. Als der Historiker Hans Kaiser als Assistent seines Professors 1967 an die Historische Fakultät der neu gegründeten Ruhr-Universität Bochum (RUB) wechselte, zog auch Marianne Kaiser mit ins Ruhrgebiet. Sie erinnert den Umzug von der traditionsreichen Universitätsstadt Göttingen in das Ruhrgebiet als Schock. Zwar kannte sie Industriewerke aus ihrem Heimatdorf Langelsheim und aus Goslar, wo sie ihr Abitur absolviert hatte, auch Bergbau gab es dort: „Aber dass die Schwerindustrie in der Region derart schmutzig und übel riechend war und den städtischen Raum derart dominierte, war mir fremd und zuwider. Und dass die Städte völlig unübersichtlich ineinander wucherten, machte mich hilflos.“ Sie wohnte in Bochum-Querenburg auf einer Baustelle und schaute auf das Opel-Werk. Es bedrückte sie, wie erbärmlich die Natur in der Region litt. In ihrem bisherigen Umfeld stieß sie auf Mitleid, dass es sie in diese unwirtlichste Region der Bundesrepublik verschlagen hatte.

Marianne Kaiser sollte sich zu einer kritischen Beobachterin des Strukturwandels im Ruhrgebiet entwickeln, den sie auch mitgestaltete. Der setzte mit der entstehenden ersten Universität der Region und dem neu angesiedelten Automobilwerk vor ihren Augen gerade ein. In der Erwachsenenbildung tätig, trug Marianne Kaiser zu dem Wandel von der Montan- zur Wissensgesellschaft bei.

Kindheit, Jugend, Studium

Als Marianne Krause 1940 in Rostock geboren, rechnet sie sich zu den Kriegskindern. Sie wuchs in Berlin in einer kleinbürgerlichen Familie auf. Wegen zunehmender Luftangriffe auf die Stadt wurde sie mit ihrer Mutter 1943 zu Verwandten nach Treseburg/ Ostharz evakuiert. Ende 1944 kehrte der Vater dorthin mit einer doppelten Beinamputation von der Ostfront zurück. Als im Sommer 1945 amtlich wurde, dass der Ostharz Teil der sowjetischen Besatzungszone werden würde, fürchtete die Familie Vergeltungsmaßnahmen von russischer Seite und flüchtete in die britische Besatzungszone. Die Flüchtlinge wurden in das Dorf Langelsheim nahe Goslar/ Harz eingewiesen. Es blieb fortan Wohnsitz. Der Vater baute mit seinem Auto einen Mietwagen-Betrieb auf. Beide Eltern wurden 1948 Mitglied der im Ort starken Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Die Tochter ging zu deren Jugendorganisation, den „Falken“. Aktuelle Politik war Gesprächsthema in der Familie.

Angesichts der Schulleistungen seiner Tochter bestand der Vater darauf, dass sie das Mädchengymnasium in Goslar besuchen und später studieren sollte. Die Mutter hingegen hielt für ihre Tochter die Mittlere Reife, temporäre Berufstätigkeit und anschließende Familiengründung für angemessen. Die Entscheidungsbefugnis in Familienangelegenheiten aber lag damals, und laut Bürgerlichem Gesetzbuch, BGB, rechtlich bis 1976 beim Vater und dessen „Letztendscheid“. 1960 bestand Marianne das Abitur. Wertschätzend erinnert sie sich an ihre Klassenlehrerin in der Oberstufe, Fächer Latein und Geschichte. Diese Lehrerin las mit ihren Schülerinnen bereits in den 1950er-Jahren Dokumente zum Nationalsozialismus, organisierte eine Klassenfahrt zum Anne-Frank-Haus. Sie behandelte im Unterricht die Geschichte der Frauenbewegung, insbesondere ihre Forderungen nach Gleichberechtigung, befürwortete die berufliche Eigenständigkeit von Frauen und lebte frauenbezogen, wie Marianne Kaiser viele Jahre später zufällig erfuhr. Zu Hause hingegen erhob der Vater Einspruch dagegen, als die Mutter wieder berufstätig werden oder ein politisches Amt übernehmen wollte. Er verfocht die Hausfrauenehe, was der Tochter angesichts des politisch offenen Klimas in der Familie nicht einleuchten wollte: „Anfangs war es für mich eine Herausforderung, die unterschiedlichen politischen Orientierungen und Wertvorstellungen im Elternhaus und in der Schule zu begreifen und mich dazwischen zu bewegen.“

