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Tove Gertrud Gerson

Vier Regionen charakterisieren den Lebensweg der Gymnastiklehrerin und Sozialarbeiterin Tove Gerson: ihre bayerische Herkunft, familiäre Bindungen an Dänemark, prägende Jahre im Ruhrgebiet der Weimarer Zeit und der Naziherrschaft sowie am Ende ihres Lebens sowie drei Jahrzehnte im US-Exil. Doch auf der Suche nach einem „roten Faden“ und lebensgeschichtlichen Weichenstellungen geraten schnell ihre Essener Jahre in den Blick.[1]

Tove Gertrud Gerson wurde am 18. September 1903 in München geboren und ist in Dachau aufgewachsen. Ihre Eltern – Ellen (geb. Dyhr) und Albert Müller – lebten als Teil der kleinen protestantischen Minderheit in Dachau, wo Tove eine behütete bürgerliche Kindheit verlebte. (Zur väterlichen Familien-Saga gehörte die Abkunft von Hugenotten…) Ihre Jugend war unter anderem beeinflusst durch Kontakte zur Landbevölkerung und zu einer nahe gelegenen und bis 1914 durchaus bedeutenden Künstlerkolonie, deren Kinder mit ihr in die Schule gingen.[2]

Sie besuchte in Dachau zunächst eine von Nonnen geführte private Grundschule (in der Klasse waren drei protestantische und 95 katholische Kinder) und wechselte dann 1914 zur „Höheren Töchterschule“ Luisenstraße – Humanistisches und Realgymnasium in München, die sie bis 1919 absolvierte. Sie unternahm viel gemeinsam mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester Hanna; zum Beispiel interessierten sich beide für die Jugendbewegung, der sie in der Künstlerkolonie begegneten. Dies bedeutete für sie unter anderem musikalische Einflüsse sowie den Verzicht auf Nikotin und Alkohol.

Nach dem Abschluss der Schule verbrachte Tove Gerson ein Jahr in Jütland/Dänemark bei der mütterlichen Familie – eine Phase, die sie als sorglos und idyllisch geschildert hat. Nach München zurückgekehrt, besuchte sie Kurse an einer Handelsschule und war anschließend als Bankangestellte und Sekretärin eines Rechtsanwalts tätig; zugleich nahm sie auch Unterricht in Musik, Rhythmik und Gymnastik.

1924 heiratete sie den Chemie-Ingenieur Gerhard Gerson aus Hamm. Dieser hatte ursprünglich Pläne, nach Australien auszuwandern, was aber scheiterte. Sein beruflicher Einstieg scheint schwierig gewesen zu sein, er übernahm Kurzzeit-Jobs, arbeitete zeitweise in Dänemark (vermittelt durch Toves Verwandte) und fand dann Arbeit auf der Zeche Radbod in Hamm. Wohl auch durch Vermittlung seines hoch angesehenen und gut vernetzten Vaters wurde er 1925 in einem neu gegründeten Forschungslabor des Benzolverbands[3] angestellt, und die Familie zog nach Essen. Die neue Arbeitsstelle sorgte für eine Begegnung mit dem Ingenieur Otto Enoch und seiner Frau Wasja, aus der eine lebenslange Familienfreundschaft wurde.

Der „Bund“ und seine Lektionen

Etwa 1929 fand Tove Gerson (gemeinsam mit Wasja Enoch) den ersten Kontakt zu einer Organisation, die ihr weiteres Leben prägen sollte: dem „Bund. Gemeinschaft für sozialistisches Leben“ und der von ihm betriebenen Gymnastikschule in Essen-Stadtwald. Der aus der Erwachsenenbildung und der Jugendbewegung hervorgegangene Bund bot seinen Mitgliedern und Sympathisant*innen ein breites Spektrum bildender, kultureller und politischer Aktivitäten und verstand sich als Brückenbauer zwischen den verfeindeten Lagern der Arbeiterbewegung. Strenge interne Regeln sollten die Mitglieder zu diszipliniertem Handeln in Parteien, Kulturorganisationen und Alltag befähigen; die Kant’sche Ethik und die Betonung individueller Verantwortung für soziale Gerechtigkeit waren wichtige Leitlinien. Ein Motto dieser Vereinigung lautete: „Wer die bescheidenste Erkenntnis ins Leben umsetzt, ist der Wahrheit näher, als wer die erhabenste nur erforscht und verkündet.“[4]

Mit der von Dore Jacobs[5] geleiteten Gymnastikschule, die einer ganz eigenen undogmatischen Bewegungslehre folgte (und bis heute fortgeführt wird), hat der Bund in den 1920er Jahren für viele Frauen (und wenige Männer) ein neu aufstrebendes Berufsfeld erschlossen; zugleich hielt diese Einrichtung Verbindungen zur Arbeiterkultur, indem dort das Format des „Bewegungschors“[6] gepflegt wurde. 1933 wurden der Bund verboten und die „Bundesschule“ geschlossen. Eine legale Lehrtätigkeit durch die jüdischen Leiterinnen Dore Jacobs und Lisa Jacob war dann nur noch mit „Nichtariern“ erlaubt.

Neue Sympathisantinnen und Sympathisanten dieses Bundes wurden zunächst einmal ausgiebig „beschnuppert“. Tove Gerson berichtet von einem Gesprächs-Spaziergang mit dem Bund-Gründer Artur Jacobs, der ihr darlegte „Ich suche keine Proselyten.“[7] Auch wenn sie keine Ahnung hatte, was das ist, wie sie sich lachend erinnerte, hatte sie die Prüfung anscheinend bestanden. Irgendwann wurde sie zum ersten Mal in die jährlichen Bundesferien mitgenommen und hatte ein Aha-Erlebnis: Hier gibt es eine Chance, Erkenntnis und Handeln zusammenzuführen und ein ethisch verantwortetes Leben zu führen! In den 1930er Jahren absolvierte sie ihre vierjährige Gymnastiklehrerinnen-Ausbildung bei Dore Jacobs; ihr auf den Zeitraum 1930 bis 1932 ausgestelltes Abschlusszeugnis kann nicht korrekt sein kann, sondern muss dem Kaschieren der illegalen Ausbildung gedient haben.[8]

1935 war es den Bund-Mitgliedern noch möglich, auf konspirativen Wegen in die Niederlande zu reisen und dort in Roermond einen ihrer „Bewegungschöre“ aufzuführen; bei dieser Gelegenheit habe sie, berichtet Tove Gerson, das frisch erschienene Buch „Die Moorsoldaten“ von Wolfgang Langhoff mit Erschütterung lesen können.[9]

1937 oder 1938 wurde sie durch eine feierliche „Verpflichtung“ in den Bund aufgenommen, der während der Nazizeit heimlich und unter Reduzierung seiner Anhängerschaft weiter am zumindest geistigen Zusammenhalt arbeitete. Ihr inzwischen als „halbjüdisch“ angesehener Ehemann Gerhard ging im Sommer 1938 in die USA, weil ihm jegliche berufliche Aufstiegsmöglichkeit versperrt war und er seine fachlichen Kompetenzen nicht in den Dienst eines von ihm vorausgesehenen Krieges stellen wollte. „Es war unsere innere Existenz bedrohend“, fasste Tove Gerson ihre damalige Lage zusammen. Durch Vermittlung seines bisherigen Arbeitgebers Benzolverband fand er dort einen schnellen beruflichen Einstieg. Sein Freund und Kollege Otto Enoch war schon 1936 emigriert und konnte nun für ein Affidavit[10] sorgen. Über Toves Entscheidung, erst ein Jahr später zu emigrieren, soll es zu ernsten Konflikten gekommen sein. Sie lebte dann ab September 1938 für ein Jahr im Haus der Familie Jacobs Am Dönhof 18 in Essen-Rellinghausen, das schon länger als „Bundeshaus“ diente, also immer wieder Bundmitglieder für längere Zeit aufnahm und angesichts intensiver Gestapo-Beobachtung den konspirativen Zusammenhalt erleichterte.[11] Dieses Jahr bezeichnete sie später als ihre intensivste politische Lehrzeit: Unentwegt habe man in dieser Zeit über die Themen der NS-Rassenlehre und der „Euthanasie“ diskutiert.

November 1938

Der Bund hatte in diesen dramatischen Monaten die Parole ausgegeben, die wachsende Isolierung der Juden und Jüdinnen mit humanen Gesten und gezielter Hilfe zu durchbrechen. In der Absicht, ihre Solidarität zu bekunden, besuchte Tove Gerson am 10. November 1938, dem Tag nach dem Pogrom, ein in der Weimarer Republik sehr angesehenes jüdisches Paar in Essen: Salomon und Anna Heinemann. Salomon Heinemann war Syndikus wichtiger Firmen, Justizrat und ein bedeutender Mäzen des Folkwang-Museums.[12] Dieser Besuch brachte sie in eine Lage, die sie in den 1980er Jahren einmal ausführlich geschildert hat:

„Dann bin ich in Essen zu Freunden meiner Schwiegereltern; der Mann war Rechtsanwalt, einer der angesehensten Juristen, ein Wirtschaftsanwalt. Wie ich dahin kam, stand eine bedrohliche Masse auf der Straße: Ich ging dann – ich war so naiv, dass ich Blumen mitgenommen hatte, so was Blödes, aber solche Situationen kennt man nicht – ich ging zum Seiteneingang, die Haupttür war zerschlagen und verrammelt, mit Balken zugestellt. Und dann kam, während ich wartete, dass die Seitentür aufgemacht wird, ein Mann aus der Menge zu mir und sagte sehr bedrohlich und unangenehm, ob ich vielleicht noch den Juden Blumen brächte. Da hab ich eine Riesenangst erlebt vor der Menge – ich weiß nicht mehr, was ich in der Aufregung geplappert hab. Jedenfalls kam dann das Mädchen und machte die Tür auf. Ich kam herein in das Haus, das ich gut kannte. Das waren sehr kultivierte Leute, nach Konzerten trafen sich dort berühmte Künstler, die Heinemanns waren selbst feine Musiker. Jetzt war einfach alles zusammengeschlagen, die Vorhänge haben sie angebrannt, die Teppiche zerschnitten, die Sessel aufgeschlitzt, so dass alles von innen herausquoll. die Fenster und Spiegel zerschlagen …

Ich redete mit den alten Leuten. Sie waren über 70 und machten einen vollkommen verstörten Eindruck, aber haben mir klar erzählt. Sie hätten Mittagsschlaf gehalten, es hat furchtbar geläutet, und noch bevor sie aufmachen konnten, kam die SA rein, schlug ihnen die Türen ein. Die sprangen mit den Stiefeln in die Fenster, in die Spiegel am Eingang.  (…). Und oben im Nachbarhaus schauten ihre guten Freunde, ein Stadtrat, so hinter den Gardinen raus… Das zeigt, wohin die Menschen in ihrer Angst kommen. Er wusste, wenn er runtergegangen und sich menschlich verhalten hätte, der alten Frau beigestanden hätte in ihrer furchtbaren Lage, dann hätte er natürlich seinen Posten verloren. Er hatte Angst, dass seiner Frau was passiert. So blieben sie eben da im Hintergrund und ließen ihre gute Freundin allein. (…) Und da kam plötzlich durch die Menge, die so hässlich und drohend und schreiend dastand, ein Auto, und ein junger Pfarrer und eine Freundin von ihnen stiegen aus und sagten: „Kommen Sie mit, Sie müssen heute Nacht ja irgendwo übernachten.“ Da sind die Alten mit, aber die Frau sagte:“ Das ist doch gefährlich für sie.“ Da sagte der junge Mann: ‚Darum kann ich mich jetzt nicht kümmern, ich hab keine Zeit zu denken, was gefährlich ist.‘ Und hat sie mitgenommen. – Man hat in diesen Situationen alle Arten von Verhalten erlebt!

Ich sagte schon, dass an diesem Tag viele Männer nach Dachau gekommen sind. Die Frauen mit den Kindern irrten nun in den Wäldern herum, im Stadtwald und im Schellenberger Wald, in diesem kalten Wetter, die ganze Nacht und wagten sich nicht nach Hause. Die Kinder waren später völlig verstört, hatten immer einen Schluckauf, schnappten nach Luft, waren völlig erschüttert. Und die Männer hatten keine Ahnung, wohin sie kamen, kamen nach Dachau und haben dort den ersten Geschmack von einem Konzentrationslager – nicht Vernichtungslager – erlebt.“[13]

Die Eheleute Heinemann haben sich in den Tagen danach das Leben genommen – ihre Gräber finden sich auf dem jüdischen Friedhof in Essen-Segeroth.[14]

Bis zum Herbst 1938 erteilte Tove Gerson auch Gymnastikunterricht im Israelitischen Waisenhaus in Dinslaken und nahm, nachdem auch dieses Heim am 10. November 1938 Ziel des Nazi-Pogroms geworden war, intensiv Anteil am weiteren Schicksal der Mädchen und Jungen.[15] Zusammen mit anderen Bund-Mitgliedern sammelte sie Spenden für die Unterstützung der von dort vertriebenen Kinder.[16] Mit den nach den Pogromen sich steigernden Emigrationen, Vertreibungen und später auch Deportationen intensivierte der Bund seine Hilfen: Hausbesuche, Begleitung zu Behörden und Transporten und später eine erstaunlich intensive Päckchen-Versandaktion in polnische Durchgangs-Ghettos und weitere Lager wurden zur Hauptaufgabe der Bund-Mitglieder. In den folgenden Kriegsjahren konnten sie durch ihre bedachte Netzwerkarbeit mehrere Jüdinnen und Juden (wahrscheinlich ungefähr acht) vor Deportation und Ermordung retten.[17]

Michigan, Oklahoma, Rhode Island, Massachusetts

Im Herbst 1939 reiste Tove Gerson nach Abwicklung aller notwendigen Dinge in die USA zu ihrem Ehemann. Dieser hatte in der dortigen Chemie-Industrie Arbeit gefunden, bei der Firma Philgas der Philips Petroleum Co. Doch mit dieser Anstellung waren mehrere Ortswechsel verbunden: das Paar wohnte zunächst in Sylvan Lake bei Pontiac/Michigan, dann ab 1941 in Bartlesville/Oklahoma, wo das zentrale Forschungslabor des Konzerns Gerhard Gersons Arbeitsplatz wurde. Nach Providence/Rhode Island führten die nächste Versetzung 1945 und damit der nächste Umzug. Diese häufigen Ortswechsel machten den Berufsstart für Tove Gerson äußerst schwierig. Zeitweise arbeitete sie als Putzhilfe, als Hausmädchen eines Rabbiners oder Beschäftigungstherapeutin. Immer wieder versuchte sie mit ihrer Gymnastikausbildung Kurse anzubieten, was nur teilweise gelang. Ihre kommunikativen Bedürfnisse brachten sie bald in Kontakt zu liberalen und sozialdemokratischen Kollegen von Gerhard Gerson und damit auch zu Gewerkschaften.

Von Anfang an wurde Tove Gerson eine kritische Beobachterin der rassistischen Segregation und Diskriminierung in den von ihr erlebten US-amerikanischen Kleinstädten. Doch für das Thema, dass die Schwarzen „jenseits der Bahnlinie“ in einem Viertel fast ohne städtische Infrastruktur, z.B. ohne Müllabfuhr, lebten, fand sie zunächst wenig Gesprächspartner*innen. Das hinderte sie aber nicht an einer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit dem US-Rassismus.

Wie sie später festhielt, waren ihr dabei die 1942 veröffentlichte Schrift „There are things to do“ der sozialkritischen Schriftstellerin Lillian Smith sowie die von dieser herausgegebene Zeitschrift „South today“ eine wichtige Orientierung. Diese Autorin, im Austausch mit Eleanor Roosevelt und Martin Luther King jr., prangerte schon seit den 1930er Jahren (auch in ihrem literarischen Werk) an, dass die „Rassentrennung“ die US-amerikanische Gesellschaft moralisch vergifte, und appellierte in diesem Manifest an ihre Leser*innen, die „Rassenbeziehungen“ nicht allein der Politik zu überlassen. „Segregation is spiritual lynching“ lautete eine ihrer Thesen. Jeder und jede könne damit beginnen, rassistische Redeweisen zu stoppen, Politiker zur Ordnung zu rufen, gegen Rassenjustiz und für Interessenvertretung der Schwarzen einzutreten. Im Hinblick auf das militärische Engagement in Europa forderte Smith, die eigenen Kinder nicht zu kleinen Nazis, sondern zu demokratischen Weltbürgern zu erziehen. Mit diesem Engagement war Smith eine intellektuelle Wegbereiterin der Bürgerrechtsbewegung in den 1950er Jahren.[18] (Und in Smith‘s Ermutigung zu „kleinen Schritten“ und individueller Verantwortung kann man durchaus eine Parallele zu den ethischen Maximen des Bundes in Deutschland sehen.)

Auch die Lektüre der negativen Utopie von Sinclair Lewis „It can‘t happen here“[19] bewegte Tove Gerson bereits in diesen ersten USA-Jahren, ebenso wie das Buch von Gregor Ziemer „Education to death“, eine 1941 publizierte Studie über Nazi-Erziehung. Der Lehrer und Journalist berichtete hier aus den Erfahrungen seiner Arbeit in Berlin 1928 bis 1939.

Aufklärung über das Nazi-System

Die Einladung des Newcomers‘ Club von Bartlesville, einmal im örtlichen Junior College über „deutsche Kultur“ zu sprechen, nutzte Tove Gerson 1942 als Gelegenheit und Impuls, nicht nur dort über die schreckliche deutsche Gegenwart zu referieren. Und dies, obwohl es für sie als „enemy alien“ nicht ganz einfach war: Sie unterlag seit Ende 1941 (dem Kriegseintritt der USA) spezifischen Meldepflichten und Aufenthaltsbeschränkungen, für die sie nun Ausnahmegenehmigungen zu beantragen hatte.[20] Tove Gerson musste ihre Vortragsreisen zwei Wochen vorher unter Angabe der Zeit, des Verkehrsmittels und des Zwecks beim District Attorney, also der lokalen Staatsanwaltschaft, anmelden. Auch die ängstliche Frage, ob die „langen Ohren“ der Nationalsozialisten vielleicht bis in die Staaten reichten und ihre Vorträge den deutschen Freunden zum Nachteil gereichen könnten, musste abgewogen werden.

Einen der ersten Vorträge hielt sie in Tonkawa/Oklahoma vor Bauern mit deutschen Wurzeln und kassierte ein eisiges Schweigen des Publikums, als sie am Rande auch ein Plädoyer für die Rechte der Schwarzen einflocht, die dort nach Sonnenuntergang nicht auf die Straßen durften. Tove Gerson sprach bei diesen Gelegenheiten ganz gezielt über ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Nazi-Regime, z.B. mit der Familie Heinemann und der Liquidierung des jüdischen Waisenhauses Dinslaken  oder mit der öffentlichen Demütigung des ehemaligen Zentrum-Ministers Hirtsiefer[21] in den Essener Straßen 1933, über die Absurdität des Hitlerschen Rassenlehre, auch über die „Weltanschauung“ und Rhetorik der Nazis, über die Politik der Krankenmorde und der Zwangssterilisationen. Den Konformitätsdruck auf Kinder und Familien und die militaristische Erziehung schilderte sie anhand von Beispielen aus befreundeten Bund-Familien („Mutti, warum magst du unseren Führer nicht?“) und anhand des genannten Buchs von G. Ziemer.

„…es lag mir sehr am Herzen, nicht gegen Deutschland zu reden. Ich habe die Reden versucht so aufzubauen, dass ich die Grundsätze des Nationalsozialismus klarmachte, z.B. den Rassismus.“ Sie erläuterte auch, warum die totalitären Methoden dieser Herrschaft nahezu jeden Widerstand verunmöglichten. Die Unterschiede zwischen den Weiten Amerikas und dem eng besiedelten und intensiv bewirtschafteten Europa versuchte sie nebenbei zu vermitteln. Auch ihre grundsätzliche Verstörung hat sie dort nicht verschwiegen, das zeigen ihre Notizen zu einem der Vorträge in Bartlesville: „Wie ist es möglich, dass Menschen das einander antun?“ Ohne dass ihre Quelle genau erkennbar wäre, bezog sich Tove Gerson schon damals intensiv auf den Begriff des Totalitarismus.[22] Was bedeutet es, fragte sie ihr Publikum, wenn ein Regime mit Gewalt und Propaganda alle Lebensbereiche – Betriebe, Schulen, Kunst, Freizeit, Wissenschaft, individuelle Ressourcen wie Zeit, Gedanken, körperliches Befinden – durchdringt, niemand sich sicher fühlen kann vor Rechtsbruch, Denunziation und Blockwart-Kontrolle?

Mehr als 30 solcher Vorträge hat sie ab 1942 vor Kirchengemeinden, kirchlichen Frauen- und Männer-Gruppen, Rotary und Kiwani Clubs,[23] der YWCA, einer Handelskammer, Schwarzen-Schulen, den United Auto Workers in Detroit, der American Association of University Women, bei den „Jaycees“ (Junior Chambers) und auch in High Schools in Oklahoma und Kansas gehalten, ebenso an den nachfolgenden Wohnorten in Michigan und Rhode Island, zum Teil gemeinsam mit ihrem Ehemann Gerhard. Und sie stellte dabei zu ihrer Verblüffung fest: „Sie wussten eigentlich gar nicht, warum sie im Krieg waren… Ich hätte das nicht gekonnt, ohne die gründliche Schulung in dem Bund von Artur Jacobs in Essen, der uns half, das nationalsozialistische System genau zu analysieren.“ Das Publikum habe ihr sehr viele Fragen gestellt und ihre Expertise grundsätzlich sehr freundlich aufgenommen.[24]

Unmittelbar nach Kriegsende wusste Tove Gerson die Beziehungen zu den Bund-Freunden in Deutschland und Europa wieder aufzunehmen, beginnend mit Anfragen vom Sommer 1945 zum Verbleib der besonders Gefährdeten an die alliierten Suchdienste. Und ein lebhafter schriftlicher Austausch und viele  Besuche in Essen, Dänemark und Schweden waren ihr stets wichtig. In der unmittelbaren Nachkriegszeit organisierte sie mit ihrer Freundin Wasja Enoch eine große Päckchen-Hilfsaktion für die Bund-Freundin Erna Michels, die als Jüdin im niederländischen Exil und Untergrund überleben konnte, und für deren Helfer*innen-Netzwerk.

US-Bürgerin: dankbar und kritisch

1945 erwarben Tove Gerson und ihr Mann die US-Staatsbürgerschaft. Und seit diesem Jahr war sie (in Teilzeitbeschäftigung) als Jugendarbeiterin beim YWCA – der Young Women’s Christian Association[25] – angestellt, ab 1946 außerdem als Beschäftigungstherapeutin in einer psychiatrischen Klinik, ab 1947 als Gymnastiklehrerin.

1951 starb ihr Ehemann Gerhard während einer Europareise, und sie blieb eine Weile in Dänemark und Deutschland, kehrte erst 1953 in die USA zurück. Die Frage des Lebensunterhalts verschärfte sich damit, und in den folgenden Jahren blieb ihr Leben ein sehr unruhiges Kaleidoskop aus beruflichen Tätigkeiten, zivilgesellschaftlicher Arbeit und erneuter Ausbildung. Sie arbeitete zeitweise in der Verwaltung des Sinai Hospitals in Detroit (1953 von der jüdischen Community gegründet), verbrachte aber auch zwei Jahre in Schweden bei ihrer 1938 dorthin emigrierten Schwiegermutter.

In den Jahren 1948 bis 1950 war sie aktiv in der Women’s International League for Peace and Freedom, wo auch ihre Bund-Freundin Wasja Enoch mitarbeitete – dann verlagerte sie ihr freiwilliges Engagement: Tove Gerson trat, weiterhin empört angesichts ihrer Erfahrungen mit dem Rassismus gegen die Schwarzen, etwa 1953 der „National Association for the Advancement of Coloured People“ (NAACP) bei und engagierte sich dort vielfältig in der Bildungs- und Kampagnenarbeit. Dieser Verband gilt zumeist als „schwarze“ Organisation, verstand sich aber tatsächlich als „interracial“. Mitte der 1950er Jahre erlebten dessen Aktivitäten einen gewissen Aufschwung angesichts einer sich allmählich öffnenden Rechtsprechung zugunsten der Bürgerrechte schwarzer US-Amerikaner*innen. In NAACP- und YWCA-Kontexten beteiligte sich Tove Gerson 1966 bis 1968 an der Vorbereitung und Durchführung mehrerer „gemischter“ Studienreisen nach Europa, insbesondere nach Skandinavien, aber auch kleinerer Reisen in den USA. In ihren Verbindungen zu den jüdischen und den schwarzen Communities spiegelt sich vielleicht auch das damals und bis Mitte der 1960er Jahre noch wirksame Bündnis von schwarzer Bürgerrechtsbewegung und liberalen jüdischen Kreisen.[26] Viele Freundschaften aus dieser bewegten Zeit des Bürgerrechts-Kampfs – z.B. mit dem Wissenschaftler- und Aktivisten-Paar Marion und Martin Luther Kilson[27] – pflegte sie bis an ihr Lebensende.

1956 wurde Tove Gerson Adult Activities Program Director beim YWCA Dearborn/Michigan, 1957 übernahm sie die gleiche Position in Cambridge/Massachusetts. Fast gleichzeitig beschloss sie, ihre Ausbildung auf neue Füße zu stellen, und begann ein Studium der Sozialarbeit (B.A.) an der Tufts University[28] und der Boston University; dabei wurden ihr allgemeinbildende Teile ihrer Essener Ausbildung angerechnet. An diesem Fach interessierten sie besonders die für ihr Berufsfeld relevanten neueren Ansätze der Gruppenarbeit und Gruppendynamik, inspiriert von Kurt Lewin und Saul Bernstein.[29] Etwa 1965 wurde sie Mitarbeiterin und mit der YWCA auch Unterstützerin des kurz zuvor an der Bostoner Tufts University entstandenen People’s theatre of Cambridge, eines für sein diverses „casting“ bekannten Theaterprojekts. Für T. Gerson war dies ein Modell für die Zusammenarbeit von Schwarzen und Weißen, Männern und Frauen, verschiedenen religiösen oder sozialökonomischen Hintergründen.

1968/69 verbrachte Tove Gerson erneut ein „Sabbatical“-Jahr in Europa. 1969/70 arbeitete sie am Radcliffe College – einer Frauen-Abteilung der Harvard Universität – als „Empfangsdame“ und am Harvard Museum of Comparative Zoology (im zweiten Fall ist der Schwerpunkt ihrer Arbeit nicht überliefert).

Wieder in Essen

1970 wurde bei ihr eine Makula-Degeneration diagnostiziert und ihre weitgehende Erblindung begann. Sie war nun pensioniert, ihre mit der Berufsarbeit verbundenen Beziehungen lockerten sich, und sie beschloss 1973, nach Europa in die Nähe ihrer Verwandtschaft und ihrer Bund-Freundinnen und Freunde zurückzukehren. Die letzten Jahrzehnte verbrachte sie dann in einem Seniorenheim in Essen-Stadtwald – also ganz nah bei der immer noch bestehenden Gymnastikschule des Bundes und in Gesellschaft einiger anderer Bund-Veteraninnen, u.a. von Dore Jacobs. Sie konnte so auch an den immer noch fortlebenden Aktivitäten des Bundes – gemeinsame Feste und Freizeiten, Lektürekreise und mehr – wieder teilhaben. Angesichts des seit den 1980er Jahren neu erwachten Interesses an der Geschichte der Dore-Jacobs-Schule und des Bundes war sie nun auch als Zeitzeugin gefragt.

Mit ihrer Krankheit entfielen zwar viele Möglichkeiten der Bewegung, des Reisens, der Lektüre usw., doch gelang es ihr, „Vorleser*innen“ zu finden, mit Hilfe von „Kassettenbriefen“ viele Kontakte aufrecht zu erhalten und so an der Welt Anteil zu nehmen. Gegen die mit dem minimalen Sehvermögen einhergehende Tendenz zur gutgemeinten Entmündigung vermochte sie temperamentvoll zu protestieren.[30]

Tove Gerson verstarb am 2. Dezember 1998. Der Nachruf eines guten Freundes hob mit Recht hervor, dass sie die ethische Strenge ihrer Bund-Sozialisation mit Humor und Toleranz zu verbinden wusste.[31]

Dr. Norbert Reichling

  • [1] Soweit nicht gesondert belegt, stützt sich diese Darstellung auf einen Teilnachlass von Tove Gerson, der u.a. mehrere Lebensläufe, biografische Interviews und viele Notizen, Vortragsskizzen etc. enthält: Tove Gertrud Gerson Papers, 1919-1993; MC 447, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge, Mass. – außerdem auf Gespräche mit Tove Gerson in den Jahren 1987-1997 und das Archiv des Bundes im Essener Dore-Jacobs-Haus. Ich danke Mark Roseman für den Hinweis auf den Teilnachlass Tove Gerson in der Schlesinger Library und Karin Gerhard für vielerlei Hilfen.
  • [2] Mit der Dachauer Künstlerkolonie verbinden sich u.a. die Namen von Lovis Corinth, Franz Marc, Emmy Walter, Adolf Hölzel, Paula Wimmer und Elsa von Freytag-Loringhoven. Die dortigen privaten Malschulen hatten angesichts der Nichtzulassung von Frauen an der Staatlichen Akademie in München eine hohe Attraktivität für Frauen. Siehe auch https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Dachauer_Künstlerkolonie (aufgerufen 18.1.24).
  • [3] 1918 entstandener Zusammenschluss von Bergbau-Unternehmen, belieferte zunächst Farbenfabriken, ab 1924 Hersteller des Kraftstoffs BV-Aral und bald größte Mineralölvertriebsgesellschaft Deutschlands.
  • [4] als Überblick zum „Bund“: Reichling, Norbert, Der „Bund“ – jugendbewegte Bildungsarbeit und Lebensreform im Ruhrgebiet, in: Paul Ciupke u.a. (Hrsg.): Historische Jugendforschung. Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung NF Bd. 8 (2011) – „Jugendbewegung und Erwachsenenbildung“ Schwalbach/Ts. 2012, S. 61-76.
  • [5] Siehe Behrens, Heidi, Dore Jacobs / 1894–1979. Im „Bewusstsein eines sinnvollen Lebens“ – die Essener Sozialistin, Feministin und Gymnastiklehrerin, https://www.frauenruhrgeschichte.de/frg_biografie/dore-jacobs-1894-1979/ (aufgerufen 23.1.24).
  • [6] Eine expressionistisch anmutende Form der Performance, in der sich autonome Bewegung und Gruppenbildung spontan verbinden sollen, oft kombiniert mit politisch-lyrischen Texten, z.B. von Ernst Toller.
  • [7] Als Proselyten werden (in Anlehnung an zum Christentum übergetretene Juden) etwas abschätzig frisch „Bekehrte“ bezeichnet.
  • [8] In einem späteren Lebenslauf gab Tove Gerson an, die Ausbildung habe von 1930 bis 1934 angedauert.
  • [9] Einer der ersten veröffentlichten Berichte über Lagererfahrungen, in diesem Fall in den Lagern Börgermoor und Lichtenburg: Langhoff, Wolfgang, Die Moorsoldaten. 13 Monate Konzentrationslager. Unpolitischer Tatsachenbericht, Zürich 1935.
  • [10] Affidavit: eidesstattliche Versicherung, in diesem Kontext: Bürgschaft für Einwanderer*innen.
  • [11] Nachbarschaftliche Denunziationen, Verhöre und Postüberwachungen sind akribisch nachvollziehbar in den überlieferten Gestapo-Akten im Landesarchiv NRW.
  • [12] Kaufmann, Uri Robert, Der Mann hinter den Kulissen des Museum Folkwang. Salomon und Anna Heinemann, hrsg. von der Alten Synagoge Essen, Essen 2022.
  • [13] Eigene Transkription eines Zeitzeugenberichts von T. Gerson (Tonband-Aufzeichnung) vom November 1988 in der Essener Handelsschule, Bund-Archiv im Dore-Jacobs-Haus Essen.
  • [14] Zur Biografie dieses Paars siehe auch Eisenhardt, Vanessa/ Heppe, Viktoria, Anna und Salomon Heinemann – ein jüdisches Leben in Westfalen, in: Schalom. Zeitung des Jüdischen Museums Westfalen, Nr. 81/November 2017, S. 3-5, https://www.jmw-dorsten.de/wp-content/uploads/2017/11/schalom-81-web.pdf (aufgerufen 24.1.2024).
  • [15] Die 32 aus dem Waisenhaus brutal vertriebenen jüdischen Kinder wurden demütigend durch die Stadt getrieben, dann zunächst für einige Tage auf einem Bauernhof in der Umgebung einquartiert, später nach Köln gebracht und anschließend nach Belgien und Holland. „Von den Kindern des Waisenhauses überlebte etwa die Hälfte den Holocaust.“ – vgl. https://www.yadvashem.org/yv/de/exhibitions/novemberpogromnacht/jewish-orphanage.asp (aufgerufen 18.12.2023).
  • [16] Zeitzeugenbericht vom November 1988.
  • [17] dazu Roseman, Mark, In einem unbewachten Augenblick. Eine Frau überlebt im Untergrund, Berlin 2002.
  • [18] Siehe Clayton, Bruce. „Lillian Smith.“ New Georgia Encyclopedia, last modified Apr 13, 2021. https://www.georgiaencyclopedia.org/articles/arts-culture/lillian-smith-1897-1966/ (aufgerufen 3.2.2024).
  • [19] Erstveröffentlichung 1935 mit dem Untertitel „What will happen when America has a dictator?“
  • [20] Die im Dezember 1941 beschlossenen Maßnahmen des „Enemy Alien Control Program“ fielen in der Praxis sehr unterschiedlich aus: Einer Internierung unterlagen vor allem Amerikaner japanischer Herkunft, und an der Ostküste wurden die Vorsichtsmaßnahmen weniger radikal als an der Westküste gehandhabt. Vgl. Schenderlein, Anne, German Jewish „Enemy Aliens” in the United States during the Second World War. In: Bulletin of the German Historical Institute (GHI). Issue 60, Spring 2017, S. 101-117.
  • [21] Heinrich Hirtsiefer (1876-1941), gelernter Schlosser, Verbandssekretär der christlichen Metallarbeiter-Gewerkschaft und Zentrumspolitiker, ab 1906 Stadtverordneter in Essen, ab 1921 Landtagabgeordneter, 1921-1932 preußischer Wohlfahrtsminister und lange stellvertretender Ministerpräsident, ging energisch gegen die Absetzung der preußischen Regierung im Juli 1932 vor, ab 1933 „Schutzhaft“, KZ Kemna und KZ Börgermoor, an den Folgen von Inhaftierung und Folter 1941 verstorben – siehe https://www.deutsche-biographie.de/sfz32603.html (aufgerufen 25.1.2024).
  • [22] Der Begriff sickerte ab ca. 1940 in die wissenschaftliche Debatte ein und wurde erst in den 1950er Jahren durch die Veröffentlichungen von Carl J. Friedrich, Hannah Arendt u.a. weiter verbreitet.
  • [23] Kiwani Clubs sind, ähnlich wie Rotary und Lions Clubs, sog. „Service-Organisationen“, d.h. karitativ tätig, in diesem Fall besonders für Kinder.
  • [24] Interview mit Tove Gerson in der SWR-Sendung „Lebenserfahrungen“, 1987 (in der Schlesinger Library z.T. online zugänglich).
  • [25] Die YWCA war bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts für „Rassengleichheit“ eingetreten und intensivierte dieses Engagement seit den 1930er Jahren.
  • [26] Siehe etwa das Beispiel des US-Reformrabbiners Maurice Eisendrath: http://eisendrath-stories.net/cont_20thcenturystories_rabbi_maurice_eisendrath.php (aufgerufen 20.1.2024). Zur Geschichte und Ausdifferenzierung der schwarzen Bürgerrechtsbewegung siehe: Hochgeschwender, Michael, Zur Geschichte von Black America, https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/266269/zur-geschichte-von-black-america/ (aufgerufen 3.2.2024).
  • [27] zu diesen beiden: https://www.encyclopedia.com/arts/culture-magazines/kilson-marion-d-de-b und https://www.thehistorymakers.org/biography/martin-kilson (aufgerufen 22.1.2024).
  • [28] Hoch angesehene Privat-Universität am Rande von Boston, gegr. 1852, mit einem Akzent auf Geisteswissenschaften und Forschung.
  • [29] Der Sozialpsychologie K. Lewin (1890-1947) emigrierte 1933 aus Deutschland in die USA; an der Boston University forschte er über Gruppenprozesse und Führungsstile, Einstellungsveränderung, Vorurteile und „Randgruppen“. S. Bernstein war Pionier der sozialpsychologischen Kleingruppenforschung und entwickelte als Professor für Sozialarbeit an der Boston University den Ansatz der „sozialen Gruppenarbeit“. Beiden Forschungsansätzen wird eine Verbindung zu Traditionen der deutschen Jugendbewegung und Reformpädagogik nachgesagt.
  • [30] Über diese Erfahrungen hat sie berichtet in: Gerson, Tove, Hell und Dunkel. Beschreibung einer Lebenssituation, in: Süddeutsche Zeitung, 9./10. Dezember 1989, S. 152.
  • [31] John K. Dickinson: Tove Gerson 1903-1998, im Besitz des Verf. (dank Mark Roseman).
Orte:

Dore-Jacobs-Haus, Leveringstraße 30, Essen-Stadtwald – die Ausbildungsstätte von T. Gerson
Das ehemalige „Bundeshaus“ (damals im Besitz der Eheleute Dore und Artur Jacobs) Am Dönhof 18, Essen-Stadtwald – Tove Gersons Wohnort 1938-1939
Stolpersteine für Salomon und Anna Heinemann vor der ehemaligen Anwaltskanzlei, Zweigertstr. 50, Essen-Rüttenscheid

Zitation: Reichling, Norbert, Tove Gertrud Gerson, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/tove-gertrud-gerson/

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Luise Elias

Bislang wurden wenige Überlieferungen bekannt, die uns zeigen, wie Fragen nach Frauenwahlrecht und politischer Partizipation von Frauen jenseits urbaner Zentren und frauenbewegter Führungspersönlichkeiten im Kaiserreich verhandelt wurden. Luise Elias aus Schwerte, Jüdin, Sozialdemokratin, Dichterin, hat sich zwei Mal ausdrücklich dazu geäußert: als Kolumnistin der Schwerter Zeitung und unter dem Pseudonym „Ernst Heiter“.

Luise Elias rückte durch die Forschungen zur Schwerter Frauengeschichte ins Bewusstsein, mit denen ein Team geschichtsinteressierter Frauen begann, die männlich strukturierte Stadtgeschichte zu erweitern.1 Anlass war das 600-jährige Jubiläum der Stadtgründung. Hille Schultze Zumhülsen befasste sich in einem weiteren Projekt der Schwerter Frauengeschichte intensiver mit Leben und Werk der Dichterin.2 Die Ausrufung der Weimarer Republik 1918 und die Gewährung des allgemeinen Wahlrechts führten 100 Jahre später zu vielfältigen geschichtskulturellen Aktivitäten. Der Historiker Wolfgang Reininghaus, ehemaliger Präsident des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen und in Schwerte geboren, verortete in diesem erinnerungskulturellen Zusammenhang das Leben und Werk von Luise Elias im Kaiserreich, in der Zeit des Ersten Weltkriegs und in der politischen Öffentlichkeit der jungen Weimarer Republik.3 Er konnte dazu auf seine umfassenden fachlichen Kenntnisse der Landesgeschichte, der Geschichte des mittleren Ruhrtals und auf seine Publikationen zu den Wahlen 1919 in Westfalen zurückgreifen. Die Arbeiten der Schwerter Frauengeschichte und sein Aufsatz bilden die Grundlagen der hier präsentierten Lebensgeschichte der Schwerterin Luise Elias.

Tochter aus gutem Hause

Luise Elias wurde am 30. Juli 1865 in Rheda als Tochter des Lehrers Abraham Steinweg (1831-1901) und seiner Frau Sibilla (1838-1891) geb. Treu geboren.4 Ihr Vater hatte das Haindorfsche Lehrerseminar in Münster besucht5 und arbeitete als Lehrer in Oelde und Rheda. Ihre Mutter kam aus Drove bei Düren. Das Ehepaar hatte neun Kinder. Luise Elias heiratete am 12. November 1893 mit 28 Jahren den Mode- und Textilhändler Sally Elias (1865-1928) und zog nach Schwerte.6 Dort eröffnete Sally Elias in der Wilhelmstrasse 34 eine Filiale von Treu & Co., einem Geschäft seiner Schwäger, später wurde das Geschäft an die Hüsingstrasse 1 verlegt. 7 Sally Elias stand 1896 der jüdischen Synagogengemeinde vor. Das Ehepaar Elias hatte drei Kinder, eines starb bereits im Kindesalter 1899.

Luise Elias veröffentlichte ab 1898 Gelegenheitsgedichte in der Schwerter Zeitung unter dem Pseudonym „Ernst Heiter“. Das Pseudonym lässt sich eher als Kolumnentitel sehen, der in Reimform alles „Vermischte“ zwischen ernsten und heiteren Themen ansprach, als dass er Anonymität sicherte, denn um 1900 lebten in der Stadt Schwerte rund 10.000 Menschen,8 in der Altstadt lag alles eng beieinander. Luise Elias nutze mit „Ernst Heiter“ ein Pseudonym, unter dem wohl als erster Adolf Glasbrenner (1810-1876) zur Zeit der Reaktion nach der Revolution 1848/49 eine humoristische Zeitschrift herausgab.9

Die Schwerter Zeitung

1868 gründete der 29-jährige Buchdruckermeister Carl Baus, aus Wuppertal zugezogen, eine Buchhandlung und eine Buchdruckerei, in der er ab Juli das Schwerter Wochenblatt produzierte, das zwei Mal wöchentlich erschien. Das Wochenblatt entwickelte sich zur Tageszeitung weiter, auch ein Zeichen für die Industrialisierung, die Schwerte mit dem Anschluss an das Eisenbahnnetz 1867 erfasste. Ab dem 2. Januar 1875 firmierte das Blatt unter dem Titel Schwerter Zeitung.10 Die Gedichte Luise Elias‘ erschienen unregelmäßig fast immer am Samstag. Zwischen einzelnen Gedichten lagen manchmal mehrere Wochen, durchschnittlich wurden zwischen 1898 und 1923 zwei Gedichte pro Monat publiziert. Wilfried Reininghaus bemerkt, dass zu den Samstagen vor den christlichen Feiertagen keine Gedichte von ihr erschienen und stellt die Frage in den Raum: „Mochte Braus die Gedichte zu diesen Terminen keiner Jüdin anvertrauen?“11 Die Gedichte hatten einen festen Platz zwischen den überregionalen Nachrichten und dem Lokalteil. Sie bildeten eine Brücke zwischen dem globalen und dem lokalen Geschehen. Sie erschienen ab einer Zeit, als der Sohn Johannes Baus (1872-1919) nach dem plötzlichen Tod seines Vaters den Verlag übernommen hatte.

Noch eine Frauengeschichte

Ein Nebenschauplatz: Mit der Geschichte der Schwerter Zeitung tut sich noch eine andere Schwerter Frauengeschichte auf. Während der Abwesenheit ihres Mannes im Ersten Weltkrieg und nach seinem Tode als Folge der Kriegsverletzungen führte Magdalene Baus (1882-1954) das Druck- und Verlagshaus, zwei Geschäfte sowie einen Riesenhaushalt mit sieben Kindern. 1922 heiratete sie, Vierzigjährig, den Schriftsetzermeister Hans Linner aus Oberbayern, der das Geschäft von nun an leitete. Als er 1955 starb, übernahmen die gemeinsamen Töchter Rosel (1924-1979) und Magdalena Linner (1927-1991) den Betrieb. Rosel Linner studierte Zeitungswissenschaften in Leipzig und Freiburg und promovierte in Erlangen in Geschichte und Germanistik. Sie lernte bei ihrem Vater das Druckereihandwerk und arbeitete als Verlegerin und Journalistin für die Schwerter Zeitung, bis diese Lokalzeitung im Zuge der Medienkonzentration 1968 in den Ruhr Nachrichten aufging. 1973 wechselte sie aus familiären Gründen zur Charmer Zeitung in die  Oberpfalz. 12

Das Gedicht Zum Frauen-Kongress!

Am 11. Juni 1904 publizierte Luise Elias das Gedicht Zum Frauen-Kongress! in der Schwerter Zeitung. Vom 12. bis 18. Juni 1904 fand in Berlin ein international hochkarätig besetzter Kongress des International Council of Women (ICW) statt. Mehrere Hundert Delegierte aus den 16 Mitgliedsstaaten und noch mehr Interessierte tauschten sich in der Berliner Philharmonie über Bildung, Beruf, Recht aus und diskutierten gemeinsame Positionen in der Frauenfrage. Das Begleitprogramm für die ausländischen Gäste sah neben Vorträgen und Exkursionen Empfänge bei Reichskanzler von Bülow (1849-1929) und bei Kaiserin Auguste Victoria (1858-181921) vor. Diese internationale Vernetzung wurde zugleich als „Plattform für die internen Auseinandersetzungen der nationalen Organisationen“ genutzt, wie Katja Koblitz herausgearbeitet hat.13 Anita Augsburg (1857-1943) vom radikalen Flügel der deutsche Frauenbewegung und Aletta Jacobs (1854-1929) von der Frauenstimmrechtsbewegung in den Niederlanden versprachen sich von der internationalen Aufmerksamkeit vor allem einen Schub für die politische Forderung nach Frauenstimmrecht im Deutschen Reich, eine Forderung, die im Bund Deutscher Frauenvereine – der 1894 gegründeten Dachorganisation der bürgerlichen Frauenbewegung – zu diesem Zeitpunkt kontrovers und zurückhaltend verhandelt wurde und nicht explizit Thema des ICW-Kongresses war.  Seit 1899 bemühte sich der radikale Flügel der deutschen Frauenbewegung, das Thema auf der nationalen Agenda zu positionieren und durch die Internationalisierung der Stimmrechtsfrage den konservativen Bund Deutscher Frauenvereine unter Druck zu setzen. Eine Woche vor dem Kongress tagte deshalb im Prinz Albert Hotel ein eigener Kongress der International Women Suffrage Alliance (IWSA) unter entscheidender Mitwirkung des 1902 gegründeten Deutschen Vereins für Frauenstimmrecht. Diese Veranstaltung brachte das Frauenwahlrecht prominent und pressewirksam in die Öffentlichkeit: „Der Deutsche Verein für Frauenstimmrecht nutzte somit die Prominenz der bereits angereisten Vertreterinnen aus dem Ausland, um die fehlende Thematisierung des Frauenwahlrechts auf dem ICW-Kongress zu unterlaufen – durchaus mit Erfolg, denn in der Presse wurden (…) beide Tagungen zumeist gemeinsam und positiv rezipiert, und noch im selben Jahr gründet sich als nationale Organisation der Deutsche Verband für Frauenstimmrecht.“14

Luise Elias reagiert mit ihrer Veröffentlichung am 11. Juni 1904 in der Schwerter Zeitung nicht rückblickend auf das Ereignis. Sie greift mit ihrem Gedicht Zum Frauen-Kongress! in den öffentlichen Diskurs ein, der mit der Vorberichterstattung auf den Kongress einsetzte. Ihr Gedicht ist ein beredter Beleg dafür, dass die Medienstrategien des radikalen Flügels der deutschen Frauenbewegung aufgingen, denn auch in Schwerte wurde – zumindest für Luise Elias und ihr Zeitungspublikum – das Wahlrecht ein Thema.

„Zeitgemäße Reime

Zum Frauen-Kongress

Und wieder tagte ein Kongreß

In diesen Frühlingstagen,

Bei dieser ‚Tagung‘ hat indeß

Kein Mann ein Wort zu sagen,

Denn durch die Welt kling’s hell und weit:

Die größte Frage dieser Zeit,

wie auch der künftgen Tage

Bleibt doch die Frauenfrage!

Drum sah man unlängst in Berlin

Und zwar aus allen Ländern

Viel Frauen zum Kongresse ziehn,

wohl in ‚Reform‘-Gewändern,

Denn nach ‚Reform‘ lechzt allerwärts

Das sehnsuchtsvolle Frauenherz,

seit sich der Wunsch bemächtigt

Des Wörtchens ‚gleichberechtigt‘!

Nun ruft zum Kampf der Frauenbund

Der Internationale:

Es hebt der Gleichberecht’gungs-Grund

Die Stellung. Die soziale,

Drum Schwestern all‘, seid auf dem Damm!

Dem alten Satz Ou est la femme

Soll neue Antwort werden

In jedem Land auf Erden!

Manch Ehemann sitzt still beiseit

Und singt von schönen Stunden:

O alte Burschenherrlichkeit,

Wohin bist Du entschwunden!

Die Frau indes zur selben Zeit

Beginnt: O Frauenherrlichkeit,

wie bist du im Entstehen,

Die Welt wird Wunder sehen!

O neue Frauenherrlichkeit,

O neue Zukunftssonne!

Bald leuchtest du der jüngsten Maid

Zu neuer Daseinswonne,

Es geht im neuen Säkulum

Das Mädchen aufs Gymnasium,

Es darf auch schon studieren

Und hier und da amtieren!

Die Mägdlein sind sehr ‚wählerisch‘,

viel mehr noch als die Knaben,

Drum wollen sie vom ‚grünen Tisch‘

Das ‚Wahlrecht‘ schriftlich haben,

Indeß wenn man’s bei Licht besieht:

(`ist kein Malheur, wenn’s nicht geschieht)

Dem weiblichen Geschlechte

Gebühren andere Rechte!

O stolze Frauenherrlichkeit

Warst Du nicht stets vorhanden.

Zwingt nicht die Frau zu jeder Zeit

Den stärksten Mann in Banden?