Die Klassenlehrerin schlug die begabte Schülerin als Stipendiatin bei der „Studienstiftung des deutschen Volkes“ vor. Marianne Krause wurde angenommen. Sie begann, in Göttingen Deutsch und Englisch zu studieren, mit dem Ziel, Studienrätin an höheren Schulen zu werden. In diesem Beruf ließe sich, so ihre Überlegung, Beruf und Familie vereinbaren. Für eine Studentin aus kleinbürgerlichen Verhältnissen in den 1960er-Jahren, so Marianne Kaiser im Gespräch, war der Widerspruch zwischen intellektuellen Begabungen, wissenschaftlichem Interesse und erfüllender dauerhafter Berufstätigkeit auf der einen Seite und dem Druck, die weibliche Rolle in Ehe und Familie auszufüllen auf der anderen Seite, allgegenwärtig: „Wir jungen Frauen hatten die gesellschaftlichen Rollenzuweisungen doch selbst verinnerlicht!“ Persönlich erlebte sie in der Folge diesen Widerspruch als nicht lösbar und gab 1974 den Wunsch der Familiengründung nach ihrer Scheidung und nach einer Krebserkrankung auf.

1965 orientierte sie sich um: In der sich gerade akademisierenden Erwachsenenbildung taten sich neue Berufsmöglichkeiten auf. Denn im Kontext der Bildungsreform wurde erwachsenenbildnerische Tätigkeit zum ersten Mal als disponierende Vollzeitaufgabe konzipiert. Trotz absolviertem „Pädagogikum“ samt Schulpraktika entschied sie sich gegen das Staatsexamen und für eine Promotion als Studienabschluss. Sie forschte zum protestantischen deutschen Schultheater in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, indem sie Dramen in ihre historischen Kontexte stellte und als Antwort auf gesellschaftliche Probleme – hier den vordringenden Absolutismus und dessen Bildungsideale – interpretierte. Das war ein neuer Ansatz in der Barockforschung. Die später in einem renommierten Wissenschaftsverlag publizierte Dissertation trug den Titel: „Mitternacht. Zeidler. Weise. Das protestantische Schultheater im Kampf gegen Absolutismus und höfische Kultur.“ Die Promotion erfolgte 1970.

1965 heiratete Marianne Krause den Historiker Hans Kaiser. Ihr Stipendium endete, aber ökonomisch war sie durch die Ehe abgesichert und sie unterstützte ihren Mann bei der Fertigstellung seiner Dissertation 1969. Die Konzentration auf ihre eigenen Forschungen geriet dabei zeitweilig ins Hintertreffen, zumal auch der Umzug nach Bochum 1967 viele neue Erfahrungen eröffnete. Sie beteiligte sich wie ihr Mann an den Reformbestrebungen der Studentenbewegung an der RUB, war jedoch – anders als er – nicht Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Gleichwohl sympathisierte sie mit den Anliegen der Frauen im SDS und dem historischen „Tomatenwurf“1 auf die patriarchalen „Eminenzen“ der Studentenbewegung. 1968, als im studentischen Milieu der RUB über Klassenkampf und Revolution diskutiert wurde, verließ sie die „Basisgruppe Germanistik“ und wurde an der Volkshochschule (VHS) Bochum Kursleiterin für das Fach „Literatur“ im Grundstudienprogramm. Der dafür verantwortliche Fachbereichsleiter machte sie 1970 darauf aufmerksam, dass an der VHS Gelsenkirchen die Stelle des Leiters des Fachbereichs „Gesellschaft und Politik“ frei wurde. Sie bewarb sich und sollte, bis auf einen Abstecher in die hessische Weiterbildungslandschaft zwischen 1974 und 1977, diesen Fachbereich an der VHS Gelsenkirchen bis zum Jahre 2000 prägen. „Ich galt als eine Frau in einem Männerberuf. Damit lernte ich umzugehen.“

In den 1970er-Jahren: Eine Frau in einem Männerberuf

Am Ort fand sie 1970 eine tragfähige Angebotsstruktur für Erwachsene und Jugendliche vor. Zum VHS-Fachbereich „Gesellschaft und Politik“ gehörte die örtliche Arbeitsgemeinschaft „Arbeit und Leben“ (DGB/VHS), eine nach 1945 von Deutschem Gewerkschaftsbund (DGB) und den Volkshochschulen institutionalisierte Kooperation. „Arbeit und Leben“ suchte durch politische Bildung demokratische Willensbildung in der Gesellschaft zu fördern sowie, der Name ist Programm, soziale Gerechtigkeit und Solidarität als Grundlagen für Arbeit und Leben zu stärken. Für die Erwachsenen gab es bei der VHS Internatskurse und Gesprächskreise zu gesellschaftlich aktuellen Themen wie Chancengleichheit, Kalter Krieg, Antiautoritäre Erziehung u.a. Von 1970 bis 1973 war Marianne Kaiser dabei auch zugleich Jugendbildungsreferentin. Teilnehmende im Jugendbereich waren OberschülerInnen und Lehrlinge, die meistens aus Arbeiterhaushalten kamen. Die VHS pflegte in Weiterführung der Weimarer Bildungsvorstellungen demokratische Formen der Mitwirkung bei Wochenendseminaren und Kursen, ein Kreis von „Teamern“ gestaltete mit der Leitung gemeinsam die Programmplanung und die Kurse.2

Ab 1977 war sie dann nur noch für den Bereich der Erwachsenen zuständig. Dass in der VHS die Teilnehmenden nur auf freiwilliger Basis kamen, machte für Marianne Kaiser immer den besonderen Reiz dieser Arbeit aus, denn dies bedeutete einen ständigen Austausch zwischen Teilnehmenden und Kursleitungen sowie eine permanente Entwicklung neuer Angebote im Kontext zeitspezifischer gesellschaftlicher Problemlagen und Lernbedürfnisse.