Seufzt nicht manch schwacher Ehemann:

Jetzt hat die Frau die Hosen an!

Was auch der Gatte leiste,

Gilt nicht ihr Wort das meiste?

Der Jüngling liebt den rauhen Pfad

Und Kühnheit ziert sein Treiben,

Der Jüngling stellt sich als ‚Soldat‘

Die Jungfrau läßt dies bleiben,

hier führte Gleichberecht’gung nur

Zu einem Zweispalt der Natur!

„Bis hierher und nicht weiter!

Dröhnt’s dann mit Macht!

Ernst Heiter“15

Dieser Text ist von seinen medialen Verbreitungsbedingungen bestimmt: Er erscheint als Unterhaltungstext in einer bürgerlichen, christlich ausgerichteten Tageszeitung, die das imperiale, nationale Projekt des Kaiserreichs unterstützt und den Bestrebungen der Sozialdemokratie eine klare Absage erteilt.16 Er ist polyvalent, lässt sich also heute wie damals mehrdeutig interpretieren und verarbeitet Alltagsgespräche, wie sie an der Ladentheke, beim Gesangsverein oder am Stammtisch stattfanden, gerade wenn auch im sich industrialisierenden Schwerte plötzlich Mädchen aus bürgerlichen Schichten das Bedürfnis verlauteten, studieren zu wollen oder Reformkleider und ungewohnte Frisuren trugen.

Die Autorin sieht das Zeitalter der alten „Burschenherrlichkeit“ überwunden. Diese Formulierung, die auf eine spezifische männerbündische Kultur des Studentenlebens verweist, wie sie heute noch in Burschenschaften hochgehalten wird, ist nicht nur im übertragenen Sinne zu verstehen, sondern im konkreten, strebten doch 1904 zunehmend  Frauen zum Studium an die Universitäten und stellten das hergebrachte Selbstverständnis des universitären Milieus infrage. Der Begriff „Burschenherrlichkeit“ gehörte zum allgemeinen Sinn- und Deutungshorizont der Gesellschaft: Er war nicht nur durch das im Gedicht anklingende Lied „O alte Burschenherrlichkeit“ präsent, sondern auch durch beliebte Postkartenmotive, die die Studenten verschickten.

Luise Elias feiert stattdessen „Frauenherrlichkeit“, nachdem die Frage nach Bildung auf den Weg gebracht worden ist – „Es geht im neuen Säkulum/ Das Mädchen aufs Gymnasium“ – und Frauen auch schon studieren können. Nun schreitet der Weg zur Gleichberechtigung weiter voran. In den letzten drei Strophen greift Luise Elias die Argumente auf, mit der die (nicht nur) bürgerliche Gesellschaft ihrer Zeit männliche Vormachtstellungen verhandelt: Wehrdienst für den Mann, das natürlich vorgestellte Geschlechterverhältnis, das bei einer Gleichberechtigung zu einem „Zweispalt der Natur“ führe, die rund um die „natürliche“ Veranlagung des weiblichen Geschlechts seit alters her gewohnheitsmäßig ausgeübten Machtposition im Privaten der Familie – „Gilt nicht ihr Wort das meiste?“ – lassen weitergehende Forderungen anmaßend erscheinen. Das Patriarchat, so könnte eine Lesart des Gedichtendes lauten, wird seinen Herr-im-Haus-Standpunkt nicht so einfach abtreten, wenn es ernst wird: „Bis hierher und nicht weiter! Dröhnt’s dann mit Macht!“ Ein indirekter Hinweis auf Sympathien mit den Forderungen der Frauenbewegungen lässt sich festmachen an der Formulierung: „Drum wollen sie vom ‚grünen Tisch‘ das ‚Wahlrecht‘ schriftlich haben, Indeß wenn man’s bei Licht besieht: (`ist kein Malheur, wenn’s nicht geschieht) Dem weiblichen Geschlechte Gebühren andere Rechte!“ In den drei letzten Strophen referiert sie gesellschaftliche Positionen, wie der gewählte Konjunktiv der indirekten Rede andeutet: „ … hier führte Gleichberecht’gung nur zu einem Zweispalt der Natur!“17 Der Schluss läst die Interpretation zu, dass es nicht einfach sein wird, eine Transformation im Geschlechterverhältnis herbeizuführen und Frauenbewegungen aufgrund gesellschaftlich lang tradierter Rollenmuster mit erheblichem, dröhnendem Gegenwind zu rechnen haben: „Bis hierher und nicht weiter!

Am Samstag den 18. September 1904 bringt die Schwerter Zeitung in ihrer Wochenschau auf der Titelseite nicht nur den Hinweis, dass „aus unserer deutsch-südwestafrikanischen Kolonie“ die Ankunft des neuen Oberbefehlshabers des Expeditionskorps gegen die Herero, des Generalleutnants von Trotha gemeldet wird, sondern auch einen Hinweis auf den Frauenkongress in Berlin: „‘Dieser Kuß der ganzen Damenwelt,‘ mag der Reichskanzler Graf Bülow gedacht haben, als er bei einem gesellschaftlichen Empfang der leitenden Persönlichkeiten des zur Zeit in Berlin tagenden internationalen Frauen-Kongresses der greisen Wortführerin der nordamerikanischen Frauenrechtlerinnen Miß Susanne Anthony verbindlich die Hand küsste. (…) Denn an eine praktische Verwirklichung dessen, was die Damen neu fördern [sic!] ist bei uns in Deutschland nicht zu denken, und vieles von dem, über welches fremde Damen sehr gewandt sprachen, steht bei uns schon besser, wie im Auslande. Auch die deutsche Kaiserin hatte bei einem Empfang der Damen mancherlei Wünsche, die sie ihrem hohen Gemahl mitteilen sollte, zu vernehmen, zog sich aber gewandt aus der Schlinge etwaiger Verpflichtungen, indem sie lächelnd sagte: ‚Die Herren wollen nicht immer alles hören!‘“ 18 Diese Verwobenheit der Meldung über den Frauen-Kongress in Berlin in der Schwerter Wochenschau mit einer Berichterstattung zum Hereroaufstand, den deutschen Interessen in Marokko, den deutschen Ansiedlern in Südafrika und der Sommerpause des Parlaments zeigt, dass die Frauenfrage und die öffentlichkeitswirksam inszenierten Kongresse in Berlin auch in Schwerte auf ein interessiertes Zeitungspublikum stießen.

Zum Frauenkongress 1904 in Berlin

Das Interesse an einer diversen, transkulturellen Ruhrgebietsgeschichte als Geschlechtergeschichte erweitert an dieser Stelle die bisherigen Erzählungen zum Kongress19 um den Hinweis, dass in Berlin 1904 auch eine Woman of Colour sprach: Mary Church Terrell (1863-1854) aus Washington, D.C. Sie war Mitbegründerin und erste Präsidentin der National Association of Coloured Women, die 1896 aus der National Federation of Afro-American Women and the National League of Coloures Women entstanden war.20Mary Church Terrell stand mit drei weiteren Aktivistinnen auf einer Liste, die Alice Salomon (1872-1948) als Vorstandsmitglied und Schriftführerin des Bundes Deutscher Frauenvereine als Kongressorganisation zugeschickt worden war. Die Namen der weiteren vorgeschlagenen Vertreterinnen lauteten: Mrs. Booker T. Washington, Mrs. B. K. Bruce, Mrs. Coralie Franklin Cook.21

Mary Church Terrell sprach am 13. April über die „Lage der farbigen Dienstboten“, am Abend des gleichen Tages dann über „Die Fortschritte der farbigen Frau“. Sie begann ihren Vortrag: „Ich glaube, daß mein Erscheinen in dieser illustren Versammlung wohl aus zwei Gründen Aufmerksamkeit verdient. Erstens bin ich die einzige Frau auf diesem Kongress, welche eine Rasse vertritt, die kaum 40 Jahre sich der goldenen Freiheit erfreut, und zweitens die einzige, deren Eltern tatsächlich Sklaven waren, und die es nur der Güte der Vorsehung verdankt, diesem Los entgangen zu sein. Sie schauen mich an und denken bei sich: ein weißer Rabe, in der Tat! Ich aber weile froh und guten Mutes heute Abend in ihrer Mitte, auch aus zwei Gründen: erstens freue ich mich der Emanzipation meiner Rasse, und dann der allgemeinen Erhebung des weiblichen Geschlechts!“22 In einem Brief an ihren Mann Robert schrieb sie noch am Abend, völlig überwältigt vom Tage: „My reception here tonight was an ovation! People stood up in that wonderful Philharmonie, where all the finest concerts are held and [shouted?] ‘bravo’ and applauded until the presenting officer had to ring a bell to make them sit down so that she could go on with the program. I spoke in German and I must say I did well. (…)”23

Kriegslyrik

Das Gedicht zum Frauen-Kongress bildet mit seiner dezidiert frauenbewegten Thematik eine Ausnahme im lyrischen Schaffen von Luise Elias. Winfried Reininghaus hat sich in seiner politikgeschichtlichen Auswertung der Texte auf die Kriegszeit 1914 bis 1918 und die junge Republik konzentriert und zeigt: Während Luise Elias am 25. Juli 1914 die aufkommende Kriegsgefahr noch in Sätzen wie „Rings sprießt des Friedens edle Saat,/ der Liebe Macht bleibt Sieger“ fasst, wurde die Kriegsgefahr bereits eine Woche später explizit Thema. Ihr Gedicht vom 8. August 1914 folgt der allgemeinen nationalistischen Mobilisierung: „Deutschland, steh auf“, „Deutschland, schlag drein“, „Einig und stark“, „Treu bis zum Tod“. Winfried Reininghaus verzeichnet einen Wandel von „friedliebenden Untertönen zu solcher martialischen Schreibweise binnen vierzehn Tagen (…)“24Noch gegen Kriegsende verlautete Luise Elias Durchhalteparolen und im Oktober 1918, „als nach heutiger Erkenntnis die Mittelmächte den Krieg verloren hatten“25,  warb sie noch für die Zeichnung von Kriegsanleihen und propagierte: „Stark und treu, dann wird das Schwerste überwunden.“26 Diese – wie Reininghaus es vorsichtig nennt – „kriegerische Grundhaltung gegenüber den äußeren Feinden Deutschlands“27 prägt ihre Gebrauchslyrik bis Kriegsende. Reininghaus konstatiert: „Die Dichterin irritiert uns.“28 Sein Fazit: Wie andere Autor:innen dieser Zeit forcierte sie in nationalistischem Duktus deutsches Heldentum, pflegte stereotype Feindbilder und eine „Heroisierung des Soldatischen“.29

Damit folgte Luise Elias der politischen Linie der Schwerter Zeitung und der propagandistisch ins Werk gesetzten Mobilisierung der Heimatfront. Die Tageszeitung unterlang der Zensur und es wäre nicht möglich gewesen, zum Beispiel für Pazifismus einzutreten, wie Reininhaus erklärt.30Dies hätte aber auch nicht der verlegerischen Linie der Zeitung entsprochen, in der Luise Elias ihre Gebrauchslyrik positionierte.

Selten scheinen in den Gedichten  konkrete Hinweise auf die Lebensbedingungen auf, so wenn sie am 24. August 1918 Die fleischlosen Wochen anpreist, die einmal pro Monat eingeführt wurden:

„Der Mensch kann vieles, wenn er muß,

Der Krieg macht ihn bescheiden,

So müssen wir den Fleischgenuß

Zeitweilig gänzlich meiden;

Mit manchem lieben alten Brauch

Ist neuerdings gebrochen,

So tragen wir das Neueste auch,

Es gibt fleischlose Wochen.

(…)

Die Pflanzenkost in Küch‘ und Haus

Kommt glänzend zur Bewährung,

und gleicht die Gegensätze aus

Bezüglich der Ernährung;

Fleischlose Wochen überall,

An jedem deutschen Orte,

Verboten ist der Sonderfall

Für Geld und gute Worte.

Die neue Ernte stärkt den Mut,

Mit dem wir vorwärts blicken,

Und stehet es auch da draußen gut,

so kann uns nichts bedrücken;

Gern opfert, was er kann und muß,

Auch hier der Heimat Streiter,

Drum stellt er jetzt den Fleischgenuß

Zeitweilig ein. Ernst Heiter“.31

Diese Verse sind eine aussagekrägtige Quelle zur Mobilisierung der Heimatfront, die über verschiedenste Medien wie Plakate, Gedichte, Postkarten, Feiern, Spielzeug und eben auch Medienbeiträge ins Werk gesetzt wurde. Luise Elias propagiert den Verzicht am heimischen Herd als gern geleistetes „Opfer“ und setzt ihn in Bezug zu dem „da draußen“ – gemeint ist die Front. Sie beschwört in ihren Reimen die Tugenden der westfälischen Hausfrau: „Nun häuft der Hausfrau fleißge Hand/ Mit Kohl und Kraut die Teller (…).“ Und deutet das Hamstern als Alltagspraxis wenigstens an: „Nur, wer aufs Hamstern sich verstand,/ Steigt heimlich in den Keller.

Für Wilfried Reininghaus klingen die drei im November 1918 veröffentlichten Gedichte, als sich die Zensur lockerte und schließlich entfiel, „authentischer“.32

Am Vortrag zur Wahl zur Nationalversammlung am 19. November 1919 veröffentlichte Luise Elias Auf zur Wahl! Sie wirbt in diesem Text nach den Wortgefechten des Wahlkampfes für den Gang zur Urne und appelliert an die weibliche Wählerschaft, das Wahlrecht als Wahlpflicht zu verstehen:

(…) „Drum geht der Ruf durch Land und Stadt

Für die gerechte Sache,

Daß jeder, der ein Wahlrecht hat,

Gebrauch von diesem mache;

Daß keiner stumpf zu Hause bleibt

Und diesen Akt verfehle,

Daß ihn die Pflicht zur Urne treibt,

Er gehe hin und wähle! (…) 

Es hallt so lang der Widerstreit

Bis daß die Wahl gewesen.

Doch diesmal sind zur Mitarbeit

die Frauen auserlesen!

Unübersehbar ist die Zahl

Der Weiblein, die heut wählen,

Es darf bei dieser Damenwahl

Kein deutsches Mädchen fehlen! (…)“ 33

Gedichte für die junge Republik

In den Gedichten für die junge Republik werden die Erfahrungen mit Mangel, Not, Bangen und Hoffen auf ‚Wohlfahrt‘ explizit angesprochen, was sicherlich auch den gelockerten Zensurbestimmungen geschuldet ist. Bei der Lektüre der Schwerter Zeitung wird klar, wem die politische Verantwortung für Instabilität, für Chaos, Not und Leid angesichts von Streiks und Aufständen zugewiesen wird: „Spartakus“. Im Gedicht Winter vom 3. Februar 1919 heißt es: „(… ) Ohne Butter, Eier, Fett/ abgemagert zum Skelett,/ Blicken wir mit bangen Sorgen/ Trüben Sinns von heut auf morgen (…) Wie die Dinge leider liegen, ist die Kohlennot gestiegen/ Und man hilft in Stadt und Dorf/ Sich bereits mit Holz und Torf (…)“34Der Text ist getragen von der Position der Mehrheitssozialdemokratie, die die Streiks und Aufstände der Bergleute im Ruhrgebiet verurteilte und stattdessen „Arbeit“ für den Wiederaufbau ins Zentrum ihres politischen Programms stellte. Luise Elias textet: „(…) Aber ohne Kohle nie/ kann bestehn die Industrie,/ Und das Unglück macht sich breiter,/ Drum geht es nicht so weiter (…) Jeder, der die Ordnung liebt,/ Fasse zu, wo’s Arbeit gibt,/ Daß die Produktion er mehre,/ Je mehr Arbeit, je mehr Ehre! (…) Arbeit sei der Trostbereiter,/ Der uns aufwärts führt! Ernst Heiter.“35

Der Versailler Vertrag ist für Luise Elias untragbar, auch als Sozialdemokratin. Sie sorgt sich um die junge Republik, so in dem Gedicht Adventszeit mit der Zeile: „Es kann die junge Republik/ Sich gar nicht recht erholen (…)36 vom 13. Dezember 1919. Im Gedicht April 1920 bezieht sie sich auf den Kapp-Putsch: „(…) Braust ein neuer Sturm zu Tal,/ Neue Schrecken zieh’n vorüber!/ An der Ruhr gibt‘s keine Ruh,/ Und die Not nimmt täglich zu,/ Darum mit dem Druck der Waffen/ Soll die Reichswehr Ordnung schaffen.“37Angesichts der nicht enden wollenden Aufstände, Krisen, Widrigkeiten mischt sich Resignation unter die Reime: „(…) Trübe ist die Gegenwart,/ Doch der gute Bürger harrt/ Duldsam der Erlösung weiter,/ Die nicht kommen will! Ernst Heiter.“38

Am Samstag, den 13. Januar 1923 ruft die Schwerter Zeitung mit einer großen Anzeige auf dem Titelblatt auf zur „Protest-Kundgebung der gesamten Bürgerschaft gegen die Besetzung des Ruhrgebietes am Sonntag, den 14. d. Mts., 12 Uhr mittags auf dem Marktplatz zu Schwerte. Der Bürgermeister“.39 Auf der zur Ausgabe gehörenden Humorbeilage zur Schwerter Zeitung veröffentlicht Luise Elias ihr Gedicht Neue Stürme. Darin nimmt sie nicht nur Bezug auf die Inflation, sondern in blumigen Worten mit Friedrich Schillers Worten auch auf die Ruhrbesetzung: „(…) Es kann auf dieser schönen Welt/ Der Beste nicht in Frieden leben,/ Wenn es dem Nachbarn nicht gefällt. (…) Und schließlich rückt er ihm ins Haus/ Und holt, was er noch hat heraus./ (…)40

Ihr letztes Gedicht erschien am 3. Februar 1923 in der Schwerter Zeitung.

Jüdin und Sozialdemokratin

Luise Elias trat 1918 in die Sozialdemokratische Partei (SPD) ein. Sie kandidierte für die Wahl zum Schwerter Stadtparlament mit der Berufsbezeichnung „Schriftstellerin“, nachdem sie zuvor bereits zusammen mit der sozialdemokratischen Funktionärin und renommierten Rednerin Anna Lex aus Dortmund im Wahlkampf zur Nationalversammlung aufgetreten war. Überliefert ist die Ankündigung zu ihrem Vortrag „Antisemitismus und Wahlagitation“ am 11. Januar im Westfälischen Hof.41

Von ihrer bürgerlichen Herkunft aus der Kaufmannschaft, als Angehörige der jüdischen Synagogengemeinschaft und als Frau mit frauenbewegten Interessen hätte sich für Luise Elias die neu gegründete Deutsche Demokratische Partei (DDP) als politische Heimat angeboten, vereinigte doch die DDP das linksliberale Bürgertum und war offen gegenüber der Mehrheitssozialdemokratie. In den Nachbarstädten vertraten einflussreiche Frauen mit bekanntem Namen in der Frauenbewegung wie Li Fischer-Eckert (1882-1942)42 aus Hagen und Martha Dönhoff (1987-1955) aus Witten prominent die DDP. Die DDP bezeichnete sich selbst als „Partei der denkenden Frauen“ und richtete sich mit diesem Wahlslogan mit einer eigenen Anzeige zur Stadtverordnetenwahl an die „Haufrauen! Berufsfrauen!“. Sie zielte mit dieser differenzierenden Ansprache auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionierungen und Erfahrungen von Frauen.43 Auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es bereits ein Bewusstsein für Diversität in Frauenleben – „die Frau“ hat es im politischen Diskurs der Frauenbewegungen nicht gegeben. Beispielhaft sei hier auf Clara Zetkin verwiesen, die in ihrem Buch Die Arbeiterinnen- und Frauenfrage der Gegenwart  für jede Klasse eine eigene Frauenfrage umriss.44

In Schwerte kandidierte der jüdische Textilhändler Bernhard Stern für die DDP. Luise Elias kandidierte hingegen für die Sozialdemokratie. Neben politischer Zustimmung lassen sich die Gründe für die milieuspezifisch ungewöhnliche Pateinahme nicht abschließend klären. Aber: Die SPD hatte wie keine andere Partei seit langem den Kampf gegen das Dreiklassenwahlrecht und die Gleichheit der Geschlechter geführt, sie hatte sich offen gegen den aufkommenden Antisemitismus gestellt. Vielleicht gab es aber auch einfach gute, konstruktive Beziehungen zu den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten der näheren Umgebung …  Vielleicht aber hatte die Partei auch mit einem guten Listenplatz bei der Kommunalwahl für sie geworben, denn ihr Name stand auf Platz drei der Wahlliste.

Antisemitismus

Es gibt eine  Spur, die auf eine inhaltliche Entscheidung hinweist: Lise Stern, Tochter des jüdischen Kaufmanns und Kandidaten der DDP für das Stadtverordnetenparlament in Schwerte, reagierte mit einem Leserbrief in der Schwerter Zeitung auf eine Wahlveranstaltung mit dem Hagener Justizrat Schulz von der Deutschen Volkspartei. Eine Passage soll hier zitiert werden, weil die Reaktion im Umkehrschluss Einblicke in die Verwendung von Antisemitismus als Mittel politischer Hetze gibt, die als Strategie noch heute zur Anwendung kommt: „Nicht wahr, Herr Schulz, die Sozialdemokratie als solche anzugreifen, das überlegen Sie sich wohl! Aber es gibt ja noch eine kleine Minderheit in Deutschland, dagegen zu kämpfen, müsste eigentlich gelingen. Man bedenke doch, 65 Millionen gegen Fünfhunderttausend (…) Warum sind so manche Juden überzeugte Anhänger der Sozialdemokratie? Weil sie früher in der sozialdemokratischen Partei allein die Verwirklichung ihrer hohen Weltanschauung fanden: die Ansicht von jeder Gleichheit aller Menschen, die ein Gott erschaffen. Und dann kämpfen die Sozialdemokraten mit ihnen für ihren Idealismus, für ihren Glauben an den Fortschritt der Menschheit. (…) Wie kann er es wagen, einen Teil des Volkes von der deutschen Gemeinschaft ausschließen zu wollen? Wir Juden sind nicht international! Wir sind deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens! (…)“ 45 Lise Stern spricht mit dem Leserbrief nicht für die Sozialdemokratie, sondern sie zeigt als „deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, wie Antisemitismus politisch eingesetzt wird – heute würden wir sagen, wie das ‚Othering‘, das Verandern und Disqualifizieren, im politischen Diskurs funktioniert.

Während des Ersten Weltkriegs arbeiteten die Frauenorganisationen der Religionsgemeinschaften eng zusammen an der ‚Heimatfront‘. So leitete die Christin Agnes Tütel zusammen mit Johanna Reifenberg von der jüdischen Gemeinde gemeinsam das Rote Kreuz und die Mütterberatungsstelle.46 Im April 1914 überwies der israelitische Frauenverein 300 Reichsmark für die Unterstützungszwecke der Stadt; der Betrag ist für die wenigen Mitglieder hoch, der Sauerländische Gebirgsverein zum Beispiel spendete nur 100 Reichsmark.47 1917/18 stiftete der israelitische Frauenverein erneut 200 Reichsmark für das Kinderheim des Kreises Hörde.48 Im Jahre 1923, dem Jahr, in dem Luise Elias starb, lebten in Schwerte 15.560 Einwohner, die Synagogengemeinde zählte laut Adressbuch 1923 41 Familien. Die meisten waren, wie ihr Mann Sally Elias, als Kaufleute tätig.49 Die jüdischen Familien in Schwerten pflegten mit ihren christlichen Nachbarn gute Beziehungen, so in den Schwerter ‚Schichten‘, dies waren Nachbarschaften, die das gesellige Leben der Stadt prägten.50

Die Kommunalwahlen in Schwerte

Aufgrund der Verordnung über die Neuregelung des Gemeindewahlrechts vom 24. Januar, bzw. der Nachtragsverordnung vom 31. des Monats wurden die Neuwahlen in Schwerte auf den 2. März 1919 von 9 Uhr bis 20 Uhr angesetzt.51Auch hier sollte nun das allgemeine, gleiche, geheime Wahlrecht nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts, unabhängig von Geschlecht für alle über 20 Jahren gelten und nach Reichsebene und Landesebene auch die Entscheidungsstrukturen der Städte und Gemeinden demokratisieren. Damit endete die Honoratiorenpolitik auf Gemeindebene, die sich vorzüglich im Dreiklassenwahlrechts eingerichtet hatte. Die geplante Demokratisierung der Gemeindeebenen führte im ganzen Land zu Protesten. Es gab handwerkliche Fehler, die in Folge behoben wurden, so, dass Frauen nun zwar „zu Stadt- oder Gemeindeverordneten gewählt werden konnten, aber keine ehrenamtliche Arbeit in den Kommissionen auf Gemeindebene verrichten durften.“ 52 Doch in erster Linie ging es ganz unverblümt um Machterhalt.53 In Schwerte zum Beispiel meldete sich wie andernorts54 am 17. Februar die Lobby der Landwirte und kritisierte unmissverständlich, dass in den industrialisierten Teilen Westfalens die Neuordnung der Wahl eine „bedenkliche Zurückdrückung der eingesessenen Landwirte in der Gemeindevertretung gegenüber der flukturierenden Industrie-Bevölkerung“ bewirken würde, die alteingesessenen Landwirte sahen ihre Interessen „auf das schwerwiegendste“ gefährdet und drohten indirekt mit Versorgungsengpässen. Auch der westfälische Provinzialausschuss legte Protest gegen die Neuordnung ein.55 Hier ging es klar und deutlich um den Erhalt von klassenspezifischen Privilegien, die die alte Landgemeindeordnung von 1856 abgesichert hatte.

In Schwerte verzeichnete man zur Wahl des Stadtparlaments am 2. März so wie überall im Reich eine große Wahlmüdigkeit, Frauen und Männer nutzen nicht mehr so zahlreich ihr Wahlrecht wie noch bei der Wahl zur Nationalversammlung. Im neuen 30-köpfigen Stadtparlament erhielt die SPD 12 Sitze, das Zentrum fünf, die Liste der Beamten drei Sitze, die Liste der Handwerker drei Sitze, der Zusammenschluss von Deutscher Volkspartei und Deutschnationaler Volkspartee drei Sitze, die Liste der Demokratischen Partei drei Sitze und die Unabhängige Sozialdemokratie einen Sitz. Es zogen als Frauen Luise Elias für die Sozialdemokratie in das Stadtparlament ein, die auf Platz 3 der Wahlliste stand, sowie die Konrektorin der Haselack-Schule, Sophie Ludwig (1862-1941), für das Zentrum, die auf Platz 5 ihrer Liste nominiert worden war. Das Stadtparlament hatte sich nicht nur von 17 Personen männlichen Geschlechts auf 30 erweitert, wozu nun auch zwei Frauen gehörten: Von den bisherigen ‚Stadtvätern‘ waren nur vier wieder in das Stadtparlament zurückgekehrt.56Damit übernahm ein vollständig anders zusammengesetztes Gremium die parlamentarische Arbeit für die Stadt. Am 20. März 1919 trat die neue Stadtverordnetenversammlung unter großem Interesse der Öffentlichkeit auf der Tribüne zum ersten Mal zusammen: „ (…) die beiden ‚Stadtmütter‘, auf die sich wohl das Hauptinteresse der zahlreicher [sic!] weiblichen Tribünen-Besucher konzentrierte, Frau Elias und Fräulein Ludwig, hatten inmitten ihrer Fraktionen Platz genommen.“57 Mehr lässt sich zu den ersten Parlamentarierinnen in Schwerte aus der Zeitung nicht  erfahren. Angesichts der gewaltvollen Zeiten ist vielleicht der Hinweis wichtig, dass die erste Zusammenkunft des neuen, demokratisch gewählten Vertetungsgremiums von Bestrebungen geprägt war, Eintracht und Entgegenkommen walten zu lassen.

Eine interessante Frau

Luise Elias nahm in dreifacher Hinsicht zu ihrer Zeit eine Außenseiterstellung ein: Als bürgerliche Frau eines Textilkaufmanns gehörte sie einer Fraktion an, die zumeist aus gewerkschaftlich organisierten Metallarbeitern der beiden großen Schwerter Fabriken, den Nickelwerken und der Eisenindustrie, stammten. Sie war die einzige Angehörige der jüdischen Synagogengemeinde im Schwerter Stadtrat. Insgesamt waren in den westfälischen Kommunalparlamenten kaum Angehörige der jüdischen Minderheit vertreten. Nach den empirischen, forschungsgesättigten Daten von Winfried Reininghaus fanden sich jüdische Mandatsträger nur in westfälischen Städten wie Dortmund, Bochum, Hagen, Hamm, Unna, Hörde, Aplerbeck, im Münsterland in Dülmen, Vreden, Ahaus sowie in Ostwestfalen-Lippe in Herford und Lemgo.58 Nun können wir für mittlere Städte im Regierungsbezirk Arnsberg zusätzlich auf Luise Elias verweisen.

Luise Elias befand sich zudem als Frau in einer Minderheitenposition – nicht nur im Schwerter Stadtrat. Den geschätzt 15.000 männlichen Mandatsträgern in Westfalen und Lippe 1919 standen 119 Mandatsträgerinnen gegenüber – der Anteil lag „deutlich unter 1 Prozent“59 – in Schwerte genau bei 0,6 Prozent.

Angesichts dieser Zahlen ist eine Diskussion darüber, ob Frauen mit dem Wahlrecht in die Männerdomäne kommunalpolitischer Entscheidungen einbrechen konnten, müßig. Dies hatten bereits die Zeitgenossinnen bemerkt, zum Beispiel der Duisburger Frauenausschuss, und ‚wirkliche‘ politische Partizipation auf der Kommunalebene bereits in den 1920er Jahren gefordert.60

Luise Elias war schwer asthmakrank. Sie starb im Oktober 1923.

Dr. Uta C. SChmidt/ frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Geschäft von Sally Elias auf der Hüsingstraße 1, 58239 Schwerte
Druck- und Verlagshaus der Schwerter Zeitung, Große Marktstraße 1, 58239 Schwerte

Zitation: Schmidt, Uta C., Luise Elias, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/luise-elias/

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Rita Kronauer

Bochum ist mit „ausZeiten. Feministisches Archiv für Frauen Lesben Mädchen“ ein zentraler Ort frauenbewegter Erinnerungskultur im Ruhrgebiet. Das 1995 gegründete ausZeiten ist aufs engste verknüpft mit dem Engagement Rita Kronauers in der Frauen- und Lesbenbewegung seit den 1970er Jahren. Unermüdlich setzt sie sich ein für Vernetzung, Professionalisierung und Institutionalisierung feministischer Archive als Überlieferungsorte für frauen- und lesbenbewegte Geschichtsarbeit sowie für feministisches Geschichtsbewusstsein.

Zum Psychologiestudium nach Bochum

Rita Kronauer stammt aus Wittlich in der Eifel. Zum Wintersemester 1972/73 kam sie nach Bochum, um an der noch jungen Ruhr-Universität Bochum (RUB) Psychologie zu studieren. Ihr Vater war Lehrer, die Mutter Kindergärtnerin. Sie gab den Beruf auf, als sie Arbeit und Pflichten als Hausfrau und Mutter von vier Kindern übernahm. Die Eltern ermöglichten ihrer Tochter die gleiche Ausbildung wie ihren Söhnen. Und so konnte Rita Kronauer nach dem Abitur ihr Wunschstudium an der Ruhr-Universität Bochum aufnehmen. Gefragt, mit welchen Bildern zum Ruhrgebiet im Kopf sie Mitte der 1970er Jahre ins Ruhrgebiet übersiedelte, erinnert sie sich an keine Vorbehalte oder Vorurteile, sondern an persönlichen Aufbruch. Psychologie war ein hartes Numerus Clausus Fach und sie war froh, einen Studienplatz erhalten zu haben. Zudem lebte eine Freundin der Mutter in Bochum, die keinen unzufriedenen Eindruck mit ihrem Lebensumfeld machte.1

Hinzu kommt, dass Anfang der 1970er Jahre das Ruhrgebiet, speziell Bochum als bis dahin einzige Stadt mit einer Universität, zum Anziehungspunkt für Studentinnen und Studenten aus der ganzen Bundesrepublik wurde, weil  sie die Nähe zur Arbeiterbewegung suchten, besonders zu den streikenden Arbeitern und auch den Arbeiterinnen in den Fabriken. Bochum war begehrt.

Das Fach Psychologie befand sich einerseits in einer fundamentalen Neuorientierung hin zu einer stärker naturwissenschaftlichen Ausrichtung, andererseits wurden seine Lehrinhalte von studentischer Seite aus grundsätzlich hinterfragt, in Deutschland nicht zuletzt mit Texten zum autoritären Charakter, der mit seinen Einstellungsmustern und Persönlichkeitsstrukturen den Nationalsozialismus vorbereitet hatte. 2Die Theorie des autoritären Charakters erschien „unmittelbar einsichtig in der westdeutschen Gesellschaft“.3 Das Fach Psychologie, das sich dem Zusammenspiel von Verhalten, Erleben, Organismus und Umwelt widmet, wurde aber auch durch die Antipsychiatriebewegung herausgefordert, die die Veränderung der Gesellschaft an die Bedürfnisse des Menschen und nicht die Anpassung des Menschen an die Gesellschaft forderte.4 In selbstorganisierten, politisch linken Studienkollektiven setzten sich die Studierenden – mittendrin Rita Kronauer – mit diesen für das Fach erkenntniserweiternden Sichtweisen und den Machtverhältnissen in Wissenschaft und Gesellschaft auseinander.

Sie wohnte in einer Wohngemeinschaft (WG) gemeinsam mit Frauen und Männern, einer neuen Form des Wohnens, die die moralisch-sittlichen Vorstellungen dieser Zeit herausforderte. 1974 schloss sie sich gemeinsam mit den Frauen ihrer gemischten WG der „Frauengruppe Bochum“ an, die sich damals privat in größeren WGs traf. Ihr wurde zunehmend deutlich, dass sich Befreiungsbewegungen von Frauen nur autonom und radikal von Frauen selber, nicht jedoch in gemischtgeschlechtlichen linken Gruppen entfalten können. Nach dem Abschluss ihres Psychologiestudiums arbeitete Rita Kronauer im Frauenhaus Dortmund. Sie blieb von nun an, soweit dies in dieser Gesellschaft möglich ist, in autonomen Frauenkontexten.

Frauen- und Lesbenbewegung

Rita Kronauer steht mit ihrer Biografie auch für die sich entfaltende Lesbenbewegung in Westdeutschland. Sie zog im Sommer 1975 aus ihrer gemischtgeschlechtlichen Wohngemeinschaft aus und in eine Frauen-WG ein. Sie beendete ihre heterosexuelle „Phase“ und damit viele Diskussionen mit Männern. Nach einer Zeit der Suche und Neuorientierung  begann sie, frauenbezogen zu leben und versteht sich seitdem als Feministin und als Lesbe.5

Sie ist damit Akteurin in einer Entwicklung, die sich seit den 1970er Jahren in unterschiedlichen internationalen, regionalen und lokalen frauenbewegten Kontexten vollzog: Ging es zum einen darum, in einer frauen- und lesbenfeindlichen Gesellschaft Selbstbewusstsein zu entwickeln und sich als Lesben zu vergemeinschaften, war die feministische Position von der Einsicht getragen, dass auch Lebenszusammenhänge als lesbische Frauen wie die aller Frauen im Patriarchat von Männern gemacht und bestimmt werden.

Geradezu programmatisch kommt diese Sichtweise in einem 1978 vom Frauenzentrum München verfassten Text zum Ausdruck: „Wir wollen keine Trennung mehr zwischen politisch und privat. Frauenbewegung ist für uns beides. Wir empfinden es als unüberwindbaren Widerspruch, mit unserem Kopf und unseren intellektuellen Kräften in der Frauenbewegung zu sein, unsere Emotionen, Energien und unseren Körper aber Männern zuzuwenden. Jeder Mann – auch der noch so liberalste und verständnisvollste – repräsentiert für uns diese patriarchalische Gesellschaft, die uns Frauen unterdrückt, fremdbestimmt, funktionalisiert, zerstört. Wir können uns nur selber finden und stark werden, wenn wir uns den Männern und damit der uns in dieser Gesellschaft zugedachten Frauenrolle verweigern, wenn wir uns voll auf Frauen beziehen und uns dadurch auch mit uns selber auseinandersetzen: sowohl mit unseren faszinierenden und schönen Seiten als auch mit den tiefliegenden Problemen, die Folge unser Fremdbestimmung sind.“6 Von nun an hieß es: „Feminismus ist die Theorie. Lesbianismus ist die Praxis“.7

Politische Differenzierungen

Linda Unger hat für das Digitale Deutsche Frauenarchiv einen richtungsweisenden Aufsatz über die Bochumer Lesbenbewegung geschrieben und als deren Ursprungsszenario einen öffentlichen Kuss zweier Frauen auf dem Bochumer Festival „Kemnade International“ 1977 gesetzt, den anwesende ‚Heteras‘ als rufschädigend für die Ziele der Frauenbewegung missbilligten.8 Dieses Ereignis weist auf Konflikte zwischen heterosexuellen Frauen und Lesben in damaligen Bewegungsfigurationen hin. Sie führten im Herbst 1977 zur Gründung eines eigenen Lesbenzentrums in Bochum, an der auch Rita Kronauer beteiligt war.

In der Bundesrepublik brachten Anfang der 1970er Jahre frauenliebende Frauen ihr Begehren an die Öffentlichkeit. So organisierte Anne Henscheid (1945-2009) die erste Homosexuellen-Demonstration in Münster mit und trug bei der Demo am 29. April 1972 die Botschaft “Homos raus aus den Löchern“ über den Prinzipalmarkt durch die Stadt.9 Unter dem Label „homosexuelle Emanzipation“ artikulierten sich in spezifischen regionalen Kontexten schwule wie lesbische Akteur:innen gemeinsam, „der Homosexualität  im Geflecht gesellschaftlicher Normalität Geltung zu verschaffen“. 10

In Münster bildete sich dann eine Lesbengruppe, die sich nach kurzer Zeit aus dem schwul-lesbischen Kontext löste und in der autonomen Frauenbewegung verortete. In zahlreichen anderen westdeutschen Städten fand eine andere Entwicklung statt: Lesben gründeten gemeinsam mit heterosexuellen Frauen Frauengruppen, oft ohne sich als Lesben erkennen zu geben. Sie unterstützten Forderungen der heterosexuellen Feministinnen, und erst später artikulierten sie sich als Lesben oder als Lesbengruppen politisch bewusst als Teil der autonomen Frauenbewegung. In dieser Phase begannen innerhalb der frauenbewegten Kontexte Auseinandersetzungen darum, dass Lesben Sichtbarkeit forderten, und feministische Lesben schufen sich eigene Bewegungsöffentlichkeiten, um über ihre Situation und gesellschaftliche Lage reden und entsprechend agieren zu können. Gleichzeitig arbeiteten Lesben auch weiterhin mit heterosexuellen Frauen in autonomen Gruppen zusammen und gründeten neue Frauenprojekte.

1983 fasste Rita Kronauer rückblickend vor dem Hintergrund einer neuen Gruppenbildung in Bochum die Entwicklung in einem Papier „skeptisch-distanziert“ zusammen. Für sie galt: „Zentrale Frage in der neuen Lesbengruppe ist für mich die nach den möglichen Inhalten einer ‚Lesbenpolitik‘, d.h. nach dem, was sich aus der Gemeinsamkeit, lesbisch zu sein, an gemeinsamen Analysen und Perspektiven für einen Kampf gegen das patriarchalisch-imperialistische System entwickeln könnte. (…) Zur Frauenbewegung sind wir gelangt über den Frust mit der Linken u. deren Begrenztheit ihrer politischen Inhalte, die die Frauenunterdrückung sowohl in ihren theoretischen Analysen als auch ihrer praktischen Politik ausklammerte bzw. auf einen Nebenwiderspruch reduzierten. Ausgangspunkt und Bestandteil unserer Arbeit sollte die Aufhebung von ‚Privatem und Politischem‘ sein, als Ziele der Frauenbewegung bestimmten wir neben der Aufhebung der Geschlechterrollen die Entwicklung der Kämpfe im Reproduktionsbereich, was nur durch autonome (d.h. von Männern unabhängige) Organisation der Frauen möglich schien.“11

Erfahrung, Erforschung, Erinnerung

Die Soziologin Ilse Lenz ordnete diese um 1975 verstärkt geführten Auseinandersetzungen als „‘feministische Wende‘ in der Lesbenbewegung“ 12 und die Neujustierung im Verhältnis von Feminismus und Lesbianismus als „konfliktuelle Differenzierung“13 der westdeutschen Frauenbewegung. Sie beschrieb diese Debatten produktiv für die weitere Entwicklung bundesdeutscher Feminismen insgesamt.14  Zugleich wies sie darauf hin, dass weder die lesbischen noch die heterosexuellen Feministinnen eine „einheitliche Position“ vertraten oder gar durch eine „homogene kollektive Identität“ charakterisiert waren, „wie es in der Rückschau angesichts eines selektiven Gedächtnisses erscheinen mag.“15 Dieser Differenzierung würde Rita Kronauer zustimmen, die, frauenbewegt und feministisch, lesbisches Leben als radikale politische Praxis gegen das Patriarchat entfaltete.

Doch zugleich weist sie mit profunden Argumenten entschieden die einprägsame Ordnungsfigur von einer „feministischen Wende“ in der Lesbenbewegung zurück, die Ilse Lenz als Periodisierung für die Geschichtsschreibung zur neuen Frauenbewegung in Deutschland vorschlägt. Die Entwicklung von Lesbengruppen, die sich Anfang der 1970er Jahre in/an der Schwulenbewegung orientierten, hat in einigen Städten stattgefunden, wie in Münster oder Berlin belegt. Sie kann jedoch nicht als allgemeine Entwicklung interpretiert und deshalb kaum als Grundlage für eine Periodisierung herangezogen werden. So bezieht sich eine frühe Überlieferung aus Frankfurt am Main ausschließlich auf Frauenzusammenhänge – hier den Weiberrat –, in dem sich Anfang der 1970er Jahre auch Lesben engagierten und problematisierten, sich als Lesben erkennbar zu machen bzw. den (heterosexuellen) Frauen ihre eigenen lesbischen Anliegen auch als feministische politische Anliegen zu vermitteln.16

Im Frauenjahrbuch Nr. 1 schreibt eine „Frau aus dem Rheinland“ aus lesbischer Sicht, wie heterosexuelle Frauen in der Frauenbewegung mit Lesben umgehen. Mit Bezug auf den ersten Frauenkongress in Frankfurt 1972 heißt es in diesem Text: „Zum ersten Mal [1972, ucs] wurde mir dadurch klar, dass die Liebe unter Frauen ihren Ort in der Gesamt-Frauenbewegung haben muß.“ 17 Es folgen im Frauenjahrbuch zwei weitere Beiträge von Lesben, die diese Position stützen. Und auch Sabine von FLiP beschreibt auf www.frauenruhrgeschichte.de für Essen den originären Zusammenhang von Feminismus und Lesbischsein.18

Ein typisches Problem von Lesben in den Frauengruppen bestand zu Beginn der 1970er Jahre darin, so Rita Kronauer, offen zu artikulieren, Frauen zu lieben. Auch in Bochum traute sich die erste Lesbe, die 1975 in die Frauengruppe kam, zunächst kaum, dies anzusprechen. Damit stellt Rita Kronauer zugleich die Bedeutung autonomer frauenbezogen-feministischer Bewegungsöffentlichkeiten für die Herausbildung eines individuellen wie kollektiven politischen Bewusstseins (nicht nur als Lesbenbewegung) noch einmal dezidiert heraus.

Kategorienbildung und Geschichtsschreibung

Sie kritisiert: „Die Begrifflichkeit der ‚feministischen Wende‘ bricht einer bestimmten Geschichtsinterpretation Bahn, dass es nämlich Anfang der 1970er Jahre eine gemeinsame Schwulen- und Lesbenbewegung gegeben habe, aus der sich dann die Lesben gelöst hätten und eine ‚feministische Wende‘ vollzogen hätten.“ 19 Ihre Kritik am Modell dieser „Wende“ bezieht sich auf die implizite Linearität, suggeriert es doch, die Lesben, die diese Wende vollzogen hätten, seien vorher nicht feministisch und damit unpolitisch gewesen. Und sie sieht in diesem Modell einen Modus des Vergessen-Machens damaliger politischen Praxis: „Der politische Begriff eines feministischen ‚Lesbisch-Seins‘, wie wir ihn 15 Jahre lang nicht zuletzt in IHRSINN weiterentwickelt haben, ist heute nicht mehr erwünscht. Wenn wir die Debatte zum politischen Gehalt des Begriffs ‚Lesbe‘ ins Heute weiterführen, dann wird Lesbe immer mehr im Sinne von ‚sexuelle Minderheit‘ verstanden, die LSBTIQA+…-Reihung trägt dazu bei, der verschwommene Begriff des Queerfeminismus ebenfalls. In der Frage der ‚Leih‘mutterschaft zum Beispiel würden wir ‚alten‘ Lesben im Sinne unseres feministischen Politikverständnisses mit den Schwulen nie auf einen gemeinsamen Zweig kommen.“20

Die Politisierung der Mehrheit der Lesben, so die These von Rita Kronauer, verlief in den 1970er Jahren in der Auseinandersetzung mit dem Patriarchat in all seinen Facetten, wie sie in der autonomen Frauenbewegung geführt wurden. Rita Kronauer wählte den Lesbianismus als lebbare Praxis – im Bewusstsein der Bedeutung der autonomen Frauenbewegung, die die Abschaffung der Unterdrückungsstrukturen und Machtverhältnisse innerhalb der Gesellschaft im Blick hatte. In einem Papier „Überlegungen zur Lesbengruppe“ aus dem Jahre 1985 erklärt sie dieses politische Verständnis: „Die Lesbenbewegung entstand als Negativabgrenzung gegenüber den heterosexuellen Inhalten der Frauenbewegung mit dem Anspruch, als (vom Mann) nicht zu kompromittierende ‚Avantgarde‘ der Frauenbewegung eine radikale Politik zu entwickeln, deren langfristiges Ziel der (sic!) Beseitigung jeglicher Unterdrückung durch das Patriarchat war.“ 21

Vielleicht hat auch eine nur verkürzt als linear-zeitlicher Ablauf angeeignete Lesbengeschichtsschreibung die Figur der „feministischen Wende“ genährt, stellt Rita Kronauer wissenschaftskritisch zur Diskussion: Dass in Münster zwei namentlich bekannte Lesben bei der ersten „Homosexuellendemo“ 1972 aktiv waren und dass in Bochum 1970 eine Lesbe das erste Treffen der HAG – Homosexuelle Aktionsgruppe an der RUB – initiierte, ist historisch überliefert und von Christiane Leidinger überlieferungskritisch aufgearbeitet. Entscheidend für diese Suche nach den Anfängen war ihr Forschungsinteresse: den Narrativen der Schwulengeschichtsschreibung, die durchgehend Lesben ausklammerten, differenziertere Erkenntnisse entgegenzusetzen. Es ging ihr darum, der Ausblendung von Lesben in der von Schwulen vorangetriebenen Historiografie der Homosexuellenbewegung Sichtbarkeit als historische Subjekte zu verschaffen und das einseitige Bild zu revidieren. Dieses mythenkritische Interesse machte Leidinger dann auch explizit und provokant zum Titel ihres Aufsatzes: „Gründungsmythen zur Geschichtsbemächtigung? – Die erste autonome Schwulengruppe der BRD war eine Frau.“ 22

Auch der Forschungsgruppe zum queeren Münster ging es 2022 um die Sichtbarmachung von lesbischen Frauen und eine differenziertere Überlieferung im Kontext der für Münster und sein konservativ-katholisches Image bemerkenswerten ersten Demonstration, der in der bundesdeutschen Ereignisgeschichte der Homosexuellenbewegung ein herausragender Stellenwert zukommt – die Forschungsgruppe hatte sich nicht zuletzt zur Vorbereitung des 50-jährigen Jubiläums der Demonstration gebildet.