Lernen in der VHS

Die Volkshochschule bot auch der Erwachsenenbildnerin selbst anfangs ein besonderes Lernfeld: Allmählich erschlossen sich Marianne Kaiser durch ihre Arbeit die Strukturen der zunächst als unwirtlich erfahrenen Stadt mit ihrer politischen Vorderbühne, der Hinter- und Unterbühne: das Selbstverständnis der Gewerkschaften und der Parteien, die wirtschaftlichen und kommunalpolitischen Gegebenheiten.

Nach dem Ende der Zeche „Graf Bismarck“ im September 19663 – für viele im Ruhrgebiet ein Fanal – hatte nicht nur in Gelsenkirchen die Einsicht zu wachsen begonnen, dass man nicht in einer konjunkturabhängigen Kohlekrise steckte, sondern am Anfang vom Ende des Kohlenzeitalters stand: 4 „Gelsenkirchen darf kein Armenhaus werden“, lauteten die Transparente auf den Demonstrationen.

Die zugezogene Erwachsenenbildnerin erfasste, wie sehr die Stadt politisch von der SPD und den Gewerkschaften geprägt war, die ihr Hauptziel angesichts der Krisen von Kohle und Stahl darin sahen, Arbeiterinteressen zu verteidigen. Sie nahm wahr, wie tief der montanindustrielle Komplex die patriarchale Struktur der Ruhrgebietsgesellschaft bestimmte und die Rolle der Frauen im Modell Ernährerlohn/ Zuverdienst festschrieb. Sie erfuhr, wie wichtig es für die Familien war, Arbeitsplätze und gute Bildungschancen für die Kinder zu sichern. Sie erlebte das Ansehen, das Willy Brandt mit seiner neuen Ostpolitik in der Stadt erfuhr.

1971 wurde sie Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), wechselte dann 1977 zur Gewerkschaft für den öffentlichen Dienst (ÖTV). Sie trat auch der SPD bei, weil sie Willy Brandts Forderung „Mehr Demokratie wagen“ überzeugte, verließ aber die Partei wieder, aus Protest gegen die Politik der Berufsverbote. Denn sie hatte in der Bildungsarbeit in Gelsenkirchen Kommunisten kennen gelernt, die sie als Personen beeindruckt hatten, und war der Auffassung, dass man sich mit ihnen inhaltlich auseinandersetzen müsste, ohne ihre Existenz zu gefährden. Ihr politisches Engagement galt von da an vor allem der Gewerkschaftsarbeit.

Auch die beruflichen Kontakte, die sie zur „Literarischen Werkstatt Gelsenkirchen“ im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ unterhielt, halfen der eingewanderten Literaturwissenschaftlerin, die Geschichte, die Mentalität und den Habitus der Menschen im Ruhrgebiet mit ihrem direkten, manchmal drastischen Ton zu verstehen. Und allmählich gewöhnte sie sich auch an die Industrielandschaft.

Blütezeit der Weiterbildung

Marianne Kaiser fand in den 1970er-Jahren in Gelsenkirchen ein besonderes Klima für die Erwachsenenbildung vor: Dr. Ulrich Jung, seit 1970 Leiter der VHS Gelsenkirchen, gehörte zu den zentralen Akteuren des nordrheinwestfälischen Weiterbildungsgesetzes von 1975. Dieses etablierte die Weiterbildung zum ersten Mal in der Bildungsgeschichte der alten Bundesrepublik als „vierte Säule“ des Bildungswesens.5Damit entwickelte sich eine Perspektive, die Weiterbildung als dauerhafte, permanente, altersunabhängige und unabgeschlossene Aufgabe für alle festschrieb. In der Stadt Gelsenkirchen war man sich einig darüber, dass eine so konzipierte Weiterbildung für die Bewältigung der wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Transformation eine hohe Priorität besaß.

1972 entstand in Gelsenkirchen mit Mitteln der Strukturförderung des Landes ein neues Gebäude für die Volkshochschule, das „Bildungszentrum“. Seine markante Lage in der Stadt gegenüber dem Musiktheater setzte die gewachsene Bedeutung der Weiterbildung stadtplanerisch um und übertrug die zeitgenössische wissenschaftliche Diskussion, Weiterbildung für alle gut und zentral erreichbar zu gestalten, im Rahmen des Gelsenkirchener Stadtumbaus geradezu mustergültig. In diesem für Weiterbildung positiv gestimmten Umfeld entwickelte Marianne Kaiser von 1977 an bis zu ihrem dienstrechtlichen Ausscheiden aus der VHS im Jahre 2000 langjährig die Arbeitsschwerpunkte Frauenbildung, Stadtgeschichte, Perspektiven des Strukturwandels, Ost-West-Thematik, Europäische Integration.