Anne Herscheid in Münster sah bereits 1973 keine Zukunft mehr in einer Zusammenarbeit mit schwulen Aktivisten und schrieb in einem Papier, das die Gründung einer eigenen Gruppe – die Homosexuellen Frauen Münster – vorbereitete: „Wir möchten Erfahrungen austauschen, sowohl mit den homosexuellen Emanzipations-Gruppen wie auch mit den Frauengruppen, da wir uns als Lesbierinnen mit den Zielen der neuen Frauenbewegung ebenso identifizieren wie mit denen der homosexuellen Emanzipationsgruppen.“ 23 Zugleich diskutierten Lesben andernorts, „ob wir uns als eine Fraktion innerhalb der Frauenbefreiungsbewegung begreifen und mit anderen Frauenorganisationen, die für eine Emanzipation der Frau eintreten, zusammenarbeiten wollen oder nicht.“ 24

Rita Kronauer macht sich, diesen Spuren folgend, für einen Forschungsansatz stark, der nicht nur zu belegen sucht, dass Lesben in schwulen Gruppen mitmachten, sondern für den gleichen Zeitraum untersucht, wie sich Lesben in den und mit den Frauenbewegungen organisierten und Teil davon waren, welche Auseinandersetzungen und Kämpfe ausgefochten wurden, wo Solidaritäten und Bündnisse entstanden, welche Aktionen und Projekte in einer gemeinsamen Agenda verfolgt wurden. Sie plädiert für Interviews mit Zeitzeuginnen jetzt und ein Quellenstudium in Archiven (nicht nur in ausZeiten), um die Sprachfähigkeit der feministischen Bewegungen in Dependenz und Differenz herauszuarbeiten.25

Zeitgeschichtliche Kontextualisierungen von Frauenfragen und Feminismen

Eingebettet waren die hier skizzierten, sich ‚autonom‘ verstehenden lesbischen Frauenzusammenhänge und Positionierungen während der 1970er Jahre in gesamtgesellschaftliche bundesrepublikanische Entwicklungen, in denen der Lebenssituation von Frauen verstärkt öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wurde. Seit der Umsetzung von Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes im „Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts“, die sich bis zum Mai 1957 hingezogen hatte, seit den Bewegungen gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, der Jugend- und ‚Studentenbewegung‘, an denen sich auch Frauen beteiligten, blieben Fragen nach der gesellschaftlichen Situation von Frauen vor allem dank des Engagements vieler Aktivistinnen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik.  Der Deutsche Gewerkschaftsbund rief 1972 zum Jahr der Arbeitnehmerin aus, die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UNO) bestimmte 1975 zum Jahr der Frau – durchaus heftig kritisiert von internationalen Frauenbewegungen – und leitete ab 1976 die Dekade der Frau ein. Doch vor allem die Auseinandersetzungen um die Reform des § 218 politisierten Frauen zwischen Küche, Kirche und K-Gruppen26 in Westdeutschland. Die 1969 gewählte sozialliberale Koalition hatte 1971 eine Strafrechtsreform angekündigt. Quer durch das Land entstanden Initiativen und Bündnisse, die sich für die Abschaffung des § 218 engagierten. Im Juni 1971 erschien in der Zeitschrift Stern die Selbstbezichtigungskampagne von 374 Frauen unter der Überschrift „Wir haben abgetrieben!“ Im März 1972 führte die Deutsche Demokratische Republik (DDR) mit dem „Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“ eine Fristenregelung ein. Diese rechtliche Regelung sorgte angesichts der Systemkonkurrenz im Kalten Krieg diesseits der Mauer für Diskussion und Aufregung. Im März 1972 trafen sich 450 Frauen aus Frauengruppen der gesamten alten Bundesrepublik zum ersten Bundesfrauenkongress in Frankfurt am Main, um ihre Proteste abzustimmen. Ihr politischer Anspruch auf ein Selbstbestimmungsrecht verdichtete sich in der Parole: „Mein Bauch gehört mir!“ 27

In dieser gesellschaftlichen Figuration nahmen Frauen aus der autonomen feministischen Bewegung radikale Positionen ein: Sie grenzten sich von jenen Frauen ab, die sich sozialistisch verstanden und die Frauenfrage im Sinne marxistischer Interpretation als Nebenwiderspruch behandelten. Sie positionierten sich gegen die Frauenpolitik in der DDR, die sie als Staatspatriarchat kritisierten. Und sie setzten sich ab von westdeutschen Partei- und Gewerkschaftsfrauen, die mit ihren Forderungen nach Reformen und Gleichberechtigung nur innerhalb des bestehenden kapitalistischen Systems agierten.

Vom § 218 …

Rita Kronauer gehörte seit 1974 zur Bochumer Frauengruppe. Diese bestand aus dem Plenum, aus mehreren Stadtteilgruppen und Themengruppen, die sich meist in einem wöchentlichen Turnus trafen. Rita Kronauer befasste sich hier intensiv mit Fragen des § 218, der das patriarchale, staatliche Gewaltverhältnis gegenüber den Körpern von Frauen geradezu paradigmatisch zum Ausdruck brachte – und immer noch bringt. Es gehörte zur politischen Arbeit der §218-Gruppe, Artikel aus der aktuellen Tagespresse und aus Alternativmedien auszuschneiden: „Wir haben immer schon Zeitungsausschnitte gesammelt, weil wir damit in den Siebzigerjahren Politik gemacht haben – in Zeiten vor dem Internet. Wir haben die Medien verfolgt, wie berichten sie zum Beispiel über Gewalt gegen Frauen, über den Paragraphen 218 und so weiter.“  Wir dachten: „Wenn wir über diese Fragen informieren, dann wird sich auch was verändern. Heute wird das vielleicht nicht mehr so gesehen, doch für uns war Aufklärung ein zentraler Ansatzpunkt für unsere Politik.“28 Dieser Ansatz stand neben den und parallel zu den anderen Aktivitäten der §218-Gruppe, an der sich auch die Frauen des Plenums beteiligten. Es gab Aktionen auf der Straße, Flugblätter wurden vor Frauenbetrieben und auf Wochenmärkten verteilt, eine „Abtreibungsberatung“ angeboten, Veranstaltungen durchgeführt und regionale und überregionale Vernetzungen aufgebaut.

… zu Aktionen gegen Bevölkerungspolitiken, Gen- und Reproduktionstechnologien

Die Bochumer Frauengruppe, insbesondere die § 218-Gruppe, sammelte – wie andere Frauengruppen in der Frauenbewegung – Informationen zu Frauenärztinnen und -ärzten, die Abtreibungen durchführten, und gab die Informationen im Rahmen ihrer Abtreibungsberatung im Frauenzentrum an betroffene Frauen weiter. Diese Informationen waren gemäß § 219a Strafgesetzbuch illegal. Rita Kronauer ging es in der Abtreibungsfrage nicht um einen Kompromiss. Sie verband in ihrer Frauengruppe den politischen Einsatz gegen den § 218 mit Fragen nach dem Selbstbestimmungsrecht und mit einer grundsätzlichen Kritik an der heterosexuellen Gewalt gegen Frauen, d.h. mit einer radikalen Kritik am gewaltsamen Zusammenspiel von Staat und Recht beim Zugriff auf den Frauenkörper: „Wir wollten keine Reformen, sondern dass Frauen selbst über ihren Körper bestimmen dürfen ohne Einschränkungen und ohne Einmischung des Staates.“ 29

1983 gründete Rita Kronauer mit weiteren Bewegungsfrauen die Gruppe Frauen gegen Bevölkerungspolitik in Bochum. Bei einer Aktion von sogenannten ‚Lebensschützern‘ auf dem Bonner Münsterplatz 1984 wollte die Bochumer Gruppe ein Transparent mit dem Slogan entrollen: „In der Dritten Welt Völkermord, hier pflanzt sich die deutsche Rasse fort!“ Sofort beschlagnahmte die Polizei das Transparent und nahm mehrere Frauen fest. Die Frauen erhielten eine Anzeige. In der ersten Instanz verurteilt, gab es jedoch in der zweiten Instanz einen Freispruch, weil die Zeugenaussagen der Polizisten sich als unhaltbar erwiesen. Rita Kronauer erinnert sich: „Für mich war die Kundgebung in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn, die nach einem so genannten ‚Sühnegottesdienst‘ stattfand, absolut unerträglich und fürchterlich. Es war als Erfahrung für mich das erste Mal, dass sich nach dem Nationalsozialismus auf offener Straße eine Vereinigung hinstellte und erklärte, die deutsche Frau solle deutsche Kinder gebären. Das durfte da offen gesagt werden von rechten, wirklich ultrarechten sogenannten Lebensschützern, die eine frauenfeindliche, rassistische Politik vertraten.“30

Bedeutung für feministisches Geschichtsbewusstsein

Mit historisch-politischem Erkenntnisinteresse wird an dieser Aktion deutlich, dass sich die sogenannten ‚Lebensschützer‘ und neofaschistische Gruppen mit Vorstellungen von reinen Volkskörpern nicht erst um die Jahrtausendwende in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit formierten, sondern dass sie sich nach 1945 kontinuierlich artikulierten und strukturell zur Geschichte der Bundesrepublik gehören.

Frauen wie Rita Kronauer engagierten sich, weil sich die frauenfeindliche Bevölkerungspolitik nach der Rassepolitik des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik fortsetzte. Angesichts aufgedeckter Skandale um medizinische Experimente mit Verhütungsmitteln an Frauen im Globalen Süden setzte sich die Bochumer Gruppe mit internationalen Bevölkerungspolitiken, den neugeschaffenen Reproduktions- und Gentechnologien und der Pränataldiagnostik auseinander. Sie zeigte die darin eingelagerten machtvollen rassistischen, eugenischen, sexistisch-patriarchalen Dimensionen: „Das war damit verbunden, dass Frauen mit Behinderungen abgehalten wurden, schwanger zu werden beziehungsweise gezwungen wurden abzutreiben. Das war die Fortsetzung von einem Denken, das seinen Höhepunkt in eugenischen Theorien des Nationalsozialismus fand, wo es explizit um Auslöschung von Behinderten ging.“ 31 Die Gruppe Frauen gegen Bevölkerungspolitik hinterfragte kritisch die Arbeit humangenetischer Beratungsstellen – diese Stellen berieten bei Erbkrankheiten in der Familie und waren die ersten, die pränataldiagnostische Beratung anboten.32 Die Gen- und Reproduktionsforschung befand sich zu Beginn der 1980er Jahre in starker Bewegung – 1982 kam in Deutschland das erste Kind zur Welt, das außerhalb des Körpers der Mutter gezeugt wurde.33 Seit 1984 lassen sich individuelle DNA-Profile erstellen, die eine Vaterschaft nachweisen. Noch konnten die Frauen gegen Bevölkerungspolitik nur in Ansätzen erfassen, zu was für einem Markt sich die Gen- und Reproduktionstechnologien entwickeln würden und welche gesellschaftlichen Transformationen diese hinsichtlich der Neuformierung von Mutterschaft, Vaterschaft und Verwandtschaft anstoßen würden.34

Auch anderswo in Deutschland gab es politische Aktionen gegen diese Beratungsstellen. „Diese Aktionen führten zu einer Kriminalisierung der Bewegung. Im Dezember 1987 wurden nämlich sehr viele Wohnungen von einzelnen Frauen und auch von Projekten hier im Ruhrgebiet, in Köln und auch in Hamburg durchsucht.“35

Frauen gegen Gen- und Reproduktionstechnologien

Es folgte eine Antwort auf diesen Kriminalisierungsversuch. Vom 28. bis 30. Oktober 1988 organisierten Gruppen aus dem  Bochumer Frauenzentrum, das Gen-Archiv aus Essen, das Feministische  Frauengesundheitszentrum FFGZ Frankfurt, die FINRRAGE-Koordination BRD, 36 sowie  Frauen aus Köln und Marburg  den Kongress „Frauen gegen Gen- und Reproduktionstechnologien“ in Frankfurt am Main.37 Über 2.000 Frauen kamen hier zusammen und diskutierten:  „Bei diesem Kongress haben wir mit Frauen mit Behinderungen zusammengearbeitet, denn die Gen- und Reproduktionstechnologien sind auch Technologien der Auslese und Ausmerze.“ 38

Dieser Kongress ist dokumentiert, auch ein Redebeitrag Rita Kronauers ist abgedruckt, in dem sie die „ungeheure Stärkung der heterosexuellen Lebensstrukturen“ 39 hervorhebt, die mit den Gen- und Reproduktionstechnologien verbunden ist: „HETEROSEXISMUS (…) ist eine Form von Sexismus, von Frauenunterdrückung, die sich nicht nur unserer Sexualität und unserer Gefühle bemächtigt, sondern unser gesamtes Frauenleben steuert und in eine gewünschte Richtung lenkt. Nämlich in die Richtung eines Mannes. (…) Es ist aber nur die eine Seite des Heterosexismus. Die andere ist die, daß wir unsere Liebe zu Frauen verlernen sollen, sie kanalisieren, unterdrücken, ihr einen der unteren Ränge zuweisen, diese Liebe als unnatürlich ansehen sollen und die heterosexuelle Normalität so stark werden lassen, daß z.B. lesbisches Leben zu einer Sache der Minderheit von Frauen wird. Und Minderheiten müssen toleriert werden! So weit lassen sich Frauen von ihrem Selbst entfremden, daß sie die eigene Heterosexualität zur Norm werden lassen, indem sie z.B. immer wieder von Sexualität reden, wenn sie Heterosexualität meinen. (…) Wir fragen uns, was es bedeutet, wenn wir R & G [Reproduktions- und Gentechnologien, ucs] in ihrer Funktion angreifen, mit der sie die Frauen festlegen, die Kinder kriegen sollen oder dürfen, nämlich die weiße, zur Mittelschicht gehörende, nicht behinderte oder angeblich erbgesunde und heterosexuelle Frau. Auf diese Analyse haben wir – und das ist auch weiterhin richtig – bisher so reagiert, daß wir uns mit unserem eigenen Rassismus, unserem eugenischen Denken und Handeln, unserem Leistungsdenken, unserem Verhältnis zu Gesundheit und Krankheit auseinandergesetzt haben – und dies z.B. auf diesem Kongreß weiter tun werden.“ 40

Bedeutung für wissensgeschichtliche Forschungen und gesellschaftspolitische Entwicklungen

Die Dokumentation des Kongresses bietet einen tiefen Einblick in die theoretische Dichte des feministischen Denkens der 1980er Jahre. Diskriminierungserfahrungen werden in mehrfacher, verschränkter Perspektive analysiert, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und Ableismus als staatliche, heteronormative Gewaltverhältnisse herausgestellt und in ihrer internationalen/ globalen Verschränktheit kritisiert. Texte wie „Lesben gegen Reproduktions- und Gentechnologien“ spannen – mit dem Bewusstsein für gegenwärtige Problemlagen gelesen – zeitliche Dimensionen auf, die Bewegungen im Denken und Sprechen, in Normen und Werten, in Recht, Politik und gesellschaftlichen Verhältnissen nachvollziehbar machen. Die Texte sind an zahlreichen Stellen intersektionaler angelegt, als es die Anrufung von Intersektionalität heute vielfach einzulösen vermag. Die in der Dokumentation überlieferten Argumentationen zu Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Klassismus, Ableismus und Patriarchat als staatlicher Gewaltform mögen terminologisch nicht dem heutigen Wording für die Diskussion dieser Gewaltverhältnisse entsprechen, doch sind sie in ihrer Machtkritik keineswegs überholt und deshalb eine herausragende Quelle zur Entwicklung feministischer Gesellschaftskritik. Angesichts der Diskussionen um strukturellen Rassismus liest sich folgende Position wie ein aktueller Debattenbeitrag: „Der HETEROSEXISMUS ist – ähnlich wie der Rassismus und andere patriarchale Unterdrückungsstrukturen –  einerseits institutionell in diesem System verankert, z.B. durch das Primat von Ehe und sogenannter Partnerschaft –  und auf dieser Ebene ist er auch zu bekämpfen. Andererseits durchdringen heterosexistische – ähnlich wie rassistische – Strukturen all unsere Lebensbereiche, bestimmen unsere Wertmaßstäbe, besetzen unseren Verstand und vor allem auch unsere Gefühle. Und das ist die Ebene, die wir genauso in unsere Auseinandersetzungen mit einbeziehen müssen, wenn wir einen wirksamen Widerstand leisten wollen gegen männliche Machtstrukturen, die Macht der Männer, die Reproduktions- und Gentechnologien.“ 41 Dies sieht auch Rita Kronauer so: „Also man wundert sich, was so alles angesprochen wurde – das ist spannend zu lesen und zu sehen, wie weit das bereits ging.“42 Linda Unger kommt in ihrem 2023 erschienenen Essay nach umfangreichen Quellenstudien zu dem Schluß: „Der Widerstand der Frauen- und Lesbenbewegung gegen Reproduktions- und Gentechnologien ist vielen heute nicht mehr bekannt – es gibt noch viel Quellenmaterial auszuwerten. Er hat jedoch nachhaltige Erfolge erzielt: Gesetzliche Regelungen für Genforschung und Reproduktionstechnologien (Stammzellenforschung, Klonen) sind in Deutschland deutlich strenger als im internationalen Vergleich, und der vermeintliche Fortschritt bewegt sich langsamer. Nicht zuletzt, weil Feministinnen mehr als ein Jahrzehnt lang immer wieder die Frage gestellt haben, für wen die Errungenschaften der Reproduktions- und Gentechnologien tatsächlich ein Gewinn sind und sich konsequent an die Seite derer gestellt haben, für die sie eben keinen Fortschritt bedeuten.“ 43

IHRSINN

Rita Kronauer gehörte ab 1990 zum Redaktionsteam der sich als radikal-feministisch verstehenden Lesbenzeitschrift IHRSINN – was für ein magischer Titel –  Ihr Sinn! Hier tauchten viele Themen ihrer aktiven Politik wieder auf, wie die sexistische, staatliche, strukturelle Gewalt gegen Frauen, wie Bevölkerungpolitik oder die Kritik an Reproduktions- und Gentechnologien aus einem lesbisch-feministischen Blickwinkel.  Die Zeitschrift erschien von Januar 1990 bis Dezember 2004 zweimal jährlich in insgesamt 29 redaktionell in unbezahlter Arbeit hergestellten Heften. Die Auflage betrug 1.000 Exemplare, jedes Heft umfasste rund 120 Seiten mit einem Schwerpunktthema. Gitta Büchner, Zeitzeugin und Mitglied des Redaktionsteams von IHRSINN hat über diese Zeitschrift einen Artikel verfasst. Darin zitiert sie mit deutlichem Anspruch generationenbezogener Didaktik zum feministischen Selbstverständnis der Zeitschrift aus einem 1989 erschienenen Werbefaltblatt: „Wir schöpfen unsere Stärke sowohl aus dem subversiven Potential aller Lesben als auch aus radikalfeministischer Politik, aus einem tätigen Bewusstsein, das darauf ausgerichtet ist, das Heteropatriarchat in seinen verschiedenen Verpackungsformen nicht nur reformfeministisch zu entsorgen, sondern ihm die Wurzeln abzutrennen.“ 44 Damit wandte sich die Redaktion auch an nichtlesbische Feministinnen.

Mit ihrer Arbeit in frauen- und lesbenpolitischen Gruppen und Projekten hat sich Rita Kronauer einer Integration in den normalen Arbeitsmarkt verweigert. Sie hatte sich früh entschieden,  keine Laufbahn als Psychologin einzuschlagen, und mit ihrer Entscheidung, in einem so arbeitsintensiven Projekt wie IHRSINN mitzuarbeiten, setzte sie die Haltung fort, ihre Energie in autonome frauen- und lesbenpolitische  Zusammenhänge einzubringen.

ausZeiten

Die Aufklärungsarbeit über Bevölkerungspolitik hat sich auch tief in die Struktur des Archivs ausZeiten eingeschrieben, das Rita Kronauer als Projekt frauenbewegter und feministischer Erinnerungskultur geprägt hat. Jedes Archiv hat eine eigene Systematik, weil jedes Archiv aus einer eigenen Geschichte heraus entstanden ist. 45 Für die für ausZeiten grundlegende Materialsammlung bildete die Bevölkerungspolitik den zentralen Schwerpunkt, weil sich in ihr Frauenkörper und staatliche Machtverhältnisse kreuzen. So bildet die Bevölkerungspolitik z.B. bei der Ländersystematik im ausZeiten den ersten Zugang, bevor andere Themen zu Frauen in diesem Land einsortiert werden. Der Ursprung des Archivs liegt letztlich im Aufbau eines umfänglichen Wissensspeichers, um die eigene, die autonome radikal-feministische Politik faktenbasiert im aufklärerischen Sinne zu untermauern: „Wir haben beschlossen, dass wir uns mit unseren wichtigen Themen dagegen wehren wollen, dass wir kriminalisiert werden. Wir haben nicht die Repressionen vorangestellt (die natürlich auch stattgefunden haben), wie das die Linke oft tut, sondern wir haben auf unsere Themen gesetzt.“ 46 Als Gegenüberlieferung zu den Mainstreammedien wurden und werden Zeitschriften, Broschüren, Graue Literatur und sonstige Materialien aus der Bewegung gesammelt, zunehmend kommen heute im ausZeiten auch Bücher hinzu: „Es ist eine neuere Entwicklung der letzten Jahre, dass Bücher wichtiger werden, Bücher aus den 70er, 80er Jahren, die ja heute auch bedeutende Überlieferungen zur Entwicklung feministischen Denkens darstellen. Viele Nutzerinnen müssen aktuell lernen, zeitgenössische Bücher einzuschätzen und als historische Quellen zu lesen, wenn sie ein bestimmtes Thema bearbeiten. So empfehle ich manchmal Bücher –  als Zeitzeugin gewissermaßen.“47

Archivarbeit als politische Praxis

Rita Kronauer hat eine dezidiert politische Haltung zur Archivarbeit: „Wir sammeln auch das, was andere Frauenarchive haben, weil ich eine Vertreterin der doppelten Archivierung bin, schließlich gibt es die Erfahrungen des Nationalsozialismus: Ein Archiv wird zerschlagen und dann ist nichts mehr da. Und deshalb finde ich es gerade bei zentralen Themen ganz wichtig, dass viele Archive Überlieferungen aufbewahren. Vielleicht auch, um gewappnet zu sein. Wir wissen nicht, was kommt. Aber es ist natürlich auch praktisch für die Nutzerinnen, die dann nicht so weit reisen müssen.“48

Für sie sind alle Bestände im ausZeiten gleich bedeutend, denn es kommt auf das Erkenntnisinteresse an, das an sie herangetragen wird. Als eine besondere Quelle zieht sie aus dem Archivregal die Frauenzeitung. Frauen gemeinsam sind stark, die auf einer Konferenz von Frauengruppen am 4. und 5. Mai 1973 in Frankfurt am Main als unabhängige Zeitung konzipiert wurde, um „der Information, theoretischen Klärung und Erarbeitung von gemeinsamen Positionen innerhalb der Frauengruppen“ zu dienen. 49 Die erste Ausgabe erschien am 1. Oktober 1973. Die Zeitung ist nicht nur aus inhaltlichen Gründen eine wichtige Quelle zur Erforschung der westdeutschen Frauenbewegung, sondern zugleich auch aus medienhistorischen Aspekten: Im 21. Jahrhundert ist es kaum mehr vorstellbar, wie ohne digitale Infrastruktur und Handyempfang von unerfahrenen Gestalterinnen in unbezahlter Arbeit dieses Medium auf die Beine gestellt werden konnte.

Was als Regal mit Ordnern im eigenen WG-Zimmer begann, dann im Bochumer Frauenbuchladen Platz fand, nahm zu Beginn der 1990er Jahre eine neue Qualität an: „Wir haben uns zwei Jahre getroffen und ein Konzept entwickelt, eine Systematik entwickelt.“ 1995 wurde dann das feministische Archiv ausZeiten gegründet, das sich aus Spendengeldern und durch unbezahlte Arbeit finanziert. ausZeiten hat sich von Anfang an über das ‚Archivetreffen‘ der Lesben- und Frauenarchive, -bibliotheken und -dokumentationsstellen aus Deutschland, der Schweiz, Österreich, Luxemburg und Italien vernetzt. Aus diesen Treffen ging 1994 der Dachverband i.d.a. hervor, dessen Wortbildmarke für „informieren, dokumentieren, archivieren“ der deutschsprachigen  Lesben- und Frauenarchive steht. Rita Kronauer hat sich auch hier mit der ihr eigenen Sorgfalt in der Vernetzung, beim Aufbau der META-Datenbank und beim Ausbau des Digitalen Deutschen Frauenarchivs engagiert. „Wer erinnert, wer bringt die Dinge ins kulturelle Gedächtnis? Das können nur wir hier.“50   „Wir hier“ – das sind alle Mitarbeiterinnen von ausZeiten aus fast drei Jahrzehnten, alle Mitstreiterinnen aus fünf Jahrzehnten, alle Förderinnen und Unterstützerinnen und Spenderinnen von nah und fern.

Und sonst?

Und was machten radikal-feministische Lesben wie Rita Kronauer sonst so? Außer den politischen Kampf organisieren und in der Freizeit Frauendiskos und Frauenschwoofs besuchen? Sie fuhren auf das New-Jazz Festival nach Moers und zur Frauenmusikwoche in Neetze, wo sie als Kontrabassistin beim Abschlusskonzert der Gruppe um die Saxophonistin Sibylle Pomorin jazzten, und sie hatten Spaß mit Schlagern von Caterina Valente – mit trinkfreudigen Heteras in der legendären Band Die Chilly Lillies. Klar ist für Rita Kronauer deshalb: „In meinem zweiten Leben werde ich Kontrabassistin. Gemeinsam mit Joëlle Léandre, Ulla Oster, Romy Herzberg, Esperanza Spalding, Gudrun Schnellbacher und Octavia Gloggengiesser spiele ich dann auf dem Summit der Kontrabassistinnen!“51

Dr. Uta C. Schmidt, frauen/ruhr/geschichte/ Rita Kronauer, ausZeiten

Dieser Text ist eine Gemeinschaftsarbeit. Er entstand in einem dialogischen Verfahren, beginnend mit einem Interview, das Uta C. Schmidt und Rita Kronauer im „ausZeiten. Feministisches Archiv für Frauen Lesben Mädchen“ führten. Beide kennen sich aus einer gemeinsamen Frauenband. Nach deren Auflösung kümmern sich beide in unterschiedlichen Netzwerken um eine frauen*- und geschlechtersensible Erweiterung der (Ruhrgebiets)Geschichte und vor allem um die Sichtbarmachung von Frauen- und Lesbengeschichte als Bewegungsgeschichte. Wenn www.frauenruhrgeschichte.de exemplarisch Biografien von Frauen in regional-, wirtschafts- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge einbettet, um Einblicke in komplexe gesellschaftliche Wandlungsprozesse zu ermöglichen, dann war ein Porträt mit Rita Kronauer für dieses Portal lange überfällig: eröffnet sich doch über ihr politisches Engagement ein besonderer Blick auf Frauenbewegungen und einen radikal-lesbischen Feminismus im Ruhrgebiet. Vor allem aber wird ihr einzigartiges erinnerungspolitisches Engagement präsent, mit dem diese Aktivitäten im kulturellen Gedächtnis der Region verankert werden können.

Der erste Textentwurf, den Uta aus dem Interview formulierte, wurde zum Arbeitspapier für einen intensiven Austausch, der über die Quellen der Geschichtsschreibung, die im ausZeiten zu finden sind,  hinaus vor allem um die Mechanismen der Wissensproduktion ging. Wir thematisierten unsere jeweiligen Positionierungen im historischen Prozess, in der Geschichtsschreibung und -vermittlung: die Zeitzeugin Rita, die zugleich als Archivarin auch eine Historikerin ist und die Historikerin Uta, die zugleich auch eine Zeitzeugin ist, beide jedoch mit vielfältigen Erfahrungen an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen politischen Kontexten. Es ging um Fakten und Vorstellungen, um Konkretisierungen und Verallgemeinerungen, um das spannungsgeladene Verhältnis von Erfahrung, Erinnerung und Erkenntnis. Wir diskutierten, wie im Prozess der Geschichtsschreibung die Komplexität historischer Figurationen erhalten bleiben kann und wie weit die mit der Postmoderne in Verruf geratene „Linearität“ als formales Gestaltungsgerüst historiografischen Erzählens die Verständlichkeit eines Textes unterstützt. Wir problematisierten die Kategorienbildung in der (soziologischen) Forschung, die – so sie es zu einer gewissen Autorität gebracht hat – einer Kanonbildung Vorschub leistet, die versämtlicht (Hedwig Dohm) und die Erfahrungen stillstellt. Denn während die Historikerin Uta sich bei der Organisation des Textes an Zeitvorstellungen wie der „‘feministischen Wende‘ der Lesbenbewegung“ orientierte, wie ihn Ilse Lenz vorgeschlagen hatte, widersprach die Zeitzeugin Rita erfahrungsgesättigt vehement dieser Wendevorstellung, sowohl aus politischen Erfahrungen in Bochumer Frauen- und Lesbenbewegungen als auch aus persönlichen Erinnerungen. Belegt durch zahlreiche Materialien aus dem Archiv ausZeiten begannen wir in einer gemeinsamen historisch-kritischen Textarbeit, (akademische) Wissensorganisation infrage zu stellen und zu revidieren: historisch-kritisch, weil wir uns aus gegenwärtigen Orientierungsfragen heraus der frauen- und lesbenbewegten Vergangenheit zuwandten, um Zukunft entwerfen zu können. Der orientierende Blick in die Vergangenheit schärft den Möglichkeitssinn, dass Dinge nicht so laufen müssen, wie sie sind. Die Überlieferungen radikaler lesben- und frauenbewegter Politik seit den 1980er Jahren konfrontierten uns mit einem unerhörten Denken von geradezu beschämender Aktualität, sei es, was die Problematisierung von Sexismus, Rassismus und Klassimus in ihren Verschränkungen oder die Kritik am imperialistischen Kapitalismus und an der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen anbetrifft.

Orte:

ausZeiten e.V. Bildung, Information, Forschung und Kommunikation für Frauen, Herner Str. 266, 44809 Bochum

Zitation: Uta C. Schmidt/ Rita Kronauer, "Wer erinnert, wer bringt die Dinge ins kollektive kulturelle Gedächtnis? Das können nur wir hier.", Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/rita-kronauer/

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Irmgard Kroymann

Die seit 2011 in frauen/ruhr/geschichte publizierte Biografie zu Irmgard Kroymann und die Sequenzen aus dem Ton-Archiv wurden von der Redaktion aus dem Netz genommen. Im Januar 2023 erschien das Buch: Götz Aly, Unser Nationalsozialismus. Reden in der deutschen Gegenwart, Frankfurt a.M.: S. Fischer. Darin präsentiert Anne Prior ihre Forschungen zu Irmgard Kroymann in einem Aufsatz mit dem Titel: Eine Lagerwärterin mimt das KZ-Opfer. Wir werden uns mit diesen Forschungen auseinandersetzen.

In dem am 4.2.2023 in den Funke-Medien veröffentlichten Artikel „Die Lebenslüge der Irmgard Kroymann“ wird fälschlicherweise geschrieben, die Homepage frauenruhrgeschichte würde vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW herausgegeben. frauen/ruhr/geschichte wird ehrenamtlich unterhalten und projektförmig mit eingeworbenen Fördermitteln erweitert. So konnten wir im Jahre 2022 dank der Kulturförderung Ruhrgebiet Biografien im Rahmen des Projekts divers.postmigrantisch.kosmospolitisch. erarbeiten.

04.02.2023 Uta C. Schmidt

Zitation: Uta C. Schmidt , Irmgard Kroymann, Version 2, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/irmgard-kroymann-2/

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FLiP

„FLiP“ ist die Abkürzung für „Frauenliebe im Pott“, ein 1992 gegründeter Verein, der sich zu einem Kristallisationspunkt für Lesben im Ruhrgebiet entwickelte. Im Jahre 2022 feierte der Verein sein 30-jähriges Jubiläum: „Das hätten wir uns damals nicht träumen lassen. Damals, als wir unsere Flyer mit der Hand schrieben und sie mit Schere und Klebestift gestalteten, als wir eine Anrufbeantworterin hatten und die erste Compute Berta hieß, als wir heiß diskutierten, ob der männliche Heizungsableser unsere Räume betreten dürfe und ob eine Ehe für alle überhaupt erstrebenswert sei.“1 Wie  in einem Zeitraffer verdichtet diese Sequenz frauenbewegte, politische, gesellschaftliche, kulturelle und mediale Transformationen seit der Gründungszeit.2

Fast so wie die Lila Nächte in Damenclubs der Weimarer Republik

Nichts erschien Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre spießiger, als einen Verein zu gründen, so, wie Kaninchenzüchter oder  Briefmarkensammler, vor allem, wenn sich Frauen als Feministinnen verstanden und Vereine als typisch bürgerlich-patriarchale Organisationsformen ablehnten. Und doch gab es auch historische Anknüpfungspunkte an Vereine von Frauen und Lesben, so an die Lesbenszene der 20er Jahre: „Ich habe damals das Buch ‚Lila Nächte‘ gelesen, über die Lesbenclubs und Lesbenvereine in den 20er Jahren in Berlin. Die haben sich Räume geschaffen, wo sie sich als Lesben zu erkennen und so geben konnten, wie sie sind, und haben auch als Paar zueinander gefunden. Das hat mich sehr angesprochen. Und ich habe unsere Lesbenszene auch so wahrgenommen, dass es da einen Bedarf gab. Dass wir unsichtbar waren und ignoriert wurden. Die Unsichtbarkeit war aber das Entscheidende.“ 3 Die historischen Vorbilder4 machten Mut und nährten die Überlegung, feste Strukturen aufzubauen, um Sichtbarkeit und Anerkennung zu schaffen.

Wie in anderen Ruhrgebietsstätten entwickelte sich auch in Essen in den 1970er/1980er Jahren eine vielfältige Lesbenszene. Lesben gehörten zu den treibenden Kräften der autonomen Frauenbewegung, waren an der Gründung des ersten Essener Frauenzentrums 1976 maßgeblich beteiligt. Es gab eine Lesbengesprächsgruppe beim Mädchen- und Frauentreff PERLE, das Frauenzentrum in der Möserstraße, die SPINNEN in der Bäuminghausstraße. Für Studentinnen entwickelte sich der Frauenraum vom Frauen- und Lesbenreferat an der Universität-Gesamthochschule Essen zu einem ‚place to be‘.  Es gab Frauenschwoofs in der Schillerklause und in der Weuenschänke in Essen-Altendorf, der ersten Essener Frauenkneipe, die Ende 1978 als Kneipe von und für Frauen gegründet wurde und 1982 schließen musste.5 Lesben trafen sich in der Falle und im Quarterback. Der erste Frauenschwoof fand 1985 im Kulturzentrum Zeche Carl in Essen-Altenessen statt. Erinnert wird die Lesbenszene von den FLiP Gründerinnen als ein Netz von vielen Gruppen zwischen Sub-Lesben, Subkultur und ‚Schwarzem Block‘, die sich kleinteilig gegenseitig kleidungsmäßig, weltanschaulich und in ihren feministischen Positionierungen abgrenzten. Die Gruppen waren oft nur von kurzer Dauer. In dieser Situation entstand das Bedürfnis nach einer festen Vergemeinschaftungsform. Vielleicht wurde dieses bei den Essener Vereinsgründerinnen auch durch Erfahrungen aus dem  Studium der Sozialpädagogik und der Sozialen Arbeit genährt, das sie in Essen aufgenommen hatten und das sie in eine Berufstätigkeit im Sozialen Bereich geführt hatte: Sie wussten, wie wichtig Verbindlichkeit, Verantwortung, Zuverlässigkeit ist.

Die Gründerinnen stellten zudem einen Bezug zur Auflösung linker Politik nach 1989 her, die viele in Organisationsfragen erfahrene Aktivistinnen „heimatlos“ werden ließ. Diese Frauen waren gewohnt, sich konkret einzusetzen, anzupacken, zu organisieren.6 Die FLiP-Gründung eröffnete wieder einen Zusammenhang mit Strukturen: „Eine neue gute Sache, für die man sich einsetzen konnte.“ – „Vor allem für die eigene Sache.“ – „Es ging um unsere Interessen.“ – „Das haben wir dann auch gemacht. Z. B. Gruppen angeboten zum Coming-Out.“7

Interessen von Frauen, die Frauen lieben

Die Gründerinnen verstanden sich politisch als Feministinnen, gleichwohl nicht „extrem oder radikal“.8 Sie lehnten eine Opferrolle ab und forderten Rechte und Anerkennung. Im Vereinseintrag von 1992 heißt es: „Wir wollen uns einmischen, überall dort, wo unsere Interessen als Frauen, die Frauen lieben, betroffen sind. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher und individueller Ignoranz und Diskriminierung, mit sozialen und politischen Problemen. Dazu gehört auch, Erfahrungen auszutauschen, Informationen, Rat und Unterstützung anzubieten (…). Dazu gehört erst recht, gemeinsame Dinge zu tun, die einfach Spaß machen. (…) Wir möchten allen Lesben die Möglichkeit zum Mitmachen geben, unabhängig von ideologischen oder politischen Standpunkten und Zugehörigkeiten zu anderen Gruppen.“9 Es ging den Gründerinnen um die Schaffung eines lesbischen Lebenszusammenhangs, um Rat und Beratung, um Repräsentanz und Sichtbarkeit von frauenliebenden Frauen in einer Gesellschaft voller Diskriminierung und Sexismus. Äußerst sympathisch ist in den Vereinsstatuten der ausdrücklich festgeschriebene Verweis auf Spaß, der nicht zu kurz kommen sollte.

1995 konnte FLiP einen Raum in Essen-Schonnebeck anmieten, am 3. Oktober 1995 wurde er nach umfassender Renovierung und Einrichtung mit einem rauschenden Fest eröffnet. 10 Jahre lang konzentrierte sich die Vereinsarbeit im FLiP-Treff Kaldekirche. In den Räumen fanden die monatlichen Mitfrauenversammlungen, Spiel- und Videoabende, Frühstücke und Bruches, Feiern und Jubiläen, Stammtische, Koch- und Tanzkurse, politische Diskussionen, Gruppenabende zum Coming-Out statt. Die Kaldekirche 32 war ein geschützter Lesbenort und somit ‚männerfreie Zone‘, ganz im Sinne der feministisch-lesbischen Position, dass im Patriarchat auch die Lebenszusammenhänge lesbischer Frauen wie die aller Frauen von Männern gemacht und bestimmt werden. Und dies wollten sie ja schließlich im eigenen Lebenskontext und in der gesamten Gesellschaft ändern.

Im Gespräch erinnerte Sabine daran, dass FLiP – in Zeiten vor dem Internet – auch als ‚Single-Börse‘ wichtig war. Hier konnten Frauen bei unterschiedlichen Aktivitäten Frauen kennenlernen. „Beim Schwoof lernst du keine Frau kennen.“ Aber: „Das war auch das Problem für die Vereinskultur. Wenn sich Zwei bei FLiP kennengelernt hatten und ein Paar wurden, blieben sie weg und kamen erst zurück, wenn sie wieder Single waren“.10 FLiP war und ist auch immer auch ein Freizeitverein mit einer frauenbezogenen Geselligkeitskultur.

Das FLiP-Info

Der Verein FLiP e.V. gab in der Zeit von Mai 1993 bis August 2006 51 Ausgaben des FLiP-Infos heraus. Das Info erschienen im DIN A5 Format mit 12, später mit 36 Seiten in einer Auflage von 1.000 Exemplaren, die im Abo mit der Post verschickt wurden oder über Szenekanäle Verbreitung fanden. Eine Redaktion von 19 Lesben war über die Jahre mit Herstellung und Verbreitung befasst. Das Flip-Info kommunizierte die Vereinsaktivitäten in die Region hinein und machte FLiP weit über den Essener Raum bekannt.11 Diese Hefte sind ein ungemein reiches Zeitdokument zur Geschichte lesbischen Lebens im Revier und aller Themen, die dazu gehörten – Aktionen, Diskussionen, Beratungsangebote, Kleinanzeigen und Veranstaltungshinweise. So gab es 1993 allein 16 Schwoof-Angebote pro Monat zwischen Recklinghausen, Wuppertal und Düsseldorf.12

Alles kann – nichts muss!

Seit Beginn stand die Vereinsarbeit bei FLiP unter dem Motto „Alles kann – nichts muss!“ Dies zeigt eine große Offenheit, die von Freizeitaktivitäten über politische Arbeit für die Repräsentation von Lesben bis hin zum internationalen Austausch mit lesbischen und queeren Frauen reicht. Ein zentrales Prinzip der Arbeit besteht darin, dass jede sich mit ihren Kenntnissen und Interessen einbringen kann, sich dann aber auch aktiv um die Durchführung der Angebote kümmern muss. Kann sie diese nicht mehr aufrechterhalten, dann finden sie nicht mehr statt, ein äußerst erfolgreiches Prinzip für ein gelingendes, aktives Vereinsleben: „Wir müssen uns nichts vormachen: Das Gelingen aktiver Vereinsarbeit hat auch immer mit Personen und Persönlichkeiten zu tun.“13 Seit 1993 jedoch ist die Coming-Out Gruppe ein fester Bestandteil der FLiP-Arbeit und wird bis heute als geschützter Raum für Orientierung, Bewusstwerdung und Identitätsfindung weit über Essen hinaus geschätzt. In dieser Gruppe können Frauen Lesben mit ihren Lebenserfahrungen kennenlernen, es hilft zu wissen, dass diese Lesben alle eigene Erfahrungen mit dem Coming-out haben, es ist eine Stütze, mit ihnen laut durchdenken zu können, was könnten die nächsten Schritte und Strategien sein. Bedeutsam ist in diesem Prozess zudem, Frauen aus sozialen Berufen an der Seite zu haben, die bodenständig und professionell helfen. Denn: „Das Coming-Out ist kein Ereignis, sondern ein alltäglicher lebenslanger Prozess, solange Heterosexualität gesellschaftliche Norm ist.“14

Politische Arbeit

Lesben aus FLiP e.V. gehörten zu den Aktivistinnen, die ab 1995 die Gründung der Landesarbeitsgemeinschaft Lesben in Nordrhein-Westfalen (LAG Lesben in NRW)15 vorbereiteten. Die Idee einer überparteilichen Vernetzung, die in Essen mit FLiP bereits erfolgreich wirkte und die auf den seit 1974 stattfindenden Lesben-Pfingsttreffen – 1992  umbenannt in Lesben- Frühling, dann in Lesben-Frühlings-Treffen – immer wieder diskutiert worden war, wollten sie weiter ins Land hinein tragen, um verlässliche Strukturen für eine langfristige Interessensvertretung von Lesben in der politischen Öffentlichkeit zu schaffen, lesbenspolitische Aktivitäten von Vereinen, Gruppen und Projekten in NRW zu bündeln, den Erfahrungsaustausch zu moderieren und Förderstrukturen aus öffentlicher Hand für Vernetzungs- und Organisationsprozesse zu nutzen.16 Am 7. September fand ein Treffen statt, auf dem die Gründung der Landesarbeitsgemeinschaft Lesben in NRW beschlossen wurde. FLiP gehörte zu den Unterzeichner*innen des Gründungsbeschlusses. Martina Peukert, in den Anfangsjahren neben Katharina Junglas und Barbara Meyer Sprecherin der LAG Lesben in NRW, schrieb über die Zeit: „Als Gründungsfrau von ‚Frauenliebe im Pott‘ – kurz FLiP e.V. – lag mir die Vernetzung verschiedener Lesbengruppen sehr am Herzen. Vor 20 Jahren waren die einzelnen Gruppen ausgesprochen gut darin, zunächst einmal das Trennende zu betonen und auf keinen Fall das verbindende. Frau mag sich das heute nicht mehr so recht vorstellen können, aber FLiP wurde z.B. durchaus angefeindet, weil die Vereinsstruktur einigen Frauen als grundsätzlich patriarchal und damit untragbar erschien. Es herrschte auch ein gewisser Argwohn, dass eine LAG nach FLiP-Vorbild gestaltet werden könnte. Die Anfangszeit der LAG war geprägt von Misstrauen, endlosen Abgrenzungsdebatten und Diskussionen vor allem über das, was wir auf keinen Fall wollten, z.B. öffentliche Gelder und hauptamtliche Kräfte. Glücklicherweise hatten jedoch viele Frauen ein unglaubliches Standing, und so wurde aus der zum Teil wirklich zickigen Kleinkrämerei doch noch ein arbeitendes Gremium.“17Der Durchhaltewillen zeitigte nachhaltigen Erfolg. Im Jahre 2022 feierte die LAG Lesben in NRW ihren 25. Geburtstag im Düsseldorfer ZACK.

Zugleich  waren die Lesben von FLiP auch 1996 an der Gründung des Forum Essener Lesben und Schwule (F.E.L.S.) beteiligt. Sie entwickelten beständig öffentlichen und politischen Druck in der Stadt, so dass der Essener Stadtrat im Winter im November 1995 eine Resolution gegen die Ausgrenzung und Diskriminierung lesbischer und schwuler Menschen beschloss. Ein runder Tisch erarbeitete in Essen das bundesweit erste „Handlungsprogramm Gleichgeschlechtliche Lebensweisen – Ein Beitrag zur Vielfalt“, dem der Stadtrat zustimmte und das seitdem immer wieder weiter entwickelt wird. Sie drängten auch auf eine offizielle kommunale Stelle, die die Aktivitäten zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt, für Akzeptanz und Sichtbarkeit und für eine emanzipatorische und gleichberechtigte Gesellschaft freier und gleicher Individuen koordiniert. Dies gehört 2022 zum Arbeitsbereich der mittlerweile Koodinierungsstelle Gleichgeschlechtliche Lebensweisen LSBTI* genannten Organisationseinheit bei der Stadt Essen.

Gesellschaftliche Liberalisierungsprozesse hin zu größerer Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Lebensweisen sind – dies zeigt unter anderem die politische Arbeit von FLiP – nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern mühsam in kleinen Schritten durch politisches Engagement und strategische Vernetzung auch von Lesben angestoßen worden.

Kreativität, Respekt, Liebe und Kunst

Das, was in Essen und NRW als Vernetzung und Austausch begann, entwickelte sich bei Kontakten mit dem Netzwerk Coalition of African Lesbians weiter, das sich seit 2004 für Menschrechte lesbischer und queerer Frauen einsetzt. Engagiert vorangetrieben durch Cornelia Sperling von FLiP wurden finanzielle Mittel für einen internationalen Austausch eingeworben, der 2018 mit einer Reise von sieben lesbischen Aktivistinnen aus NRW ins südliche Afrika begann. Sie suchten den Austausch mit „lesbischen und queeren Frauen in zivilgesellschaftlichen Gruppen, die sich für das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und für Gender Equality engagieren“.18 2019 reisten Aktivistinnen des Women’s Leadership Centre aus Namibia, vom Women’s Alliance for Equality, Friends of Rainka und dem Autonomy-Projekt aus Sambia und Lesben von H.E.R. – Health Empowerment Rights aus Botswana nach NRW und wurden in Düsseldorf, Köln und Essen von Initiativen und Institutionen willkommen geheißen. Im Februar und März 2020 konnten drei Diskussionsveranstaltungen in Sambia, Botswana und Namibia stattfinden, bis die Corona-Pandemie die Partnerschaftsarbeit erst einmal stoppte, die noch ausstehende Partnerschaftswoche mit Simbabwe in Dortmund 2020 musste abgesagt werden. Die Aktionswoche wurde im Herbst 2022 nachgeholt. Cornelia Sperling von FLiP stellte die Besonderheit dieser Vernetzung heraus: „Die Beteiligung von lesbischen Aktivistinnen an postkolonialen Allianzen und Eine-Welt-Vernetzungen ist neu in NRW.“19 Sie bringt aus diesem Projekt für die aktuelle, hiesige Diskussion um LGBT-inklusive Gesellschaften erste Überlegungen mit. So kritisiert die Coalition of African Lesbians (CAL), in der die Partnerorganisationen vom afrikanischen Kontinent vernetzt sind, die Formulierung besonderer LGBTI-Rechte, denn sie sehen sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität als Teil menschlicher Sexualität, die alle betrifft: „Im Rahmen der geopolitischen Auseinandersetzungen zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden sind LGBTI-Rechte mittlerweile zu einem Kampffeld geworden, auf dem der Norden seine Überlegenheit gegenüber dem Süden demonstriert. Es ist eine politische Strategie des Nordens, spezielle LGBTI-Projekte gegen Diskriminierung im Süden zu finanzieren. CAL kritisiert, dass schwul-dominante Gruppen oft auf der Identitätspolitik beharren, die ihre Finanzierung aus dem Norden sichert. Für die Lesben und queeren Frauen ist eine Verbindung mit dem Kampf für Frauen- und Menschenrechte strategisch wichtiger, um Selbstbestimmung von Frauen über ihre Körper und ihre Leben zu realisieren.“ Und sie kommt zu dem Schluss: „Die offiziellen entwicklungspolitischen Ziele zum LGBTI-Thema hören sich gut an, sind in der Umsetzung aber vorwiegend eurozentrisch und meist ignorant gegenüber der exzellenten Arbeit der afrikanischen AktivistInnen (sic!). Es ist wichtig, das zu ändern!“20

Wie gehen wir mit Unterschieden und Macht um? Wie kann das Spielfeld egalisiert werden?

Wie sich die Partnerorganisationen in Sambia, Botswana und Namibia den Austausch vorstellen, zeigen ihre konkreten Themen, Erwartungen und Wünsche, von denen hier nur einige referiert werden: „Gemeinsame Überlegungen über die Dokumentation und Schaffung von Narrativen über nicht-konforme Lebensformen, um die Akzeptanz und die Lebensbejahung zu fördern.“ „Was ist unsere, was ist eure Strategie, um Freiheiten zu vergrößern?“ „Grundsätze unserer Nord-Süd Partnerschaft: Wie gehen wir mit Unterschieden und Macht um? Wie kann das Spielfeld egalisiert werden?“ „Dokumentation unserer Geschichte und Lebenswirklichkeit – es steht an, unsere Geschichten zu sichern und zu veröffentlichen!“ „Wir erwarten von jeder Respekt und Wertschätzung gegenüber der anderen Kultur.“ Und: „Wichtigste gemeinsame Ressourcen: Kreativität, Respekt, Liebe und Kunst.“ Mit Blick auf die Lage in Europa und Namibia formulierte Irene // Garoës vom Women’s Leadership Centre aus Namibia: “As feminists I think we are always looking for new ways of building mouvements for change – at the end of the day we are fighting patriarchy and all oppressive systems.“21 Und Florence // Khaxas vom Young Feminist Movement Namibia verband mit ihrem vorgetragenen Gedicht ein komplexes Dekolonisierungsprogramm: „My poem praised the ancestors in remembrance of the Genocide: I expressed the need of a quer decolonization project which addresses such issues as violence, patriarchy, LGBTI movement building and solidarity.“22

Generationenfragen

Nalumino Likwasi von der Women’s Alliance for Equality aus Zambia (WAFE) zeigte sich vom Lesben*-Frühlings-Treffen sehr bereichert. Aus einem Land kommend, in dem einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen zwischen Erwachsenen kriminalisiert werden, war es für sie schön, unter so vielen älteren Lesben zu sein, die sie zu Hause mit WAFE  kaum erreichen kann. Sie fuhr mit einem Gefühl zurück nach Sambia, „that I can live a full, happy, and productive life even as a queer person.”23 Als frauenliebende Frau ein erfülltes, glückliches und produktives Leben zu führen, selbstbewusst, sichtbar und anerkannt, darum dreht sich die Arbeit von FLiP. Die Gründerinnengeneration möchte sich zunehmend zurückziehen und die Vorstandsarbeit im Verein an Jüngere weitergeben. Und so kamen zum dem Gespräch, das diesem Beitrag zugrunde liegt, zwei Generationen frauenliebender Frauen, Sabine und Isabelle, die von der Gründung, der Entwicklung und von aktuellen Herausforderungen erzählten.24Es sieht gut aus, dass die „lesbische Ruhrpottikone“ den Generationenwechsel produktiv vollziehen wird.