Frauenbildung

1971 bot Marianne Kaiser im VHS-Programm zum ersten Mal einen Gesprächskreis „Politik für Frauen“ an, zu dem es ab 1973 auch ein Kinderbetreuungsangebot gab. 1972 hatte der Deutsche Gewerkschaftsbund auf Initiative der Gewerkschaftsfrauen das „Jahr der Arbeitnehmerin“ ausgerufen, in einer Zeit, als in Deutschland Vollbeschäftigung herrschte und die Industrie auf eine zunehmende Einbeziehung von Frauen in den Arbeitsmarkt drängte. Das „Jahr der Arbeitnehmerin“ sollte einerseits für Diskriminierung sensibilisieren, andererseits zielte es auf die Verbesserung von Lebens- und Arbeitsbedingungen durch Erhöhung weiblicher Bildungschancen, Lohngleichheit und eine vom Mann unabhängige Rentenversicherung als politische Ziele.6

Über diese Fragen wurde auch in der VHS diskutiert. Dies geschah unabhängig von den Aktivitäten der „autonomen“ Frauenbewegungen, die sich um 1968 formierten, doch zeitgleich in einer gesellschaftlichen Situation, in der vieles in Bewegung geriet. Das Thema der Lohndiskriminierung gewann dann in Gelsenkirchen einige Jahre später große Bedeutung.

„Wir wollen gleiche Löhne – keiner schiebt uns weg!“

Als politische Weiterbildnerin und Gewerkschafterin wurde Marianne Kaiser dabei eine Akteurin in einem berühmten Arbeitsprozess der Bundesrepublik um „Gleichen Lohn für gleiche Arbeit“: Das Ruhrgebiet hatte nicht nur Arbeitsplätze in der Montanindustrie. Als dicht besiedeltes Gebiet stellte es auch ein großes Reservoir an weiblichen Arbeitskräften für die Konsumgüterindustrie und den Dienstleistungssektor bereit. So siedelten sich nach dem Krieg im Raum Gelsenkirchen, Wattenscheid, Recklinghausen Firmen der Bekleidungsindustrie an und kalkulierten mit den Frauen und Töchtern der Bergleute und Hüttenarbeiter als Arbeitskräfte sowie dem finanziell starken Absatzmarkt Ruhrgebiet.7 Später folgte die Elektroindustrie und Firmen wie die „Fotobetriebe Heinze“, die über Nacht Urlaubsfotos entwickelten und damit warben, dass die Farbbilder mit Datumsangabe auf der Rückseite entwickelt wurden. Damit reagierten sie auf ein doppeltes Konsumbedürfnis: Auf die sich entfaltende Reisewelle und die sich massenkulturell ausprägende Disposition, diese Reisen auch fotografisch festzuhalten. 1978 wurde deshalb bei Heinze im Laborbetrieb die Nachtarbeit eingeführt. Und zum ersten Mal stellte die Geschäftsleitung in dieser bisher nur mit Frauen besetzten Abteilung auch Männer ein.

Alle machten die gleiche Arbeit und waren in der gleichen niedrigen Lohngruppe. Die Männer erhielten dabei aber, zusätzlich zu ihrer tariflichen Nachtzulage, eine außertarifliche Zulage, die ihren Grundlohn im Schnitt um 25 Prozent erhöhte. Als diese Praxis bekannt wurde, verlangten die Frauen eine Gleichbehandlung. Der Arbeitgeber bestand auf seiner Vertragsfreiheit, der Betriebsrat strebte zunächst Verhandlungen an. Dazu organisierte er vorab eine Belegschaftsversammlung mit der DGB-Kollegin Marianne Kaiser als Referentin zum Thema „Lohngleichheit“. Alles blieb ohne Erfolg. Deshalb gab es danach außerhalb der Arbeitszeit Treffen der Frauen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Marianne Kaiser war als Gast dabei und sie bot im Rahmen von „Arbeit und Leben“ Seminare als begleitende politische Weiterbildung an, als sich abzeichnete, dass 29 der Frauen ihre Forderung auf gleiche Zahlung der außertariflichen Zulage auch vor Gericht einklagen wollten.

Anfang 1979 gaben sie ihre Klage vor dem Arbeitsgericht Gelsenkirchen wegen Verstoßes gegen das Gleichbehandlungsgebot nach EU-Recht bekannt. Im Sinne betriebsnaher Bildungsarbeit wurden die anstehenden rechtlichen Fragen des Prozesses von da an in den Seminaren in Kooperation mit der Gewerkschaft IG Druck und Papier behandelt.