Isabelle, Jahrgang 1988, ist seit 2022 Vorstandfrau bei FLiP. FLiP war für sie eine wichtige Anlaufstelle während des Coming-Outs und nun will sie nicht nur Angebote „konsumieren“, sondern etwas zurückgeben und die Zukunft des Vereins mitgestalten: „Themen bleiben, zum Beispiel was die Sichtbarkeit von Lesben angeht, man weiß zwar, dass es sie gibt, dass sie da sind, doch in politischer Repräsentation gleichgeschlechtlicher Lebensweisen dominieren – wie in der gesamten Gesellschaft – immer die schwulen Männer.“ Für Isabelle gibt es noch viele Baustellen, denn trotz gesellschaftlicher Fortschritte wie die „Ehe für alle“ oder die zunehmende Akzeptanz von Regenbogenfamilien ist „Gendergerechtigkeit“ für gleichgeschlechtliche Lebensweisen nicht erreicht.

Sabine, Jahrgang 1961, ist seit dem Gründungsjahr dabei und sehr viele Jahre lang als Vorstandsfrau aktiv gewesen. Sie betont noch einmal die Bedeutung von Räumen für die Herausbildung eines Bewusstseins als Frauen und Lesben: Für sie war es der „Frauenraum“ an der Universität-GH Essen: „Wir verstanden uns als Feministinnen, vielleicht auch als lesbisch, wir wollten etwas Gemeinsames. Und das konnten wir am überzeugendsten dadurch zum Ausdruck bringen, dass wir uns im Frauenraum trafen, diskutierten, Veranstaltungen durchführten.“ Für Sabine hat sich ihr Lesbischsein aus der feministischen Bewegung heraus entwickelt. Eine Zusammenarbeit mit Männern kam für sie nicht infrage. Während  dies ihrer politischen Sozialisation in der Frauen- und  Lesbenbewegung entsprach, macht Isabelle auch ohne theoretische Hinführungen durch Feminismus und radikale Frauenbewegung die Erfahrung, dass überall, wo es um gemeinsame Projekte  der  Homosexuellenbewegung geht, schwule Männer um Macht- und Deutungshoheit kämpfen und Lesben an den Rand gedrängt werden. Es herrschen dort weiterhin männliche Rede- und Dominanzstrukturen. Deshalb ist es wichtig, weiterhin als Lesben – im Verein, im Verband, als Arbeitsgemeinschaft – für Sichtbarkeit zu kämpfen. Angesichts der herrschenden Homo- und Transfeindlichkeit gilt es selbstverständlich in der LSBTI*-Community zusammenzuhalten und immer wieder politische Bündnisse zu knüpfen, so, wie zum Beispiel bei F.E.L.S. – Forum Essener Lesben und Schwule – das FLiP mitgegründet hat, aber auch beim Ruhr CSD oder im lesbisch-schwulen Generationenprojekt. Doch zugleich ist es politisch zentral, den Anspruch auf eigene Repräsentation nicht aufzugeben.

Auf die Frage, ob in den 1980er Jahre die Lesbenbewegung mit ihren „Lesbenzentren“ in den Städten nicht wesentlich präsenter waren, als heute im Akronym LSBT und unter dem Label „queer“, rückt Sabine die historische Dimension gerade, die nicht zuletzt durch die Erzählungen von Zeitzeuginnen und die einsetzende Geschichtsschreibung mit Tendenzen zur Mythenbildung oft in eine Schieflage gerät „Also jetzt Mal: Lesbenzentrum. Wir hier in Essen hatten ein 60 Quadratmeter großes Ladenlokal, dort fand vielleicht zwei Mal in der Woche ein Angebot statt, sichtbar waren wir damit vielleicht für uns und in der Szene, aber in der politischen Kultur der Mehrheitsgesellschaft sicher nicht. Wir haben keine Werbung für das Zentrum gemacht, Anzeigen geschaltet oder so, wir haben uns getroffen – und da waren ja jetzt keine 80 Frauen, wenn wir 18 waren, waren wir viele.“25

Es hat definitiv Fortschritte bei der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen und der Einbeziehung von Trans*menschen gegeben, aber nun gilt es aufzupassen, dass diese Liberalisierungen nicht unter der Hand wieder zur Disposition stehen. Die FLiP-Frauen sehen sich dafür auch generationell gerüstet. Zur Vernetzung brauchen sie heute keinen 60 Quadratmeter großen Raum mehr oder eine Anrufbeantworterin, sondern das Wordwideweb, soziale Medien und Messenger-Dienste, über die sich alle Interessierten zum Tanzen, zum Diskutieren, zum Sport, zur Vorbereitung politischer Aktionen, zum Stammtisch, zum Kochen … verabreden können.

Dr. Uta C. Schmidt/ frauen/ruhr/geschichte

Orte:

https://www.flip-ruhr.de/
Kaldekirche 32, 45309 Essen-Schonnebeck

Zitation: Schmidt, Uta C., FLiP, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/flip/

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Sophie Marks

Die äußeren Daten dieser Frauenbiografie sind rasch erzählt. Es existiert von Sophie Marks weder Bild noch Text, und in den zahlreichen Lebensbeschreibungen über ihren Geliebten und Ehemann Alexander Haindorf wird meist nur ihr Tod erwähnt. Sophie Marks wurde im Jahr 1791 in Hamm als Tochter der Henriette Marks (geb. Hertz 1769-1823) und des Elias Marks (1765-1854), einem wohlhabenden Kaufmann, geboren.1Marks nutzte sein Vermögen immer wieder, indem er sich finanziell für die jüdische Gemeinde in Hamm engagierte. Seine Tochter Sophie war mit Alexander Haindorf (1784-1862) zunächst befreundet, seit 1810 mit ihm verlobt, seit 1815 mit ihm verheiratet. Haindorf erlangte gemeinsam mit Marks später überregionale Bekanntheit durch die Stiftung einer Bildungseinrichtung für jüdische Lehrer, Kinder und Handwerker. Im September 1816 starb Sophie Marks im Kindbett, als sie die gemeinsame Tochter zur Welt brachte, die – wie sie selbst – den Namen Sophie trug.

Glücklicherweise sind im Privatarchiv Loeb-Böhme-Wels noch einige, bis dato weder komplett transkribierte, geschweige denn publizierte Briefe erhalten geblieben, die Sophie Marks und Alexander Haindorf sich geschickt haben.2 Diese Briefe, geschrieben zwischen 1807 und 1816, sind praktisch die einzigen Zeugnisse, die die Persönlichkeit der jungen Frau greifbar werden lassen. Mit ihrer Hilfe nähere ich mich der Person im Folgenden gleichsam in einem historischen Psychogramm.

Der Alltag

Zu der Zeit, als der Briefwechsel anhebt, lebt Sophie als 16-jährige junge Frau mit den Eltern Elias und Henriette Marks, mit der kleinen Schwester Emma (Geburtsdatum unbekannt – 1812), mit der Hausdame Frau von Glaubitz (geb. von Pfuhl) sowie deren Tochter Jette und noch einigen weiteren Bediensteten in einer Hausgemeinschaft in Hamm an der Südstraße 6. Sophie pflegt Kontakte mit den Leuten, die ihre Eltern besuchen. Gelegentlich gibt es während der sogenannten Befreiungskriege Einquartierungen; so hat die Familie Marks etwa am 17. Februar 1811, 1813, und auch im Frühjahr 1814 französische Soldaten im Haus unterzubringen.3Immer wieder werden Wilhelm Salomon Kaufmann (1773 geboren) und seine Ehefrau im Markschen Haus empfangen. Er ist Arzt, sogar Medizinalrat, sie wird auch als Frau „Räthin Kaufmann“ oder als Kaufmännin bezeichnet.4 Die Räthin ist Sophies Tante Rose (geb. Hertz – 2.4.1817), Schwester der Mutter Henriette Hertz.5 Einer Frau Schulz ist Sophie sehr zugetan, aber über sie ist nichts weiter bekannt und der Allerweltsname Schulz lässt auch nicht auf Entdeckungen hoffen. Sophie schreibt über die Freundin Frau Schulz, „mit der ich so über alles was mein und ihr Leben betrifft spreche“. 6„Ich habe sie am liebsten von allen Bekannten, sie ist so eine gute brave Seele“. Mit Frau von Glaubitz startet Sophie verschiedene Unternehmungen und Verwandtenbesuche, auch wenn es beschwerlich ist: Die Familie reist schon mal nach Münster, um im Dom einem Konzert zu lauschen und beispielsweise die Sängerin Angelika Schlüter zu hören. Der Aufwand ist „nicht ohne“. Die Kutschfahrt nahm etliche Stunden Zeit in Anspruch. Doch waren in Hamm die kulturellen Angebote rarer. Wahrscheinlich gibt es hier zwar auch schon Theatervorführungen,7doch sicher in einem verhältnismäßig bescheidenen Rahmen im Saal einer Gaststätte oder im Komödienhaus.

Sophie Marks weiß sich aber auch anderweitig zu beschäftigen: Sie liest, malt, musiziert, doch eine aktive außerhäusliche Lebensplanung und -gestaltung ist für die weibliche Hälfte des Bürgertums in diesen Tagen nicht vorgesehen. Im Grunde ist Sophie Marks – wie andere Frauen aus Bürgertum und Adel auch – dazu verurteilt zu warten, bis der passende standesgemäße Heiratskandidat am Horizont auftaucht, um dann mit seiner Hilfe die Herkunftsfamilie zu verlassen und ein neues Familienkapitel aufzuschlagen. Das besondere Schicksal der Sophie Marks war es nun, dass der Heiratskandidat beizeiten gefunden war, dass aber beide, Sophie und Alexander, über Jahre hinweg nicht miteinander lebten.

Sophie Marks braucht sich um die Bestreitung des Lebensunterhalts keine Sorgen machen, als künftige Erbin des reichsten Manns der Stadt haben finanzielle Probleme keine Rolle in ihrem Leben gespielt. Allenfalls die ökonomische Asymmetrie zu ihrem Verlobten war gelegentlich nicht ganz leicht. Gleichwohl sind die Biografien der beiden jungen Leute nicht frei von Schwierigkeiten, denn sowohl die Familie als auch die Gesellschaft richten Erwartungen an sie, die sie zu erfüllen haben. Sophie ist zuallererst in ihre Rolle als Frau gedrängt, deren Lebensentwurf traditionell bei der Verehelichung und dem Muttersein endet. Allerdings ist der familiäre Hintergrund so komfortabel, dass ihr der Zugang zu Bildung unbeschränkt offensteht. Ob sie je die jüdische Schule in der Stadt besucht hat, wissen wir nicht. Frau von Glaubitz, die Hausdame, hat ein vertrautes Verhältnis zu der jungen Frau, und unterrichtet sie wahrscheinlich im Privatunterricht auch in englischer Sprache.8 Sophie Marks spricht mehrere Fremdsprachen, sie dilettiert auch in italienischer Sprache, sie musiziert, spielt beispielsweise das Pianoforte, sie liest und tauscht sich mit Haindorf über die Lektüre aus. Sie besucht Konzerte in Hamm, übt in einem Chor oder nimmt an einem Ball an der Ostenallee teil. Zwanglos streut sie Anspielungen aus der griechischen Mythologie in ihre Korrespondenz.9 Er sendet ihr auf ihre Bitten auch das eine oder andere Buch zu. Neben dem Zeichnen und Malen verrichtet sie traditionsentsprechend auch „weibliche Handarbeiten“, beispielsweise säumt sie Taschentücher für Haindorf.10 Ferner sammelt sie im Garten der Familie Beeren und kocht sie ein. Als der Tag der Hochzeit naht, erklärt sie ihrem Bräutigam sogar, sie wolle künftig in dem gemeinsamen Haushalt keine Köchin aufnehmen, sondern sich selbst an den Herd stellen und für sie beide kochen. Er werde schon genießen, äußert sie zuversichtlich, was sie zubereite, da es doch allemal besser munde, wenn etwas mit Liebe hergestellt sei.11

Insgesamt erscheint Sophie als intelligente, gebildete, gefühlsstarke, aber auch von Melancholie gedrückte Frau. Sie hat eine „vornehme“ Zurückhaltung, eine Vorsicht und Bescheidenheit. Bescheidenheit wird übrigens von Sophie und Alexander als positive Eigenschaft auch an anderen geschätzt, beispielsweise in der Begegnung mit Frau Schlüter. Hofrätin Angelika Schlüter, die Familie Marks bei einem Gesangsvortrag im Dom in Münster bereits erlebt hatte, sei eine „liebenswürdige, anspruchslose Frau“.12

Frauen für den Krieg

Im Jahr 1813, als viele preußische Männer in Scharen freiwillig zur Verteidigung des Vaterlands eilen, werden auch Frauen zur Pflichterfüllung aufgerufen. Und so finden sich in Hamm – aber auch in zahlreichen anderen Städten – Frauen aus den Kreisen des Adels und des Bürgertums zusammen, bilden Frauenvereine, um beispielsweise mit Handarbeiten, Verbandsmaterial und Spenden die Befreiung Preußens von den französischen Truppen unter Napoleon Bonaparte zu unterstützen. Auch Frauen des jüdischen Bürgertums beteiligten sich an den patriotischen Aktivitäten. Henriette Marks wird als Aktive in dem Verein namentlich genannt. Doch auch die Tochter Sophie ist dabei, wenn die Frauen sich treffen. Sie erwähnt in einem der Briefe an Haindorf, dass die Hammer Frauen ihre Arbeiten im Ritzgarten, einer renommierten Gastronomie an der Lippe, zum Verkauf anbieten und Spenden sammeln.13

„Ihre Freundin Sophie Marks“ – ein rätselhaftes Bild

Vor einigen Jahren hatte das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm das Glück, aus dem Kunsthandel ein Stickbild, das von Sophie Marks gearbeitet worden ist, erwerben zu können. Es zeigt in beige-braunen Farbtönen eine in Plattstichen ausgeführte Hütte, von Bäumen flankiert, und rückseitig mit einer Widmung versehen: „Bei dem jedesmaligen Anblick dieser ländlichen Hütte erinnern Sie mich an Ihre Heimat und an Hamm. Ihre Freundin Sophie Marks“. Das kleine Bild (maximal 15 cm breit) datiert vom 18. Dezember 1807. 14 Auf den Adressaten, dem diese hübsche Arbeit gewidmet ist, gibt es leider keinen Hinweis. Und die Wege des kommerziellen Kunsthandels sind zu verschlungen und meist so schlecht dokumentiert, dass sich die Provenienz nicht nachvollziehen lässt. Es liegt nahe anzunehmen, dass Sophie Marks ihrem Freund Alexander Haindorf das Bild als Souvenir an die Stadt Hamm und als Andenken an ihre Beziehung gefertigt hat. Zeitlich würde das passen, denn gerade im Herbst 1807 hat der junge Mann Hamm verlassen, um in Würzburg sein Studium anzutreten. Die Anrede „Sie“ wiederum spricht gegen diese Vermutung. In seinem ersten im Archiv Loeb-Böhme-Wels erhaltenen Brief an Sophie Marks bedient sich Haindorf schon des vertrauten „Du“. Das ist nicht als selbstverständlich vorauszusetzen, denn selbst zwischen Eltern und Kindern wird in dieser Zeit bisweilen das förmliche Sie genutzt. Auffällig in ihrer beider Korrespondenz ist, dass Haindorf die junge Frau stets mit Vornamen anspricht und duzt, während Sophie ihn in der Regel mit Haindorf adressiert. Offenbar ist es nicht unhöflich, Männer mit dem Nachnamen anzureden, wie auch aus anderen Briefwechseln hervorgeht. Nennt sie ihn Alexander, kann das als Ausnahme gelten, eher spricht sie ihn auch mit „lieber Freund“, „lieber Junge“, „geliebter Haindorf“ an. „O guter Alexander“, sagt sie angesichts des Todes ihrer kleinen Schwester Emma, und man hört sie förmlich seufzen. 15 Im Scherz spricht sie ihn auch einmal als „liebes Haindorfchen“ an. 16 Aus dem Jahr 1807 hat sich kein Schreiben von Sophies Hand erhalten, doch ist es unwahrscheinlich, dass sie ihn in etwaigen weiteren Briefen mit dem förmlichen Sie angesprochen hätte. Allerdings sendet Sophie Marks am 18. Juni 1812 ein Schreiben an Haindorf in Heidelberg, in dem sie ihn tatsächlich siezt. Es hatte eine Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden gegeben, und sie ist voller Verdruss: „Ihr ungerechtes Urtheil hat mich sehr geschmerzt“, hält Sophie ihm vor. Das lässt erkennen, dass die Enttäuschung über Haindorf die Ursache für ihren förmlichen Stil ausmacht, und zeigt, dass die Anrede flexibel genutzt wurde.

Bei dem Stickbild ist aber keine Distanz zwischen der jungen Frau und dem Beschenkten anzunehmen, also kann wohl auch nicht eine getrübte Stimmung der Grund für die Förmlichkeit sein. Letztendlich wissen wir es einfach nicht. Bedauerlich ist es, dass wir den/die Adressat:in des Stickbildes nicht kennen, erfreulich aber ist andererseits, dass wir neben den Briefen mit diesem Souvenir überhaupt noch etwas Weiteres von Sophie Marks in Händen halten können.

Eine Liebe in Briefen

Heutzutage ist es schwer vorstellbar, dass eine Freundschaft und eine Liebesbeziehung über Jahre hinweg im Wesentlichen nur durch schriftlichen Kontakt gepflegt wird, dass man auf diese Weise einander gewiss sein kann und der Austausch von Dauer ist. Die Briefe, die die beiden jungen Leute einander schreiben, erstrecken sich über den Zeitraum von 1807, als Alexander in Würzburg sein Medizinstudium aufnimmt, bis zum Jahr 1816, dem Todesjahr der jungen Mutter Sophie.

Nicht nur in der Widmung in seiner Heidelberger Publikation, auch in den Briefen an die Freundin und Braut sowie umgekehrt von Sophie an Haindorf tritt uns eine große Emotionalität entgegen, eine Gefühligkeit, die heutzutage völlig unbekannt ist und bei Außenstehenden beinahe eine Art „Fremdschämen“ hervorruft. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts ist die Literatur von „Empfindsamkeit“ geprägt. Und diese Art des Selbstausdrucks wirkt noch bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts nach. Der Ausdruck starker Gefühle gilt zu dieser Zeit nicht als peinlich oder unbeherrscht, sondern als angemessen für eine sittlich gute Existenz.

Die beiden Schreibenden tauschen sich über ihre alltäglichen Erlebnisse aus, zunächst noch in einem eher neutralen Ton, als etwa Haindorf der jungen Frau 1807 von den kulturellen Angeboten in Würzburg erzählt, dass er Shakespeares Hamlet gesehen oder eine Mozartoper gehört hat. Im folgenden Jahr 1808 zeigt der Schreibstil bereits, dass sie einander nähergekommen sind, Haindorf äußert beispielsweise große Anteilnahme „mit Deinem zartfühlenden Herzen“, ja, es ist ein liebendes Necken, wenn er auf einen milden Vorwurf ihrerseits schreibt: „Wie gerne wollte ich nicht nur meine Unart abbüßen, wenn ich nur beständig mit so lieben Briefen [von dir] bestraft“ würde. Sophies Gram – worüber sie sich geärgert hat, ist unklar – begegnet Alexander mit dem Gestus des erfahrenen Älteren: Er ist ist 24, sie 18 Jahre alt. Haindorf stellt fest, dass sie „über das Treiben der Menschen zu sehr reflectiret“ und sich Sorgen macht; dagegen rät er ihr: „Denke Dir nur recht lebhaft, daß ein jeder treibt, was er treiben muß“. Hier schon deutet sich an, dass Sophie mit großer Sensibilität auf die Umwelt reagiert und leicht zu kränken ist. Vieles nimmt sie – zu – schwer, so scheint es ihrem Freund jedenfalls. Und über den Verlust der kleinen Schwester Emma versucht Alexander sie mit philosophischen Grundsätzen zu trösten: „Tod und Leben […] sind so sehr miteinander verschwistert, daß ein tiefer Blick ihre Ähnlichkeit keinen Augenblick verkennen kann“.17 Sie möge trauern, aber nicht über das Warum grübeln. Alexander hat gut reden, geht er doch „hinaus ins feindliche Leben“, wie Schiller es 1799 in seinem Lied von der Glocke für die Männer vorsah: Er kann sich an den ihm gestellten Aufgaben beweisen und sich in Zerstreuungen verlustieren. Zumal als junger Mann hat er eine Fülle an Verhaltensoptionen, die Sophie nicht zu Gebote stehen – es sei denn, sie wollte völlig aus dem Rahmen fallen.

Sanft und engelsgleich ist Sophie für Haindorf und soll es auch sein. Die geliebte Sophie spricht er an als „holder Engel“, oder „Du lieber Engel“, aber auch „liebe Seele“.18 Ob sich Sophie bei der Anrede „liebes Kind“ hinreichend verstanden fühlte, wissen wir nicht.19 Dabei soll sie es an Verstand nicht fehlen lassen. Und Sophie ist auch keineswegs so gestrickt, dass sie gleichsam wie ein dekoratives Möbelstück nur ihm zu gefallen suchte und ihn ohne eigenen Anspruch erfreuen wollte. Haindorf ist immer wieder mit seinen empathischen Fähigkeiten gefordert, denn Sophie leidet [1.] mehr als Alexander unter den Trennungen, [2.] hat sie wohl unabhängig von der Beziehung zu Alexander mit melancholischen – heute würden wir wohl von depressiven sprechen – Stimmungen zu kämpfen, und [3.] quält sie immer wieder ein starker Kopfschmerz. Alexander Haindorf ist der Vertraute, dem sie diese Bedrückungen immer wieder vorträgt, vielleicht nicht in uferloser Breite, aber doch wiederkehrend, so dass er sich dazu verhalten muss.

Frauen und Männer

In einem Brief aus dem Jahr 1811 gibt Haindorf zu erkennen, wie er sich die ideale Frau vorstellt und welches Frauenbild er vertritt.20 An Sophie schätzt er die „ungekünstelten Briefe“, die über unverbindliche Plaudereien stets hinausgehen. „Gelehrte Frauen“ dagegen sind ihm ein Graus. Er hat in Heidelberg die Bekanntschaft einer Frau gemacht, die ihn sehr abschreckt: „Sie ist eitel und die Wissenschaft hat ihr das Herz geraubt, und so der ganze Zirkel gelehrter Frauen, der hier jetzt lebt“. In Heidelberg nämlich lebte damals vorübergehend Amalie von Helvig (geb. Imhof, 1776 Weimar – 1831 Berlin), eine Schriftstellerin, die sich eines großen Reichtums erfreute und sich unbekümmert ihren literarischen Ambitionen widmen konnte. Sie verkehrte hier im Romantikerkreis um Sulpiz Boisserée, einem Kunstsammler und Schriftsteller, ab 1816 lebte sie als Salondame in Berlin. Im Jahr 1799 legte Amalie die Dichtung „Die Schwestern von Lesbos“ vor, 182 Strophen in Hexametern. Sogar in Schillers Horen und in seinem Musenalmanach hat Amalie von Helvig, allerdings unter einem Pseudonym, ihre Gedichte veröffentlicht.21

Dann ergießt sich Haindorf im Folgenden über die Natur des Weibes: „Durch Anmuth und Liebe soll das Weib die Natur beherrschen“, sie nicht aber durch Gelehrigkeit „verderben“. Glücklicherweise, meint Haindorf, seien nicht alle Frauen in Heidelberg von der „Gelehrsamheitswuth befallen“. Manche trügen auch „die Wissenschaft, wie es sich gebühret, auf leichten Schultern“. 22 Immerhin gehören Lektüre und Bildung mit zum Kanon der Erziehungsinhalte für jüdische Frauen, alles in einem moderaten Maß und stets abgegrenzt von „männlicher“ Gelehrsamkeit. Es hat den Anschein, als wenn in jüdischen Kreisen Bildung, auch für Frauen, nicht nur erlaubt, sondern, in Grenzen, auch geboten war. Am 26. April 1814 berichtet Haindorf etwa aus Göttingen: „Die männliche Welt ist hier ungemein gelehrt und ernst, ohne doch mürrisch zu seyn; die weibliche dagegen zart und feingebildet“.23 Auch Dorothea Erxleben, die erste promovierte Frau in Deutschland, und Dorothea von Schlözer, die 1787 als zweite deutsche Frau einen Doktortitel erwarb, hätten Haindorfs Anerkennung gewiss nicht gefunden. Und dass einige Frauen als Männer verkleidet an den Kämpfen gegen die französischen Truppen teilgenommen haben, hätte er sicher als „unnatürlich“, weil gegen die Natur der Frau, verstanden.24.  Diese geschlechtsspezifische Bildungsverteilung dürfte nach Haindorfs Geschmack gewesen sein. Nur keine Extreme!

Nicht nur in der Korrespondenz, sondern auch in seiner wissenschaftlichen Publikation aus dem Jahr 1811 ist die Liebe ein Thema für den Doktor der „Arzney- und Wundarzneykunst“. Die Liebe nämlich, so Alexander Haindorf, „hebt zwar das Physische des Geschlechtstriebes nicht auf, aber sie verklärt und verherrlicht es durch ihre ideelle Form“, so der junge Mann, der damals noch keine 30 Jahre alt war.25 Die Liebe zeige sich bei Frauen und Männern ganz unterschiedlich. Bei jungen Männern, bei denen die „Liebe sich durch das freie Spiel [ihrer] Phantasie mit den Idealen offenbart“, erweitert sich das Gefühlsleben. Der Jüngling hat das Bedürfnis, „sich durch das Weib, als sein vollkommener Gegensatz, zu ergänzen“, so dass sein Egoismus gemindert wird. Wenn er endlich die Frau findet, die „dem Ideale seiner Phantasie entspricht“, wird er ruhiger und sanfter. „Es ist dieses eine der schönsten Perioden des Lebens, in welcher der Jüngling seine ganze Kraft fühlen lernt, und wo er gewaltig im Geiste und Gemüthe in das Leben mächtig eingreift und es beherrschen lernt.“26 Bei jungen Frauen wirke sich die Erfahrung der Liebe ganz anders aus, sie seien in „eine ernste, tiefe Gemüthsstimmung“ versetzt. Die Gefühle ließen sie praktisch die äußere Umgebung vergessen und bescherten „den tiefsten Seelenfrieden“.27

Spätestens diese letzten Schilderungen wird man als autobiografisch verstehen dürfen, denn die Liebe zu Sophie wird dem jungen Haindorf, neben allen Entbehrungen, auch Energie und Tatkraft verliehen haben. Die benötigte er auch, als er in den Jahren 1810 bis 1815 sein Studium, seine Publikationen, seine Ortswechsel und die frustrierenden Bemühungen um eine Professur durchzustehen hatte. „Mit der Eroberung der Braut“, heißt es bei Haindorf ungewöhnlich martialisch, ist „dem Jüngling auch die Eroberung der Welt“ gegeben.28

Die dichotomische Geschlechterordnung, die um das Jahr 1800 die heterosexuellen Beziehungen strukturiert, ist praktisch unhinterfragt: Die Frau gilt als empfangend – der Mann als aktiv, sie ist das Gefühl, er der Verstand, sie ist schwach, er ist stark, sie ist Materie, er ist Gott und so weiter. Besonders anschaulich werden die Geschlechtsrollenklischees in Schillers Gedicht von der Glocke, wo die „züchtige Hausfrau“ drinnen waltet, während der Mann hinaus ins feindliche Leben drängt. Auch für Haindorf sollen die Frauen „sanft und engelsgleich“ sein.29 Immerhin favorisiert Haindorf eine weniger strikte Polarität der Geschlechtscharaktere, er ist um Ausgleich bemüht und richtet sich gegen extreme Positionen. Wie seiner Dissertation der Versuch zugrunde liegt, Somatisches mit Seelischem zu verknüpfen, keine Exklusionen zu zementieren, sondern ein Sowohl-Als-Auch zu favorisieren, so verficht er kein grobes Männerbild. Er selbst zeigt sich immer wieder ausgesprochen gefühlvoll, bisweilen schwärmerisch, Diktate wie „ein Mann weint nicht“, wären ihm sicher völlig abwegig und fremd gewesen.

Eifersucht und Sorge

Persönliche Begegnungen der beiden Verlobten sind selten. Sophie sähe ihn gern bei sich in Hamm. Vor den Vorlesungen, die im November beginnen, hat Haindorf aber keine Zeit, also lädt er umgekehrt Sophie mit Frau von Glaubitz im März 1811 ein, ihn in Heidelberg zu besuchen: „Ihr sollt gewiß alle so gut bey mir aufgenommen seyn, als lebtet Ihr im Paradise“, verspricht er.30 Er bekennt, durchaus emotional, dass er unter der Trennung leidet. Sternstunden sind es für Sophie, wenn Haindorf aus seinem Studienort mal wieder in Hamm eintrifft und die Familie Marks besucht. Haindorf nennt Sophies Eltern „die Eltern“, steht also in einem vertrauten Verhältnis zu ihnen. Den „geliebten Haindorf“ tadelt Sophie beispielsweise wegen seines „unnatürlich langen Schweigens“.31Doch ruft sie sich auch selbst zur Disziplin, hat wohl ein kritisches Verhältnis zu ihren Bedürfnissen. Auch wenn jeder Brief von Haindorf ihr „das Leben verschönert“, 32 will sie künftig doch „vernünftiger sein und meiner Phantasie mehr Ruhe gebieten“ räumt sie ihm gegenüber ein. Sophie fühlt sich allein und beneidet „jede meiner Bekanntinnen [sic!], die eine liebende Schwester hat“, mit der sie sich über Liebesdinge austauschen kann. 33 Sophies Sorgen und ihre Trennungsängste werden dem Verlobten bisweilen zu viel, auch deshalb versucht die junge Frau die innere Dramatik zu drosseln, um seine Rüge nicht hören zu müssen: „Ich begreife durchaus nicht, wie Du ewig Dich von ängstigenden Stimmungen quälen läßt. Ich habe Dir ein für alle mal gesagt, daß mein Schicksal auch das Deine ist“. 34

Haindorf seinerseits hatte sich bei Sophie beschwert, dass sie an seinem „erlittenen Verlust“ nicht genügend Anteil genommen hätte, was Sophie wiederum schmerzt – was oder wen er verloren hat, ist unklar. Um aber gleichsam symbolisch den Raum zwischen ihnen zu überbrücken, hat Haindorf in Paris ein Porträt von sich machen lassen und auf die Post gegeben. Nachdem bereits ein erstes Bildnis von ihm auf dem Postweg verloren gegangen war, ist Sophie nun umso ungeduldiger, das Bild ihres Geliebten in den Händen zu halten: „mit banger Sehnsucht erwarte ich es täglich“.35 Kurz darauf kann sie ihm aber bestätigen, dass sie das Bild aus Paris wohlerhalten in Empfang nehmen konnte.36 Ein Jahr später soll ein Ring, den er ihr schickt, die Beziehung stärken.

Schon um das Jahr 1800 hatte die Stadt Paris den Ruf, ein „Fest fürs Leben“ zu bieten. Hier hält sich der junge Arzt im Jahr 1812 und 1813 auf, um die Klinikorganisation der entstehenden Psychiatrie zu studieren.37 Sophie Marks wird durch die Abwesenheit Haindorfs und durch seinen Aufenthalt in Paris aber in Unsicherheiten gestürzt. Sie ist traurig und hat wegen Haindorfs Ferne in Paris „manche düstere Stunde“ zu durchleben. Sie versucht sich damit zu trösten, dass er sie in Zukunft „auch mal durchs Leben“ führen wird.38 Alexander Haindorf hat ihr versichert, dass „nicht Vergnügen noch Sinneslust“ ihn in Paris festhalten. Und sie ist tapfer und erklärt: „was ist schöner, als gegenseitiges volles Vertrauen?“ Es ficht sie nicht an, gibt sie ihm zu verstehen, wenn er in der französischen Hauptstadt Freude erlebt und vergnügt ist. Sophie blickt gleichwohl der näher kommenden Stunde seiner Rückkehr entgegen. Es scheint wohl klar, dass er nicht in Paris bleiben wird? Für seine Rückkehr haben sie den Herbst 1813 ins Auge gefasst. Bis dahin wird sie „überaus glücklich in meiner Phantasie leben“, beruhigt sie ihn. Oder vielleicht sehen sie sich schon im Sommer, so dass sie ihm bis Aachen entgegenfahren kann? Sophie hat Interesse an der französischen Metropole, soweit ihr das aus der Entfernung möglich ist. Sie hat von einem der einquartierten Franzosen erfahren, „daß die schlauen Pariser gewöhnlich den Fremden betrögen“. Sie hofft, dass ihm diese Erfahrung erspart bleiben möge.

Sophie Marks’ Geduld scheint aber auch einmal überstrapaziert gewesen und ein Ende gehabt zu haben. Sie beschwert sich über Haindorfs Abwesenheit, wie aus dessen Antwortschreiben zu schließen ist. Ihr „bittersüßer Brief“ habe ihn sehr betrübt, gesteht Haindorf ein, doch sei es „nun einmal der Männer Loos, […] nicht blos Gefühlen und Empfindungen zu gehorchen, sondern auch der Vernunft ihre Rechte einzuräumen – besonders bey Dingen, die das gemeine Leben betreffen“, entschuldigt Alexander Haindorf sich.39 Inständig erklärt er, dass die Vernunft hier den stärksten Gefühlen entgegenstehe und dass es, er wiederholt es nun, bei allem, was ihm „heilig“ ist, dass er nicht zum Vergnügen in Paris ist. Er habe ganz im Gegenteil sein „Leben frommer, ruhiger, stiller und arbeitsamer gelebt“ als man das vermuten würde. Sie tue ihm Unrecht. Doch für die Entbehrungen an Gemeinsamkeit, die sie ertragen müsse, würden die Götter sie reichlich entlohnen, tröstet er. Diese Hoffnung auf ausgleichende Gerechtigkeit sollte sich als trügerisch erweisen.

Angesichts der Erwartungen der Hammer Familie, dass er bald nach Hamm zurückkehren möge, wendet sich Haindorf brieflich auch an Elias Marks. Haindorfs Herz hängt an Paris und an der Arbeit dort. Im September 1813, als die so genannten Befreiungskriege in vollem Gange sind, fragt er die Eltern Marks, ob er angesichts der unruhigen Zeiten nicht doch besser in Frankreich bliebe und hier den Sturm abwarten sollte.40 Das freilich sehen die Eltern genau umgekehrt: Gerade wegen der unsicheren Zeiten solle er flugs nach Hause kommen.

 

Endlich zusammen: 1815 in Münster

Im Herbst 1814 haben die beiden Verlobten immerhin einmal vier Wochen miteinander verbracht. Sophie sagt, dass es ihr während dieser Zeit „überaus wohl war“, sie ist also nicht durchgängig bedrückt.41 Nur wenige Monate später, im Mai 1815, siedelt Haindorf von Göttingen nach Münster über und ist auch bereit, dort, in der Nähe von Hamm, zu bleiben. Acht Stunden brauchen sie zur Überwindung dieser Entfernung.42

Haindorf hat in Münster u.a. zunächst ein Logis bei der verwitweten Bürgermeistersgattin Vollbier, das er im Sommer 1815 aufgibt. Wann Sophie Marks ihren Verlobten heiratet, ist eigentümlicherweise nicht überliefert. Es fällt auch kein Wort in den Briefen darüber. Zum 10. Oktober 1815, so haben die Brautleute es ins Auge gefasst, wollen sie einen neuen gemeinsamen Hausstand begründen. Mag sein, dass dies auch das Hochzeitsdatum ist. Bis dahin macht sich Alexander Haindorf mit viel Freude daran, die Einrichtung der gemeinsamen Wohnung zu planen. Im Schlafzimmer möchte er ein Himmelbett, die Stube soll mit blauen Tapeten ausgekleidet sein, über die Art der Leuchter diskutieren die beiden in ihren Briefen. Selbst jetzt, da absehbar wird, dass sie ein gemeinsames reales Zusammenleben haben werden, ist Sophie nicht frei von Sorge, ja, sie bangt schaudernd, „daß der Tod uns trennen könnte“.43 Es sei ihr einfach nicht möglich, froh und ungetrübter Stimmung zu sein. Nur wenn er, Alexander, da sei, dann könne sie glücklich sein.

Bald führt Haindorf aber auch eine Praxis als Nervenarzt, die an der zentralen Salzstraße liegt. Wenn er im selben Haus wohnt und praktiziert, dann müsste das im Haus Nr. 45 gewesen sein. Für April 1816 ist Alexander Haindorf in Münsters Ludgeristraße aufgeführt. Wahrscheinlich ist dies die gemeinsame Wohnung von Sophie und Alexander Haindorf. Doch das Miteinander im realen Alltag, auf das die beiden so lange hingelebt hatten, sollte nicht lange währen. Denn: „In der mitternächtlichen Stunde vom 5. auf den 6. und im nämlichen Augenblicke, wo meine innigst geliebte Gattin die lang gehofften Mutterfreuden kurz und süß empfunden hatte, entschlummerte sie sanft zum bessern Leben im Alter von 24 Jahren. Gott sey ihrer Seele gnädig, und schenke meinem Kinde und mir Kraft, unser gerechtes Schicksal ertragen zu können.“ Die Todesanzeige inseriert Haindorf noch am Morgen des 6. September 1816. 44

Ausblick

Das Mädchen, das Sophie Haindorf am 6. September 1816 zur Welt bringt, hat an dem frühen Tod der Mutter auch in mancher Hinsicht zu leiden. Sie schreibt später für ihre Kinder: „Unter Unglück ward ich geboren, denn im Moment, wo mir das Leben gegeben ward, wurde es meiner Mutter genommen, und ein Kind, welches die Mutter nicht gekannt, dem ist das höchste Glück vorbehalten, wenn auch wie bei mir ein liebend Vater durch Alles sucht, die Lücke zu ersetzen.“ 45 Haindorf war durch die Tochter Sophie mit seiner verstorbenen Frau Sophie verbunden, was die Beziehung zwischen Vater und Tochter allerdings sehr belastete. „Mein Vater […] tat unendlich viel für mich, aber war maßlos heftig und alles ging im Sturm, ich ward gegen ihn viel zu verschüchtert.“ Als Sophie 14 Jahre alt ist, muss sie sich von den Großeltern Marks in Hamm, wo sie bis dahin aufgewachsen war, trennen und kommt zum Vater nach Münster. Sie ist oft sich selbst überlassen und findet eine Gelegenheit, einen Jungen kennenzulernen: Jakob Loeb. Fünf Jahre haben die beiden eine heimliche Beziehung, bis Alexander Haindorf das bemerkt und sich geharnischt dagegen wendet. Haindorf verbietet den Kontakt, selbst schreiben dürfen sich die beiden jungen Leute nicht. Dabei, meint Sophie, seien Verbote doch ganz dazu angetan, die „Leidenschaft“ anzustacheln. Dass sich ihr Vater gegen Jakob wende, sei reiner Egoismus gewesen: „er würde auch gegen einen anderen Bewerber gewesen sein, er wollte mich für sich behalten“.46 Eine Wende zum Besseren tritt erst ein, als sich Großvater Elias Marks vermittelnd einschaltet, so dass die beiden schließlich doch heiraten können.

Dr. Maria Perrefort

Orte:

Südstraße 6, 59065 Hamm
Ludgeristraße, 48143 Münster
Grab auf dem jüdischen Friedhof Münster, https://www.juedischer-friedhof-muenster.de/datenbankseite/?jlmid=378

Zitation: Perrefort, Maria, Sophie Marks und ihre Liebe in Briefen, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/sophie-marks/

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Fasia Jansen

Am 29. Dezember 2022 erinnerten Menschen aus der Friedens- und Frauenbewegung, aus Gewerkschaften, aus der afrodeutschen Community, aus antifaschistischen, feministischen und postkolonialen Initiativen an Fasia Jansen. Anlass war der 25. Todestag der Liedermacherin und Aktivistin. Fasia Jansen war eine der wichtigsten künstlerischen Stimmen der sozialen Bewegungen in Westdeutschland. Eine Befassung mit ihrem Leben und Werk führt hinein in eine bundesrepublikanische Zeitgeschichte als Bewegungsgeschichte. Sie wirft Fragen nach der Verortung von Wissen und dem Verhältnis von Erinnern und Vergessen für ein individuelles wie kollektives Geschichtsbewusstsein auf.

Fasia Jansen wurde am 6. Juni 1929 als Tochter des Kinderfräuleins1 Elli Emma Anna Jansen und des liberianischen Generalkonsuls in Hamburg, Momulo Massaquoi, geboren. Ihr Vater leitete die erste diplomatische Vertretung des afrikanischen Kontinents in Europa. Im selben Jahr kehrte er nach Liberia zurück. Mutter Elli ging mit der Neugeboren zurück in ihre Familie im Hamburger Hafenviertel und erlebte dort Gewalt und Rassismus, der in der Gesellschaft des Deutschen Reiches gegen Schwarze, uneheliche Kinder und ihre Mütter herrschte. Zu ihrem sozialen Vater wurde Albert Backlow, den die Mutter 1935 heiratete. Albert Backlow nahm sie als Tochter an. Als Kommunist und Internationalist war er davon überzeugt: Alle Menschen sind gleich.

In die sorgfältig recherchierte Biografie zu Fasia Jansen, die aus unzähligen nachgelassenen Dokumenten, Tonaufnahmen und Fotografien im Auftrag der Fasia Jansen Stiftung entstand, hat eine Begebenheit Eingang gefunden, die die gesellschaftliche Sinn- und Deutungskultur der späten Weimarer Republik wie in einem Brennglas zum Ausdruck bringt: Den Eltern wurde vorgeschlagen, die Schwarze Tochter abzugeben und stattdessen ein weißes Kind aus den ehemaligen deutschen Kolonien anzunehmen. 2 Die Nürnberger Gesetze von 1935 rassifizierten Schwarze wie Juden und Z*, sie wurden diskriminiert, verfolgt und in Konzentationslagern interniert. 1938 führten die Nationalsozialisten nach der Schule für deutsche Mädchen das sogenannte Pflichtjahr ein. Deutsche Behörden wollten arischen Familien nicht zumuten, Fasia Jansen bei sich zu beschäftigen. Stattdessen sollte sie in der  Munitionsfabrik Düneburg arbeiten, sie wurde jedoch auf Intervention ihrer Großmutter Augusta Bujacz 1944 einer Küchenbaracke zugewiesen, wo sie für Zwangsarbeiter und -arbeiterinnen des KZ Neuengamme kochen und Essen austragen musste. Im Januar 1945 brach sie bei der Arbeit bewusstlos zusammen und wurde mit Herzproblemen in ein Krankenhaus eingeliefert, wo sie längere Zeit behandelt wurde. Ein Wiedergutmachungsantrag wegen „Schadens an Körper und Gesundheit“  wurde 1960 als unbegründet zurückgewiesen, da sie eine speziell „rassische Verfolgung durch nat.-soz. Gewaltmaßnahmen“ nicht nachweisen konnte. 3

Antikommunismus

Im kommunistischen Milieu sozialisiert fand Fasia Jansen mit ihrem Akkordeon und ihrer Stimme schnell Anschluss an Kulturgruppen der Freien Deutschen Jugendbewegung (FDJ), ein auch in Westdeutschland (und vor allem im Ruhrgebiet) aktiver Jugendverband. In seiner Gründungserklärung vom Dezember 1945 verstand er sich als antifaschistisch und parteipolitisch ungebunden und knüpfte an die fortschrittlichen Jugendbünde der Weimarer Republik an, bevor er 1951 durch die Bundesregierung als verfassungsfeindliche kommunistische Kaderorganisation verboten wurde. 4 Mit Volkstanzgruppen, Klampfenchören und Naturfreundesänger:innen reisten Jugendliche  1951 zum „Internationalen Festival der Jugend und Studenten“ nach Ost-Berlin in die Deutsche Demokratische Republik (DDR). Die „Weltjugendfestspiele“ genannten Ereignisse strahlten im zerbomten Nachkriegseuropa Weltläufigkeit und Völkerfreundschaft aus. Hier  trafen sich nach den verheerenden Verwerfungen der zwei Weltkriege Menschen von allen Kontinenten und bekundeten im interkulturellen, künstlerischen Austausch, dass eine andere Gesellschaft und eine Welt ohne Krieg möglich werden könnte. Fasia Jansen lernte in Ost-Berlin Anneliese „Anna“  Althoff aus einer antifaschistischen Oberhausener Familie kennen: Der Vater, Kommunist, unterhielt in der Weimarer Republik eine Druckerei, die Mutter verteilte als Katholikin 1933 kirchliche Flugblätter gegen die Nazis. 5 Anneliese Althoff wurde 1952 nach dem Verbot der FDJ angeklagt, „auch in der Bundesrepublik die kommunistische Gewaltherrschaft zu errichten“ und erhielt im antikommunistischen Klima der frühen Bundesrepublik eine siebenmonatige Haftstrafe ohne Bewährung. Diese wurde 1956 auf Intervention des Oberhausener Kaplans Otto Köhler vom Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen Rudolf Amelunxen – beide waren entschiedene Gegner des Nationalsozialismus und im KZ Dachau inhaftiert, nun waren sie Gegner der Wiederbewaffnung in der Bundesrepublik – in eine Bewährungsstrafe umgewandelt. Anneliese Althoff und Fasia Jansen wurden Freundinnen. Und so kam Fasia Jansen aus Hamburg ins Ruhrgebiet. Ihr Hamburger Dialekt klang fremd, es gab zwar im Ruhrgebiet viele Zugewanderte aus unterschiedlichsten Regionen der Welt, doch Zuwanderung aus Hamburg war höchst selten.6

Ihre Entwicklung als Musikerin und Aktivistin ist eingebettet in dieses politische Klima zwischen antifaschistischem Aufbruch und westdeutschem Antikommunismus. Fasia Jansen wurde trotz ihrer Sozialisation und der vielen Bezüge zum Kommunismus nicht Mitglied einer Partei, weder der Kommunistischen Partei Deutschlands, die 1956 verboten wurde, noch ihrer Nachfolgeorganisation, der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Sie fuhr trotz des sich verschärfenden Antikommunismus in Westdeutschland weiterhin mit Akkordeonkasten und ihrer Stimme auf Weltjugendfestspiele nach Moskau, Wien, Helsinki und nahm als Künstlerin Einladungen in sozialistische und blockfreie Länder an. 7

Ostermarschbewegung

Die Auseinandersetzungen mit der Remilitarisierung begannen in Westdeutschland bereits seit Ende der 1940er Jahre. Sie beruhten auf erfahrungsgestützter Angst vor einem neuen Krieg: „Wir wollen keine Ami-Waffen, wir wollen für den Frieden schaffen“, hieß es auf einer Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) 1955 in Herne. 8Doch schon bald gerieten die „Westdeutsche Frauenfriedensbewegung“ 9, die „Ohne-mich-Bewegung“ oder die Bewegung „Kampf-dem-Atomtod“ zwischen die Fronten des Kalten Krieges: Aktivitäten gegen die Remilitarisierung Deutschlands, gegen die Einführung der Wehrpflicht, gegen die Atombewaffnung, gegen die Notstandsgesetze oder gegen den Vietnamkrieg galten in Westdeutschland als kommunistisch unterwandert.101960 formierte sich das friedenspolitische Engagement in der Ostermarschbewegung: „Ich habe immer gesungen, im Chor und so. Singen war immer da. Aber sichtbar geworden bin ich, so richtig sichtbar geworden bin ich bei den Ostermärschen,“11formulierte Fasia Jansen. Auf den Ostermärschen wurde unterwegs und an den Kundgebungsplätzen mobil musiziert und gemeinsam gesungen, schnell stellte sich heraus, dass dieses Singen Kraft, Energie und Zusammenhalt schuf: „… eine Emotion, die etwas differenzierter war, als selbst nach einer guten Rede.“12 Anneliese Althoff und Annemarie Stern stellten in der Oberhausener Druckerei  Liederhefte im Hosentaschenformat her: Lieder gegen die Bombe.13. So konnte auf ein gemeinsames Repertoire zurückgegriffen werden. Darunter befanden sich von Beginn an Lieder von Fasia Jansen. Begleitet von Skiffle-Musik – bestehend aus Gitarre, Banjo, Ukelele, Bass und improvisierten Instrumenten wie Waschbrett oder Besenbass – sang sie Folksongs auf einem Jazzbeat. 14 Sie interpretierte den St. James Infirmary-Blues mit einem Text in deutscher Sprache: „Es war der erste Blues in deutscher Sprache“, heißt es.15 Im Laufe der Jahre erweiterte sich das Themenspektrum der Ostermarschproteste hin zur Kritik am Krieg der USA in Vietnam, an den Notstandsgesetzen, am Rechtsradikalismus und am Antikommunismus. 16 Transparente trugen Aufschriften wie: „Unsere Freiheit: Frieden. Demokratie. Soziale Sicherheit.“ Fasia Jansen sang zusammen mit der us-amerikanischen Folksängerin, Bürgerrechtlerin und Aktivistin Joan Baez. Ende der 1960er Jahre kam die Ostermarsch-Bewegung zunächst zum Erliegen. Die Gründe sind komplex, sie liegen u.a. in Auseinandersetzungen verschiedener politischer Flügel und in der Entwicklung neuer Protestformen.17 1980 führte die Bewegung für den Frieden zu einer Wiederbelebung der Ostermarschbewegung, auch  hier sang Fasia Jansen und traf bei einer Veranstaltung „Künstler für den Frieden“ 1981 die afroamerikanische Aktivistin und Bürgerrechtlerin Angela Davis, zu der sich eine politische Beziehung entwickelte.18Fasia Jansen war eine prominente Stimme in der politischen Protestkultur: Sie sang für soziale Bewegungen, für Gewerkschaften, auf evangelischen und katholischen Kirchentagen gegen den Vietnamkrieg und die Atomaufrüstung: „Gott hat die Bombe nicht gemacht“.19

Die Waldeck

Fasia Jansen steht mit ihrem Repertoire aus Folkmusik, Liedern des Widerstandes, der Bürgerrechts-, Gewerkschafts- und Arbeiter:innenbewegung für eine Redefinition des politischen Liedes nach der Zerschlagung emanzipatorischer Musiktraditionen durch den Nationalsozialismus. Ein Kristallisationspunkt dieser neuen politischen Musik war zwischen 1964 und 1969 die Burg Waldeck20, ein traditionsreicher Gedächtnisort der Wandervogel-Bewegung. Zu den Festivals auf der Burg Waldeck wurde auch Fasia Jansen eingeladen. Als Wolf Biermann 1965 kein Ausreisevisum aus der DDR zum Festival erhielt, schickte er seine Ballade vom Briefträger William L. Moore an Fasia Jansen. Sie sang die Ballade an seiner Stelle.