Mit ihren gewerkschaftlichen und beruflichen Kontakten trug Marianne Kaiser im Frühjahr dazu bei, dass das Anliegen der Arbeitnehmerinnen in die örtlichen Öffentlichkeit(en) getragen wurde. Die Klage fand großes Interesse in den Medien, gewerkschaftliche Frauenausschüsse, Betriebsräte, parteilich und religiös gebundene sowie autonome Frauenbewegungen solidarisierten sich. Nach Marianne Kaisers Wahrnehmung nahmen sich gewerkschaftliche und autonome Frauenbewegung in diesem Prozess zum ersten Mal offen und konstruktiv zur Kenntnis. Die Lohnungleichheit empörte auch diejenigen, die ihr Selbstverständnis in der autonomen Frauenbewegung entwickelt hatten, und die Gewerkschaftskolleginnen räumten ein, dass an der Kritik der autonomen Frauen am „Patriarchat“ gerade im Ruhrgebiet etwas Wahres dran sein könnte.8 Dem Sieg der Frauen vor dem Arbeitsgericht vor Ort im Mai 1979 folgte im September die Niederlage vor dem Landesarbeitsgericht in Hamm, das aber eine Revision vor dem Bundesarbeitsgericht in Kassel zuließ.

Noch während der Rückfahrt von Hamm entschieden sich die Frauen, mit Unterstützung ihrer Gewerkschaft und des lokalen Gelsenkirchener Netzwerkes vor das Bundearbeitsgericht nach Kassel zu gehen. Der Prozess dort fand zwei Jahre später im September 1981 statt. In der langen Zeit zwischen den Prozessen zog die öffentliche Resonanz zur Unterstützung der Kolleginnen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene immer weitere Kreise. Marianne Kaiser wirkte daran mit.

Begleitend zu den beiden ersten Gerichtsterminen hatten die Seminare bei „Arbeit und Leben“ in Kooperation mit der IG Druck und Papier stattgefunden. Dort war neben rechtlichen Aspekten auch zur Sprache gekommen, wie die Frauen den Verlauf ihrer Klage persönlich erlebten. Dabei waren Tonbandaufnahmen von den Diskussionen gemacht worden. Die Klage vor dem Bundesarbeitsgericht in Kassel hatte grundsätzliche Bedeutung und brachte für die Gelsenkirchener Arbeiterinnen aus „kleinen Verhältnissen“ gänzlich neue Erfahrungen. Sie mussten lernen, in einer medialen Öffentlichkeit zu stehen.

„Frauen sind keine Heinzelmänner“

Das in den Weiterbildungsseminaren aufgezeichnete Tonmaterial und andere Dokumente hatte Marianne Kaiser in Absprache mit den Kolleginnen und in Kooperation mit der IG Druck und Papier zu einem Manuskript verarbeitet.

Der Text sollte als Arbeitsmaterial für die weitere gewerkschaftliche Bildungsarbeit dienen. Doch dann kam ihr die Idee, es dem Rowohlt-Verlag für seine Reihe „Frauen aktuell“ anzubieten, was die prozessierenden Frauen billigten. Die Dokumentation wurde angenommen: „Wir wollen gleiche Löhne“ erschien 1980 und stellt heute eine wichtige Dokumentation zur Frauenbewegung der Bundesrepublik dar.

Angeregt durch das Buch entstand das Theaterstück im Auftrag der Ruhrfestspiele in Zusammenarbeit mit dem mobilen Rhein-Main-Theater „Frauen sind keine Heinzelmänner“, das 1980 Premiere in Gelsenkirchen hatte und danach im Festspielhaus am 1. Mai aufgeführt wurde.

1981 organisierte Marianne Kaiser mit, dass aus Gelsenkirchen vier Busse nach Kassel fuhren zu einer Großveranstaltung der Gewerkschaft Druck und Papier mit dem Motto „Solidarität mit den Heinze-Frauen“, die der Gerichtsverhandlung in Kassel einige Tage vorgeschaltet war und bundesweit für Aufmerksamkeit sorgte. Auch bei dem Prozess selbst am 9. September 1981 war sie wieder dabei. „Du hast uns immer bestärkt!“ dankten ihr die Kolleginnen noch Jahre später.