Fasia Jansen ließ sich weder politisch  noch musikalisch instrumentalisieren, wie in einem Brief an den Tenorsaxophonisten der Kölner Polit-Rockband Floh de Cologne, Theo König, deutlich wird: „Ich habe mich nun doch entschieden, meine original (sic!) Texte zu singen, weil ich der Ansicht bin, daß man seine Lieder, die für bestimmte Aktionen gemacht sind, auf einer Platte nicht anders singen sollte … Mein Schwerpunkt ist Westdeutschland und nicht die dritte Welt. Ich kann mich auch nicht identifizieren, was da alles an Losungen kommt.“ Und weiter heißt es: „Worüber ich traurig bin ist, daß ich als politische Sängerin noch kein Lied habe über die doppelte Ausbeutung der Frauen.“21

Die Stimme des Strukturwandels

Fasia Jansen begleitete im Strukturwandel (und darüber hinaus) den Kampf um den Erhalt von Arbeitsplätzen, aber auch gegen die Vernichtung von preisgünstigem Wohn- und Lebensraum. In den 1980er Jahren formierten sich im Ruhrgebiet allerorten Fraueninitiativen, die auf ihre Weise der Deindustrialisierung Widerstand entgegenhielten. Sie organisierten den Protest vor den Werkstoren und in den Städten – immer dabei auch Scharen von Kindern, die trotz Streiks, Demos und Solidaritätsaktionen weiterhin betreut werden mussten.

Im November 1980 begannen Frauen bei Hoesch in Dortmund mit Aktionen für den Erhalt der Westfalenhütte. In der politischen Kultur der Zeit war es umstritten, dass Frauen außerhalb der Werkstore eigenständig und „wild“ für Arbeitsplätze mobilisierten, vorbei an der Gewerkschaft IG Metall. Sie blieben gleichwohl mit ihr verbunden, da den (Ehe)Frauen der Vertrauensleute der IG Metall – eine Art Bindeglied zwischen den Werksangehörigen und den gewerkschaftlichen Funktionsträgern – eine wichtige Rolle bei der Organisation der Aktivitäten zukam. Der Frauenwiderstand stand massiv in der Kritik. Im patriarchalen Sinn- und Deutungshorizont der Zeit galten die Aktivistinnen als „Flintenweiber“22 und gefährdeten den Ruf und das Ansehen ihrer Männer, die ihre Frauen scheinbar nicht im Griff hatten.23

Dortmund und Gelsenkirchen

In der Nacht zum 5. Februar 1981 traten sieben Frauen vor Tor 1 der Dortmunder Westfalenhütte in einen dreitägigen Hungerstreik, um dem Kampf für  ein neues Stahlwerk zu unterstützen. Sie sind als ‚Hoesch-Frauen‘ in die Geschichte des Widerstands gegen die Deindustrialisierung eingegangen. In Dortmund sollte die Westfalenhütte am Borsigplatz schließen und stattdessen ein neues, moderneres Stahlwerk errichtet werden, das Arbeitsplätze für die Zukunft gesichert hätte. Doch der Hoesch-Vorstand zog sich im Oktober 1980 von diesen Plänen zurück. Unter der Parole ‚Stahlwerk Jetzt!‘ formierte sich ein stadtweiter Widerstand.24. Fasia Jansen unterstützte mit ihrer Gitarre die Hoesch-Frauen und ihren Hungerstreik: „Sie hat uns dazu gebracht, dass wir Dinge taten, die wir uns vorher nie zugetraut hätten. Reden halten, Pressekonferenzen geben, Auseinandersetzungen mit Leuten führen, die in Funktionen waren. Auch Frauen, die vorher nie einen Pieps gesagt hatten, lernten, öffentlich den Standpunkt zu vertreten, wie er in der Gruppe entstanden war … Sie selbst war das Modell für alle Frauen.“25 Sie schrieb für die Hoesch-Fraueninitiative Stücke wie: Stahlwerk Jetzt! oder In Dortmund steht ein Stahlwerk. In Dortmund entstand der Slogan: Stahlwerk bau’n, sonst machen es die Frau’n.26

In Gelsenkirchen mobilisierte 1981 die Fraueninitiative Thyssen Schalker Verein muss weiterleben in Gelsenkirchen die Öffentlichkeit, weil der Hochofen 4 des Schalker Vereins stillgelegt werden sollte. Über die Versammlung der Frauen vom 24. Juni 1981 in der Gaststätte Nachbarschulte ist ein beredter Bericht erhalten, der uns heute einen Blick auf das Geschlechterverhältnis der Zeit ermöglicht: „Fasia war auch gekommen. Als während der Versammlung unter einigen anwesenden Männern ein Streit darüber aufkam, was angemessene Aktionsformen im Kampf um den Erhalt des Schalker Vereins wären, und die damit die Veranstaltung beherrschten, beschlossen die Frauen kurzerhand, die Männer des Saales zu verweisen und die weitere Diskussion unter sich zu führen.“27 Im Juni zog die Fraueninitiative zur Aufsichtsratssitzung vor die Essener Hauptverwaltung von Thyssen. Fasia Jansen schrieb dazu einen Liedtext nach der Melodie Von den blauen Bergen kommen wir mit den Refrainzeilen: Der Ofen 4, ja der bleibt stehen, die Schalker Hütte darf nicht untergehn …28 Auf der Busfahrt nach Essen übte sie mit der Gelsenkirchener Fraueninitiative vom Schalker Verein den Text ein. Begleitet von ihrer Gitarre sangen die Demonstrantinnen ihre Protestlieder: „Das trug dazu bei, die kämpferische Stimmung zu stärken, die ohnehin vorhanden war.“ 29Am 23. Oktober 1981 begleitete Fasia Jansen mit ihrem Akkordeon die Fraueninitiative auf der Großdemonstration in Gelsenkirchen.

Besondere Aufmerksamkeit erhielten ihre Lieder Wir wollen gleiche Löhne, keiner schiebt uns weg oder Das Lied der Heinze Frauen, mit denen sie die Arbeiterinnen der Gelsenkirchener Fotobetriebe Heinze bei ihrem Kampf um gleiche Löhne unterstützte: „Die Foto-Heinze-Frauen/ die stehen nicht allein/ ihr Kampf der nutzt uns allen/ drum reihen wir uns ein“.30Am 9. September 1981 gewannen die „Heinze-Frauen“ in letzter Instanz vor dem Bundesarbeitsgericht in Kassel – „ein Meilenstein für die Rechtssprechung im Kampf um den gleichen Lohn“.31In der Bildüberlieferung zu den Arbeitskämpfen im Ruhrgebiet hat Fasia Jansen mit ihren Instrumenten und Zetteln mit Liedtexten einen festen Platz.32

Hattingen und Duisburg

Am 19. Februar 1987 verkündete das Stahlunternehmen Thyssen das „Aus“ für die Henrichshütte in Hattingen. 2.904 Arbeitsplätze sollten abgebaut und die Ausbildungswerkstatt mit 400 Ausbildungsplätzen geschlossen werden. Über zwölf Monate organisierte ein Zusammenschluss aus Vertrauensleuten und IG Metall, autonomen Initiativen, Kirchen, Vereinen, Organisationen, Zivilgesellschaft kreativen Widerstand. Auch hier gründete sich eine Fraueninitiative mit Fasia Jansen an ihrer Seite. Im Sommer 1987 begannen zwölf Frauen einen Hungerstreik, so, wie die Fraueninitiative bei Hoesch zuvor.33Der letzte Abstich des Hattinger Hochofens erfolgte am 18. Dezember 1987.34

Am 26. November 1987 verkündete der Krupp-Vorstand Gerhard Cromme die Schließung des Stahlwerks in Duisburg-Rheinhausen. Mit monatelangen Mahnwachen, Straßensperren, Besetzungen der Rheinbrücke Rheinhausen–Hochfeld – heute in Erinnerung an die Kämpfe „Brücke der Solidarität genannt“ – versuchte ein breites Bündnis im Winter 1987/1988, die Arbeitsplätze in Rheinhausen zu retten. Die Autobahn A 40 wurde blockiert und damit der Verkehr auf der wichtigsten Verbindung durchs Ruhrgebiet lahmgelegt, die Villa Hügel in Essen wurde gestürmt. Ganz Rheinhausen kämpfte um seine Zukunft. Tatort-Kommissar Horst Schimanski, alias Götz George, und weitere Künstler und Künstlerinnen solidarisierten sich. Auch in Rheinhausen bildete sich eine Fraueninitiative, mit zusammengeknüpften Bettlaken errichteten Familienfrauen Straßensperren. Fasia Jansen sang: Keiner schiebt uns weg und passte den Liedtext der aktuellen Situation an: „Sie hatte ja wunderbare Lieder, das war das Schöne, sie kannte herrliche Lieder, die sie uns auch beibrachte. Wir haben zusammen auf den Demos gesungen. Die Kollegen haben dann immer gesagt: ‚Irmgard, Ihr geht doch wohl wieder mit?‘ Weil wir die Lieder gesungen haben, die im Arbeitskampf so bekannt geworden sind. Die sind ja durch Fasia und die Fraueninitiative bekannt geworden.“ 35Zunächst war der Protest erfolgreich, fünf Jahre später wurde das Werk geschlossen.

Die Frauenfriedensbewegung

In den 1980er Jahren formierte sich in West- und Ostdeutschland eine neue Frauenfriedensbewegung, später bekannt als Frauen für den Frieden. Zur Halbzeit der 1976 ausgerufenen UNO-Dekade der Frau trafen sich in Kopenhagen Delegierte aus 145 Staaten, vier Delegationen mit Beobachterstatus, darunter Befreiungsbewegungen aus Südafrika und Palästina sowie Nicht- und Zwischenstaatliche Organisationen, um ein Aktionsprogramm zur Stärkung der Rechte der Frauen zu beschließen. Die Frauenfriedensbewegung organisierte im Sommer 1981 einen Frauenmarsch quer durch Europa von Kopenhagen nach Paris, marschierte 1982 von Berlin nach Wien, 1983 von Dortmund nach Brüssel. Fasia Jansen war als Aktivistin und Musikerin dabei. Wieder stellt sich angesichts ihres Engagements die Frage, welche Bedeutung ihre Stimme und ihre Musik für die Vergemeinschaftung als Bewegung spielte. Ellen Diederich, die mit Fasia Jansen in privater wie politischer Lebensgemeinschaft zusammenlebte, erinnerte sich: „ Von Anfang an war auch Musik bei den Frauenmärschen ein ganz wichtiges Element. Die Menschen auf diesen Märschen kamen aus vielen Ländern, alle hatten Lieder mitgebracht.“36Ellen Diederich und Fasia Jansen fuhren mit ihrem bunt bemalten Friedensbus quer durch Europa, stellten das „Friedenszelt“ – eine Idee von Fasia Jansen – auf, brachten Menschen in Gespräche miteinander, organisierten „Versöhnungscamps“: „ Die Dialoge waren nicht einfach. Dein Singen [gemeint ist Fasia Jansen, ucs] half. Wann immer eine brisante Situation entstand, und derer gab es viele, nahmst du die Gitarre und der Streit bekam eine Atempause. Das gemeinsame Singen löste Verkrampfungen und machte die Köpfe frei.“37Aber nicht nur in der internationalen Gemeinschaft, auch innerhalb der Bewegung musste vermittelt werden, gab es Streit und Spannungen.38 Fasia Jansen und Ellen Diederich fuhren 1985 zur Weltfrauenkonferenz in Nairobi, zu Abrüstungsgesprächen nach Genf, nach Reykjavik, Malta, Washington. Sie fuhren mit ihrem Friedensbus 1987 von Greenham Common in England, wo us-amerikanische Cruise Missiles stationiert werden sollten und Frauen für den Frieden zehn Jahre lang Widerstand leisteten, quer durch Europa, die Route führte von England über die Niederlande, die Bundesrepublik, die Deutsche Demokratische Republik, die Tschechoslowakei, Polen, die Sowjetunion, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, Italien bis zum Europaparlament in Straßburg. „Wir spürten, wie tief der Krieg im Bewusstsein der Frauen Europas verwurzelt ist“,39schrieb Ellen Diederich zur dieser Reise, die den Routen des Zweiten Weltkriegs folgte und die Teilung der Welt in Ost- und Westblöcke für eine kurze Zeit durchlässiger zu machen schien, weil es um Kontakt zu Menschen, um Erfahrungsaustausch, um Friedensarbeit ging. 1987, als Fasia Jansen und Ellen Diederich nach Moskau zum Frauenfriedenskonferenz fuhren, kam auch Angela Davis in den bunt bemalten Friedensbus. Es ist ein Foto von ihr und Fasia Jansen überliefert. Als in den 1990 Jahren mit den Jugoslawienkriegen der Krieg nach Europa zurückkehre, organisierten Frauen um und mit Fasia Jansen und Ellen Diederich Hilfsaktionen für traumatisierte Frauen und Kinder in Flüchtlingslagern. Ellen Diederich: „Ich verlor die Lieder, konnte nicht mehr singen“.40

Ein „Ehrensold“ für ihr Engagement

Auf Vorschlag der Gewerkschaftskolleginnen erhielt Fasia Jansen 1991 das Bundesverdienstkreuz. Zuerst wollte sie die Auszeichnung nicht annehmen, denn unter den Ordensträgern und -trägerinnen befinden sich auch umstrittene Gestalten. Ellen Diederich schreibt, dass afrodeutsche Frauen Fasia darin bestärkten, als erste von ihnen diese staatliche Auszeichnung anzunehmen. Fasia Jansen war wohl die einzige Sozialhilfeempfängerin, der das Bundesverdienstkreuz verliehen wurde, die Bewilligungsgrundsätze für zusätzliche Zuwendungen für Kleidung sahen zwar Konfirmation oder Goldene Hochzeit vor, nicht aber Sonderzahlungen für festliche Kleidung anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes. Später erhielt Fasia Jansen vom Land Nordrhein-Westfalen einen Ehrensold in Höhe von 600,00 Deutsche Mark. 1996 wurde sie mit der Ehrennadel der Stadt Oberhausen geehrt.41 In Oberhausen wurde eine Gesamtschule nach ihr benannt.

Fasia Jansen litt unter einer chronischen Herzinnenhautentzündung.  Der Verdacht steht im Raum, dass dies auf eine Injektion zurückzuführen ist, die sie als Elfjährige im Hamburger Gesundheitsamt erhalten hatte. Am Ende erkrankte sie an Brustkrebs. Am 29. Dezember 1997 starb Fasia Jansen in Oberhausen. Zu ihrer Beerdigung kamen mehr als 1.000 Menschen.

Blackness und Whiteness

Im Jahre 2020 schrieben Interkultur Ruhr und das Internationale Frauen*Film Fest Dortmund-Köln eine offene künstlerische Rechercheresidenz zu Fasia Jansen aus. Die Stipendiatinnen Princela Biyaa und Marny Garcia Mommertz begannen Ende Oktober 2020, sich aus eigener Schwarzer Positionierung heraus mit dem Leben und Wirken Fasia Jansens zu beschäftigen. Sie formulierten ihre leitenden Hinsichten zur Beschäftigung mit der Schwarzen Künstlerin, besuchten Weggefährt:innen und befragten Fasia Jansens Nichte Vivian Seton.42

In Archiven zu/ von Fasia Jansen als Überlieferungen einer weißen Frauen- und Friedensbewegung schien Schwarzsein keine explizite Rolle zu spielen. Princela Biyaa und Marny Garcia Mommertz nahmen Kontakt zur US-amerikanischen  Historikerin Tina Campt auf, die Fasia Jansen 1992 für ihre Forschungen zu Schwarzen Deutschen während des Nationalsozialismus interviewt hatte.43 Auf den Tonbandaufzeichnungen konnten die beiden Stipendiatinnen Fasias Stimme hören. Sie erzählt dort u.a., dass sie ihre Tagebücher verbrannt hatte. Für  Princela Biyaa und Marny Garcia Mommertz stellte sich die Frage: Wie sich einer Persönlichkeit nähern, wenn sie persönliche Überlieferungen zur Rekonstruktion ihres Lebens bewusst zerstört? Ausgehend von Fasia Jansen verschob sich ihr Focus hin zur wissenskritischen Frage nach Überlieferung, Archivieren, Erinnern und Vergessen, Narrativen und Objekten des Schwarzseins in Deutschland.44 In einem Beitrag für ZEIT-online formulierte Marny Garcia Mommertz, wie ihr die Auseinandersetzung mit Fasia Jansen half, ihre emotionale und oft schwierige Beziehung zu Deutschland neu zu verorten, auch dank stärkender intergenerationeller Dialoge mit anderen Schwarzen Frauen.45 Noch ein anderes Projekt befasste sich zeitgleich aus Schwarzer Perspektive mit Fasia Jansen: Alina Benecke und Nicola Lauré-al-Samarai formierten einen mehrheitlich Schwarz positionierten Chor, der Lieder von Fasia Jansen 2021 neu auf die Bühne brachte und der „das Singen dieser Protestsongs als Empowerment“ erprobte.46 In Hamburg eröffnete im Jahre 2022 die Fasiathek – eine Bibliothek aus Schwarzer Perspektive.47 Die kritische Hinterfragung der Überlieferungen zu und von Fasia Jansen aus afrodeutschen Perspektiven führte auf Seiten der weißen Bewegungsgeschichte und bei Weggefährt:innen zu einer Befragung der eigenen Erinnerung.48 Sowohl die Stipendiatinnen Princela Biyaa und Marny Garcia Mommertz als auch die Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaft um Fasia Jansen begannen, ganz im Sinne geschichtswissenschaftlicher Grundlagen über jeweilige Erfahrungen, Interessen und Ideen als Faktoren ihres historischen Denkens zu reflektieren.49

 

Weiße Erinnerungsstränge

Wissen und Erkenntnisinteressen sind situiert.50 Wir haben Fasias Jansens Familiengeschichte wahrgenommen, gerade weil ihre biografischen Erfahrungen im Nationalsozialismus und im Nachkriegsdeutschland das eigene antifaschistische Engagement umso drängender legitimierten. Es macht für die Geschichtsschreibung einen Unterschied, ob wir mit jemanden auf der Straße singen, oder später Fragen zu einer Person stellen, die sich nur noch aus (autobiografischen) Aufzeichnungen, Dokumenten, Zeitungsausschnitten oder Tonbandprotokollen rekonstruieren lässt. Wir haben von ihrem Schwarzsein gewusst, doch  hat es in unserer politischen Bewegungskultur keine Rolle gespielt, weil wir von einer internationalistischen, humanistischen Perspektive auf eine Weltgesellschaft getragen wurden. Positionierungen über Hautfarben kam hier (noch) kaum Bedeutung zu.

Als Musikerin und Aktivistin war Fasia Jansen sichtbar – sie stand im Mittelpunkt großer öffentlicher Auftritte. Vielleicht haben wir die Farbe nicht gesehen, weil wir ihre Stimme, ihren motivierenden Gesang hörten. Haben wir – um mit Toni Morrison zu fragen – ihrem Schwarzen Körper nur „eine schattenlose Teilhaberschaft an dem dominierenden kulturellen Körper“ zugestanden?51Bildete das Milieu der Frauen- und Friedensbewegung, der Streiks und Prozesse um Lohngleichheit einen dominierenden kulturellen Körper? Fasia Jansen hat mit ihrer Stimme diesen Bewegungen als widerständige kulturelle Körper einen Ausdruck, Kraft und Energie verliehen. Die ehemalige Bildungsreferentin an der Volkshochschule Gelsenkirchen Marianne Kaiser52 erinnerte sich an die Niederlage der Heinze-Frauen vor dem Landesarbeitsgericht in Hamm.53 Auf der Busfahrt zurück nach Gelsenkirchen stand im Raum, das Hammer Urteil vor dem Bundesarbeitsgericht in Kassel anzufechten. Es herrschte eine gedrückte Stimmung. Als eine junge Frau für den Gang zum Bundearbeitsgericht warb, begann Fasia zu singen: „Wir fahren jetzt nach Kassel, keiner schiebt uns weg …“, in das nach und nach der ganze Bus einstimmte. Marianne Kaiser sah in Fasia Jansens mobilisierendem Gesang den entscheidenden Impuls, dass die Gruppe zusammenhielt und kämpferisch gestimmt den Schritt vor das Bundearbeitsgericht wagte.54

Durch die Biografie Fasia – Geliebte Rebellin von Marina Achenbach zieht sich wie ein roter Faden die Befassung mit der Frage, was ihr Schwarzsein für sie und für uns bedeutete. Es wird nicht nur im ersten Kapitel thematisiert, sondern die Frage findet vielschichtige Antworten in Texten, in Fotografien, in Bildunterschriften und in den Erinnerungen von Weggefährt:innen, die diesem Buch beigefügt sind. So lässt sich zur Frage nach Schwarzsein der Hinweis lesen, dass Fasia Jansen 1962 bei der Vorbereitung auf den Ostermarsch „ihr“ Lied Black and White intonierte, das die Zeile beinhaltet: „Schwarz und Weiß bauen neu die Welt.“55 Oder: Im Programm der vom Deutschen Gewerkschaftsbund 1966 veranstalteten Jugendshow „Protest nach Noten“ wurde Fasia Jansen explizit als „farbige Sängerin“ angekündigt. Ihr zugewiesenes Schwarzsein versah das Programm mit einem internationalen Flair, schlug in einer speziellen historischen Situation eine Brücke in die USA, wo sich der Protest gegen den Vietnam-Krieg zunehmend lauter und auch aus der Bürgerrechtsbewegung heraus artikulierte.56

Es gibt in diesem Buch zwei beredte Stellen zum Schwarzsein in Deutschland: Walter Korowski beschreibt, wie es als Mann war, mit Fasia ein Lokal zu betreten: „Augenblicklich wurde es still. Es war ganz klar, dass alle, die da waren, etwas Sexuelles dachten: Wo hat er die her? Wie geht es da ab. Das war einfach so in den fünfziger und sechziger Jahren.“57 Und Fasia Jansen erklärt im Film von Christel Priemer: „Als ich wusste, was Sexualität ist, als ich meinen Körper gespürt habe, da war es verboten, eine schwarze Frau zu lieben. Und auch nach 1945: das steckte drin bei den Männern, dass es unmöglich ist, mit einer schwarzen Frau zu gehen, es sei denn, dass man sie eben mal so vernascht. Und da bin ich mir ein wenig zu schade gewesen, und habe mich also entschieden, so eine Art Liebe nicht zu leben.“58

Dr. Uta C. Schmidt/ frauenr/ruhr/geschichte

Orte:

Fabrik K 14 Oberhausen, Lothringer Str. 64, 46045 Oberhausen
Fasia-Jansen-Gesamtschule, Schwartzstr. 87, 46045 Oberhausen
Arbeitsgericht Gelsenkirchen, 1979, zur Zeit des Prozesses der Heinz-Frauen, im Hamburg-Mannheimer-Hochhaus, Ahstraße, 45879 Gelsenkirchen. Die begleitende Demonstration ging vom Marktplatz (heute: Margarethe-Zingler-Platz) über die Fußgängerzone Bahnhofstraße dorthin.
Werkstor Westfalenhütte, Oesterholzstraße 134, 44145 Dortmund
LWL-Industriemuseum Henrichshütte, Werkstraße 31-33, 45527 Hattingen
Denkmalgeschütztes ehemaliges Werktor 1 von Krupp Rheinhausen (Friedrich-Alfred-Hütte), 51° 24′ 5,65″ N: 6° 43′ 28,11″ O 51,40157°N: 6,72447°O
„Brücke der Solidarität“, Rheinbrücke zwischen Duisburg und Rheinhausen
Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, Grubenweg 5, 44388 Dortmund
Fasiathek: c/o Fux eG., ehemalige Viktoria-Kaserne, Zeiseweg 9, 22765 Hamburg

Literatur:

https://die-grenzgänger.de/programm/fasia-jansen-ihre-lieder-und-geschichten/
Fasia, Die Siebziger, CD Verlag 'pläne' GmbH, 1999

Zitation: Schmidt, Uta C., Fasia Jansen, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/fasia-jansen/

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Mechtild Brand

Die „Einschränkung von Menschenwürde“ sei ihr Thema und ihre Methode sei es, „immer, über die Person zu gehen. Ich habe also von Anfang an nach Menschen gesucht, die betroffen waren“, so Mechtild Brand Anfang 2023. Überaus beeindruckend und inzwischen vielfach ausgezeichnet hat sich die 1941 geborene Lehrerin über Jahrzehnte sowohl theoretisch forschend als auch pragmatisch helfend mit ganz unterschiedlichen „Opfergruppen“ beschäftigt.

Studium und wie Mechtild Brand zu den Hammer Juden und Jüdinnen kam

Für menschliches Unrecht wurde sie in sehr jungen Jahren von ihrer Deutsch-Lehrerin sensibilisiert, die ihrer Klasse Auszüge aus dem Gerstein-Bericht (einem Augenzeugenbericht über Massenvergasungen)1 und Texte von Bertolt Brecht vorlegte. Dass sich Mechtild Brand forschend den Menschen nähert, die von nationalsozialistischem Unrecht betroffenen waren – Juden/Jüdinnen, Sinti:zze, Roma:nja, Zwangsarbeiter:innen und kriegsgefangene französische Offiziere – war jedoch keineswegs vorgezeichnet. Denn die im Krieg in Hamm geborene Tochter einer Schneiderin und eines Hilfsarbeiters, der bereits 1940 schwer erkrankt aus dem Krieg zurückkehrte, konnte aus finanziellen Gründen in den 1960er Jahren nicht Geschichte studieren: „Ich hätte gerne Geschichte studiert. Kam aber überhaupt nicht in Frage.“ Daher begann sie 1961 an der Pädagogischen Hochschule in Münster eine Ausbildung zur Volksschullehrerin. Für ihr Diplom 1964 riet ihr einer ihrer Professoren, der Religionspädagoge Gottfried Kruchen (1913–1979), sich mit der NS-Geschichte ihrer Heimat-Pfarreien zu beschäftigen. Damals habe sie nur gedacht: „Oh Gott, das will ich nicht“ und hätte ihm gesagt, dass es dazu nichts geben würde. Seinem Hinweis, dass sie sich die jüdische Geschichte Hamms anschauen solle, die gewiss noch nicht aufgearbeitet sei, ging sie nach.

Im Rathaus von Hamm ließ man sie zwar auflaufen, doch auf dem dortigen Flur machte sie ein Beamter auf das Amt für Wiedergutmachung aufmerksam, bei dem sie über Gottfried Kruchen Zugang zu den Entschädigungsakten erhielt. Aus diesen schrieb sie die Adressen aller Hammer Juden und Jüdinnen ab und kontaktierte diese. Ihr erstes Gespräch mit einer jüdischen Familie, die den Holocaust überlebt hatte, führte sie ausgerechnet in die Wohnung, in der sie mit ihrer Familie gelebt hatte. Von diesem Gespräch berichte sie ihrer Mutter im Beisein derer Freundin, die sie daraufhin als „Vaterlandsverräterin und Nestbeschmutzerin“ beschimpfte.

Ihr Studium schloss sie 1964 mit der Arbeit „Die jüdische Frage in Deutschland, dargestellt an der Geschichte der jüdischen Gemeinde Hamm“ ab, wobei sie das Thema noch längst nicht für abgeschlossen hielt. Sie kam daher im Sommer 1965 einer Einladung nach Israel nach, wo sie bei der Ärztin Käthe Becher, der 1. Ehefrau des Dichters und DDR-Kultur-Ministers Johannes R. Becher, untergebracht war. Neben emigrierten Hammer Juden und Jüdinnen lernte Mechtild Brand über ihre Gastgeberin auch jüdische Intellektuelle kennen wie den Religionshistoriker Gershom Sholem und den Philosophen und Historiker Ernst Akiba Simon. Dazu gehörte auch der Kontakt zu dem 1929 geborenen Künstler Yehuda Bacon2, der das Ghetto Theresienstadt und die Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und Mauthausen überlebt hat, und der bis heute besteht. Von ihm sind die Zeichnungen vier ihrer Buchcover.

Yehuda Bacon war Zeuge im Eichmann- und Auschwitz-Prozess, und für ihn transportierte sie bei diesem und weiteren Besuchen regelmäßig Dokumente zur NS-Zeit und übergab diese den Nebenklagevertretern des Frankfurter Auschwitzprozesses (1963–1965), Christian Raabe und Henry Ormond.3 Dort machte sie auch Bekanntschaft mit dem KZ-Überlebenden Hermann Langbein, mit dem sie über Jahre korrespondierte. Dieser hatte die Ermittler in Kontakt mit ehemaligen Häftlingen gebracht und maßgeblich zur Vorbereitung des Frankfurter Auschwitzprozesses beigetragen.4

Erster Schuldienst und ein Jahr Israel

Ihre erste Stelle hatte sie bereits 1964 an einer Schule in Pelkum, Kreis Unna angetreten. Die von ihrem ersten Gehalt gekaufte Bluse wurde von ihrer Mutter, die ihre Schneiderei in den 1950er Jahren aufgegeben hatte und seitdem von ihrer Kriegerwitwenrente lebte, mit einem „Riesentheater“ missbilligt, so dass sie diese schließlich zurückbrachte. Das Verhältnis zu ihrer Mutter sollte bis zu deren Lebensende „schwierig“ bleiben.

Weil sie sich mit der Aufteilung der Volksschule in Grund- und Hauptschule 1967/68 nicht zu entscheiden wusste und auch auf der Suche nach mehr Unabhängigkeit war, ging Mechtild Brand für ein Jahr nach Israel. Dort lebte und arbeitete sie in dem Kibbuz-ähnlichen Kfar Tikwah („Dorf der Hoffnung“), einer von einer Hammer Jüdin mitgegründeten Lebenshilfe-Einrichtung für Erwachsene mit kognitiven, entwicklungsorientierten und emotionalen Behinderungen, die es heute noch gibt.5 In der Einrichtung ging es modern und liberal zu, etwas, was die streng katholisch erzogene Mechtild Brand befremdete. Ebenso faszinierend fremd war ihr der bildungs-/großbürgerliche Lebensstil, den einige der von ihr besuchten jüdischen Hammer Familien in Israel pflegten, selbst wenn sie in der neuen Heimat nicht mehr an ihr altes Leben hatten anschließen können und in prekären Verhältnissen lebten. Damals sah sie in der israelischen Öffentlichkeit noch viele Auschwitzüberlebende, erkennbar an den auf den Armen tätowierten Häftlingsnummern. Ihre Beobachtung, dass fast alle Ausgewanderten in Israel einen Neuanfang geschafft hatten, nur die allermeisten Juristen nicht, sollte sich auch bei ihrer späteren Flüchtlingsarbeit bestätigen.

Die Beschäftigung mit Flüchtlingen und Sinti:zze

Mit ihrer Rückkehr wollte Mechtild Brand 1969 an der noch jungen Ruhr-Universität Geschichte studieren, doch der Professor, bei dem sie dies tun wollte, war zurück nach Tel Aviv gegangen. Stattdessen setzte sie ihre Arbeit als Lehrerin an einer Grundschule in Bochum fort und bezog eine Wohnung am Südpark – weit weg von der Mutter. Nach der Adoption zweier südkoreanischer Mädchen, über die Vermittlung von durch terre des hommes möglich6, zog es sie vier Jahre später in den Kreis Soest, wo sie an eine Grundschule in Borgeln wechselte. Um sich ein Bild von den Lebensbedingungen der Schüler:innen im ländlichen Raum machen zu können, hat sie alle ihre Schüler:innen zu Hause besucht. Durch ihre Recherchen in Hamm und Israel war sie es gewohnt, sich den Menschen über ein Gespräch zu nähern.

Inzwischen in einem Haus in Welver-Schwefe lebend, kam sie 1981 mehr durch Zufall als mit Absicht zur Flüchtlingsarbeit: „Die brauchten jemanden zum Übersetzen, weil sie einkaufen wollten oder zur Verwaltung mussten.“ Die Flüchtlingsunterkunft im Ort hatte damals über 60 Bengalen, Tamilen und einige Pakistani. „In einem Dorf mit 450 Einwohnern ist das durchaus ein Sprengstoff.“

Diese ehrenamtliche Arbeit macht sie bis heute, arbeitet zum Teil eng mit den Ausländerämtern in Hamm und Soest zusammen und hat Familien u. a. aus dem Kosovo, aus Bulgarien, Rumänien Ägypten, Afghanistan, Tadschikistan, Georgien, Indien, Guinea, Nigeria, Somalia, Eritrea und den Maghreb-Staaten betreut. Dabei ist die Arbeit mit den Flüchtlingen am „einfachsten“, die aus ihren Heimatländern staatliche Strukturen kennen und hiesige Regeln akzeptieren können. Das gilt vor allem für die große Gruppe der syrischen Flüchtlinge, denn „sie wissen, wie ein Staat funktioniert, sie kennen Krankenversicherung und Schulbildung. Das heißt, wir haben eine gemeinsame Basis.“ Eine gute Zusammenarbeit sei natürlich auch eine Vertrauensfrage „und das dauert auch schon einmal länger. Aber ich bin nicht dazu berufen, alle Menschen zu retten.“ Das mag man kaum glauben, wenn man ihr zuhört und die Fotos sichtet, auf denen sie mit zahlreichen Flüchtlingen zu sehen ist.

1985 erhielt sie für dieses Engagement den Bundesverdienstorden, zu ihrer eigenen Verwunderung auf Antrag der Männer aus Welver. Sie trägt den Orden, über den sie sich als Geste der Anerkennung gefreut hat, nur sehr selten, wie z. B. beim Festakt 2005 zur Erinnerung an die Befreiung der französischen Offiziere aus der Kriegsgefangenschaft in Soest. Vier Jahre später bekam sie den Hammer Wappenteller für den Kontakt mit den Hammer Juden überreicht.

Neben der Arbeit als Lehrerin und ihrem Ehrenamt in der Flüchtlingshilfe arbeitete Mechtild Brand an ihrem ersten Buch. 1991 erschien „Geachtet – geächtet. Aus dem Leben Hammer Juden in diesem Jahrhundert“ mit ihren langjährigen Rechercheergebnissen aus Ämtern, Archiven und den zahlreichen Zeitzeugeninterviews. Das Schicksal von NS-Verfolgten beschäftigte sie weiter und daher verbrachte sie von 1992 bis 1994 ihre Sommerferien in Auschwitz, untergebracht in der ehemaligen SS-Standortverwaltung mit Blick auf den Galgen, an dem der KZ-Kommandant Rudolf Höß 1947 erhängt worden war. Zu diesem Zeitpunkt – kurz nach dem Mauerfall – hatte die Gedenkstätte rund 60.000 Sterbeurkunden, die in Auschwitz ausgestellt worden waren, aus Leningrad erhalten. Bei ihren dreimaligen Aufenthalten sichtete sie diese auf der Suche nach Opfern aus Hamm, vor allem nach den Bewohner:innen des Hammer „Zigeunerlagers“.

Im Sommer 1994 beteiligte sie sich an der dortigen Gedenkveranstaltung anlässlich des 50. Jahrestages der „Liquidation“ des „Zigeunerlagers“ und verfasste für die Gedenkpublikation – neben dem international bekannten „Nazijäger“ Simon Wiesenthal und dem renommierten Essener Historiker Michael Zimmermann – einen Aufsatz.7

Das sprach sich herum und daher fragte sie kurz darauf der Hammer Schulrat Niesmann, ob sie sich der dem Schulunterricht fernbleibenden Kinder der Hammer Sinti-Familien annehmen könne. Mechtild Brand fand an der Aufgabe Gefallen, sagte zu und ließ sich an eine Schule in Hamm versetzen. Schnell war für sie klar, warum die Kinder dem Unterricht weitgehend fernblieben: „Unter Maria Theresia und unter dem Alten Fritz sind die Kinder den Eltern weggenommen worden. Lehrer waren also neben der Polizei die Gruppe, von der sie wahnsinnige Angst hatten. Man muss diese Ängste verstehen, zumal sie alle Nachkommen von Auschwitz-Überlebenden waren, ohne Ausnahme, und eine ganze Generation Kinder war gerade in Auschwitz ermordet worden. Das hatten alle im Kopf!“

Sie ging anfangs ähnlich wie bei den Hammer Juden vor: beim Friedhofsamt erkundigte sie sich nach der Familienadresse eines Sinti-Grabs, das sich in Nähe der Grabstätte ihres Vaters befand, und nahm Kontakt mit der ältesten Frau dieser Familie auf, mit Olga Bamberger. Über sie, die hohes Ansehen innerhalb der Sinti-Familien genoss und über die sie später einen Aufsatz verfasste8, sowie über die Katholische Zigeunerseelsorge erhielt Mechtild Brand Kontakt mit der gesamten Community. Durch Gespräche erwarb sie sich Vertrauen und holte kurz darauf fast jedes schulpflichtige Sinti-Kind von Zuhause ab: „Morgens um halb sieben musste ich spätestens los, um die Leute um sieben aus dem Bett zu schmeißen. Und dann habe ich sie im gesamten Stadtgebiet in die Schule gebracht.“ Bringen und Abholen erfolgten nur anfangs durch sie persönlich, später machten das die Mütter. „Wenn heute ein älterer Sinto, der seinen Namen immer noch nicht richtig schreiben kann, über seine Tochter stolz sagt ‚Mine macht Fachabitur‘, dann ist da eine Menge passiert.“

In Auschwitz hatte sie die Unterlagen des Hammer „Zigeunerlagers“ zusammengetragen und so beschäftigte sich Mechtild Brand nebenbei forschend auch mit dieser lokalen NS-Opfergruppe. „Das Buch soll Material zugänglich machen, um den betroffenen Menschen offener zu begegnen, als das bis heute im Allgemeinen geschieht. Die Mehrheitsbevölkerung hat sich kritisch zu fragen, wie sie mit der Minderheit der Sinti und Roma umgegangen ist und wie sie diese heute behandeln. Die Beispiele aus verschiedenen historischen Epochen belegen, dass es genügend Gründe zur selbstkritischen Auseinandersetzung gibt“, so ihr Vorwort in dem 2007 erschienenen Buch „Unsere Nachbarn. Zigeuner, Sinti, Roma. Lebensbedingungen einer Minderheit in Hamm“. Dabei ging es nicht nur um die historischen Zusammenhänge, sondern auch um die Bewältigung der aktuellen Lebenswirklichkeit der örtlichen Sinti:zze-Gruppe. Zusammen mit ihnen gründete sie am 17. Januar 1995 den Trägerverein „Arbeitsgruppe Am Schüttenort.e.V.“, der bis in die Gegenwart die lokale Sinti:zze-Arbeit trägt.9

Französische kriegsgefangene Offiziere und Zwangsarbeiter:innen

Nachdem sie bereits in der Hammer Geschichtswerkstatt aktiv war, trat Mechtild Brand nach ihrer Pensionierung 2004 auch der 1995 gegründeten Geschichtswerkstatt Französischen Kapelle e.V. (GFK)10 in Soest bei. Sie recherchierte und besorgte zum Beispiel Rote-Kreuz-Berichte aus Genf, „und zwar über Mitglieder der Aktion Sühnezeichen, die ich von Polen her kannte.“ Diese Berichte wurden u. a. angefertigt über das in Soest ansässige OFLAG VI A, einem Lager für kriegsgefangene Offiziere, die von 1940 bis Kriegsende im April 1945 in einer Kaserne im Süd-Westen der Stadt Soest untergebracht waren. Die Berichte des Roten Kreuzes informieren über Belegungsstärke, Versorgung, Hygiene, Bekleidung etc. – vermitteln also einen relativ guten Einblick in das (privilegierte) Häftlingsleben in einem Offizierslager.
Über die Frage nach dem Umgang mit Forschungs- und Rechercheergebnissen kam es mit der früheren Geschäftsführerin der GFK bald zum Bruch.

Und so wendete sie sich einer weiteren NS-Opfergruppe zu: den Zwangsabeiter:innen.11 Mechtild Brand erstellte einen Fragebogen, den sie an die Stiftung „Polnisch-Deutsche Aussöhnung“ in Warschau und an die ukrainische Nationale Stiftung „Verständigung und Aussöhnung“ in Kiew schickte. Dieser wurde übersetzt und an Betroffene verschickt, die im Kreis Soest Zwangsarbeit geleistet hatten. Unterstützung fand sie in diesem Fall bei einer ukrainischen Wissenschaftlerin, die den gesamten Prozess eng begleitete. Mechtild Brand suchte frühere Arbeitsplätze in der Region auf und, soweit das möglich war, befragte deutsche Zeitzeugen, recherchierte in Archiven, Standes- und Pfarrämtern. „Das Resultat all dieser Bemühungen liegt nun vor. Hoffentlich hilft es, den betroffenen Zwangsarbeitern, die sehr unfreiwillig den Kreis Soest kennen gelernt haben, eine Stimme zu geben.“12

Was sie zu Beginn „überhaupt nicht auf dem Schirm“ hatte, waren die im Soester Kreis geborenen Kinder von Zwangsarbeiterinnen. Mechtild Brand hat 800 von ihnen namentlich recherchieren können! Eine ihrer ersten Kontakte war eine 1944 in Soest geborene Frau, deren Vater ein Bauernsohn im Kreis Soest sein sollte. Sie selbst wurde von ihrer Mutter nach deren Rückkehr nach Polen in einen Brunnen geworfen und überlebte nur dank eines Querbalkens, an dem sie hängen blieb. Nun suchte sie ihre westfälischen Wurzeln. In einem anderen Fall war die in Polen geborene 2. Tochter auf Einladung von Mechtild Brand zu Besuch in Soest. Gemeinsam besuchten sie die Orte, wo ihre Mutter als Zwangsarbeiterin gelebt und gearbeitet hatte. Dort lernte die Tochter ihre Mutter besser verstehen.

2010 erschien dann Brands viertes Buch „Verschleppt und entwurzelt. Zwangsarbeit zwischen Soest, Werl, Wickede und Möhnetal.“ Kaum jemand sonst hat sich bis heute mit dieser Thematik ähnlich intensiv beschäftigt und nur eine weitere Person, eine Lehrerin, hat ehemalige Zwangsarbeiterinnen nach Soest eingeladen. Stadt und Kreis Soest halten sich bis heute zurück.

Später ist sie der GFK erneut beigetreten, „weil ich das Thema so spannend finde“. Sehr zum Vorteil der Aufarbeitung der Lokalgeschichte, die in „Weggesperrt. Kriegsgefangenschaft im Oflag VI A Soest“13 und und in mehrere themenbezogenen Einzelaufsätze14 eingeflossen ist. Auch hierfür arbeitete Mechtild Brand akribisch und nach wissenschaftlichen Kriterien, recherchierte in den Arolsen Archives, dem belgischen Militärarchiv und dem Archiv der niederländischen Stiftung „Leven Achter Prikkeldraad 1940–1945“, kontaktierte zahlreiche Nachfahren und Wissenschaftler:innen, stellte Anfragen in polnischen Institutionen und ließ die Datenbank der Stiftung Sächsische Gedenkstätten, in der deutsche Karteikarten von verstorbenen sowjetischen Kriegsgefangenen ausgewertet werden, von einem Kollegen sichten. „Zu den wichtigsten Quellen für das Oflag VI A in Soest gehören die acht Berichte der Delegierten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, die das Lager regelmäßig besucht haben. … Außerdem war es möglich, sie durch weitere Dokumente aus dem Bestand des Internationalen Suchdienstes vom Roten Kreuz in Arolsen zu ergänzen.“ Doch etwas war dieses Mal anders: „In allen meinen seit 1963 zur lokalen NS-Geschichte von Hamm und Soest erschienenen Dokumentationen standen immer die Zeitzeugen und ihre Berichte im Mittelpunkt. Die Suche nach ihnen war über Jahrzehnte hinweg der eigentliche Schwerpunkt der Arbeit, und der persönliche Kontakt mit ihnen war die bislang unabdingbare Voraussetzung für die Erstellung der Texte. Das ist jetzt zum ersten Mal nicht mehr der Fall.“ Alternativ zu den bisher geführten Zeitzeugengespräche sichtete sie publizierte Tagebücher und „Berichte von ehemaligen französischen Insassen des Soester Lagers …, die ich vorwiegend durch Recherche im Internet aufgespürt habe.“ Und sie betrieb Quellenkritik: „Die Frage, inwieweit die Berichte in den veröffentlichten Biografien von ehemaligen Gefangenen des Oflag VI A in Bezug auf ihre Lagerzeit präzise und zuverlässig sind, kann ich genauso wenig überprüfen wie die Zeitzeugenberichte meiner früheren Dokumentationen. In die Bücher werden subjektive Wahrnehmungen und auch Unrichtigkeiten und Verzerrungen eingeflossen sein. Wie bei den übrigen Zeitzeugenberichten helfen auch in diesem Fall regelmäßige Vergleiche, um ein Gesamtbild zu erhalten. Der Rückgriff auf veröffentlichte Quellen belegt vor allem die für mich veränderte Ausgangslage.“15 Die skeptische Haltung gegenüber dem, was Menschen erinnern, wendet sie auch bei sich selbst an. „Man kann sich in seine Biografie auch hineinträumen“ sagt sie an einer Stelle, als sie positiv über ihren Vater spricht, der starb, als sie ein Mädchen von vier Jahren war.

Ihr enorm hohes Engagement wurde mit weiteren Preisen ausgezeichnet – zu den genannten kamen hinzu die Ehrenplakette der Stadt Soest, „Leben Helfen“ (der Preis des Katholischen Sozialdienstes Hamm, in deren Vorstand sie 20 Jahre aktiv war) und im März 2022 der Hammer Integrationspreis „Miteinander 2020“ des Runden Tischs gegen Radikalismus und Gewalt. Steht man Mechtild Brand gegenüber, meint man nicht, dass in dieser zierlichen Person derart viel Power, wissenschaftliches Interesse, Empathie und auch Hartnäckigkeit stecken. Trotz schwerer Erkrankung und fortgeschritten Alters hat sie noch einiges vor: „Ich muss da jetzt noch einer Familie den Bericht über ihren Onkel aus der Nase kitzeln, der als Kommunist 12 Jahre in Buchenwald war. Wenn ich den kriege, dann versuche ich dieses zerstörte Leben zu dokumentieren.“ Es wäre erfreulich, wenn ihr dies gelänge, denn mit ihrem Bearbeiten unliebsamer Teile der Lokal- und Regionalgeschichte sowie übersehener NS-Opfergruppen ist Mechtild Brand eine echte Größe innerhalb der Erinnerungskultur und Geschichtsschreibung des Ruhrgebiets.

Susanne Abeck, frauen/ruhr/geschichte

Veröffentlichungen
„… nach Auschwitz überführt …“ Verfolgung und Vernichtung von Sintifamilien aus Hamm (Westfalen) während des Dritten Reiches, in: Vereinigung der Rom in Polen (Hrsg.), Der 50. Jahrestag der Vernichtung der Roma im KL Auschwitz-Birkenau, Oswiecim 1994, S. 49–57
Geachtet – geächtet. Aus dem Leben Hammer Juden in diesem Jahrhundert, Hamm 1991
Die vergessene Verfolgung. Der Zigeunerbeauftragte aus Soest und seine Opfer, in: Soester Zeitschrift, Heft 107, Soest 1995, S. 103–120
Unsere Nachbarn. Zigeuner, Sinti, Roma – Lebensbedingungen einer Minderheit in Hamm Essen 2007
Keineswegs freiwillig: Ilse Schidlof und ihr Leben zwischen NS-Verfolgung und Gegenwart, Hamm 2008
Verschleppt und entwurzelt. Zwangsarbeit zwischen Soest, Werl, Wickede und Möhnetal (Hrsg.: Heimatverein Möhnesee e.V.), Essen 2010
Weggesperrt. Kriegsgefangenschaft im Oflag VI A Soest, Essen 2015
Zeitenwechsel. Schatten und Schweigen. Jules Wolf und seine (un)freiwillige Biografie, in: GFK e.V. (Hg.), Zeitenwechsel, Heft 2022, S. 9–29
Wie durch ein Brennglas. Lebensbedingungen von Flüchtlingen vor Ort, Hamm 2022
Zahlreiche Beiträge auf der Website des Hammer Geschichtsvereins e. V., https://geschichtsverein-hamm.de/archiv/referenten/mechtild-brand/ [Zugriff am 20.04.2023]

Mitarbeit an Sammelbänden:
  • „Bei Alsberg wird geplündert“, „Die Synagoge hat doch überhaupt nicht gebrannt…“, Ein Denkmal für Juden in Hamm, in: Hammer Lesebuch, Essen 1991
  • Zwischen gesellschaftlicher Wirklichkeit und eigener Entscheidung – Drei Frauengenerationen der Familie Herz / Bertha Meyberg, Ida Goldstein und Helene Lauter – Jüdische Freuen im Geschäftsleben / Für Olga Bamberger, in: Die vergessene Geschichte – 775 Jahre Frauenleben in Hamm, Hamm 2001
  • Zur Zwangsarbeit an die Möhnetalsperre, in: Ein Jahrhundert Möhnetalssperre, Bönen 2013
Zitation: , Mechtild Brand, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/mechtild-brand/

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Judith Neuwald-Tasbach

„Ich habe mir das so nicht vorgestellt. Der Job ist laut Satzung ehrenamtlich, aber als sie verfasst wurde, hat niemand daran gedacht, dass damit einmal so viel Arbeit verbunden sein könnte!“.1 Als Judith Neuwald-Tasbach im Jahr 2007 für die Repräsentanz der jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen kandidierte, hatte sie weder damit gerechnet, am Ende zur Vorsitzenden gewählt zu werden, noch damit, wie nachhaltig dies ihr Leben verändern würde.

Geboren 1959, hatte Judith Neuwald-Tasbach hatte nach ihrem Abitur Verkehrsbetriebswirtschaft studiert, „Transportwesen, Bereich Personenbeförderung“, und danach in verschiedenen Jobs gearbeitet, „meistens im Bereich der Personenbeförderung oder in der Touristik, später auch einmal bei einem Automobilzulieferer, und schließlich bei einem Automobilclub“. Als Ende der 1990er/Anfang der 2000er-Jahre ihr über 90-jähriger Vater Kurt Neuwald erkrankte, entschloss sie sich, zunächst in Teilzeit zu arbeiten und dann vorübergehend ganz ihren Beruf aufzugeben, um sich um ihn kümmern zu können. Er wohnte in ihrer Heimatstadt Gelsenkirchen, sie zu diesem Zeitpunkt in Sauerland. Schließlich starb der Vater 2001, und eine hochbetagte Verwandte wurde pflegebedürftig, und auch hier übernahm Judith Neuwald-Tasbach die Betreuung.

In der Zwischenzeit wurde sie von der Gelsenkirchenerin Karin Clermont angesprochen, ob sie sich engagieren wolle bei den Planungen zum Bau einer neuen Synagoge in Gelsenkirchen. Neuwald-Tasbachs Vater Kurt war bis 1992 Vorsitzender der jüdischen Gemeinde gewesen. Auf der Trauerfeier nach seinem Tod, an dem auch NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD) teilnahm, sprach sein Nachfolger Fawek Ostrowiecki (1927–2017) erstmals öffentlich den Wunsch zur Errichtung einer neuen Synagoge aus, denn die alte von 1957/58 platzte nach der Zuwanderung zahlreicher Juden und Jüdinnen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion in den 1990er-Jahren aus allen Nähten. Judith Neuwald-Tasbach engagierte sich nun – obwohl sie weiterhin im Sauerland wohnte – gemeinsam mit Karin Clermont und weiteren Mitstreiter*innen in verschiedenen Gremien in und außerhalb der Gemeinde für die neue Synagoge und wurde später auch offizielle Beauftragte der Gemeinde für den Synagogenbau.2

Aber ihren Beruf dauerhaft aufgeben, dass wollte sie eigentlich nicht. Nach der Fertigstellung und Einweihung der Synagoge im Februar 2007 wollte sie in ihren Beruf zurückkehren. Doch nun trat der bisherige Gemeindevorsitzende Ostrowiecki bei den Gemeindewahlen nicht mehr an – und schließlich ließ sie sich „breitschlagen“. Ihr war schnell klar: „Das ist das Ende meiner beruflichen Pläne – aus dem Grund, weil ich Dinge immer nur ganz machen kann! Ich habe mir gedacht: Wir ziehen jetzt um in ein neues Gebäude und es wird wahnsinnig viel Arbeit sein, das alles einzurichten. Wenn du nebenher noch einen Vollzeitjob hast, wahrscheinlich auch mit vielen Überstunden, dann wird das für dich ganz schwierig, hier richtige Arbeit zu leisten“, erinnert sich Judith Neuwald-Tasbach. Sie übernahm das Amt als erste Frau und blieb über 16 Jahre lang bis Mai 2023 die Gemeindevorsitzende.

Finanziell möglich war dieser Fulltime-Ehrenamts-Job nur, weil sie 2002 geheiratet hatte und ihr Mann berufstätig war. „Mein Mann ist immer mein bester Berater, bis heute, muss ich sagen. Und ich bin dankbar und glücklich, dass er das alles mitträgt“, sagt Judith Neuwald-Tasbach. Eine Arbeitsteilung, die auf den ersten Blick traditionell klingt: er der „Ernährer“, sie ehrenamtlich tätig. Aber dieses Ehrenamt war ein von Verantwortung und Umfang her besonders herausragendes. Sie wurde eine Führungskraft ohne Bezahlung.

Die Herausforderungen waren groß. Mit der Zuwanderung von Juden und Jüdinnen aus den Nachfolgestaaten war die jüdische Gemeinde in Gelsenkirchen, wie viele andere Gemeinden bundesweit, erheblich gewachsen – von gerade einmal 79 Mitgliedern im Jahr 1989 auf 441 im Jahr 2005. Viele der neuen Mitglieder sprachen nur wenig Deutsch und hatten nach der Übersiedlung nach Deutschland beruflich nicht mehr richtig Fuß gefasst. Der Gemeinde verlangte dies einiges an Integrationsleistung ab und sie veränderte sich schließlich auch selbst strukturell von Grund auf, denn die wenigen „alten“ Mitglieder waren nun in der Minderheit.3

In Gelsenkirchen war es dem Engagement von Menschen wie Karin Clermont zu verdanken, die selbst keine Jüdin ist, dass nun die Chance ergriffen wurde, den Jüdinnen und Juden wieder einen sichtbaren Platz in der Stadt zu geben und ausreichend große Räumlichkeiten – was mit dem Bau der Neuen Synagoge inklusive Gemeindezentrum und Büros auch gelang. Schon der Tag der Einweihung der Synagoge zeigte Judith Neuwald-Tasbach, dass die jüdische Gemeinde fortan eine ganz neue Rolle in der Stadt spielen würde: „Wir wurden ja alle am Tag der offenen Tür nach der Einweihung von unglaublich vielen Menschen überrannt. 12.000 Menschen haben an dem Sonntag vor der Tür gestanden und da wurde mir klar, dass unser Leben ein anderes ist. Wir sind aus einem abgeschiedenen Hinterhof direkt in die Öffentlichkeit gekommen, an einen schönen Platz, der viel Bedeutung für uns hat, mit einem wundervollen Gebäude.“

Durch den Neubau war die Gemeinde trotz öffentlicher und privater Unterstützung hochverschuldet und musste jeden Cent umdrehen, wie Neuwald-Tasbach erläutert: „Das war eine ziemlich anstrengende Zeit und manche Nacht habe ich da nicht schlafen können, weil ich immer gedacht habe: ‚Wie wird das weitergehen?‘ Immer mit diesen Engpässen, wir mussten unsere Kredite bedienen, wir haben hier hohe Kosten. Am Anfang haben uns diese Kosten sozusagen erschlagen.“

„Mein Vorgänger im Amt [Fawek Ostrowiecki] hat einmal gesagt: ‚Als Vorsitzende der Gemeinde bist du nicht die Vorsitzende, sondern du bist die Dienerin der Gemeinde.‘ Und das habe ich immer berücksichtigt in meinem Leben, dass ich immer Gleiche unter Gleichen bin. Hier drinnen bin ich eine von vielen und nach draußen habe ich die Aufgabe, die Gemeinde zu vertreten. Aber ich stehe nicht über den Menschen, sondern ich bin hier mit den Menschen und das ist, glaube ich, eine ganz wichtige Erkenntnis für die Arbeit. Das ist wichtig, dass man das verinnerlicht.“

Mit Judith Neuwald-Tasbach wurde eine Frau Vorsitzende der Gemeinde, die auch aufgrund ihres familiären Hintergrunds in der Lage war, die Schnittstelle zu bilden zwischen der sich neu findenden Gemeinde mit Menschen, die sich wenig in den kulturellen und politischen Kontexten auskannten, und der Gelsenkirchener Gesellschaft und Politik. Ihre Eltern waren beide Holocaust-Überlebende.

Der Vater Kurt Neuwald wurde 1906 in eine Gelsenkirchener Kaufmannsfamilie geboren, die bereits seit 1880 ein Bettenfachgeschäft in der Innenstadt führte. Er war dessen Geschäftsführer und Mitinhaber, bevor es durch die Nazis verwüstet und durch die Behörden schließlich „arisiert“ wurde. Er heiratete 1939 die aus Essen stammende Rosa Stern. 1942 wurden er und seine Familie zunächst nach Riga, dann in weitere Lager deportiert. Seine Frau und 23 weitere Familienangehörige überlebten die Shoah nicht. Getrennt von seiner Familie durchlief Kurt einen Leidensweg durch verschiedene Konzentrationslager, er und sein Bruder überlebten schließlich die Zeit der Verfolgung und Vernichtung. Kurt wurde aus einem Außenlager des KZ Buchenwald befreit und kehrte im April 1945 nach Gelsenkirchen zurück.4

Mit anderen gründete er zunächst ein jüdisches Hilfskomitee, dann eine neue jüdische Gemeinde in Gelsenkirchen, deren Synagoge, Schule und weitere Gebäude 1938 während und infolge der antijüdischen Pogrome zerstört worden waren. Von den Juden und Jüdinnen, die 1945, nach der Befreiung, in Gelsenkirchen lebten, war Kurt Neuwald einer der ganz wenigen, der von dort stammte. Die meisten hatte es aus anderen Städten, Regionen oder Ländern nach Gelsenkirchen verschlagen, wo sie im nationalsozialistisch beherrschten Europa verfolgt worden waren, Familie, Freunde und Heimat verloren hatten.5 Darunter auch Cornelia Basch (geb. 1929), eine aus Ungarn deportierte Jüdin, die in einem KZ-Außenlager in einem Hydrierwerk in Gelsenkirchen-Horst Zwangsarbeit leisten musste und hier befreit worden war.6

Kurt Neuwald und Cornelia Basch heirateten, und eine ihrer beiden Töchter war Judith, die 1959 geboren wurde, kurz nachdem die neu gegründete Gemeinde eine kleine Synagoge im Hinterhof eines Gebäudes an der Von-der-Recke-Straße hatte bauen und eröffnen können.7 Etwa 117 Mitglieder hatte die Gemeinde zu diesem Zeitpunkt, doch trotz des Nachwuchses einiger Familien ging die Zahl in den kommenden Jahren immer weiter zurück – durch Wegzug (darunter Auswanderung nach Israel) und durch Überalterung.8

Judith Neuwald-Tasbachs Kindheit war von der Situation der nach der Shoah in Deutschland gebliebenen Juden und Jüdinnen tief geprägt: „Viele waren hier gestrandet, wollten aber ursprünglich gar nicht in Deutschland bleiben, sondern nach Israel. Sie hatten quasi die Koffer gar nicht ausgepackt. Dann kamen die Kinder in den Kindergarten und man verschob die Ausreise, sie kamen in die Schule und man wartete erneut. So schafften viele den Absprung nicht, einige gingen dann doch, wenn die Kinder groß waren, oder die Kinder selbst gingen als junge Erwachsene nach Israel.“ Ein anderer Teil der Juden „war hier fest angekommen und hat auch den Koffer ausgepackt, entschied sich zu bleiben. So war es bei meiner Familie. Das ist ein großer Unterschied in meiner Kindheit gewesen.“ Die Eltern bemühten sich, ihrer Tochter ein Leben mit Freundschaften auch zu nicht-jüdischen Kindern zu ermöglichen, aber das war keineswegs bei allen Gemeindemitgliedern üblich. „Es war immer ein reger Betrieb bei uns zuhause, ich brachte Schulfreunde mit, manchmal kamen auch Eltern zu Besuch. Wie schwierig dies war [gerade einmal 15 bis 20 Jahre nach Kriegsende, S.N.], bekam ich damals zuerst gar nicht mit, habe ich dann aber später begriffen. Meine Eltern mussten ja damit akzeptieren, mit Menschen an einem Tisch zu sitzen, die im Nationalsozialismus im besten Fall geschwiegen haben und passiv waren und im schlimmeren Fall aktiv mitgemacht haben bei der Verfolgung der Juden.“ Andere Gemeindemitglieder blieben entsprechend wesentlich misstrauischer gegenüber ihrer Umgebung, hier durften die Kinder keine Schulfreunde mit nach Hause bringen, sie konnten, so Neuwald-Tasbach, „niemals Normalität im Umgang mit anderen erleben“.9

Die Mutter starb 1969 mit 47 Jahren vermutlich an den Spätfolgen ihrer Deportation, Haft und Zwangsarbeit – Judith war zu dem Zeitpunkt noch keine 10 Jahre alt. Der Vater blieb bis ins hohe Alter Gemeindevorsitzender und engagierte sich auch überregional für die jüdische Gemeinschaft. So war er u. a. von 1963 bis 1994 Vorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe und gehörte von 1951 bis 1994 dem Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland an.10 Mit seinem Engagement für die jüdische Gemeinschaft in Judith Neuwald-Tasbach also groß geworden. „Hitler soll nicht im Nachhinein noch Recht bekommen, indem Deutschland ‚judenfrei‘ wird“, so sei seine Überzeugung nach ihrer Erinnerung gewesen. Dieses „Jetzt erst recht“ habe er auch seinen Kindern auf den Lebensweg gegeben.11

Anders als in der Zeit vor der Shoah, als es in Deutschland ein sehr vielfältiges Judentum mit orthodoxen, konservativen und mehrheitlich liberalen Gemeinden gab,12 waren die sehr kleinen Synagogengemeinden der Bundesrepublik bis 1989 überwiegend Gemeinden mit traditionell-orthodoxen Vorstellungen, aber aus pragmatischen Gründen keinen allzu strengen religiösen Vorschriften im Alltag. Man war froh, dass es überhaupt wieder Gemeinden, Synagogen und Gottesdienste gab.

Die Orthodoxie ist auch gegenwärtig noch die überwiegende Strömung innerhalb der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden, 2021 waren über 90 Prozent traditionell-orthodox ausgerichtet.13 So auch die Gelsenkirchener Gemeinde. In der Neuen Synagoge gibt es daher einen getrennten, aber nicht streng abgeriegelten Sitzbereich für Frauen, die im Rahmen der orthodoxen Gottesdienste keine Funktionen übernehmen dürfen. Gefragt, wie sie als weibliche Gemeindevorsitzende damit umgehe, sagt Judith Neuwald-Tasbach: „Für mich ist es kein Konflikt […] Wenn ich durch die Synagogentür gehe, dann sitze ich hinten bei den Frauen. Und ich sage mir immer: ‚Wichtig ist, dass man in den Herzen der Leute vorne sitzt.‘ Da spielt es keine Rolle, ob ich in der ersten Reihe vorne sitze oder ganz hinten an der Wand. […]  Judentum unterdrückt Frauen nicht, sondern Frauen haben eben keine Aufgabe in der Synagoge im orthodoxen Judentum. Aber wir haben Aufgaben im familiären und sozialen Bereich. Und wenn ich dann durch die Synagogentür wieder hinausgehe, dann bin ich natürlich eine sehr emanzipierte Frau, die sich auch früher schon in einer Männerwelt durchsetzen konnte.“

Judith Neuwald-Tasbach vertrat als einzige Frau im Vorstand ihre Gemeinde im Bund traditioneller Juden in Deutschland e. V. (BtJ), in dem Gemeinden Mitglied werden können, die „sich dem traditionellen Judentum, d. h. der jüdischen Religion und Lehre in ihrer über tausendjährigen Tradition des toratreuen Judentums in Deutschland, verpflichtet fühlen“.14 Knapp 30 Gemeinden wirken darin mit, die alle auch dem Zentralrat der Juden in Deutschland, der wichtigsten jüdischen Dachorganisation, angeschlossen sind. Auch in dessen Direktorium war Neuwald-Tasbach stellvertretende Delegierte für den Landesverband der jüdischen Gemeinden in Westfalen-Lippe.

In den vergangenen Jahren, nach der Einwanderung von Juden und Jüdinnen aus der ehemaligen Sowjetunion, beginnt wieder eine stärkere Ausdifferenzierung innerhalb des deutschen Judentums. So gibt es inzwischen eine Reihe liberal-progressiver Gemeinden, z. B. in Köln, Oberhausen, Unna und Bielefeld, die in der Union progressiver Juden in Deutschland und in einem entsprechenden Landesverband in NRW organisiert sind. Von 2015 bis 2021 amtierte Natalia Vezhbovska für den Verband als Rabbinerin, seit 2022 ist sie Gemeinderabbinerin in Bielefeld und damit eine von über zehn Rabbinerinnen in Deutschland.15

Judith Neuwald-Tasbach sieht dies in keiner Weise dogmatisch: „Im Leben meines Vaters gab es die Vorstellung nicht, dass eine Frau auch eine Rabbinerin sein kann, einfach, weil er es nie gesehen oder gehört hatte, obwohl es auch schon vor dem Dritten Reich Rabbinerinnen gab. Also ich persönlich denke, das Judentum ist eine wunderbare Religion mit so vielen Facetten, und es ist schön, dass auch Frauen Rabbinerinnen werden können oder Vorbeterinnen, Kantorinnen. Ich kenne auch einige und ich denke, es ist gut, dass es auch liberale Gemeinden gibt. Und ich bin auch froh, dass es wieder ganz orthodoxe Gemeinden gibt, die sich sehr intensiv dem Glauben widmen in sehr orthodoxer Hinsicht. Aber ich bin einfach dankbar, dass das Judentum wieder vielfältig ist, denn das ist ja das, was das Dritte Reich endgültig zerstört hat bei uns, es hat nicht nur die Menschen und die Gebäude hinweggenommen, sondern auch die Vielfalt im Judentum und das Wissen um das Judentum. Deshalb freue ich mich, dass wir heute wieder Vielfalt im Judentum haben, wobei meine persönliche Welt das traditionell orthodoxe Judentum ist.“

Die jüdische Gemeinde Gelsenkirchen ist Mitglied im „Interkulturellen Interreligiösen Arbeitskreis Gelsenkirchen“ und sucht darin den Kontakt zu Christ*innen und Muslim*innen. „Wir versuchen, im Interkulturellen Arbeitskreis miteinander die Dinge zu besprechen und mehr Gefühle füreinander zu entwickeln. Ich glaube, letztendlich ist das immer eine Sache des Kennenlernens, wenn man sich kennt, dann werden Vorurteile abgebaut. Es ist der eine einzige Weg zu begreifen, dass wir es nur miteinander schaffen werden“.

Umso mehr hat Judith Neuwald-Tasbach es als Rückschlag empfunden, als am 12. Mai 2021 eine Menge von überwiegend muslimischen Demonstrant*innen, die vorgab, sich mit den Palästinenser*innen in Israel und den besetzen Gebieten zu solidarisieren, vor der Gelsenkirchener Synagoge israel- und judenfeindliche Parolen rief, darunter auch „Juden raus“.16 „Ich habe mich noch nie so schlecht gefühlt in meinem Leben wie nach diesem schrecklichen Aufmarsch. Man muss hart daran arbeiten, dass man wieder Vertrauen fasst und Mut hat weiterzumachen und auch in die Öffentlichkeit zu gehen“, so schaut Judith Neuwald-Tasbach auf diesen Tag zurück.

Generell macht ihr der wachsende Antisemitismus große Sorgen. „Er hat sich verändert, er ist härter geworden, brutaler. Es ist so, dass er sich in den sozialen Netzwerken ausbreitet und manchmal wissen die Menschen gar nicht, warum sie das tun, aber sie tun es und sie begreifen nicht, was sie damit anrichten. Ich glaube, dass jemand, der einmal beschimpft oder angegriffen worden ist als Jude, der wird sein Leben lang ein Trauma haben, weil er sich einfach in einer Eigenschaft angegriffen fühlt, die man nicht ablegen kann. Man kann die Haarfarbe vielleicht verändern, aber man ist Jude und wenn man deshalb beschimpft wird, dann spürt man, dass etwas Grundlegendes in diesem Land nicht funktioniert, nämlich das Grundgesetz, dass uns ja alle schützen soll.“

Zwar werde in Gelsenkirchen viel getan gegen Antisemitismus, besonders in und mit den Schulen. Dennoch sieht sie die Gefahr, dass die antisemitische Stimmung auf Dauer den Schrumpfungsprozess vieler jüdischer Gemeinden verstärken könne. „Wenn die Leute immer Angst haben, von Jugendlichen in der Schule beschimpft zu werden, kommt der Moment, wo man sich nicht mehr als Jude outet, wo man sich von seiner Religion entfernt.“ Aufgrund der demografischen Situation ist in vielen Gemeinden sowieso ein Mitgliederrückgang zu verzeichnen. Nur in großen Städten wie Frankfurt, München, Berlin, Düsseldorf und Köln ist das anders. „Aber Judentum ist eine Religion, die ortsnah gelebt werden muss“, sagt Neuwald-Tasbach. „Ich bin der Meinung, dass man die vielen kleinen Synagogen erhalten muss, um den Menschen vor Ort jüdische Betreuung, jüdisches Leben und jüdischen Spirit zu geben. Das ist ganz wichtig, dass sie hier eine Anlaufstelle haben, sozusagen ihre jüdische Familie, wo sie hingehen können. Das würde ich sehr befürworten, dass man das so lange wie möglich aufrechterhält.“

Es ist also noch viel zu tun, und Judith Neuwald-Tasbach möchte sich auch in Zukunft engagieren – aber ab 2023 nicht mehr als Gemeindevorsitzende.17 Sie wird nicht mehr für dieses Amt kandidieren. Zuvor hat sie jedoch noch eine wichtige strukturelle Veränderung in ihrer Gemeinde auf den Weg gebracht: der oder dem zukünftigen ehrenamtlichen Gemeindevorsitzenden wird endlich ein*e Geschäftsführer*in zur Seite gestellt.

Die 22 Jahre Engagement für die Gemeinde kamen Judith Neuwald-Tasbach in der Rückschau wie 44 vor – eine extrem intensive Zeit, die sie nicht missen möchte. Die Jüdische Gemeinde Gelsenkirchen, aber auch die Gelsenkirchener Stadtgesellschaft hat ihr sehr viel zu verdanken.18

Stefan Nies

Orte:

Synagoge Gelsenkirchen, Georgstr. 2, 45879 Gelsenkirchen

 

Literatur:

Ahrens, Jehoschua: Orthodoxes Judentum in Deutschland, Beitrag auf Website der Bundeszentrale für politische Bildung, 11.05.2021 https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/juedischesleben/329224/orthodoxes-judentum-in-deutschland/, Abruf 21.11.2022
Dritter Bericht der Antisemitismusbeauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen, Fakten, Projekte, Perspektiven, Berichtszeitraum Januar bis Dezember 2021, [Düsseldorf 2022], online: https://www.land.nrw/media/27883/download, Abruf 11.11.2022.
Goch, Stefan, Jüdisches Leben – Verfolgung, Mord, Überleben. Ehemalige jüdische Bürgerinnen und Bürger Gelsenkirchens erinnern sich, Essen 2004.
Nies, Stefan, Die Neue Synagoge und das Gemeindeleben bis zur Gegenwart, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust: Die jüdische Gemeinde Gelsenkirchen nach 1945, Essen 2021 (Schriftenreihe des Instituts für Stadtgeschichte – Materialien, 13), S. 126–151.
Nies, Stefan, Neubelebung des Judentums ab 1990, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust, S. 107–125.
Nies, Stefan, Juden und Jüdinnen in Gelsenkirchen nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust, S. 49–55.
Nies, Stefan, Der Neubeginn der jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust, S. 71–80.
Nies, Stefan, Auf gepackten Koffern? Jüdischer Alltag bis 1989/90, in: Stefan Goch/Stefan Nies (Hrsg.), Selbstbehauptung nach dem Holocaust, S. 81–85.
Sobotka, Heide, Kurt Neuwald – Auf immer Vorbild. Erinnerungen zum hundertsten Geburtstag von Kurt Neuwald, in: Jüdische Allgemeine, 23. November 2006.

Zitation: Nies, Stefan, Judith Neuwald-Tasbach, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/judith-neuwald-tasbach/

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Johanna (Ruth) Eichmann

„Mischehe“, „Schutztaufe“, „Zwangsarbeit“ – diese Begriffe deuten einen dramatischen und wechselreichen Kontext bereits an, in dem sich das Leben der in Recklinghausen aufgewachsenen Ruth Eichmann abspielte. Und wenn noch die biografischen Stichworte Ordens-Oberin, Schulreformerin und Geschichtswerkstatt hinzutreten, wird es erst recht spannungsreich.

Ruth Eichmann wurde am 24. Februar 1926 in Münster geboren und wuchs in einer jüdisch geprägten mittelständischen Mehrgenerationen-Familie in Recklinghausen auf. Eine als Köchin gerühmte dominante Großmutter, ein patriotischer Großvater, eine der jüdischen Gemeinde sehr verbundene Mutter und ein katholischer Vater, der in einem Marler Möbelgeschäft arbeitete, bildeten die behütende Umgebung, die recht bald durch die Diskriminierungen der frühen NS-Zeit in Frage gestellt wurde. Ab 1932 besuchte sie, weil der Familie die lokale jüdische „Zwergschule“ nicht ausreichend erschien, eine katholische Volksschule. Als der städtische Schulträger im September 1933 die jüdischen Kinder aus den allgemeinen Schulen verwies, wurde beschlossen, das Kind taufen zu lassen – mit der katholischen Lehrerin als Patin, die wohl sehr besorgt war um die angemessene christliche Erziehung in einer so jüdischen Umgebung. Bezeichnenderweise wurde diese Zeremonie nichtöffentlich in der Sakristei der St. Petruskirche abgehalten.

Doch blieb und steigerte sich für Ruth unter den sich verschärfenden Bedingungen die Position einer Außenseiterin – „ich habe ungeheure Ängste gehabt“, bekannte sie 2004 in einem Interview.1 Was die Großeltern „Risches“ nannten, nahm merklich zu – mit antisemitischen Ausgrenzungen, Schmähungen, Pöbeleien der anderen Schüler*innen, den SA-Horden und ihren blutrünstigen Liedern auf den Straßen. Zwar gaben die „Schutztaufe“ und der ehedem als „Goi“ nicht ganz willkommene Vater nun, erst recht nach dem Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze 1935, der Familie einen unerwarteten Schutz. Aber das Gerücht von einer Schule, in der es anders zugehe, brachte die 10-Jährige auf die Idee, in das „Pensionat“ genannte Internat des Ursulinen-Ordens im benachbarten Dorsten zu wechseln; dessen Oberin genehmigte den Übertritt zu Ostern 1936.

Schonraum Kloster-Internat
„Das Leben im Pensionat war streng reguliert, aber es war angstfrei“ und „Endlich war ich wieder Kind unter Kindern“, erinnerte sich Ruth/Johanna Eichmann in ihren Memoiren.2 Die offene Atmosphäre, die sie dort empfand, verband sich bald auch mit diskreten Hinweisen der Lehrerinnen, dass ihre jüdische Herkunft kein Makel und kein Grund zur Scham sei. Die Klöster und ihre Einrichtungen gerieten zwar immer mehr unter den Druck nationalsozialistischer Schikanen, doch in Dorsten wurden weiterhin mehrere jüdische Kinder beschult. Dass unter den Dorstener Ursulinen hochgebildete und weitsichtige Frauen, wie z. B. die mit der Philosophin Edith Stein befreundete Oberin Petra Brüning, tonangebend waren, wird zu dieser klugen Resistenz beigetragen haben.

Die Ereignisse rund um den 9. November 1938 signalisierten sowohl ihrer Familie als auch den Schüler*innen in Dorsten, dass die schon lange verkündeten Nazi-Gewaltakte näher rückten. Die Wege ihrer Verwandten – etwa des Großvaters, ab Anfang 1939 im belgischen Exil und später deportiert und ermordet – müssen hier ausgeklammert werden.3 Doch auch der Schonraum von Kloster und Ursulinenschule schwand; die schon ab 1939 geplante Verstaatlichung der Schule wurde im Sommer 1941 mit Verspätung realisiert, eine „Nazisse“ als Leiterin installiert. Die schwierige Frage, ob eine „halbjüdische“ Schülerin jetzt noch haltbar sei, wurde zunächst vertagt durch einige Monate Landeinsatz bei ostwestfälischen Bauern. Doch im Herbst 1942 erfolgte der Schulverweis und warf die Frage nach Alternativen auf. Ohne klare Pläne absolvierte Ruth Eichmann dann an einer privaten Sprachenschule in Essen (dort wurde nicht nach dem „Ariernachweis“ gefragt) eine neunmonatige Dolmetscherausbildung in Französisch und nahm in der Essener Verwandtschaft auch die damals schon recht deutlichen Nachrichten über Deportationen „nach Osten“ wahr. Sie begab sich arbeitssuchend, eher zufällig einer Freundin folgend, nach Berlin.

Berliner Chaos 1943–1945
Die dortige Deutsche Arbeitsfront (DAF) sah sich für die Arbeitsvermittlung von „Nichtarierinnen“ nicht zuständig, Im „Commissariat général pour les travailleurs français en Allemagne“,4 einer der Pétain-Vichy-Regierung (und der DAF) verbundenen Agentur in der Nähe des Alexanderplatzes, die Zwangs- und Zivilarbeiter*innen betreute, wurde sie jedoch ab Dezember 1943 angestellt; hier ging es um Sozialbetreuung und Kontakte der nach Deutschland Verschleppten zu ihren Familien. In einem von Nonnen geleiteten Wohnheim fand sie Unterkunft und tauchte zugleich ein in die unübersichtliche, bereits von Bombardierungen und partiellem Kontrollverlust gekennzeichnete Großstadt, schloss Freundschaften mit anderen Marginalisierten wie z. B. ukrainischen Zwangsarbeiterinnen, sah lesbische Freundschaften in ihrem Wohnheim, machte ergreifende Theatererfahrungen. Auch ein Berlin-Besuch ihrer Mutter war im Sommer 1944 noch möglich. Doch im September dieses Jahres zerbrach der Schutz der „privilegierten Mischehe“: Martha Eichmann wurde in ein Lager der Organisation Todt in Nordhessen verschleppt und nach der Tochter wurde gesucht. Und auch die Arbeitsstelle beim Commissariat wurde gekündigt – nun waren auch dort „Halbjuden“ nicht mehr tragbar. Einige Wochen lang erprobte Ruth Eichmann das gefährliche „Untertauchen“, aber ihre Netzwerke waren zu labil und sie wollte ihre Freundinnen nicht weiter gefährden. Dann schickte die Deutsche Arbeitsfront sie zwangsverpflichtet in eine Tischlerei in Berlin-Weißensee, wo sie Hilfs- und Büroarbeit leistete. Ein Bunker in der Albrechtstraße, nahe der Weidendammer Brücke, war dann ihr gespenstisch-surrealer Aufenthaltsort der letzten Kriegstage im April 1945, wo sie auch die hysterischen Reaktionen von Nazifrauen auf den Tod Hitlers studieren konnte. Es gelang ihr nach der sowjetischen Eroberung Restberlins, sich zu ihren ukrainischen Freundinnen durchzuschlagen, die über ihre Beziehungen zur Künstler*innen-Bohème um Marianne Hoppe eine Villa in Halensee nutzen konnten.

„Heim“-Weg?
Als Verfolgte konnte Ruth Eichmann einen Passierschein zum Verlassen Berlins erlangen und auf verschlungenen Wegen – über Jüterbog, Leipzig, Erfurt und Bebra – bewegte sie sich nach Westen bis nach Recklinghausen. Nachbarn halfen ihr, die dort empfangene Nachricht zu verarbeiten, dass ein Paul Eichmann nun (von den Amerikanern ernannter) „Oberbürgermeister von Marl“ sei, und da in den letzten Kriegswochen auch Ruths Mutter aus der Zwangsarbeit befreit worden war, erlebte sie die Wiedervereinigung der Familie in Marl.

Was tun mit der abgebrochenen Schulausbildung? Weil die Neubelebung der Dorstener Ursulinenschule sich zu lange hinzog, besuchte sie einen sogenannten Förderkurs an einer Recklinghäuser Oberschule und legte im Oktober 1946 ihre Abiturprüfung ab. Übrigens nicht ohne Widerstände: die auf ihrem bisherigen Weg recht selbstbewusst gewordene junge Frau eckte bei den Lehrer*innen durchaus, auch politisch, an. Auf dem Zeugnis fand sich die Notiz „Ruth Eichmann will Journalistin werden.“

„ich vagabundierte…“
Schon zum Wintersemester desselben Jahres schrieb sie sich für die Fächer Publizistik und Romanistik an der Universität Münster ein und „vagabundierte durch verschiedene Fakultäten auf der Suche nach einem Faszinosum“, wie sie rückblickend vermerkte. So etwas fand sie dann eher bei den Philosophen und Germanisten, z. B. bei den Professoren Joachim Ritter und Benno von Wiese.5 1948 konnte sie ein Stipendium für ein Studienjahr in Toulouse/Frankreich erhalten; sie schaffte es auch, ungeachtet der eben erst beendeten Kriegs- und Besatzungserfahrungen, bei einer französischen Familie unterzukommen. Eine notdürftig möblierte und geheizte Garage wurde ihr asketisches Zuhause für dieses Jahr voll neuer Erfahrungen und Eindrücke in Frankreichs Süden. Ihr Staatsexamen legte sie dann Anfang 1952 in Münster ab.

„den Nonnenhut!“
Als sei es das Selbstverständlichste, verkündete Ruth Eichmann in diesem Frühjahr 1952 ihren Willen, dem Orden der Ursulinen in Dorsten beizutreten. Es war für ihre Eltern eine schockierende Wende, weil dies angesichts der damaligen Ordensregeln eine radikale Reduktion von Kontakten bedeutete; und auch andere Wegbegleiter*innen wunderten sich, dass sie nicht eher eine Promotion anstrebte. Attraktive Lockrufe ihrer nach Brasilien geretteten Verwandten konnten an dieser Entschlossenheit nichts ändern. Ihre Motive für diese Entscheidung waren wohl eine enorme Dankbarkeit gegenüber der Gemeinschaft der Ursulinen, aber auch die erfahrungsgesättigte Aussicht, an diesem Ort ihre jüdisch-christliche „Zwischenidentität“ entwickeln und leben zu können.6

Der Orden – damals noch charakterisiert durch eine Hierarchie von „Laienschwestern“ und „Chorschwestern“ – nahm sie am 1. November 1952 auf und verlieh ihr den neuen Namen „Schwester Johanna“. Abgesehen davon, dass die junge Frau diesen Schritt als Rückkehr in eine klare Zugehörigkeit empfand, glitt sie schnell in neue Rollen hinein, indem sie an den beiden vom Orden getragenen Schulen (Gymnasium und Realschule) Unterricht erteilte und pädagogische Aufgaben außerhalb des Unterrichts übernahm. Übrigens war sie zu diesem Zeitpunkt nicht die einzige „Exotin“ im 60-köpfigen Konvent, war doch bereits zwei Jahre zuvor die Künstlerin Tisa von der Schulenburg nach einem weltläufigen Bohème-Leben und zwei Ehen hier als Kunsterzieherin Schwester Paula eingezogen.

Seit Mitte der 1950er-Jahre und verstärkt mit dem II. Vatikanischen Konzil (1962–1965) wurden der Katholizismus und auch die Ordensgemeinschaft der Ursulinen von großen Modernisierungswellen durchgeschüttelt – in der Sprache des Vatikans ein „aggiornamento“. Die Neuerungen – weniger Hierarchie, mehr Hinwendung zur „Welt“, Reform der anachronistischen Ordenskleidung, Abschaffung der „Klassengesellschaft“ von dienenden und lehrenden Schwestern – wurden in Dorsten und auch von Schwester Johanna bejaht, ja als Rückkehr zu den eigentlichen Intentionen dieses Ordens angesehen, die mit der bisherigen nicht nur räumlichen, sondern auch „geistigen Klausur“ unvereinbar schienen. Die ursprünglich innerweltliche Laiengemeinschaft habe sich von kirchlichen Mächten wie dem Jesuitenorden zu Lebensformen drängen lassen, die die ursulinischen Gründungsabsichten – u. a. die einer umfassenden Mädchenbildung und einer Synthese von Aktion und Kontemplation – einschränkten.7 Die damalige Dorstener Oberin, die bald zur engen Freundin von Johanna Eichmann wurde, konnte als Beraterin am Konzil in Rom teilnehmen und die öffnenden Entwicklungen vorantreiben. Übrigens wagte dieses Konzil auch erste vorsichtige Revisionen der traditionellen katholischen Judenfeindschaft.8

Schule als Lebensaufgabe
Im Frühjahr 1964, als die Ordensschwestern noch entscheidend den Unterricht prägten, wurde die damals 38-Jährige überraschend zur Leiterin des Gymnasiums bestimmt. Sie fügte sich dem erwarteten Gehorsam, sollte jedoch bald unerwartete Schussfolgerungen ziehen, die zum zunächst abwertend gemeinten, später aber von ihr als Ehrentitel verstandenen Etikett „rote Johanna“ führten. Diese Etikettierung ist nur aus den bildungspolitisch überhitzten 1960er- und 1970er-Jahren zu verstehen – eigentlich ging es hier lediglich um pädagogische Neuerungen, die in der Luft lagen und wenige Jahre später quasi zum schulischen Allgemeingut wurden. Die insgesamt nicht erst seit 1968 in Bewegung geratende Gesellschaft ließ die Rufe nach Schulreformen allmählich lauter werden. Und die neue Direktorin, damals möglicherweise die jüngste Schulleiterin in ganz Nordrhein-Westfalen, wagte probierende Reformen: Dazu gehörten die Auflösung der Klassenverbände in der Oberstufe, eine partiell freie Fächerwahl und viele Arbeitsgemeinschaften, mehr Schülermitbestimmung, Förderung des Übergangs von der Realschule zum Gymnasium. Der Status der „Privatschule“ machte es möglich, mit solchen Experimenten lange vor den allgemeinen Schul- und Oberstufenreformen Ernst zu machen. Die im konservativ-katholischen Bürgertum der Stadt sehr umstrittene Öffnung der Mädchenschule für Jungen war ein weiterer revolutionärer Schritt.9 Auch in diesen Fragen dürfte Johanna Eichmanns immer wieder durchgearbeitete Rückbesinnung auf die autonomen Intentionen der Ordens-Gründungszeit beflügelnd gewirkt haben: „Ursulinen erziehen anders!“10

„Ich habe nie aufgehört, Jüdin zu sein“
Schon seit Mitte der 1960er-Jahre befasste sich Johanna Eichmann mit dem jüdisch-christlichen Dialog, auch inspiriert durch die päpstliche Enzyklika „Nostra aetate“ von 1965. Debatten mit Rabbiner Robert Raphael Geis, Tagungskontakte und eine erste Studienreise nach Oświęcim/Auschwitz, wo im August 1943 ihr geliebter Großvater ermordet worden war, waren erste Stationen eines von ihr als „Rückkehr zu den Wurzeln“ bezeichneten Weges. 1983, mit einer Ausstellung der ein Jahr zuvor gestarteten Geschichtswerkstatt „Dorsten unterm Hakenkreuz“, erfuhr sie den Anstoß zu einer intensiveren Auseinandersetzung. Sie wurde aktives Mitglied dieser kleinen, zunächst sehr misstrauisch beäugten Gruppe, die insgesamt fünf Bände zur jüdischen Lokalgeschichte der Nazizeit sowie zur lokalen Vor- und Nachkriegszeit publizierte. Der Beitritt der strengen Schulleiterin und hochgeachteten „Honoratiorin“ dürfte damals erheblich zum Abbau von Vorurteilen gegen die „Nestbeschmutzer*innen“ beigetragen haben. Und für sie wurde dieser Arbeits- und Freundeskreis zum Rahmen einer langen Selbstbesinnung, die ab 1988 auch ganz demonstrativ, in Zeitungsinterviews etc., eine Präsentation ihrer Doppel-Identität erlaubte.

Weitere Forschungen, Vorträge und Wanderausstellungen, Kontakte zu jüdischen Überlebenden in Israel und den USA führten in diesem Kreis zum nächsten Projekt: der Idee nämlich, ein kleines Dokumentationszentrum zur jüdischen Lokalgeschichte zu errichten. Bis zur Eröffnung und Etablierung des Jüdischen Museums Westfalen dauerte es dann noch einige Jahre, doch der 1987 gegründete Verein erfuhr nun so viel Unterstützung aus Lokal-, Regional- und Landespolitik sowie der Wissenschaft, dass 1991/92 ein Gebäude aus den 1890er-Jahren renoviert und im Juni 1992 eröffnet werden konnte. Die 1991 pensionierte Schulleiterin Johanna Eichmann übernahm die ehrenamtliche Museumsleitung und übte dieses Amt – gestützt von einem großen Team Freiwilliger – 14 Jahre lang aus. Dies war nicht nur eine dekorative Rolle – vielmehr leitete sie das gesamte Veranstaltungsprogramm, arbeitete am Lobbying und der Vernetzung der neuen Institution so erfolgreich, dass schon vor ihrem Ausscheiden eine allmähliche, aber deutliche Professionalisierung und Qualifizierung möglich wurde. Sichtbarstes Zeichen dieser Weiterentwicklung war ein 2001 eröffneter Neubau, in dem eine von Johanna Eichmann mitkonzipierte neue Dauerausstellung Platz fand, die endlich auch den anfangs etwas kühnen Anspruch erfüllte, die jüdische Geschichte Westfalens zu präsentieren. Die Funktion dieses Hauses, den während der Naziherrschaft in alle Welt Vertriebenen und ihren Familien einen Anknüpfungspunkt zum neuen Deutschland zu geben, war ihr überaus wichtig. Doch trotz dieser unbezweifelbaren Bezüge blieb ihr programmatisches Motto, wie sie 2003 in der Museumszeitung schrieb: „Im Blick von heute hat die Phase der Zerstörung jedoch nicht das letzte Wort.“

Themen ihrer publizistischen und Bildungsaktivitäten blieben der jüdisch-christliche Dialog, aber ebenso die Rolle jüdischer Frauen, die NS-Politik gegenüber den „Mischehen“, die Historie und die Wandlungen jüdischer Traditionen und Rituale. Als Zeitzeugin konnte sie nun ihre Familiengeschichte in Schulen, Volkshochschulen, Akademien, aber auch in muslimischen Gemeinden der Region vorstellen.

Frauen: Autonomie und Macht
Es ist unübersehbar, dass Johanna Eichmanns seit den 1980er-Jahren geführte Auseinandersetzungen mit den jüdischen Traditionen auch ein Ringen um die eigene Identität bedeutete. Weibliche Autonomie war dabei eines ihrer subkutanen Themen – nicht nur in der Wiederentdeckung ursulinischer Freiheiten in der Ordenstradition oder in der weiblich dominierten Museums-Gründungsgruppe, sondern auch im Judentum. So äußerte sie in einem Aufsatz 1996:
„Man wird der Stellung der Frau im traditionellen Judentum nur gerecht, wenn man sich die Hochachtung vor Augen hält, die ihr als Ehefrau und Mutter erwiesen wird. Gegenüber dem Mann als ‚Kult- und Kulturträger‘ mag sie zwar nach außen hin als Unter- bzw. Nachgeordnete erscheinen, tatsächlich ist aber sie die ‚Erschafferin, Gestalterin und Hüterin des jüdischen Heimes‘. Sie ist dessen Mittelpunkt schlechthin. Das Zentrum des jüdischen Lebens ist ja nicht die Synagoge, in der die Männer in der Regel das Sagen haben; das Zentrum des jüdischen Lebens ist das jüdische Haus, in dem die Frau das Sagen hat. Sie bestimmt die geistige Richtung der Familie, von ihr lernen die Kinder die ‚primären Prinzipien des Judentums‘; von ihr hängt es ab, ob das Haus ein jüdisches Zuhause ist, ob Jüdischkeit das Leben in der Familie prägt.“ 11

Solch zurückgewonnenes jüdisches Selbstbewusstsein, das im oft von Johanna Eichmann zitierten Titelmotto „Unser Rüthchen bleibt ein Jüdchen“, einem Ausspruch ihrer Großmutter, deutlich wird, machte es auch möglich, dass sie einzelnen jungen Frauen aus der Gruppe der „Kontingentflüchtlinge“ in den 1990er-Jahren informellen jüdischen Religionsunterricht erteilte.
Parallel dazu – von 1995 bis 2007 – bekleidete sie das Amt der Oberin des Dorstener Ursulinenkonvents. Viele Auszeichnungen – darunter die Ehrenbürgerschaften der Stadt Dorsten und des Vestischen Kreises Recklinghausen – erreichten sie. Besonders erfreut war sie über die Verleihung der Dr. Ruer-Medaille der Jüdischen Gemeinde Bochum-Herne-Hattingen, weil sie sich damit auch von jüdischer Seite „angenommen“ sah.
Johanna Eichmann verstarb am 23. Dezember 2019 in Dorsten; die Stadtgesellschaft bereitete ihr einen würdigen Abschied an ihren wichtigsten Wirkungsstätten Kloster, Ursulinenschule und Museum. Die Bildungs-Initiative „Zweitzeugen“12 bemüht sich um die anhaltende Vermittlung ihrer Lebenserfahrungen.

Dr. Norbert Reichling
Transparenz-Hinweis: Der Autor arbeitete 10 Jahre lang mit Johanna Eichmann im Trägervereins-Vorstand des Jüdischen Museums Westfalen zusammen.

Orte:

Ursulinenkloster und Gymnasium St. Ursula, Ursula-Str. 8-12, 46282 Dorsten
Jüdisches Museum Westfalen, Julius Ambrunn-Str. 1, 46282 Dorsten

Zitation: Reichling, Norbert, Johanna (Ruth) Eichmann, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/johanna-ruth-eichmann-1926-2019/

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Hajra Dorow

Erinnerungen an ihre Kindheit in Kakanj1 in Bosnien-Herzegowina zaubern Hajra Dorow ein Lächeln ins Gesicht. Sie schwärmt vom Leben in einer Nachbarschaft mit vielen Kindern, in denen das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und verschiedener Religionen eine Selbstverständlichkeit war.

Um dies zu beschreiben, greift die 57-Jährige an ihrem Küchentisch in Bottrop zu Stift und Papier. Damit zeichnet sie „ihre“ Etage des Hauses, in dem sie aufgewachsen ist: Ein Quadrat mit einer Treppe an einer der Querseiten. Rechts der Treppe wohnte eine serbische, orthodoxe Familie mit zwei Kindern, daneben ein katholisches Paar aus Slowenien. In der nächsten Wohnung wuchs sie mit ihrem Bruder und der Mutter auf, der muslimischen Religion angehörend, aber atheistisch erzogen. Links der Treppe schließlich lebte eine Familie aus Österreich, die katholisch war.2

Multikulturelle Hausgemeinschaften

„In jeder der vier Etagen unseres Hauses gab es so eine Mischung. Ob es tiefreligiöse Orthodoxe waren oder genauso strenggläubige Katholiken; Moslems, die ihre eigenen Feste feierten – die Türen waren alle immer offen. Ich meine, nicht nur nicht abgeschlossen, sondern sie standen wirklich offen! Wenn ich etwas wollte, bin ich einfach direkt zu Tetta Elizabetha oder Tetta Rosalia in die Wohnung gelaufen“, erzählt Hajra Dorow. In drei baugleichen Häusern wohnten rund 60 Kinder, die zusammen spielten und zwischen deren Eltern ebenfalls Freundschaften bestanden. „Wenn Orthodoxe einen Feiertag hatten, gab es immer Spanferkel. Das habe ich geliebt, es war mein Lieblingsessen. Oder Griebenschmalz mit Zwiebeln und frischem Brot, auch sehr lecker!“, schwärmt Hajra und ihre Augen beginnen zu leuchten. „An unseren Feiertagen, zum Beispiel Ramadan, hat meine Mutter aus Tradition Kuchen gebacken, eine Tafel vorbereitet und die Leute zu uns eingeladen. So war das!“ Hajra legt den Stift aus der Hand und erzählt, diese Offenheit anderen Kulturen gegenüber habe sie geprägt. Eine Vielfalt, die sich auch in der Stadtgesellschaft von Kakanj widerspiegelte und die Daten aus der Volkszählung 1991 belegen: Von den 55.857 Menschen, waren 55 Prozent Muslime, 30 Prozent Kroaten, 9 Prozent Serben, 4 Prozent Jugowslawen und 2 Prozent „andere“. Der Stadtkern hatte damals 12 016 Einwohner.3 Im direkten Umfeld von Hajras Zuhause war diese Vielfalt deutlich sichtbar: Vor ihrer Haustür stand eine orthodoxe Kirche. 800 m weiter im Stadtkern lebten vor allem die kroatisch-katholischen Familien rund um ein altes Franziskanerkloster herum. Nur 200 m entfernt davon steht noch heute die älteste Holzmoschee in Bosnien. Während Hajras Kindheit wäre es jedenfalls unvorstellbar gewesen, dass die Nachbarn Jahre später zu Todfeinden werden könnten.