Der 5. Senat des Bundesarbeitsgerichtes gab den Klägerinnen Recht! Auch das Bundesarbeitsgericht bezog sich dabei auf Artikel 119 der Römischen Verträge, gleichsam das Gründungsdokument der Europäischen Union, in dem bereits der Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit festgeschrieben worden war.9 Das Urteil sollte Signalwirkung entfalten. Für die „Heinze-Frauen“ selbst blieb allerdings nur als Genugtuung, Recht bekommen zu haben. Denn kurz nach dem gerichtlichen Sieg stand die Firma Heinze vor der Insolvenz und konnte nicht zahlen. Für Marianne Kaiser zählt der Prozess „zu den wichtigsten Stationen meines Lebens. Er ist zu Recht in die Geschichte der Stadt und des Ruhrgebiets eingegangen.“

Gesellschaftlicher Wandel durch Bildungsangebote

1975 wurde nicht nur von der UN das „Jahr der Frau“ als Start für die „Dekade der Frau“ ausgerufen, sondern die Bewegungen gegen den § 218 intensivierten sich, nachdem das Bundesverfassungsgericht die 1974 vom Bundestag angenommene „Fristenregelung“ für verfassungswidrig erklärt hatte. Im Rahmen der allgemeinen frauenpolitischen Aufbrüche wuchsen in der VHS die Angebote für Frauen. Frauengesprächskreise, Tagesseminare, Wochenseminare fanden breite Resonanz bei Frauen, die in Erwerbs- und Hausarbeit standen. Türkische Frauen zeigten sich an Gesprächskreisen interessiert. Sie fühlten sich alle im Sinne des Mottos „Frauen können mehr“ angesprochen. Die begleitende Kinderbetreuung bei mehrtägigen preiswerten Seminaren von „Arbeit und Leben“ machte diese zusätzlich attraktiv. Die Teilnehmerinnen an den Frauenbildungsangeboten insbesondere bei „Arbeit und Leben“ kamen überwiegend aus dem Arbeiter- und Angestelltenmilieu und waren kaum mit den neuen Frauenbewegungen in Berührung gekommen. Dagegen hatten die zahlreichen Kursleiterinnen zumeist studiert und kannten Positionen der alten, der neuen wie auch der autonomen Frauenbewegungen.

Als wichtig erwies sich die Kontinuität der Angebote, für die das Weiterbildungsgesetz von 1975 die Strukturen sicherte, denn so wurden längerfristige Bewusstwerdungs- und Entwicklungsprozesse eingeleitet und begleitet. Marianne Kaiser erklärt dazu: „Zwischen 1978 und 1984 entwickelte sich die VHS zu einem Ort der Frauenöffentlichkeit in der Stadt und blieb es für lange Zeit.“ Seit 1985 kümmerte sie sich zwölf Jahre lang zusammen mit dem Frauenbüro um die Organisation einer jährlichen gemeinsamen Veranstaltung aller Frauenorganisationen in Gelsenkirchen zum Internationalen Frauentag. Diese Form der Kooperation trug dazu bei, dass Aktive verschiedener Organisationen miteinander ins Gespräch kamen und sich vernetzten.10

Unterstützt vom Frauenbüro initiierte Marianne Kaiser 1987 im Rahmen der landesweiten Aktion „Kultur 90“ zur Förderung beispielhafter Initiativen das Projekt einer „Frauengeschichtswerkstatt“, die Dokumente zu bemerkenswerten Frauen in der Geschichte Gelsenkirchens zusammentrug. 1992 veröffentlichten die Teilnehmerinnen ihre Dokumentation.11 Sie entwickelten Stadtrundgänge zur Frauengeschichte und auf dieser Basis entstand später eine weitere Publikation.12Damit gaben sie wichtige Impulse für eine Neuorientierung der Stadtgeschichte, die seitdem nicht nur in Gelsenkirchen nicht mehr ohne Frauen geschrieben werden kann.13

 „Am Ende meines Berufslebens habe ich es zu meinen positivsten Erfahrungen gerechnet, bei allen diesen frauenbewegten und frauenpolitischen Prozessen mitgewirkt zu haben,“ formuliert Marianne Kaiser und stellt einen Aspekt des Strukturwandels heraus, der so bislang kaum formuliert, diskutiert, geschweige denn systematisch untersucht worden wäre: „Die Frauenbewegung, die ich im Ruhrgebiet erlebt und in Gelsenkirchen mitgestaltet habe, verschränkte sich hier mit der Strukturkrise. Denn in dem Maße, in dem alte wirtschaftliche und soziale Strukturen wegbrachen und fragwürdig wurden, mussten die Frauen auch ihre eigene Situation neu denken und wagten mehr und mehr, sich mit der Beharrlichkeit patriarchalischer Haltungen auseinanderzusetzen und für sich neue Wege ins Auge zu fassen.“

Doch gehörten zu ihrem Programm von „Arbeit und Leben“ seit den 1970er-Jahren auch Studienfahrten, bei denen die Ost-West-Beziehungen vor Ort in Berlin, in der DDR und der UdSSR und Ungarn thematisiert wurden, ebenso wie Fahrten, bei denen es vor Ort in Brüssel, Luxemburg, Straßburg und in europäischen Nachbarländern um Prozesse und Formen der europäischen Integration ging.