Beim Grubenunglück starb der Vater

Dieses gute Leben, an das Hajra sich so gerne erinnert, begann unter schwierigen Bedingungen: Sie wurde am 1. Juni 1965 als zweites Kind der Familie Alajbegović im Dorf Donji-Kakanj geboren, rund 50 km von der Hauptstadt Sarajevo entfernt. Nur wenige Tage später, am 7. Juni, ereignete sich in der Stadt Kakanj ein furchtbares Grubenunglück. Hajras Vater war einer der 128 Bergleute, die dabei ums Leben kamen. Nun lebte ihre Mutter mit ihrem zweieinhalbjährigen Sohn Almas und ihrer neugeborenen Tochter Hajra bei den Schwiegereltern, bis sie 1972 nach Kakanj zogen.
Nach der Bergbaukatastrophe hatte sich ein Verein gegründet, der die Witwen und mehr als 400 Kinder mit praktischen Hilfen und finanziell unterstützte. Hajras Mutter setzte sich hierbei aktiv für den Schutz der Witwen ein und begegnete auch hier Frauen aus verschiedenen Kulturen, denen sie ohne Ansehen ihrer Herkunft half. Für die Kinder ergab sich aus der finanziellen Unterstützung die Pflicht, Schule und Ausbildung zu absolvieren. Die Kosten für die Ausbildung wurden mit Erreichen eines Abschlusses annulliert. „Falls wir den nicht schafften, hätte unsere Mutter bezahlen müssen. Auch mit einer neuen Heirat hätte sie alle Ansprüche für sich und uns verloren. Sie blieb bis an ihr Lebensende Witwe“, zählt Hajra die Bedingungen und Konsequenzen der Unterstützung auf, die ihr eine gute Bildung ermöglichte. Nach der 8. Klasse wurden die Kinder aufgrund von IQ-Tests auf weiterführende Schulen, meist Internate, in ganz Bosnien-Herzegowina verteilt. Ihr Bruder lernte Elektrotechnik im 300 km entfernten Mostar und arbeitete später im dortigen Elektrizitätswerk. Da dies später auch kriegswichtig war, wurde er zum Glück nicht eingezogen. Er arbeitet noch heute dort. Hajra kam mit 15 Jahren in ein Internat in Sarajewo, machte eine Ausbildung zur Sekretärin und bekam eine gute Stelle als Chefsekretärin des Bergbaudirektors. In dieser glücklichen Zeit entwickelte sie sich auch zur erfolgreichen Sportschützin. Doch als sie 27 Jahre alt war, änderte sich mit dem Jugoslawienkrieg alles.

Nachbarn wurden zu Feinden

Im April 1992 begann der Bosnienkrieg mit der Belagerung der Hauptstadt durch die Jugoslawische Volksarmee und der serbischen Territorialverteidigung. Zuvor hatte die Europäische Gemeinschaft die Unabhängigkeit Bosniens und Herzegowinas anerkannt. Während große Teile der serbischen Bevölkerung in der jugoslawischen Föderation bleiben wollten und einen engen Verbund mit Serbien anstrebten, gab es insbesondere bei den Bosniaken den Wunsch, einen eigenen unabhängigen Staat zu bilden. Der Krieg sollte bis zum Dezember 1995 dauern, mehr als 100. 000 Tote fordern und über zwei Millionen Menschen in die Flucht treiben. Er reihte sich ein in mehrere Kriege, die den gewaltsamen Staatszerfall Jugoslawiens prägten und gilt als der grausamste Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.4 Innerhalb weniger Wochen veränderte sich der Alltag auch in Kakanj völlig. Bereits im Sommer 1992 litten die Menschen unter Hunger, gegenseitiger Verfolgung, Gewalt und Tod. „Die Propaganda gegen die jeweiligen Religionen war so stark, dass Nachbarn zu Feinden und Stadtgebiete aufgeteilt wurden. Die Mischung der Bevölkerung hatte ein Ende“, bedauert Hajra.

Ausgehend vom Stadtkern begann die Vertreibung der muslimischen Bevölkerung. Obwohl alle zuvor friedlich zusammengelebt hatten, zogen nun paramilitärische Organisationen durch die Straßen, bedrohten die Leute und töteten sie. Auch Hajra wurde von einem früheren Arbeitskollegen mit der Waffe bedroht, als sie ihm auf der Suche nach Lebensmitteln an einem Kontrollpunkt begegnete. Nur weil er sie erkannte, habe er sie nicht erschossen, vermutet Hajra.

Angst wirbelt durch ihren Kopf

Im Bergwerk gab es für sie nichts mehr zu tun. Deshalb schloss sie sich dem Roten Kreuz an, verteilte Lebensmittel und Bedarfsmaterial. In den Augen der Menschen begegnete ihr Angst, große Angst. Aus ihrem Wohnzimmerfenster sah sie ihre drei Cousins in den Krieg ziehen, erfuhr von furchtbaren Vergewaltigungen. Hajra entschied sich zur Flucht, in der Hoffnung, ihre Mutter und ihren Bruder nachholen zu können.

„Wenn ich an die Zeit zurückdenke, dann geht ein Wirbel durch meinen Kopf. Aus der Angst um mein Leben entwickelte sich die starke Triebkraft zu fliehen und mich zu retten. Umgekehrt hatte ich Angst, meine Mutter und meinen Bruder zu verlassen, nicht zu wissen, was aus ihnen wird. Und schließlich die Angst, allein loszugehen durch ein Kriegsgebiet. Ich bin in die totale Ungewissheit aufgebrochen“, beschreibt Hajra Dorow ihre Gefühle.

Am 27. Juli 1992 bestieg sie mit vielen anderen Frauen und Kindern einen organisierten Bus, in der Tasche einen Passagierschein mit der Erlaubnis, die Kampfgebiete zu durchqueren. Die Flucht ging Richtung Kroatien, doch das Land war nicht mehr offen für alle Flüchtlinge. Nur Christen hatten noch eine Chance, Muslime waren nicht mehr willkommen. Und so geriet Hajra an der Grenze zu Kroatien in eine gefährliche Situation. Muslime wurden aus dem Bus geworfen. Bis heute kann sie sich nicht erklären, weshalb sie und zwei weitere muslimische Frauen mit ihren Kindern im Bus bleiben durften.

Fliehen, aber wohin?

Dass Hajra entschied, nach Deutschland zu fliehen, lag an Verwandten und einer Freundin, die in Deutschland lebten und die sie früher bereits besucht hatte. „Ich empfand Deutschland immer als Wunderland, ein Land, in dem ich gerne leben würde. Die Sprache fand ich toll und hatte sie nach der Schule in einem Volkshochschulkurs auch schon ein wenig gelernt.“
Aber ihre Verwandten und Freunde konnten sie nicht aufnehmen. Nach einer lebensgefährlichen und abenteuerlichen Flucht landete Hajra schließlich in der zentralen Aufnahmestelle in Münster. „Ab da war mein Leben dem Zufall überlassen. Es war eine schwierige Situation, denn ich war schwer magenkrank und dadurch abgemagert. Natürlich kannte ich auch niemanden. Der erste Schock war, als ich erfuhr, dass in der vorherigen Nacht eine Frau vergewaltigt worden war, und dass man die Zimmertüren nicht verschließen konnte. In unserem Zimmer haben wir einen Stuhl unter die Türklinke geschoben“, erinnert sich Hajra.
Schließlich wurde Hajra nach Bottrop zugewiesen. Zusammen mit einer Familie aus dem Kosovo wurde sie vor dem Sozialamt abgesetzt und kam schließlich in einer Sammelunterkunft mit vielen Nationen an der Horster Straße unter. Dort lebte sie sozusagen in einer 1-Zimmer-Mädchen-WG mit zwei Frauen, eine aus dem Kosovo und eine aus der Türkei.

Sprachkenntnisse öffnen Türen

Ihre deutschen Sprachkenntnisse waren zu dieser Zeit noch rudimentär, aber sie öffneten Hajra viele Türen. Hajra bemühte sich, anderen Geflüchteten zu helfen und bei Behördenterminen zu übersetzen. So wurde sie immer häufiger von der Polizei als Dolmetscherin angefordert und bekam schließlich eine erste Stelle im Sozialamt für gemeinnützige Arbeit und 1,50 DM in der Stunde. „Es war eine herausfordernde Arbeit, der ich versuchte, mit meinem ,Indianerdeutsch‘ gerecht zu werden. Ich hatte auch Angst, ob ich richtig übersetze, aber letztendlich war es die beste Art, Deutsch zu lernen“, stellt Hajra im Rückblick fest.

Wie ehemaligen (?) Feinden begegnen?

Einmal wurde sie zu Beginn ihrer Zeit in Bottrop vom Sozialamt zur Registrierung einer Familie aus Bosnien bestellt. Bei der Aufnahme persönlicher Daten stellte sich heraus, der Mann stammte aus dem christlich geprägten Klosterviertel in Kakanj. In ihrer impulsiven Art zeigte Hajra ihre Freude, wieder jemanden aus der Heimat zu treffen: „Schön, dass Du da bist, ich komme auch aus Kakaj!“, begrüßte sie ihn. Der Mann fragte nach ihrem Namen und als er den muslimischen Frauennamen „Hajra“ hörte, zuckte er zurück, die Atmosphäre im Raum kühlte ab. „Da bin ich auf ihn zugegangen, habe gesagt: ,Hab keine Angst, ich bin neutral. Lass Dich nicht von meinem Namen beirren! Wir sind vielleicht zuhause verfeindet, aber alle, die hier sind, haben einen Grund zur Flucht gehabt. Wir sind jetzt aufeinander angewiesen, uns gegenseitig zu helfen. Ich will Dir helfen!‘“, berichtet Hajra.

Wie geht man mit Menschen aus dem verfeindeten Lager um, die man noch während des Krieges oder in den Jahren danach kennenlernt? Auch 27 Jahre nach Ende des Krieges ist es noch immer ein vorsichtiges Abchecken, wenn jemand seine bosnische Herkunft bekennt: Zu welchem Lager gehörst du? Wie gehen wir miteinander um? „Oft malt sich Vorsicht ins Gesicht, wenn jemand entdeckt, dass sein Gegenüber zur ehemals verfeindeten Gruppe gehört“, erzählt Hajra Dorow. Sie hat für sich eine Strategie entwickelt: „Ich gebe der Person eine Chance, damit ich erkennen kann, ob diese explizite Person gute Werte mit sich bringt. Es gibt Menschen, die schlechte Taten tun, die bereuen und sich wieder ändern.“

Auch in Deutschland nicht sicher?

Das Gefühl, in Sicherheit zu sein, verflog bereits ein Jahr später im Juni 1993. Die Bottroper Polizei warnte, man habe verdächtige Bewegungen vor ihrer Flüchtlingsunterkunft beobachtet. Dies war kurze Zeit nach dem rechtsextremistischen Mordanschlag auf das Haus der türkischen Familie Genç in Solingen, bei der fünf Personen ums Leben kamen. „Da haben wir Flüchtlinge mit dem Trauma leben müssen, auch in Deutschland zu Opfer werden zu können. Das war ungeheuerlich für mich. Ich entschied, nach Bosnien zurückzukehren, wollte lieber im Krieg sterben, als hier ein ,No-Name-Opfer‘ von Rechtsradikalen zu werden“, schildert die Bosnierin ihre damalige Einstellung. Bis dahin hatte sie noch keinen Kontakt zu ihrer Familie gehabt, wusste nicht, ob ihre Mutter und ihr Bruder noch leben, denn Bosnien war von der Welt abgeschnitten. Als es im Juli 1993 humanitären Organisationen gelang, Telefonverbindungen herzustellen, konnte sie ihrer Mutter ein Jahr nach der Flucht endlich ein Lebenszeichen geben.

Bei der geplanten Rückreise sollte ihr Uwe Dorow helfen, ein Kollege aus der Volkshochschule, in dessen Büro sie zwischenzeitlich arbeitete. Doch eine Rückkehr nach Bosnien war wegen des Krieges nicht möglich, Asyl in Deutschland aber auch nicht leicht zu erreichen. Der Antrag wurde abgelehnt, eine Klage dagegen führte zu einer Duldung. Da hatte sie sich längst in Uwe verliebt. Mit ihm gründete sie später eine Familie. 1996 kam ihr Sohn und 1998 ihre Tochter zur Welt.

Hajra beschreibt sich als eine Macherin, als Anpackerin. Ihr Schulabschluss wurde auf den Realschulabschluss herabgestuft, ihre Ausbildung zur Sekretärin nicht anerkannt. Aber sie biss sich durch, machte sich einen Namen als versierte und zuverlässige Frau. Man bot ihr immer neue Herausforderungen an. Nach der Erziehungszeit arbeitete sie viele Jahre in der Bildungs- und Teilhabebetreuung der AWO und heute in der Offenen-Ganztagsbetreuung der Fichteschule.

Besuche in Bosnien

Die Sommerurlaube bis zur Corona-Pandemie verbrachte die Familie Dorow in Hajras Heimat. Nach ihrer Heirat im Frühjahr 1996 reisten Uwe und Hajra zum ersten Mal nach dem Krieg dorthin. Bei der Erinnerung daran wird Hajras Stimme ganz leise: „Es war ein Schock, die Kriegsschäden zu sehen, die Gräber, zu erfahren, wer nicht mehr da ist, wer geflohen ist.“ Über die Jahre pflegt Hajra den Kontakt zu ihren Angehörigen in Bosnien. Die räumliche Trennung und die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in den beiden Ländern sind für die familiären Beziehungen allerdings manchmal eine Herausforderung. Diese Erfahrung teilt sie wohl mit den meisten Menschen, die über Länder- und Kulturgrenzen hinweg migrieren. Besonders bitter war für Hajra, dass sie nicht bei ihrer geliebten Mutter sein konnte, als diese nach einer Infektion mit dem Coronavirus starb.

Geprägt durch Flucht und Neubeginn

Sie empfindet eine starke Prägung durch die Flucht und den erzwungenen Neubeginn in Deutschland. Daher gibt es Werte, die sie selbst vermitteln möchte. „Menschen, die Leid, Krieg oder einen anderen Schicksalsschlag erlitten haben, wissen viele Dinge zu relativieren. Sie haben eine ganz andere Wertschätzung für das Leben und für die Freiheit, so zu leben, wie man möchte. Sie ist für mich das Größte, was man haben kann. Dies Menschen zu vermitteln, denen noch nie die Freiheit entzogen wurde, ist sehr schwierig. Dabei erweitert das freiheitliche, multikulturelle Zusammenleben den Horizont. Man geht ganz anders miteinander um. Für mich ist die multikulturelle Gesellschaft etwas Wunderschönes,“ fasst Hajra ihre Grundanschauung zusammen.

Politisches Engagement für die Integration

So ist es wohl folgerichtig, dass die Bosnierin mit dieser Einstellung in der Kommunalpolitik aktiv ist. Als Vertreterin der SPD sitzt sie im Stadtrat und wurde vor zwei Jahren zur Vorsitzenden des Integrationsausschusses gewählt. Sie arbeitete mit daran, dass sich die Stadt Bottrop zum „Sicheren Hafen“ für Geflüchtete erklärt und unterstützt die Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine. Ihr Zielt ist, dass in den Bereich Kultur, Bildung und in der Stadtverwaltung Strukturen bestehen, in denen internationale Herkunftsgeschichten nicht im Vordergrund stehen. Sie beschreibt es als mühsamen Weg, Völkerhass und Ausgrenzung zwischen den Kulturen zu überwinden, nicht nach „Ihr“ und „Wir“ zu trennen. „Viele Probleme entstehen durch Vorurteile. Und diese basieren meistens auf Angst. Wir Menschen mit Migrationshistorie leben immer unter dem Druck, uns zu beweisen, zu signalisieren, dass wir keine negativen Leute sind. Ich möchte, dass wir das Beste versuchen, um friedlich miteinander in Bottrop zu leben!“, ist Hajra Dorow politisches Statement.5

Gerburgis Sommer / Angekommen in Recklinghausen/Gelsenkirchen/Bottrop – Migrationsgeschichten aus vier Generationen

Orte:

Donji-Kakanj// Kakanj // Münster // Bottrop

Zitation: Sommer, Gerburgis , Hajra Dorow, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/hajra-dorow/

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Aufmüpfige Frauen in Schwerte

An einem Sonntag im Juli 1816 – die Quelle gibt kein genaues Datum an – versammelten sich in Schwerte vor dem Ostentor mehr als 100 „Weiber“, um ihre Kühe in den Kämmereiwald zu treiben, der in Schonung gelegt war. Im Juli 1816 wurde Schwerte von einem wahrlichen Frauen-Aufstand heimgesucht. In dem beschaulichen Städtchen im mittleren Ruhrtal lebten zu diesem Zeitpunkt 1.550 Menschen.1

Aktenkundig geworden sind von diesen aufmüpfigen Frauen Anna Catharina Rösener, Anna Maria Glaser und Anna Maria Sauerland.2Die Frauen starteten ihre Zusammenrottung am Sonntag, an welchem Ruhe und Stille zu herrschen hatte. Sie entheiligten den Sonntag durch „wildes Geschrei und ungehörige Äußerungen“. 3 Am nächsten Tag wiederholte sich das Schauspiel noch einmal und Bürgermeister Mitsdörffer (1849-1858) hielt fest: „Wer das wilde Geschrei gehört und das Durcheinanderlaufen der Weiber gesehen, konnte nicht anderes glauben, als sähe er eine Rotte Menschen aus dem rohesten Welttheile“.4 Bürgermeister Mitsdörffer stellte mit dieser Formulierung vom „rohesten Welttheile“ die Schwerter Frauen außerhalb mitteleuropäischer Zivilisation, schloss sie aus seiner Stadtgesellschaft aus und machte sie wahrlich zu Fremden. 5

Allmendewirtschaft

Seit Jahrhunderten hatten die in einzelnen Nachbarschaften organisierten Bürger diverse Nutzungrechte und bestimmte Hegepflichten in Bezug auf den Kämmereiwald: Er diente zur Schweinemast mit Eicheln und Bucheckern im Herbst, lieferte Holz  und Laub für den Brennstoffbedarf, Holz für den Hausbau oder die Renovierung. 6 Der Rechtsbegriff für dieses Gemeingut lautete Allmende. Diesem alten Rechtebegriff ist die Gemeinschaft freier Männer und ihre gemeinsame Verfügung über Wald und Wiesen bereits eingeschrieben. 7 Die Allmende ist als neudeutscher Begriff Common aktuell wieder in der Diskussion.8 Wegen des hohen Gemeinnutzes schützte die lokale Obrigkeit den Wald. Die Nutzung von Allmenden war seit langem genauestens geregelt. Im Rahmen nachhaltiger Waldbewirtschaftung wurden immer wieder bestimmte Abschnitte für Vieh gesperrt und aufgeforstet. Der Ordnung halber sei angemerkt, dass die Vorsitzenden der Nachbarschaften – in Schwerte nannten sie sich Schichtmeister und bildeten ein reines Männergremium, weil Frauen nicht in diese Funktion gewählt werden konnten  – einer Abtretung der Weiderechte am Wald 1814 zugestimmt hatten und seit 1816 der Staat Preußen die Forstaufsicht führte. 9 So war im gleichen Jahr der junge Eichenwald in Schwerte für das Vieh gesperrt worden.

Gegen diese Sperrung verstießen nun die mehr als 100 Schwerter Frauen, als sie sich vor dem Ostentor trafen, um ihre Kühe in den Wald zu treiben. Das Ostentor war das größte und bedeutendste Tor der Stadt, alle Bewegungen in Richtung Dortmund, Unna und den östlichen Hellwegraum mussten dieses Tor passieren. Zu vermuten ist, dass die Frauen mit ihrer Blockade auch ihren Protest gegen die Entscheidung der Schichtmeister hinsichtlich der Abtretung der Rechte auf die Waldweide kundtaten.

Das Jahr ohne Sommer

Doch handelten die Frauen aus Verzweiflung. Im Jahre 1816 herrschte – nicht nur – in Westfalen eine unglaubliche Hungersnot und Teuerungskrise. Die Chronik von Schwerte-Westhofen berichtet von einer großen Nässe, wodurch die Aussaat erstickte, die Kartoffeln verfaulten, das Heu verdarb und das Vieh krepierte. 101816 führten schwere Regen und Hagelschauer zu Überflutungen. Das nasse Klima vernichtete auch das in den Gärten angebauten Sommer- und Wintergemüse, das eine wichtige Nahrungsquelle in städtischen Gebieten darstellte. Schlacht- und Milchvieh litt unter dem Mangel an Futter und war in schlechtem Zustand. Ausreichende Vorräte konnten wegen der bereits kärglich ausgefallenen Ernten 1814/1815 nicht angelegt werden. Die besonderen Belastungen durch die Befreiungskriege von 1813 bis 1815, mit denen die französische Vorherrschaft unter Napoleon Bonaparte in Europa beendet wurde, hatten die Lage noch verschärft.11 Abziehende französische Truppen zogen seit 1813 auch an Schwerte vorbei, die Stadt musste Einquartierungen und Vorspanndienste leisten. „Die Menschen begegnen ihrem Schicksal nicht passiv, sondern interagieren mit ihrer Umwelt. Sie fällen Entscheidungen zur Linderung der Not, passen sich an die widrigen Verhältnisse an, versuchen die Ursachen zu bekämpfen und ihr individuelles Wohlbefinden zu verbessern.“ 12 So auch die Schwerter Weiber. Die Frauen trieben das Vieh in die Eichenschonung, weil das Gras überall schon abgegrast war. Mit ihrer in der Not geborenen Strategie durchkreuzten sie die auf Nachhaltigkeit angelegte forstwirtschaftliche Logik.

Turbulente Wetter

Bereits im viel zu kühlen Mai hatte es 1816 angefangen zu regnen – und es hörte einfach nicht mehr auf. Unter einer geschlossenen Wolkendecke und mit außergewöhnlich kühlen Temperaturen (nachts zum Teil nur noch 3 Grad Celsius im Mai) verging der gesamte Sommer, der bis in den September permanent Regen, Sturm und Hagel bescherte. Die katastrophale Missernte brachte eine flächendeckende Hungersnot. Die Preise für Brotgetreide stiegen ins Unermessliche, Straßen und Wege versanken im Morast, große Gebiete standen unter Wasser, die wirtschaftliche Infrastruktur brach zusammen.

Ein Vulkanausbruch

Dieses „Jahr ohne Sommer“ hatte eine präzise zu identifizierende Ursache, die ein Jahr zuvor am anderen Ende der Welt seinen Anfang genommen hatte: Am 10. April 1815 – auf dem Wiener Kongress teilte man gerade Europa unter den Großmächten neu auf und rüstete sich für eine letzte Offensive gegen den wieder an die Macht gekommenen Napoleon – brach auf der indonesische Insel Sumbawa der Vulkan Tambora aus.13 Er verursachte die schwerste vulkanische Eruption seit etwa 25.000 Jahren. Nach neueren Forschungen wurden zwischen 30 und 50 Quadratkilometer Magma herausgeschleudert.14 Zum Vergleich: Waren es im Jahre 79 u. Z. beim Ausbruch des Vesuv in Italien noch etwa drei Megatonnen Staub und Asche, unter denen die Städte Pompeji und Herculaneum begraben wurden, waren es im April 1815 150 Megatonnen, das sind 150 Milliarden Tonnen vulkanischer Auswurf. Sie lösten eine weltweite Katastrophe aus. 15 Klimatologische Auswertungen zum Vulkanausbruch zeigen, dass sich der katastrophale Sommer des Jahres 1816 „in ein ohnehin schon allgemein kühles Jahrzehnt einreihte.“ 16 Nach einer warmen Phase um 1800 sank die Temperatur deutlich und erreichte im Sommer 1816 einen Tiefpunkt, die Auswirkungen des Tamboraausbruches verschärften diesen Trend  noch. Die Wissenschaft vermutet als Ursache für die Abkühlung des Klimas einen Vulkanausbruch 1808 oder 1809, Vulkanerosole sind aus dieser Zeit in Eisbohrkernen abgelagert, sie konnten jedoch keinem konkreten Ereignis zugeordnet werden. 17 Die Dimensionen der Eruption waren ungeheuerlich: Die Schallwellen der Tambora-Explosion waren noch in rund 1.800 km Entfernung, in Benkulen an der Westküste Sumatras zu hören.18 Im Umkreis von 600 km herrschte Tage lang finstere Nacht. Eine gewaltige Staub- und Aschewolke machte sich in einer interkontinentalen Diagonale langsam auf den Weg Richtung Europa und verharrte über dem Nordatlantik. Dort setzte sie ab Frühjahr 1816 die sogenannte nordatlantische Oszillation außer Kraft, das ist das für das westeuropäische Klima maßgebliche Wechselspiel von Tiefdruckgebieten bei Island und Hochdruckzonen bei den Azoren. Während es in der Arktis taute und Eisberge bis vor die irische und schottische Küste trieben,19 veränderte sich das Klima über Europa und über Nordamerika für mehrere Monate: In den Alpen schneite es, Lawinen gingen im Hochsommer 1815 in der Nordschweiz ab, während Deutschland im Dauerregen versank und für Monate die Sonne nicht zu sehen war. Durch Kälte und hohe, zum Teil mit Hagel verbundene Niederschläge im Sommer bzw. während der Vegetationsperiode 1816 reiften viele Bestände landwirtschaftlicher Kulturen nicht aus, faulten oder wurden durch Überschwemmungen oder Hagelschlag geschädigt oder gar vernichtet. Folge waren Hungersnöte, die aber nicht allein auf die klimatischen Auswirkungen des Tamboraausbruchs zurückzuführen sind.

Die Bevölkerung in Schwerte verzehrte das für 1817 vorgesehene Saatgut und schlachtete sein Vieh. Dieses fehlte danach für die Milch- und Käseproduktion, aber auch als Zugtiere und die Äcker konnten nicht mehr gepflügt werden. Die Not  verschärfte sich immer weiter. Selbst Baumrinde und Blätter von Laubbäumen wurden ausgekocht und als Nahrung verwendet. Die allgemeine Sterblichkeit, vor allem unter Kindern, stieg deutlich an, immer größere Ansammlungen von bettelnden Menschen zogen übers Land und verursachten bei ihrer Suche nach Essbarem wachsende Unruhe bei der Landbevölkerung. In der geschwächten Bevölkerung brachen Typhus und Tuberkulose aus. Zur Behebung der größten Not gewährte Preußen zwei Millionen Taler zum Ankauf von Getreide für Westfalen und das Rheinland, geleitet von dem Gedanken, die Integration ihrer westlichen Provinzen in das Staatsgebilde zu fördern. Die Hilfslieferungen erreichten die Bedürftigen erst im Juli 1817. Weitere staatliche Regulationen lehnte Preußen jedoch aufgrund wirtschaftsliberaler Erwägungen ab. Zur Milderung der Not waren die Betroffenen vollkommen auf bürgerliche Wohlfahrtsorganisationen und die kommunale Armenfürsorge angewiesen, die jedoch hoffnungslos überfordert waren.20

Solidarität und Zusammenhalt

In Schwerte verliefen die polizeilichen Untersuchungen nach den Zusammenrottungen im Sande, weil die revoltierenden Frauen zusammenhielten, einander nicht verrieten und Unwissenheit vortäuschten. 21Selbst die Androhung einer zweijährigen Haftstrafe durch Bürgermeister Mitsdörffer konnte nichts bewirken. Der Schwerter Frauen-Aufstand lässt sich einordnen in eine Reihe von Tumulten, Protesten und Hungeraufständen, die fast überall in Europa  angesichts der Missernten und Preissteigerungen ausbrachen.22

Das Ende der Gemeinheiten

In Schwerte blieb die zentrale Frage nach dem gemeinwohlorientierten Kämmereiwald auf der politischen Tagesordnung, auch als sich die wirtschaftliche Lage entspannt hatte. Zeitgenössische Ökonomen plädierten im Sinne des Staates für eine Auflösung, da so der Wald besser bewirtschaftet und das Vieh besser versorgt werden könne. Wir würden heute Marktliberalismus dazu sagen. In Schwerte bildeten sich zwei Parteien – eine um den reichsten Schwerter Bürger Leopold Doerth – die andere um Magistrat, Bürgermeister Mitsdörffer und den Pfarrer, Arzt und Universalgelehrten Bährens (1765-1833), die sich für die Erhaltung des ungeteilten Waldes einsetzten. Bährens schätzte die Markenteilung äußerst negativ ein. So habe sie zu einer Halbierung des Viehbestandes in der damaligen Ackerstadt Schwerte geführt.23 Es begann ein langwieriger Prozess, der letztlich der Position des Magistrates mit seinem Pro für einen gemeinschaftlichen Kämmereiwaldes Recht gab. Dieser Prozess zog sich bis 1828 hin. 24Auch eine Revision bestätigte noch einmal den Erhalt des Kämmereiwaldes. Doch die preußische Regierung, die seit 1815 in ihrer Provinz Westfalen eine neue Verwaltungsstruktur eingeführt hatte, löste staatlicherseits ab 1821 grundsätzlich die Gemeinheiten auf. 25

Dr. Uta C. Schmidt / frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Kreuzung Ostenstraße/Bethunestraße, 58239 Schwerte

Zitation: Schmidt, Uta C., Aufmüpfige Frauen in Schwerte, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/schwertes-aufmuepfige-frauen/

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Safiye Ali-Krekeler

Die Medizinerin und Wissenschaftlerin Safiye Ali-Krekeler (1891 [1894]1-1952) aus Konstantinopel (heute Istanbul) war die erste Ärztin der Republik Türkei. Sie absolvierte ein Medizinstudium in Würzburg. Später betrieb sie eine Arztpraxis in Dortmund auf der Hohen Straße. Auf dem Dortmunder Hauptfriedhof wurde sie auch begraben. Ihre Lebensgeschichte steht für das frühe Frauenstudium im Osmanischen und Deutschen Reich, für die Zirkulation der Frauenbewegungen und ihrer Ideen sowie für die Bedeutung von Frauenfragen für nationalstaatliche Formierungen. Die Geschichte ihres Lebens eröffnet eine interkulturelle Verflechtungsgeschichte, die über unser Wissen zum 1961 geschlossenen Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und der Bundesrepublik weit hinausweist.

 

Transformationen des Osmanischen Reiches

Die Biografie Safiye Ali-Krekelers führt hinein in die Transformationen des Osmanischen Reiches über die Tanzimat-Reformen (zwischen 1839 und 1876) bis hin zur Zweiten Verfassungsperiode des Reiches seit 1908 mit ihren Modernisierungsansätzen. Diese schlossen auch eine neue gesellschaftliche Rolle der Frauen, Frauenrechte und Frauenbildung mit ein. Die Frauenfrage wurde gleichsam zum Signet eines an westlichen Vorstellungen orientierten neuen Staatsverständnisses. Im Bereich der Medizin, der später auch Safiye Ali-Krekelers Domäne sein wird, zeigt sich dieser Umschwung in der Frauenbildung unter anderem durch die Einführung der Hebammenkurse an der medizinischen Hochschule in Istanbul im Jahr 1843. Ab 1893 konnten Frauen als Gasthörerinnen die Medizinschule besuchen und 1899 wurden sie zum Studium der Medizin zugelassen.2  Nach Mediha Göbenli erreichte die Diskussion intellektueller osmanischer Männer um die Gleichberechtigung der Frauen zur Zeit der Zweiten Konstitutionellen Regierung ab 1908 ihren Höhepunkt.3 Zugleich begann sich in dieser Zeitspanne auch langsam eine durch Frauen aus den urbanen Eliten getragene Frauenbewegung zu artikulieren. Sie zeigte sich in der Gründung von Zeitschriften und Organisationen.4

Bei einer Rekonstruktion der Lebensgeschichte Safiye Ali-Krekelers müssen die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen, die das Osmanische Reich und das Deutsche Kaiserreich pflegten, mit in den Blick genommen werden. Die osmanische Armee war nach Plänen des deutschen Militärs umstrukturiert worden. Die im Februar 1914 in Berlin gegründete Deutsch-Türkische Vereinigung und die im Oktober 1915 in Konstantinopel gegründete Türkisch-Deutsche-Freundschaftsgesellschaft flankierten diese „Waffenbrüderschaft“ und die gegenseitigen wirtschaftlich-geopolitischen wie strategisch-kulturellen Interessen der Reiche durch bildungspolitische und kulturelle Maßnahmen.5

 

Gesellschaftliche Herkunft

Safiye Ali wurde am zweiten Februar 1894 als Hatice Safiye Ali in Konstantinopel geboren.6 Die Wurzeln ihrer Familie reichen von Tripolitanien bis nach Damaskus. Ihr Vater war Ali Kırat Paşa, einer der Berater von Sultan Abdülaziz und Abdülhamit II, ihre Mutter war Emine Hasene Hanım, die Tochter von Şeyhülharem Hacı Emin Paşa. Sowohl ihr Vater als auch ihr Großvater mütterlicherseits trugen den Titel Paşa, der im Osmanischen Reich hohen Militärs und Beamten vorbehalten blieb.7 Safiye Ali wuchs somit als jüngste von vier Töchtern in einer wohlhabenden Familie der gesellschaftlichen Führungsschicht auf.8

Heute würden wir Safiye Ali wahrscheinlich eine Hochbegabung zuschreiben. Sie war eine wissbegierige und fleißige Schülerin. Bereits in jungen Jahren interessierte sie sich für Literatur, Musik und Fremdsprachen. Neben der schulischen Bildung erhielt sie auch Privatunterricht.9 Wie Mediha Göbenli herausgearbeitet hat, erfuhren Töchter der städtischen und politischen Führungsschichten des späten Osmanischen Reiches nach europäischem Vorbild intellektuelle Erziehung in Sprachen, Literatur und Musik durch europäische Gouvernanten und Hauslehrer. So entwickelte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine weibliche Intellektuellenschicht, die aufgrund ihrer Fremdsprachenkenntnisse an europäischen Diskursen (nicht nur) über die gesellschaftliche Stellung der Frauen teilnahm.10

Im Alter von achtzehn Jahren wechselte Safiye Ali auf das als protestantisches Missionsprojekt gegründete Amerikanische College für Mädchen in Arnavutköy auf der europäischen Seite Istanbuls. 11 Das Amerikanische College für Mädchen war zu dieser Zeit die einzige Einrichtung für höhere Mädchenbildung im Nahen Osten.12 In einem Werbeprospekt von 1912 heißt es: „Das Ziel des Colleges ist es, eine breite und hohe intellektuelle Kultur und eine hohe charakterliche Entwicklung zu bieten. Es ist ein christliches Kolleg, mit dem Ziel, die Lehren Christi zur beherrschenden Kraft im Leben der Studentinnen werden zu lassen. Doch werden keiner Schülerin aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen die Aufnahme in das College, Abschlüsse oder Ehrungen verweigert“13 Safiye Ali schloss das College im Januar 1916 ab.14

Staatliche Stipendiatin

Im Mai desselben Jahres konnte sie mit finanzieller Unterstützung des Osmanischen Bildungsministeriums (Maarif Nezareti)15 ein Medizinstudium an der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg aufnehmen. Es schickte ihr über die Mendelson Bank in Berlin monatlich 350 bis 400 Reichsmark und übernahm die Studiengebühren. 16 Prinzregent Luitpold von Bayern hatte 1903 an seinen drei Universitäten Frauen gleichberechtigt zum Studium zugelassen, so dass dieses Medizinstudium in Bayern möglich war.17 Zuerst kamen 29 männliche Studenten aus dem Osmanischen ins Deutsche Reich sowie Emine Müzeyyen und Zehra Hakkı, die die zuerst in Frankreich Modedesign („Tailoring“) studierten und dann in Berlin ihre Ausbildung fortführten. Safiye Ali gehörte zu einer Gruppe von 22 weiteren Studentinnen, die zum Studium nach Bonn, Dresden, Erfurt, Freiburg, Hamburg, Heidelberg, Lübeck, München, Würzburg und vor allem nach Berlin gingen. Sie studierten Sprachen, Psychologie, Philosophie, Pädagogik, Malerei und Musik, Zahnmedizin, „Kindergarten Teaching“ und, wie Safiye Ali, Medizin.18  Nicht alle waren mit einem Stipendium des Bildungsministeriums, der Türkisch-Deutschen Freundschaftsgesellschaft oder der Deutsch-Türkischen Gesellschaft ausgestattet, sondern sie wurden auch von ihren Familien finanziert, ein Zeichen, dass diese Pionierinnen des Frauenstudiums aus privilegierten Gesellschaftsschichten stammten.

Das Osmanische Bildungsministerium verfolgte mit der Förderung des Medizinstudiums von Frauen in Europa konkret eine Professionalisierung der Gesundheitsfürsorge und der Gesundheitsversorgung von Frauen.19 Es sah das Frauenstudium als Ausdruck von gesellschaftlichem Fortschritt im Sinne einer Westernization.20 Seit der Jungtürkischen Bewegung kam der Wissenschaftsorientierung als Gegenposition zum Religionsbezug eine große Bedeutung zu. In der Vorstellung ihrer intellektuellen Führer – so wie Mustafa Kemals, des späteren Gründers der Türkischen Republik – beschleunigte Wissenschaft den Fortschritt, während Religion ihn hemmte.21Die jungtürkischen Intellektuellen befürworteten deshalb tendenziell eine gesellschaftliche Transformation nach westlichem Muster, in der der größeren gesellschaftlichen Sichtbarkeit von Frauen eine geradezu emblematische Rolle als Ausweis von Modernität zukam: „Gleichberechtigung der Frau in einem öffentlichen Bildungswesen war für sie die Grundvoraussetzung für den Fortschritt in der Gesellschaft. Sie argumentierten, dass die Frauen als Mütter und Ehefrauen verantwortlich für die Schaffung einer neuen, aufgeklärten Generation wären“.22 Damit machten sie sich Argumente zu eigen, mit denen auch die bürgerlichen Frauenbewegungen im Deutschen Reich größere gesellschaftliche Teilhabe forderten. Während der Zweiten Konstitutionellen Periode ergaben sich für Mädchen und Frauen neue Bildungsmöglichkeiten, existierende Schulen wurden neu aufgestellt und Einrichtungen der höheren Mädchenbildung geschaffen. In seinem 1910 erschienenen Buch Islamiyette Feminizm setzte sich der Schriftsteller Halil Hamit sogar für das Frauenwahlrecht ein.23

Die Auswirkungen dieses Umdenkens zeigten sich auch im Bildungswesen. 1914 wurde in Istanbul das erste Lyzeum für Mädchen eröffnet, welches Türkisch, eine Fremdsprache, Religionsunterricht, Geschichte, Geographie, Arithmetik, Geometrie, Naturwissenschaften, Chemie, Pädagogik, Hauswirtschaft, Gesang und Turnen unterrichtete.  Die Universität in Istanbul bot Kurse für Frauen in Geschichte, Naturwissenschaften, Kindererziehung, Hygiene und Kursen zu den Rechten der Frau an.24 Nun war es auch osmanischen und muslimischen Mädchen erlaubt, nichtmuslimische Bildungseinrichtungen in ausländischer Trägerschaft zu besuchen.25

Berufswunsch: Ärztin

Als Ärztin zu wirken, dieser Wunsch wurde – so Safiye Ali später – durch die Rektorin ihres amerikanischen Colleges, Mary Mills Patrick (1850-1940), bestärkt. Modern gesprochen war diese Lehrerin ihr Role Model.26 Mary Mills Patrick eröffnete während ihrer Amtszeit als Rektorin die medizinische Fakultät am College (Department of Medicine, Constantinople Women’s College) und betrachtete dies als einen der wichtigsten Meilensteine in ihrem Leben.27 Safiye Ali schrieb später, dass die prägenden Ideen ihrer Schulzeit sie in dem Wunsch bestärkten, gesellschaftlich schöpferisch und gestaltend wirken zu wollen.28 Um Medizin zu studieren, musste Safiye Ali jedoch noch ins Ausland.

Der Berufswunsch mag zusätzlich durch Safiye Alis Erfahrungen gestützt worden sein. Die Spätzeit des Osmanischen Reiches wurde von Gewalt und Kriegen bestimmt: während der Jungtürkischen Revolution 1908 zur Wiedereinsetzung der Verfassung von 1876, während der Balkankriege 1912/13, in denen das Osmanische Reich seine europäischen Provinzen verlor, während des Ersten Weltkrieges, in dem das Osmanische Reich an der Seite von Deutschem Reich und Österreich-Ungarn kämpfte. Bürgerliche Frauen in den kriegsführenden Ländern engagierten sich in der Betreuung von Verwundeten.29 Safiye Ali wurde später die Präsidentin des Kinderschutzvereins (Çocuk Esirgeme Derneği) und spendete als Teil der internationalen Frauenbewegungen für das Neutral House des Völkerbundes in Istanbul für armenische Flüchtlinge.30

Studienjahre in Würzburg

Zum Sommersemester 1916 nahm Safiye Ali ihr Medizinstudium an der Julius-Maximilians-Universität (JMU) auf. Im Würzburger Universitätsarchiv befinden sich noch Studiendokumente. So war sie auf der Würzburger Pickelstraße 2p gemeldet, ganz nahe bei der Universität gelegen. Auch die Inskriptionslisten der Jahre 1916 bis 1921 bezeugen ihr Studium in Würzburg. Safiye Ali belegte vom Sommersemester 1916 bis zum Wintersemester 1920/21 68 Vorlesungen, Seminare und Praktika.31 Dieses Studienprogramm war für die damalige Zeit außergewöhnlich. Zu ihren Professoren gehörte eine Reihe bekannter Persönlichkeiten, so der Nobelpreisträger Wilhelm Wien, bei dem Safiye Ali Kurse in Physik belegte. Bei Karl Marbe, einem der bedeutendsten Vertreter der Würzburger Schule der Denkpsychologie, belegte sie Psychologie. In Würzburg lehrten und forschten zudem der Anatom Wilhelm Lubosch, der Professor für Kinderheilkunde Hans Rietschel und Karl Wesseley in der Augenheilkunde.32

Die Semesterferien von Februar bis Mai 1918 nutzte Safiye Ali, um sich bei Prof. Müller in der Medizinischen Poliklinik weiterzubilden.33 An den Nachmittagen nahm sie Privatunterricht in Philosophie und Geschichte. Außerdem bereitete sie sich auf das Physicum vor. Sie hatte sich als Auslandsstudentin das Ziel gesetzt, diese Prüfung mit Jahrgangsbestleistung abzuschließen. Das bayerische Bildungsministerium wollte ihr die Teilnahme an der Prüfung zunächst verweigern, da sie ihre amerikanische Hochschulzugangsberechtigung aus Konstantinopel nicht anerkannte. Dank der Intervention ihrer Professoren und der Universitätsleitung konnte sie am 22. Juli 1918 das Physicum ablegen und schloss die Prüfung als Erstplatzierte mit überragendem Erfolg ab.34 Ab dem 1. August 1918 arbeitete die am Pathologischen Institut der Universität.35

Unruhige Zeiten

Safiye Ali absolvierte ihr Studium in unruhigen politischen Zeiten: Während des Ersten Weltkriegs konnte sie sich nicht sicher sein, ob weltpolitische Geschehnisse und Verlagerungen in der Bündnispolitik von Osmanischem und Deutschem Reich sie nicht doch zwangen, die Universität in Würzburg vor Abschluss des Studiums zu verlassen. Sie erlebte in Würzburg das Ende des Deutschen Reiches und die Ausrufung der Weimarer Republik im November 1918. Im Osmanischen Reich entwickelte sich nach Beendigung des 1. Weltkriegs zwischen 1919 und 1922 ein neuer, der Griechisch-Türkische Krieg.36 Und: Die angehende Medizinerin befand sich gen Ende ihres Studiums mitten in einer verheerenden Pandemie, der Spanischen Grippe, die zwischen 1918 und 1920 in drei Wellen weltweit etwa 500 Millionen Menschen infizierte.37

In dieser Zeit lernte sie den aus Ottenhausen im Paderborner Land stammenden kriegsversehrten katholischen Studenten Ferdinand Krekeler (1895-1970) kennen. Dieser hatte nach dem Abitur 1916 am Theodorianium in Paderborn ein Studium in Würzburg begonnen, sich dann als Kriegsfreiwilliger gemeldet und eine schwere Verwundung erlitten, bei der er ein Bein verlor. Nach der Genesung nahm er das Studium in Würzburg wieder auf und promovierte 1920 zum Doktor der Medizin.  Er strebte den Facharzt für Augenheilkunde an. In den folgenden Jahren arbeitete er als Medizinal-Assistent und Oberarzt an der Würzburger Universitätsklinik.38

Frau Doktor

Safiye Ali legte im Mai 1921 ihre Arbeit zur Erlangung der Doktorwürde mit dem Titel Über Pachymeningitis haemorrhagica interna im Säuglingsalter vor. Im selben Jahr erhielt sie die Approbation, die staatliche Zulassung als Voraussetzung für die ärztliche Niederlassung. Die Approbation war nicht nur an ein erfolgreiches, abgeschlossenes Medizinstudium geknüpft, sondern auch an ausreichende deutsche Sprachkenntnisse. Sie kehrte mit diesem Zertifikat nach Istanbul zurück. Nach einem Aufenthalt von sechs Wochen reiste sie wieder nach Deutschland zurück. Sie strebte die Spezialisierung als Fachärztin für Gynäkologie und Pädiatrie an.39

Ärztin in Istanbul

Safiye Ali, die als Tochter eines osmanischen Paşas nach Europa gegangen war, erhielt als erste Frau in der am 29. Oktober 1923 ausgerufenen Türkischen Republik eine Lizenz als Ärztin.40 Sie eröffnete 1923 eine Praxis in Konstantinopel. Ihr Studienkollege Ferdinand Krekeler folgte ihr.41 Standesamtlich heiratete das Paar am 28. November 1924 in der deutschen Botschaft in Istanbul.42 Sie eröffneten eine Praxis im Stadtviertel Cağaloğlu in der Nuruosmaniye-Straße.43 Sie betrieb unter dem Namen Safiye Ali eine Praxis für Gynäkologie und Kinderheilkunde und ihr Mann unter dem Namen Ferdi Ali eine Praxis für Augenheilkunde.44 Durch Zeitungsanzeigen machten sie ihre Praxen bekannt. Sowohl in der Milliyet als auch in der Cumhuriyet aus dem Jahr 1927 sind folgende Informationen herauszulesen: Frau Dr. Safiye nimmt täglich außer freitags und sonntags und nachmittags in ihrer Praxis in der Nuruosmaniye-Straße 52 in Istanbul Patientinnen und Kinder an. Die Telefonnummer lautet: Istanbul 2866.45

Hohes Ansehen genoss Safiye Ali bei Frauen, die aus ärmeren Verhältnissen stammten. Diese vertrauten dem Wissen einer studieren Person, egal ob Mann oder Frau, und suchten daher ihre Hilfe. Doch einige ihrer Patienten und Patientinnen glaubten, es wäre in Ordnung, einer Frau trotz gleicher Qualifikation und Erfahrung, allein aufgrund ihres Geschlechts, weniger zu bezahlen als männlichen Kollegen.46 Safiye Ali verlangte von allen, die ausreichend Geld besaßen, geschlechtsunabhängig ein angemessenes Honorar und vertrat eine aktuelle Forderung: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit.