Strukturwandel und Geschichtsbewusstsein

Die Bedeutung der Volkshochschulen für Individuen wie Gesellschaften lag und liegt darin, Wandel durch Bildungsangebote anzuregen und zu begleiten. In Gelsenkirchen bedeutete die Schließung von Bergwerken, Stahlwerken, Zuliefer- und anderen Produktionsbetrieben nicht nur den Verlust von Arbeit, Auskommen und Lebensperspektiven. Die ruhrgebietsspezifische Verknüpfung von Arbeitsplatz und Wohnung in Unternehmenshand führte auch zu einer Gefährdung günstigen Wohnraums, Nachbarschaften und sozialräumlicher Gewissheit, denn die Unternehmen suchten ihre Kolonien in frei verfügbares Bodenkapital zurück zu verwandeln. Der Abriss von Werksanlagen riss riesige Wunden in die Topografie der Stadt. Räumliche Orientierungen verschwanden. Im Austausch mit den Gewerkschaften plante Marianne Kaiser betriebsnahe Bildungsangebote, in denen die komplexen Probleme, die sich mit dem Ende der Montanindustrie einstellten, bearbeitet wurden: Thyssen Gussstahlwerk, Textilfabriken, Zeche Nordstern, Zeche Consol, Zeche Wilhelmine-Victoria, Zeche Hugo, Seppelfricke, Foto Heinze, Eurovia … – nach und nach schlossen Produktionsstätten mit traditionsreichen Namen.

Von 1981 bis 2000 dauerte das Ende des Werks „Thyssen Schalker Verein“, um dessen Erhalt in der ganzen Stadt vergeblich gekämpft wurde. Für Vertrauensleute und deren Frauen veranstaltete Marianne Kaiser Anfang der 1980-er Jahre Seminare im Rahmen von „Arbeit und Leben“. Sie schufen Bewusstsein, bereiteten Proteste vor und nach, setzten sich mit den Möglichkeiten und Grenzen des Erhalts auseinander und stärkten vor allem den Zusammenhalt.

Eine Möglichkeit, die immensen Verluste produktiv zu bearbeiten, stellten Geschichtswerkstätten im Rahmen der VHS-Arbeit dar. So bat, Jahre nach dem Ende des „Schalker Vereins“, der Teilnehmerkreis der Seminare Marianne Kaiser als Rentnerin, mit ihnen ein Buch über die Werksgeschichte zu erarbeiten.14 Sie reichte diesen Wunsch an ihre Nachfolgerin Brigitte Schneider weiter und beteiligte sich selbst mit einem Beitrag, in dem sie zusammen mit den Frauen deren Sicht auf das Ende des Werkes festhielt.

Bereits seit 1998 hatte sie einer Gruppe von Textilarbeiterinnen in Tagesseminaren bei „Arbeit und Leben“ Gelegenheit gegeben, Erfahrungen mit dem Niedergang „ihrer“ Industrie zusammenzutragen. Die Historikerin Birgit Beese half dabei. Seit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Bekleidungsindustrie in Gelsenkirchen eine wichtige Rolle gespielt, war dann über Italien und die Türkei nach Asien gewandert und völlig aus Gelsenkirchen verschwunden. Aus der Seminararbeit erwuchs das Buch „Arbeit an der Mode“, das mit seiner strukturellen wie erfahrungsorientierten Analyse bis heute eine wichtige Quelle zum Verständnis der Transformationen des Ruhrgebiets im Rahmen globalisierter Wirtschaft darstellt.15

Inwieweit diese Geschichtsarbeit als Kompensation des Verlustes oder als historisch-kritische Ermächtigung zu deuten ist, muss dahingestellt bleiben. In einer Stadt mit Strukturbruch wie Gelsenkirchen bot sie auf jeden Fall die Möglichkeit, ein Stück weit die Deutungshoheit über die eigene Biografie zurückzugewinnen und der Ohnmacht und Entmächtigung eigene Erzählungen entgegen zu setzen. Als Gutachterin bei diversen Wettbewerben des Forums Geschichtskultur zur Geschichte des Ruhrgebiets hat Marianne Kaiser diese überlebenswichtige Funktion von Geschichte herausgestellt und gegen die akademische Abwertung von Erinnerungen für eine Verschränkung von Erfahrungsgeschichte und Strukturgeschichte plädiert.

Ein weiterer früher und kontinuierlicher Schwerpunkt ihrer Arbeit war die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. Daraus entstanden neben vielfältigen Aktivitäten in der VHS, die nachhaltig in die Stadt hineinwirkten16, auch zwei Publikationen. 17

Marianne Kaiser stieß dabei auf die Geschichte der ungarischen jüdischen Mädchen und Frauen, die als Zwangsarbeiterinnen des Werkes Gelsenberg eingesetzt waren und 1944 bei Luftangriffen starben.18 Einige der Zwangsarbeiterinnen hatten, teils durch die Hilfe des Arztes Dr. Bertram, überlebt. Als sie 1995 Ehrengäste der Stadt anlässlich der Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag des Kriegsendes waren, erlebte Marianne Kaiser, wie Peri Hirsch aus den USA vom spurlosen Verlust ihrer älteren verwundeten Schwester Blanka im Jahre 1944 sprach. Für Marianne Kaiser verbindet sich damit eine bewegende Erinnerung an ihre Bildungsarbeit: Es gelang in der Frauengeschichtswerkstatt, insbesondere dank Marlies Mrotzek, durch Kontakte und glückliche Umstände, Blanka Pollaks Todesumstände und ihr Grab in Bottrop ausfindig zu machen.

Bis 1999 sorgte Marianne Kaiser dann privat in Kooperation mit der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit mit der Familie Hirsch dafür, dass der verschollenen Schwester Blanka Pollak ein Grabstein gesetzt wurde. Der wurde in Anwesenheit der Familie Hirsch bei einer würdigen Totenfeier in Bottrop geweiht. Peri Hirsch und Marianne Kaiser stehen seither in freundschaftlichem Kontakt.

Parallel zu dem Angebot geschichtsbezogener Themen machte Marianne Kaiser die VHS seit Mitte der 1980er-Jahre aber auch zu einem Ort, an dem immer wieder zukunftsorientierte Überlegungen zur Gestaltung des Strukturwandels öffentlich vorgestellt und diskutiert wurden. Dazu suchte sie die Kooperation mit dem Sekretariat für Zukunftsforschung, der Internationalen Bauausstellung, der Lokalen Agenda 21 und von StadtplanerInnen.

Wann gehört man dazu?

Als Fachbereichsleiterin, Kursleiterin, engagierte Gewerkschafterin, ehrenamtliche Personalrätin und Arbeitsrichterin erwarb sich Marianne Kaiser bei ihrer Arbeit in den Augen vieler Menschen Glaubwürdigkeit und Autorität. Hilfreich bei all dem war, so sagt sie selbst, ihre Fähigkeit und Freude daran, „zu kooperieren und Netzwerke zu knüpfen.“ Gleichwohl eckte sie in der lange Zeit SPD-geprägten politischen Kultur der Stadt Gelsenkirchen auch gelegentlich an, so z.B. als auf ihre Anregung hin der DGB-Kreisfrauenausschuss 1978 das Theaterstück zur Betriebsschließung der Textilfirma Eurovia „Zehn Jahre danach“ aufführen ließ19, in dem Oberbürgermeister Werner Kuhlmann in deutlichen Worten kritisiert wurde, oder als sie 1984 bei den Personalratswahlen mit Platz 1 auf der ÖTV-Liste der Angestellten die von der SPD favorisierten KandidatInnen überholte. Auch mit ihrer Kandidatur bei den Landtagswahlen 1985 für die „Friedensliste“, die in der Lesart der Sozialdemokratie als kommunistisch gesteuert galt, setzte sie trotz aller Kritik als Kriegskind Marianne20 ein Zeichen. Zuvor war sie in der Friedensbewegung aktiv gewesen.

Die Zugereiste entwickelte im Laufe der Jahre viel Zuneigung für das Ruhrgebiet und vor allem zu den Menschen und ihrer Mentalität. Die unermüdlichen Anstrengungen der Kommunalpolitik, den wirtschaftlichen Wandel voranzutreiben und ehemalige Industriestandorte für neue wirtschaftliche und kulturelle Zwecke weiter zu entwickeln, beeindruckten sie, wie sie im Gespräch betont. Doch diese positiven Veränderungen milderten die Wucht des Strukturbruchs nur partiell. Gelsenkirchen insgesamt tut sich mit wirtschaftlichen Erfolgsgeschichten schwer.

Auch nach dem Ende ihres Berufslebens blieb Marianne Kaiser in Gelsenkirchen, lebte aber auch bis 2004 teilweise aus persönlichen Gründen in der Toskana, wo sie 1985 ihren zweiten Mann gefunden hatte, ohne ihren Lebensmittelpunkt ganz dorthin zu verlegen. Denn sie hatte mittlerweile im Ruhrgebiet Wurzeln geschlagen. Die geschundene Natur der Industrielandschaft hatte sich unter einem blauen Himmel über der Ruhr21 erholt, nicht zuletzt, weil die „Tausend Feuer“ der Montanindustrie nicht nur in Gelsenkirchen verloschen sind. Und das Opel-Werk, das ihr in ihrer ersten Bochumer Wohnung den Blick auf die Natur versperrte, gibt es mittlerweile auch nicht mehr.

Uta C. Schmidt /frauen/ruhr/geschichte

Orte:

VHS Gelsenkirchen, Ebertstr. 19, 45879 Gelsenkirchen

Zitation: Schmidt, Uta C., Marianne Kaiser. Eine Erwachsenenbildnerin als kritische Begleiterin und Akteurin im Strukturwandel, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/marianne-kaiser/

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