Safiye Ali in der Sozial- und Gesundheitspolitik der Türkischen Republik

Ihre Praxis lief erfolgreich. Zugleich betreute sie als Medizinerin die deutsche und die amerikanische Botschaft. Sie war außerdem an vielen öffentlichen sozial- und gesundheitspolitischen Initiativen rund um die Aufklärung von Müttern und Kinderpflege beteiligt. Safiye Ali leitete die vom französischen Roten Kreuz gegründete Organisation Süt Damlası (dt.: Milchtropfen), die das Stillen propagierte und Milchküchen einrichtete, um die Kindersterblichkeit zu senken. Im Sinne eines internationalen Wissenstransfers stellte sie deutsche, französische und englische Fachliteratur zusammen und erweiterte diese um eigene Erfahrungen im Bereich der Säuglingsfürsorge aus ihrer Arbeit für Süt Damlası.47 Ihr Engagement hat Süt Damalsı in der Öffentlichkeit äußerst beliebt gemacht. 1927 gründete sie eine von der Türkischen Frauenförderation (Türk Kadin Birliği) betriebene Kinderartzpraxis. Neben zahlreichen Fachartikeln zur Kinderheilkunde publizierte sie zwei medizinische Fachbücher.48 Sie lehrte zudem Gynäkologie und Geburtshilfe am amerikanischen College für Mädchen.49

Safiye Ali nahm an drei großen internationalen Ärztinnenkongressen in London, Wien-Budapest und Bologna teil. Sie war somit die erste weibliche Delegierte, die die Türkei auf einem internationalen Kongress vertrat. Der erste Kongress in London fand vom 14.-24. Juli 1924 statt und wurde von der Internationalen Vereinigung der Ärztinnen (The Medical Women’s International Association (MWIA)) organisiert.50 Die Internationale Vereinigung für Kinderhilfe (The International Save the Children Union) lud die Hilal-i Ahmer Gesellschaft der Türkischen Republik (Kızılay) zum vierten Kongress ein, der vom 6. bis 8. Oktober 1924 in Wien und vom 8. bis 11. Oktober 1924 in Budapest stattfand. Als Delegierte nahmen Dr. Safiye Ali und Dr. Besim Ömer Paşa teil.51  Vier Jahre später fuhr Safiye Ali zum internationalen Kongress der Ärztinnen nach Bologna. Dort wurde über die Bekämpfung von Kinderkrankheiten und Kindersterblichkeit beraten, über Hilfen für schwangere Frauen und wie Maßnahmen zur Erziehung gesunder Kinder aussehen könnten.52 Die Gesundheit von Kindern hing eng mit der Aufklärung von Müttern zusammen. Safiye Ali-Krekeler wollte hier vor allem arme Familien erreichen. Die Debatten um einen Wohlfahrtsstaat, der Gesundheits- und Sozialeinrichtungen für Mütter und Kinder einrichtet, hatten einen starken Eindruck bei ihr hinterlassen und regten sie zu ähnlichen Projekten in der jungen Türkischen Republik an.53

Die frühe Frauenbewegung in der Türkei

Die Verhältnisse, die die Studentinnen in ihrem Auslandsstudium in anderen Ländern beobachten konnten, führten auch dazu, dass sie nach ihrer Rückkehr politisch und zivilgesellschaftlich aktiv wurden.54 Safiye Ali gehörte zur Frauenbewegung im Übergang vom spätosmanischen Reich hin zur frühen republikanischen Ära. Im Jahr der Gründung der Türkischen Republik 1923 gründete Nezihe Muhiddin (1889-1958) die Volkspartei der Frauen. Dieser wurde jedoch die Zulassung verweigert, „da sie dem Charakter des Einparteienregimes zuwiderlief und unterdessen die Gründung der ‚Republikanischen Volkspartei‘ (Cumhuriyet Halk Partisi) vorbereitet wurde. Man empfahl den Frauen einen Verein zu gründen“, so die Literaturwissenschaftlerin Mediha Göbenli.55 Man könnte auch sagen, dass den  Parteigründern der Republikanischen Volkspartei bei aller Unterstützung weiblicher Emanzipationsbewegungen eine Frauenpartei doch wohl zu weit gegangen wäre bei der Institutionalisierung ihrer Macht. Daraufhin initiierte Nezihe Muhiddin den Türk Kadınlar Birliği, die Türkische Frauenunion, um sich für das Frauenwahlrecht einzusetzen.56 Die Türkische Frauenunion war eingebunden in das Modernisierungskonzept der jungen Türkischen Republik und wurde, nachdem 1935 das Frauenwahlrecht eingeführt worden war, auf Anordnung Atatürks aufgelöst, da keine Notwendigkeit für eine Frauenorganisation mehr bestünde – schließlich sei die Gleichberechtigung nun in der Republik erreicht.57 Die bis in die Spätzeit des Osmanischen Reiches zurückreichende Frauenbewegung wurde auf diese Weise durch den Staatsfeminismus der Republik „absorbiert“.58

Sowohl die Gründerin des Türkischen Frauenbundes, Nezihe Muhiddin, als auch Safiye Ali gerieten unter starken politischen – patriarchalen – Druck. Sie gab die Leitung der Organisation Süt Damlası zurück. Frauen organisierten daraufhin öffentliche Proteste vor dem Haus ihres Nachfolgers. Ihre politischen Gegner:innen beschuldigten sie, diese Proteste selber organisiert zu haben.59 Safiye Ali trat von all ihren Positionen im öffentlichen Gesundheitswesen zurück. Im Januar 1928 war sie nur noch als Ärztin tätig.60Zu diesem Zeitpunkt war sie die einzige Frau in der Istanbuler Ärzteschaft.61 Noch war die Praxis, dass eine Frau als Mediziner tätig sein kann, gesellschaftlich so ungewohnt, dass sie als „Safiye Ali Bey“ in der Malûl Gaziler Büyük Ticaret Salnamesi62 firmierte – der Zusatz „Bey“ wurde zwar auch als Ehrentitel für Männer dem Namen hintangestellt, er wurde und wird aber auch für die männliche Anrede verwendet. Die weibliche Entsprechung hätte „hanım“ lauten müssen.63

Safiye Ali stand für das staatlicherseits propagierten Idealbild einer republikanischen, gebildeten Frau mit großer öffentlicher Reputation.64  Dies machte sie zur Zielscheibe konservativer wie religiöser Gegner und Gegnerinnen des eingeleiteten Modernisierungskurses, der der Gesellschaft viel abverlangte: vom Verbot des Fez als traditioneller Kopfbedeckung über die Einführung des Lateinischen Alphabets (anstatt der arabisch-persischen Schrift) bis zur Namensreform nach westlichem Vorbild. Die meisten von der Regierung aufgelegten Reformen wurden vom Großteil der Bevölkerung als Zumutung, Zwang und als Zerstörung religiöser Traditionen wahrgenommen.65 Westliche Frauen wie Safiye Ali galten dem Patriarchat geradezu als Verkörperung dieser Zwangsmaßnahmen. Safiye Ali sah sich mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert. Die Milliyet titelte: „Werden wir Zeugen eines Kampfes zwischen Männern und Frauen?“66Der Druck auf Safiye Ali und ihre Mitstreiterinnen lässt sich im Umkehrschluss auch als ein Zeichen für ihren Erfolg interpretieren.

Die Jahre in Dortmund

1929 verließen Safiye Ali-Krekeler und Ferdinand Krekeler Istanbul und zogen nach Dortmund. Im Einwohnerbuch 1929 ist zunächst nur der Augenarzt Ferdinand Krekeler mit seiner Praxis im Rosental 11 verzeichnet. Seine Sprechstunden waren vormittags von 10-12 Uhr und nachmittags von 2-6 Uhr. Ab 1930 steht dann im Adressbuch: auch „Safiyeh (!) Krekeler, Frau, Dr. med., Aerztin“. Die Krekelers führen beide ihre Praxen auf der Hohen Straße 15 mit dem Fernsprechanschluß 24510. Sie wohnen dort auch. Ihre Sprechzeiten sind: 11-12 und 2-5 Uhr.67 Zunächst fällt als Befund auf, dass Safiye Ali-Krekeler im Adressbuch 1936, also zur Zeit des Nationalsozialismus, ihren Vornamen nicht mehr nennt. Sie ist als „Krekeler, Ali, Dr. med.“ verzeichnet, es gibt mehrere „Krekeler“ als Nachname und „Ali“ könnte auch einfach ein gewohnheitsmäßiger Rufname sein.68 1940 und 1941 hatte Ali Krekeler laut Adressbuch ihre Praxis auf der Straße der SA, in die die Hohe Straße mittlerweile umbenannt worden war.69  Im Adressbuch von 1950 schließlich finden wir wieder den richtigen Vornamen: Safiye Krekeler. Ihre Praxis befindet sich am Hiltropwall 2, Fernsprechanschluß 23334. Das Ehepaar wohnt Plauener Str. 43. Im Namensverzeichnis ist sie als Safiye Krekeler gelistet.70  Sollte sie aus Angst vor rassistischen Übergriffen im Nationalsozialismus ihren vollständigen Namen lieber nicht in das offizielle Adressbuch hat aufnehmen lassen? Über die Positionierung der Krekelers im Nationalsozialismus ist wenig bekannt. Im Bundesarchiv liegen für Safiye Ali-Krekeler und Ferdinand Krekeler Karteikarten aus dem Reichsarztregister vor. Das Reichsarztregister wurde von der 1933 gegründeten Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD) geführt und erfasste alle Ärzt:innen mit entsprechender Zulassung im Deutschen Reich. Daher war die Registrierung auch für die Krekelers unabdingbar. Eine frühe Mitgliedschaft in der NSDAP lässt sich für Ferdinand Krekeler nachweisen. Im Bundesarchiv liegt seine Mitgliedskarte der NSDAP mit der Mitgliedsnummer 2797378 vor. Sein Eintritt in die Partei datiert auf den 1. Mai 1933. 71

Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs blieb das Ehepaar in Dortmund und kümmerte sich weiterhin um die ärztliche Versorgung, obwohl sie fünfmal durch Bombenangriffe Wohnung und Praxis verloren. Graf Wolff-Metternich zur Gracht in Vinsebeck bei Steinheim im Kreis Höxter, der Herkunftsregion Ferdinand Krekeler, bot ihnen übergangsweise eine Notbehausung an. Das Vinsebecker Schloss diente ebenfalls der britischen Armee als Hauptquartier.72 Als das Leben in Dortmund wieder möglich war, kehrten sie zurück. Nach einem Aufenthalt in der Türkei ließen sich die Krekelers endgültig 1948 in Dortmund nieder und eröffneten ihre Praxen.73 Am 9. Juli 1952 starb Safiye Ali an Krebs. Sie fand ihre letzte Ruhestätte auf dem Dortmunder Hauptfriedhof.74

Tod und Erinnerung

Heute erinnert eine Klinik (Sağlık Ocağı) in der Türkei, die Dr. Safiye Ali Sağlik Ocağı (in Çekmeköy/Istanbul) heißt, an die Medizinerin.75 Die Stadt Dortmund plant einen Dr. Safiye Ali Krekeler-Preis für Kindermedizin und -gesundheit, der alle zwei Jahre für herausragende Leistungen der Kindermedizin und Kinderchirurgie sowie für die Förderung der Kindergesundheit verliehen werden wird. Mit der Auszeichnung ist ein Preisgeld von 20.000 Euro und eine Festveranstaltung verbunden. Zudem erhält ihre Grabstelle auf dem Dortmunder Hauptfriedhof einen Gedenkstein. Seit 2022 trägt eine Straße in der Dortmunder Nordstadt den Namen Dr.-Safiye-Ali-Str. Leider wird häufig, auch beim Bedürfnis, die Person Safiye Ali zu ehren, ein Foto von Safiye Hüseyin Elbi (eine der ersten Krankenpflegerinnen der Türkei) verwendet. Dieses Foto ist unter anderem auf der Wikipedia-Seite über Safiye Ali zu finden oder auf dem Portal der Stadt Dortmund. Dieses Foto diente auch als Vorlage für die Doodle-Illustration zum 127. Geburtstag von Safiye Ali.76 

Okzident, Orient

Deutsche wie türkische Forschung zu Safiye Ali-Krekeler durchzieht die latente Tendenz, Safiye wie Ferdinand der jeweiligen Kultur einzuverleiben: Ferdinand Krekeler praktizierte in Istanbul unter dem Namen Ferdi Ali, was noch lange nicht bedeutete, dass er zum Islam konvertiert sein musste. Nuran Yıldırım deutet diesen Namen eher als ein strategisches Vorgehen seitens Krekeler, um sich in seinem neuen Umfeld zu integrieren.77 Es lässt sich auch einfach als kluge Marktstrategie deuten, diesen griffigen Namen zu führen, zumal in einer Zeit, als in der jungen türkischen Republik das Namensrecht insgesamt in Bewegung geraten war. Doch kann Ferdinand Krekeler nur über die Frage nach Konversion in osmanisch-türkischen Deutungshorizonten eine Position zugewiesen werden. In der deutschen Rezeption wiederum ist die Eheschließung der Muslima 78 Safiye Ali mit einem Katholiken von Interesse. Doch heirateten beide zur Zeit der Weimarer Republik, als die Zivilehe eingeführt worden war. Eine kirchliche Trauung war nun nicht mehr notwendig. Stephan Lücking schreibt: „Die kirchliche Trauung fand nach Genehmigung des Vatikans in Rom am 25. Oktober 1928 im Stift Haug in Würzburg statt. Ein Novum jener Zeit. Die Ehe blieb kinderlos“.79 Damit wird ein riesiger Bogen aufgespannt bis hin zum Papst im Vatikan, von dessen Autorität der Segen dieser religionsverschiedenen Paarbeziehung abzuhängen scheint. Stephan Lücking bezieht sich bei seiner Formulierung wahrscheinlich auf ein Gespräch mit der Nichte von Safiye Ali-Krekeler aus Steinheim-Ottenhausen.80 Safiye Ali kann hier nur im Sinn- und Denkhorizont eines christlichen Abendlandes mit Vatikan und Papst positioniert werden.

Nachforschungen im Würzburger Bistumsarchiv zu dieser kirchlichen Trauung blieben leider ergebnislos, da die Kirchenbücher der Pfarrei Stift Haug am 16. März 1945 beim Angriff auf Würzburg verbrannten.81 Auch das Archiv der Pfarrei Stift Haug wurde 1945 größtenteils vernichtet. Ähnlich verhält es sich mit Überlieferungen der Zentralverwaltung des Bistums für den entsprechenden Zeitraum. Die Dispenserteilung – also die Erteilung einer Ausnahmegenehmigung – bei Eheschließungen religionsverschiedener Personen war laut kanonischem Recht von 1917 nach Beantragung durch einen Ortsbischof oder andere (lokale) Amtsträger möglich, es musste also nicht ‚der Vatikan‘ als Gottes Staat auf Erden bemüht werden, um Dispens zu erteilen. Die mit der Ausnahmeregelung geschlossene Ehe war im katholischen Sinne zwar nicht sakramental, so doch unauflösbar. Insgesamt suchte das kanonische Recht mit dieser Regelung die „Gefahr für den Glauben des kath. Gatten u. seiner Kinder“ auszuschließen.82

Ein Nachruf als beziehungsgeschichtliche Quelle

In einem Nachruf von „Dr. Krümmer“ in der Rheinischen Post aus dem Jahre 1952 wird Safiye Ali wegen ihrer Tätigkeit als Ärztin im Zweiten Weltkrieg zur Zeit der Luftangriffe auf Dortmund 1944/45 als „türkische Bunkerärztin“ heroisiert.83 Wenn man weiß, dass Bunkergeschichten in der deutschen Nachkriegsgeschichte dazu dienten, sich als Opfer alliierter Angriffe zu deuten und den Nationalsozialismus als Ursache für den Bombenkrieg zu verdrängen,84 dann heilt die Lichtgestalt der türkischen Bunkerärztin im übertragenen Sinne auch nach ihrem Tode noch die bundesdeutsche Leidensgemeinschaft und die Ärztin kann so als Teil deutscher Identität vereinnahmt werden.

Dieser Nachruf auf Safiye Ali aus der Rheinischen Post ist eine gewichtige Quelle, das zu studieren, was Edward W. Said als „Orientalismus“ benannt hat.85 Sie zeigt zudem, wie ‚Orient‘ als historisches Konstrukt und machtvolle Imagination im Alltag eines bundesdeutschen Massenmediums funktionierte: So wird Safiye Ali als „eine echte muselmanische Türkin“ gezeichnet, „die dem Glauben ihres Volkes treu geblieben und doch in Wissenschaft und Arbeit, Nächstenliebe und Pflichtauffassung zu einem Vorbild abendländischen Wesens geworden ist“.86 Dr. Krümmer beschreibt die Atmosphäre, in der Safiye als Tochter eines Paschas aufwuchs, als eine, „in der alttürkische Haremstraditionen sich mit europäischen Kultureinflüssen maßen“. Hier müssen sich Kulturen messen. Laut Nachruf wuchs in dem jungen Mädchen der Wunsch, „die Fesseln der islamischen Daseinsform endgültig abzustreifen“ und an einer deutschen Universität zu studieren. „Die Luft, die sie hier atmete und der Geist, den sie hier verspürte, zogen sie immer mehr in den Bann“. Abgesehen davon, dass Safiye Ali laut Überschrift des Artikels zwar als große Türkin starb, doch nur an der Seite ihres Mannes Wirksamkeit entfalten konnte, musste sie doch etwas Besonderes sein, als „Ärztin und Frau, als Orientalin und Vertreterin westlicher Sozialauffassungen“.

Für Edward W. Said ist Orientalismus eine Strategie, die dem Westen erlaubt, „in allen möglichen Beziehungen zum Orient stets die Oberhand zu behalten“,87 wobei er Orient nicht als naturräumliche oder geografische Kategorie, sondern als eine soziale und historische Konstruktion sowie als „Symbol der europäisch-atlantischen Macht“88 fasst – mithin als „Menschenwerk“.89 Orientalismus steht für ihn als „Zusammenhang von Wissen und Macht, der ‚den Orientalen‘ erst gebiert und gleichzeitig in gewissem Sinne als Mensch auslöscht“.90 Diese Auslöschung  findet sich im Nachruf des Dr. Krümmer mit seinen Bildern von der „Frau“ und der „Orientalin“, gefesselt  in „alttürkischen Haremstraditionen“ und der „islamischen Daseinsform“.

Bei allem Bemühen, die Ärztin mit diesem Nachruf zu ehren, ist die Machtposition des Schreibenden aus jeder Letter deutlich herauszulesen. Auf allen Ebenen behält er die Deutungshoheit und verhandelt über die Imagination ‚der Orientalin‘ eigentlich die eigene zeitspezifische deutsche Nachkriegsgesellschaft: So betont er, dass sie „dem Glauben ihres Volkes treu geblieben ist“. Hier äußerst sich eine Stimme, die sich dieser Haltung noch einmal vergewissert, auch wenn sie nun – 1952 – durch den Nationalsozialismus allerorten diskreditiert zu sein scheint. Nicht ganz schlüssig wird jedoch auch herausgehoben, dass Safiye Ali-Krekeler zugleich die „Fesseln der islamischen Daseinsform“ abstreifen konnte, nun unter Einfluss europäischer Kulturtraditionen aufopferungsbereit im Bombenhagel ihre Pflicht tat und – dies ist besonders wichtig – sich nicht einfach in ihre eigentliche Heimat, die Türkei, aus dem Staub machte. Es sind militärische Tugenden wie Arbeit, Treue, Aufopferungswillen, Pflicht und Standhaftigkeit, die hier über das Bild der ‚Orientalin‘ verhandelt werden.

Es gibt in diesem Nachruf eine Passage, die angesichts der „ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus der Gegenwart“ in der Mobilisierung von Frauenrechten durch nationalistische und rechtspopulistische Parteien aufhorchen lässt:91  Schon 1952 imaginiert Dr. Krümmer als Schreiber des Nachrufs auf Safiye Ali-Krekeler Europa kulturell höherstehend gegenüber dem rückständigen Orient, weil die Befreiung der Frau schließlich in Europa seit dem ersten großen Krieg (gemeint ist der 1. Weltkrieg, B.K.) vorangeschritten sei, einer Zeit, als die „Befreiung der türkischen Frau noch nicht mehr war, als der Wunschtraum einiger westlich beeinflussten Fortschrittler“.92 In diesem Nachruf wird geradezu mustergültig vorgeführt, wie die ‚Orientalin‘ hergestellt, als Mensch mit einer eigenen Geschichte ausgelöscht und ein hierarisches Verhältnis zwischen Okzident und Orient hergestellt wird.

Forschungsperspektiven

Die Recherchen, die der hier erarbeiteten Biografie von Safiye Ali-Krekeler zugrunde liegen, sind noch nicht abgeschlossen. Ihr Leben, medizinisches und gesundheitspolitisches Wirken eröffnen eine Perspektive, „vor der eine Erinnerungskultur der Einwanderungsgesellschaft neu und ergänzend kontextualisiert und thematisiert werden kann“ – wie es sich Nesrin Tanç wünscht.93 Vor allem die Verflechtungen bürgerlicher Frauenbewegungen und gesundheitspolitischer Fachkollegien im transkulturellen Austausch wären ein spannendes Thema. Hatte Safiye Ali-Krekeler in Dortmund Kontakt mit lokalen Frauenbewegungen? Finden sich die Krekelers im Vereinswesen der Stadt? Lassen sich Spuren finden? Elife Biçer-Deveci hat mit ihren Forschungen zu den Verflechtungen internationaler Frauenorganisationen, in denen sie auch Safiye Ali-Krekeler als Vertreterin der jungen Türkischen Republik berücksichtigt, ein spannendes Feld für weitere Forschungen eröffnet.94 Für eine transkulturelle Medizingeschichte wäre interessant, ob es Überlieferungen zum Aufenthalt Safiye Ali-Krekelers in Düsseldorf gibt, wo sie als junge Medizinerin zum Austausch weilte.95 Dort wirkte Arthur Schloßmann (1867-1832) als „einer der bedeutendsten dt. Kinderärzte seiner Zeit“.96 Er gilt als Begründer der sozialen Pädiatrie und setzte sich für die Einrichtungen von Mütterberatungsstellen und Fürsorgeeinrichtungen sowie die Ausbildung von Fürsorgerinnen, Hebammen und Kinderkrankenschwestern ein – ein Programm, das auch Safiye Ali-Krekeler für die junge türkische Republik in Angriff nahm.

Büşra Kahraman

Zitation: Kahraman, Büşra, Safiye Ali-Krekeler - die erste Ärztin der Türkei in Dortmund, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/safiye-ali-krekeler/

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Soula Palatianou

Soula Palatianou ist 1950 als Soula Dikoliakou im Dorf Dafnoudi geboren, im Norden Griechenlands, nahe der Stadt Serres. Soula ist die Älteste von 3 Kindern. Schon als Mädchen von elf Jahren unterstützte sie ihren Vater Theofanis beim Anbau von Tabak. Das Einpflanzen im Mai war die schwierigste Arbeit, viele anstrengende Einzelschritte waren dafür nötig. Von einem Feld wurden die Setzlinge eingesammelt, um diese dann auf einem anderen, weit entfernten Feld wieder einzupflanzen. Das bedeutete viel Lauferei, Schlepperei, Plackerei.

Wir mussten alle auf die Knie. Wir fingen morgens um halb sechs an und arbeiteten bis neun oder zehn abends. Danach mussten wir dann noch eine Stunde zurück ins Dorf laufen.

Tabak

Im Juli bis September wurde geerntet. Auch die Ernte sei schwierig gewesen, erinnert sich Soula Palatianou heute. Immer habe ihr Vater sie und ihren jüngeren Bruder um zwei oder drei Uhr geweckt, er habe Kaffe gemacht, um die schlaftrunkenen Kinder aus dem Bett zu locken:

Wir hatten einen Esel und ein Pferd. Papa saß immer auf dem Esel, und wir beide auf dem Pferd, rechts und links in den Körben drin. Er hat uns da reingesetzt, und wir konnten nochmal schlafen. Bis zum Feld war es bestimmt eine Stunde. Manchmal schlief auch mein Vater auf dem Esel ein. Einmal sind mein Bruder und ich aus unseren Körben gefallen, da haben wir auf der Straße weiter geschlafen. Und unser Vater ist erst auf halbem Weg aufgewacht und hat gemerkt: da waren keine Kinder mehr! Damals gab es keine Autos, Gott sei dank!

Auf dem Feld erzählte der Vater seinen Kindern Märchen. Wie das der Stringla, einer Hexe oder Vampirin, die allen, die es mit ihr zu tun bekommen, Unheil bringt. Das Märchen war nicht kindgerecht. Aber es war spannend; und erfüllte damit seinen Zweck, die Kinder zur Arbeit zu motivieren.

Bis in die 1950er Jahre war die ganze Region von Makedonien, Thessalien und Thrakien vom Tabakanbau (auf dem Land) und von der Tabakverarbeitung (in den Städten) abhängig. Die Hafenstädte Kavala und Saloniki galten als Hauptumschlagplätze für den sogenannten „orientalischen“ Tabak.

Wie Soula stammen die meisten griechischen Auswanderer, die nach dem Anwerbeabkommen vom 30. März 1960 zur Arbeitsaufnahme nach Deutschland kamen, aus diesen nördlichen Provinzen. Als die griechische Tabakindustrie durch das Vordringen des amerikanischen Virginia-Tabaks nahezu vollständig zum Erliegen kam, hatte das für die ökonomische Situation in den „Armenhäusern“ der nordgriechischen Peripherie katastrophale Folgen. Vielen Familien blieb als letzter Ausweg nur die Migration. Wie auch in der Familie von Soula Palatianou.

So war unser Leben. Sehr arm, aber in der Familie ganz liebevoll. Im Sommer habe ich auf den Tabakfeldern gearbeitet. Im Winter habe ich das Schneidern gelernt. So war mein Leben, bis ich 21 Jahre alt war. Ich wollte weg von dem Dorf. Ich wollte weg von dieser Arbeit. Damals kam eine Bekannte ins Dorf, meine spätere Schwiegermutter. Sie lebte schon in Deutschland. Sie hat mich gesehen, und hat gesagt: Ach, das ist ein schönes Mädchen, es wäre gut, um ihre Hand anzuhalten. Ich kannte meinen späteren Mann überhaupt nicht. Man sagte mir einfach: Dann brauchst nicht mehr in den Tabak, dann hast du ein besseres Leben! So wurden wir von einem auf den andern Tag verlobt. So ging das damals, die Liebe kam mit der Zeit. Ein Jahr nach der Verlobung haben wir geheiratet, und er nahm mich nach Deutschland mit.

Migrantinnen in der Mehrheit

Soula ist die Vertreterin einer ganzen Generation griechischer Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter, die zwischen 1960 und 1973 nach Deutschland kamen. Spätestens, als die Bundesrepublik Spaniens Wunsch nach einem Anwerbeabkommen stattgibt, sieht man sich von Seiten des Auswärtigen Amtes und des Bundeswirtschaftsministeriums außerstande, dem griechischen Drängen nach einer Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes noch länger standzuhalten: Am 29. März 1960 wird das Deutsch-Spanische und am 30. März das Deutsch-Griechische Anwerbeabkommen unterzeichnet. In Athen wird die Germanikin Epitropin, die Deutsche Kommission Griechenlands eingerichtet. Die Außenstelle der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg soll im Auftrag der deutschen Unternehmen geeignete Arbeitskräfte rekrutieren, die berufliche und gesundheitliche Eignung der Bewerber feststellen und die Reise nach Deutschland organisieren. Anfang 1961 nimmt die so genannte „Außenstelle“ in Thessaloniki ihre Arbeit auf, bald schon werden hier aber wesentlich mehr Kräfte abgefertigt als von Athen/Piräus. An nur einem einzigen Tag stellen sich in Saloniki bis zu 6.000 Personen vor. Es sind die gesundheitlichen Eignungsprüfungen und die bürokratischen Hürden der deutschen Kommissionen, die vor den Augen der Migranten schier unüberwindliche Hindernisse aufrichten. Ein Teil der Bewerber darf direkt vor Ort den Vertrag unterzeichnen. Zeigt das Röntgenbild aber Lungentuberkulose oder einen Leistenbruch, so wird der Bewerber abgelehnt. Bekommen die Anwärter die „Prassini Karta“ (die „Grüne Karte“), dann dürfen sie passieren, und die legendäre Fähre Kolokotronis setzt sie von Piräus aus über in ein anderes Leben. Auch im Sonderzug Thessaloniki – München wird für viele von ihnen der Grenzübertritt zur „Weichenstellung“ fürs Leben. Wie für Soula Palatianou:

Mein Traum war es zu emigrieren. Ich wollte von der Landwirtschaft weg! Ich hatte immer nur im Kopf, eines Tages werde ich gehen, emigrieren und in einer Firma arbeiten. Mit vielen Menschen, nicht immer nur alleine.

In Thrakien und Mazedonien gab es kaum eine Familie, die nicht von dieser Migration betroffen war. Ein regelrechtes „Migrationsfieber“ brach aus, ganze Dörfer entvölkerten sich. Oftmals herrscht das Bild des männlichen Gastarbeiters vor. Doch bedarf dieses Klischee einer Korrektur: Bei der Deutschen Kommission in Thessaloniki, bei der deutsche Firmen Arbeitskräfte rekrutierten, bezogen sich von Anfang an viele der Anfragen auf Frauen. Im Mai 1961 waren es 58 % – ein Rekord in der gesamten Geschichte der organisierten Anwerbung. Hier in Thessaloniki wurde auch die Firma Johann Wilhelm Scheidt vorstellig, um das Personal für ihre Kammgarnspinnerei in Essen Kettwig anzuwerben. Man erwartete sich von handarbeitserprobten Frauen wie Soula Palatianou ein besonderes „Fingerspitzengefühl“, um sie als Spulerin oder Ringspinnerin einzusetzen.

Die Deutschlandbilder der griechischen Arbeitsmigrant*innen setzten sich aus unterschiedlichen Fermenten zusammen: aus persönlichen Erinnerungen über Greultaten der Deutschen während der Besatzungszeit 1941-44, die sie hier „I Katochi“ nennen. Aber ebenso aus idealisierenden Bildern vom „Wunder“ der deutschen Wirtschaft, wie es in der heimischen Kino-Wochenschau projiziert wurde: Die Deutsche Mark strahlte große Faszination aus, man spürte, dort, in „Europa“, ging etwas vor sich, und man könnte Anteil daran haben. Gleichzeitig war es auch ein Abenteuer, die Heimat zum ersten Mal zu verlassen. Die Hoffnungen auf ein besseres Leben waren groß, ebenso wie die Ängste vor dem Unbekannten, erinnert sich Soula Palatianou:

So schön war es am Anfang nicht in Deutschland. Es war ein schwerer Start. Wir wohnten in nur zwei Zimmern, gemeinsam mit den Schwiegereltern. Auch mit der Sprache hatte ich Probleme. All das machte mich traurig und krank.

Soula Palatianou möchte sich im Ruhrgebiet als Schneiderin selbstständig machen. Aber nach ihrer Ankunft ist das noch nicht möglich. So arbeitet sie zunächst für ein halbes Jahr in der Fabrik.

Ich wollte arbeiten, ich war gewohnt zu arbeiten, vor der Arbeit hatte ich keine Angst. Ich war so fleißig. Ich war immer schneller als die anderen. Genau wie im Dorf, so auch später in der Fabrik. Ich habe viele Überstunden gemacht, in sechs Monaten kamen zwei Monate Überstunden zusammen. Und der Aufpasser sagte zu mir: Soula, du musst ein bisschen langsamer machen, die anderen kommen nicht mit.

Zum magic moment zwischen Frauen und Männern aus Griechenland und Deutschland kam es nur selten. Das Volkslied in Griechenland warnte die Söhne seines Volkes eindringlich, sich in der „schwarzen Fremde“ nur nicht auf eine Frau einzulassen. Hätte ihn die fremde Frau erst einmal in ihre Netze verstrickt, wäre er für seine Heimat verloren. So blieben die meisten Griechinnen und Griechen unter sich und warben um einander. So entspannen sich im Ruhrgebiet unzählige Liebesgeschichten. Soula wurde schwanger, und sie bekam mit ihrem Mann Ioannis ihr erstes Kind, Dakis.

Trennungsgeschichten

Wie viele der damaligen Gastarbeiterinnen will sie sich für einige Jahre aufs Geldverdienen konzentrieren, so schickt sie ihren erstgeborenen Sohn nach Griechenland zu den Großeltern. Es war durchaus üblich, dass so genannte „Gastarbeiterkinder“ bei ihren Großeltern in Griechenland aufwachsen.

Um die Eltern, die zum Arbeiten in Deutschland sind, an der Entwicklung ihrer Kinder Anteil nehmen zu lassen, ließen Großmütter damals die Hände der Enkel und Enkelinnen auf Papier aufmalen. Und wenn die Mädchen die Sehnsucht nach ihrer Mutter überkam, dann gingen sie zu ihrem Kleiderschrank und atmeten den Duft ihrer Kleider ein. Häufig dauerten diese Trennungsgeschichten zwischen Eltern und Kindern über zehn Jahre. Soula hält es nicht so lange aus. Als die Fabrik schließt, holt sie Dakis wieder zu sich nach Essen Kettwig zurück. Und sie beginnt wieder zu nähen.

Ich fand eine kleine Näh-Tätigkeit bei einem Änderungsschneider, die ich daheim erledigen konnte.

Zur Zeit der Anwerbung der Gastarbeiter ist der Zenit der Industriearbeit paradoxerweise bereits überschritten. Die Struktur der Arbeitswelt hat sich seit der Mitte der Siebziger Jahre umfassend transformiert. Die Ära des blue collar-worker ist vorbei, Fließbandarbeit und Massenarbeit geraten in die Krise. Zahlreiche Griechen in Essen Kettwig machen sich in dieser Umbruchphase – die für viele von ihnen zugleich eine Phase der Niederlassung ist -, selbstständig, zunächst mit einfachsten Mitteln. Sie eröffnen Tavernen oder Schneidereien. Zunächst kommen Soulas Aufträge über eine Freundin. Dann bekommt sie selbst eine Anstellung in der Schneiderei. Zwei Jahre arbeitet sie hier und lernt das Schneiderhandwerk noch einmal von Grund auf.

Dabei wuchs in mir immer mehr der Wunsch, mich auf diesem Gebiet selbstständig zu machen. Es war sehr schwer, geeignete Räumlichkeiten zu finden, tatsächlich tat sich dann etwas auf. Mein Mann Ioannis ist handwerklich sehr begabt und hat meinen Laden ganz alleine eingerichtet. Er selbst arbeitete in der Wechselschicht bei Axel Springer und druckte dort die Bildzeitung.

Fünf Jahre arbeitet Soula nun als selbstständige Schneiderin. Doch als sie mit dem zweiten Kind schwanger wird, wird es selbst für die unerschrockene Frau immer schwieriger, ihr Leben zu meistern.

Ich war schwanger mit unserem zweiten Kind Maria. Dennoch musste auch der Betrieb meiner Änderungschneiderei weiter laufen. Ich hatte keine Hilfe beim Nähen, ich musste alles alleine machen. Selbst mit dem hochschwangeren Bauch kniete ich zu den Anproben auf dem Boden. Die Kunden liebten mich, und ich wollte niemanden enttäuschen. Aber das war einfach zu viel für mich.

Nur eine Wochen nach der Geburt ihrer Tochter war Soula Palatianou schon wieder an der Arbeit. Sie nimmt das Baby mit in die Schneiderei. Doch Maria will versorgt werden, und so wird es immer schwieriger, das Leben als Geschäftsfrau und Mutter zu vereinbaren. Am Ende schlagen die Schwierigkeiten in echte Verzweiflung um.

Einmal kam eine Kundin. Und ich hatte Maria im Arm, und das Kind weinte. Und ich weinte auch, ich war einfach total überfordert. Und da sagte die Frau: Wenn Sie wollen, ich kann Ihnen helfen. Ich kann das Kind mitnehmen. Ich fragte nur: Wo wohnen sie denn? Sie sagte da und da: Ich hab einen Wagen und ich nehme sie mit. Und dann hab ich ihr Maria einfach mitgegeben! Heute klingt es unglaublich! Später war ich mit meinem Mann dort, sie hatte ein schönes Haus, sie war Fotografin. Das hat sie dann ein paar Monate lang so gemacht. Hat sogar Sachen für Maria gestrickt. Für mich war das ein Gottesgeschenk. Er hat auf einen Schlag alle Sorgen von mir genommen.

Griechische Infrastruktur

Die Wanderungsbewegungen seit dem Zweiten Weltkrieg, die im Kontext der Neuordnung Europas, dem Kalten Krieg und dem „Wirtschaftswunder“ in Westdeutschland standen, haben unsere Stadtgesellschaften grundlegend verändert. Migration ist nicht Randphänomen der Verstädterung, sondern vielmehr einer ihrer eigentlichen Motoren. In Essen Kettwig wird die Migration aus Griechenland im Stadtbild sichtbar. Von der Migration zur „Einwanderung“ ist es ein weiter Weg. Es bedeutet Anspannung, sich in einem fremdsprachlichen Raum zu bewegen. Es kostet Anstrengung, neben und nach der Arbeit eine Sprache zu lernen. In der Begegnung mit den Einheimischen ist da immer ein Gefälle: Wo der eine stottert, um jedes Wort ringt, da zeigt der Andere sein Heimrecht schon allein, indem er die Sprache beherrscht. Aber allmählich gewöhnt man sich ein. Die Gewöhnung stiftet den Zusammenhang, macht aus den Gegenständen, die in der Umwelt lagern, einen Orientierungsraum: Einem Blinden gleich, der lernt in der vertrauten Umgebung ohne Stock zu gehen – und ohne Zögern. Eine Erfahrung, die mit der Zeit auch Soula Palatianou machte: Sie verstand immer mehr. Sie wurde mutiger. Machte Ausflüge in die Umgebung. Der vielleicht wichtigste Treffpunkt – und zugleich einer der zentralen Erinnerungsorte der Griechen von Kettwig – war die Ruhr. Hier am „Ententeich“, wie der Kettwiger Mühlengraben genannt wurde, verabredete man sich im Sonntagsstaat zur „Volta“. Hier machte man Picknick, spielte auf griechische Art mit Murmeln, las Zeitung oder schaute sich die Passanten an, die von Kettwig Vor der Brücke herüberkamen. Jedenfalls, wenn man bei all der Arbeit dafür die Muße fand.

Damals hatten wir noch nicht so viel Kontakt zu Deutschen. Was uns aber immer besonders gefiel war die Weihnachtszeit. Alles war so schön geschmückt, die Bäume und die Weihnachtsmärkte mit den vielen Lichtern waren wunderschön und uns nicht bekannt aus unserer Heimat. Auch meine Eltern kamen uns meistens zu dieser Zeit besuchen. Und der Sonntag war ein besonderer Tag. Da haben wir uns schön angezogen. Schöne Kleidung hat mir immer gefallen, schon seit ich ein kleines Mädchen war, und dann durch meine Arbeit als Schneiderin.

Die Religion der ersten Migrantengeneration ist eine „delokalisierte Religion“ – eine Religion, die in der Fremde wiedererrichtet wird. Die Kirchendiener der Orthodoxen sind anfangs mobile Einheiten, die im Bedarfsfall einer Hochzeit, einer Taufe oder einer Beerdigung zum Einsatz kommen. Die „sieben Sachen“ für die Liturgie haben sie im Auto, zelebriert wird überall, im Wohnheim, im Park, in gemieteten Sälen oder den Schwesternkirchen. Man improvisiert viel: baut Ikonostasen aus Kalenderblättern, der Waschzuber wird zum Taufbecken umfunktioniert.

Sonntags haben wir regelmäßig in Düsseldorf den Gottesdienst besucht. Auch da waren immer viele griechische Familien. Aber ansonsten gab es für uns nur Arbeit, Arbeit, Arbeit.

Das Projekt der Gastarbeiter:innen sieht vor, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld zu verdienen. Dieser Wunsch kollidierte bei Soula Palatianou mit dem eigenen Verständnis von Mutterschaft. In ihrer Geschichte ist diese Doppelbelastung spürbar. Und ihre Erzählung belegt, wie wichtig auch Zivilcourage war, um ihre Kinder in Deutschland „durchzubringen“.

Patatadiko in Essen Kettwig

Mit zwei Kindern konnte ich nicht länger in der Schneiderei arbeiten, während mein Mann seine Schichten fuhr. Eine Freundin hatte eine Pommesbude. Sie hat gesagt: Soula, wir gehen nach Griechenland zurück, und wir wollen verkaufen. Das ‚Patatadiko‘ haben wir dann übernommen. Um das Geschäft aufbauen zu können – wir hatten noch keine Unterstützung – habe ich dann auch Maria zu den Großeltern nach Griechenland geschickt. Das war sehr schwierig für mich, ohne meine Tochter Maria zu sein. Weihnachten hab ich sie schon wieder zurückgeholt. Da hatten wir einen zusätzlichen Mitarbeiter für die Pommesbude gefunden, und ich konnte bei den Kindern bleiben.

Mittlerweile gab es in Essen Kettwig eine gut vernetzte und weit verzweigte griechische Subkultur. Neben griechischen Ärzten und Anwälten fanden sich hier in den 1970er und 1980er Jahren auch griechische Lebensmittelgeschäfte, Schneider, Schuster, Versicherungen, Reisebüro, Kulturvereine, Cafeterias. Man besucht das „Kafenion“, versorgt sich in einer eigenen Videothek mit griechischen Filmen. Im Hexenberg-Kino gab es in regelmäßigen Sonntagsmatineen die Möglichkeit, griechische Heimatfilme zu sehen. Hier war es sogar erlaubt, die griechischen Sporia – Sonnenblumenkerne – zu knacken und zu kauen. So bot das Kino Unterhaltung und ein Gemeinschaftserlebnis der besonderen Art. Im Molin Rouge in der Altstadt, später in Akropolis umbenannt, konnte man abends seinen Ouzo trinken, oder deutsches Bier, und Karten spielen. Hier mussten Kinder ihre Väter abholen, dass sie nicht den ganzen Lohn verspielten. Hier steht auch eine Musikbox. „Nostalgia, Nostalgia, Nostalgia“ scheint in den frühen Jahren der Migration das alles beherrschende Motiv zu sein und Musik das Medium par excellence, ihr Ausdruck zu verleihen. Stelios Kazantzidis war die große Stimme der sehnsuchtsgetränkten griechischen Gastarbeiterballade: „Der Zug fährt ab und pfeift ständig, wie ein Klagelied, Trostlos beklage ich mein Schicksal, Warum kann meine Heimat ihre Kinder nicht ernähren, Sie haben uns verkauft, Hier, wo wir aus dem Leben ausgesperrt sind, Ich fühle eine schwere Müdigkeit in meinem Körper und im Herzen …“

Ich hatte aber immer auch Heimweh nach Griechenland. Wir haben auch jedes Jahr mit den Kindern Urlaub in Griechenland gemacht. 5-6 Wochen. Wir haben das immer sehr genossen mit unseren Eltern.

Soula Palatianou hatte Sehnsucht nach Griechenland. Ins Kettwiger Nachtleben zog es sie weniger. Für Unterhaltung dieser Art hatte sie keine Zeit.

Ich hab meinen Mann abgelöst [im Imbiss], damit er zu Hause Pause machen kann. Währenddessen habe ich immer mit den Kindern telefoniert, um Kontakt zu halten und zu hören, was sie machen. Einmal hat mein Sohn Dimokratis dann am Telefon gesagt, die kleine Maria hätte einen Pfennig in den Mund gesteckt und verschluckt. Jetzt könnte sie nicht mehr sprechen. Ich hab gesagt, er soll sofort seinen Vater wach machen. Mein Mann kam dann in den Laden, und ich bin schnell nach Hause. Ich habe Maria genommen, und wir sind zum Doktor Remi. Der hat sie gesehen und meinte, vielleicht sei sie nur erkältet. Ich hab gesagt, nein, sie hat eine Münze verschluckt! Geröntgt hat der Arzt sie trotzdem nicht. Er meinte, wir sollen sie zwei Tage beobachten, sonst sollen wir wiederkommen. Ich war dann einen Tag mit ihr zu Hause, hab ihr Essen gegeben, aber sie konnte es gar nicht herunter schlucke!. Ich hatte wirklich ein sehr ungutes Gefühl. Also bin ich wieder zu dem Arzt, dann hat er sie endlich geröntgt. Und gesehen, der Pfennig steckte quer in ihrem Hals! Da sagte er, das Kind muss sofort ins Krankenhaus. Und die Ärztin im Krankenhaus hat den Pfennig rausgeholt, ohne Operation, Gott sei Dank!

Später ging Maria in den Kindergarten, dann wurde es einfacher. Dann haben wir auch eine neue Wohnung bekommen, direkt neben dem Imbiss. Maria konnte in der Pommesbude ihre Schulaufgaben machen, so hatte ich sie in der Nähe. In der Pommesbude gab es eine Ecke mit Spielautomaten. Da kamen auch die Jugendlichen von der Schule, und Maria lernte lauter Worte, die sie eigentlich nicht lernen sollte. Ich war damals Anfang 30, und wurde zur Mutter für alle Kinder und Jugendlichen in Kettwig. Sie kamen in den Laden und riefen: ‚Mutter, gib mir eine Pommes, gib mir ein Schaschlik Spieß.‘ Der Laden lief gut. Von dem Geld konnten wir auch das alte Haus in Griechenland, mein Elternhaus, niederreißen und ein neues bauen, und ein weiteres Grundstück kaufen. Wir haben mit nichts angefangen, und dann doch etwas aufgebaut.

Anwesenheit und Abwesenheit

Im Familienalbum der Familie Palatianou finden sich Bilder der Anwesenheit und der Abwesenheit. Anwesend im Ruhrgebiet war die Familie, die Soula und ihr Mann gegründet hatten. Abwesend waren dagegen die Familien, denen sie selbst entstammten, die in Nordgriechenland geblieben waren. Wie Soula von der Selbstständigkeit träumte, so auch davon, ihre Familie über die Generationen eines Tages wieder zu vereinen.

Wir dachten immer, wir gehen nach Griechenland zurück. Wir haben nicht gedacht, dass wir hier in Essen Kettwig bleiben würden. Ich wollte immer meinen Eltern helfen, wenn sie alt sind. Wir hatten eine sehr gute Beziehung. Ich habe meinen Vater so lieb und er hat mich auch so lieb. Eines Tages wurde mein Vater plötzlich krank, 1989, Krebs. Das war ein großer Schlag für mich, für uns alle. Ich bin direkt nach Griechenland aufgebrochen, doch ich konnte es nicht ändern: innerhalb von nur einem Monat ist er gestorben. Damals hab ich gedacht, so ist das Leben, nur ein Monat, und alles kann vorbei sein. Danach war ich richtig angeschlagen, erschöpft, ängstlich – der Schock hat mich krank gemacht.

Der Tod des Vaters traf Soula Palatianou schwer. Doch in der Folge erlebte sie eine Art Erweckung – oder Bekehrung. War sie auch ihr Leben lang jeden Sonntag mit den Kindern in den orthodoxen Gottesdienst in Düsseldorf gegangen, hatte sie doch nie die Bibel gelesen, hatte nicht wirklich nach Gott „gesucht“. Das änderte sich nun:

Dann kam ich nach Deutschland zurück, und noch immer war ich unendlich traurig. Damals, 1993, hat Maria im Garten eine kleine Katze gefunden. Und wir hatten mit unserer deutschen Nachbarin Probleme deswegen. Wir hatten richtigen Streit, sie hat die Tür im Hausflur geknallt und meinen Sohn angeschrien. Das hat bei mir eine richtige psychische Krise ausgelöst.

Bis dann ein frommer Mann ins Haus kam, der Dr. Weiß von der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde, der wollte uns versöhnen. Unsere Nachbarin ging zu einer Seniorenstunde der Gemeinde. Ich hatte Kuchen gemacht, damit wir uns zusammensetzen und reden. Und Dr. Weiß hat dann angefangen mit uns zu beten. Da hat Gott irgendwie mein Herz aufgemacht. Ich wollte dann jeden Sonntag in die evangelisch-freikirchliche Gemeinde gehen und mehr von Gottes Wort hören. Maria nahm ich mit. Für mich ist der Glaube das größte Geschenk, das ich in Deutschland schließlich gefunden habe. Das Kostbarste. Etwas, dessen Wert sich gar nicht bemessen lässt.

Heute hat die Mehrheit der Griechen ihre Zelte in Essen Kettwig abgebrochen: Sie sind heute die Besitzer jener Bauten rund um den alten Dorfkern, Altersvorsorge in Beton gegossen. Andere wie Soula haben den Traum von der Rückkehr nie aufgegeben, aber immer weiter aufgeschoben. Im Alter können sie nicht mehr auf die Zukunft wetten, die Rückkehroption entpuppt sich als eine Illusion. Soula Palatianou ist heute mehrfache Oma. Ihr Sohn Takis hat eine Familie gegründet, ebenso wir ihre Tochter. Maria hat an der Folkwang Universität in Essen Design studiert und ihren Abschluss mit einem Buchprojekt über Begegnungsorte von Griechen und Deutschen gemacht, wie die Pommesbude der Familie eine war.1 Heute haben Soula Palatianou und ihr Mann die Pommesbude abgegeben. Soula macht gelegentlich noch Schneiderarbeiten von zu Hause aus. Und sie liest immer noch jeden Tag in der Bibel, verfasst sogar selbst kleine Predigten, die sie in Form von Sprachnachrichten an ihre Freunde schickt. Für diese spirituelle Berufung lässt die ehemalige Gastarbeiterin Soula Palatianou sogar mal ihre Arbeit liegen.

Dr. Manuel Gogos/ Geistige Gastarbeit

Orte:

Imbiss: Hauptstraße 44, 45219 Essen.

Zitation: Gogos, Manuel, Soula Palatianou, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/soula-palatianou/

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Arbeiterinnenleben im Ruhrgebiet in der Nachkriegszeit

Die Herrenwäschenäherinnen in Recklinghausen

In seiner Schrift „Die Deutsche Bildungskatastrophe“ stellte Georg Picht 19641 fest, dass die ‚Katholische Arbeitertochter vom Land‘ im Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland zu den besonders Benachteiligten zählte. An ihr ließe sich eine Mehrfachbenachteiligung festmachen. Die katholischen Arbeitertöchter im Ruhrgebiet hatte er nicht im Blick. Nicht nur er, sondern auch der größte Teil der späteren feministischen Bildungsforschung hat sich kaum mit ihnen befasst.

Seit Beginn der 1980er Jahre gab es eine Fülle von Veröffentlichungen zur Bildungsbe(nach)teiligung von Mädchen und Frauen ebenso wie zu deren Erwerbssituation. Bei dem Versuch, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, stößt frau auf zahlreiche Forschungsergebnisse zu Lehrerinnen, Frauen in sozialen Berufen, Ärztinnen, Krankenschwestern und Akademikerinnen fast aller Fachrichtungen. Auch die Karrieremöglichkeiten in anderen Berufen wurden thematisiert.

Gemeinsame Blickrichtung fast aller Untersuchungen und Veröffentlichungen ist der soziale Aufstieg durch Bildung. Der verborgene Subtext lautet zugespitzt: Alle Frauen – selbstverständlich auch die katholischen Arbeitertöchter – sollten nach Möglichkeit mit Bildung und einer entsprechenden Berufswahl versuchen, dem ihnen drohenden Schicksal einer abgehängten und abhängigen Existenz zu entgehen.

Über die tatsächliche Lebens- und Bildungsrealität der Arbeitertöchter in der Nachkriegszeit gab und gibt es kaum Untersuchungen.2 Das war aber das Thema, das uns – den Arbeitskreis Recklinghäuser Frauengeschichte – besonders interessierte. Unser Augenmerk richtete sich auf diejenigen Mädchen und Frauen, die in der Nachkriegszeit im Ruhrgebiet in der Bekleidungsindustrie Ausbildungen und Arbeitsplätze gefunden hatten. Auch in Recklinghausen gab es entsprechende Erwerbsmöglichkeiten. Als wir mit unseren Recherchen zu diesem Thema begannen, war uns nur bekannt, dass es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in der Recklinghäuser Innenstadt mindestens eine Bekleidungsfabrik gegeben hatte, bei der vor allem Frauen beschäftigt waren. Nähere Informationen dazu gab es – auch im städtischen Archiv – so gut wie gar nicht.

Erst ab 2017 kamen wir über verschiedene Artikel in der Recklinghäuser Zeitung in Kontakt mit Zeitzeuginnen, die uns an ihren Erinnerungen teilhaben ließen und uns vor allen Dingen private Fotos, Zeugnisse und Dokumente zur Verfügung stellten. Wir führten zahlreiche interessante Gespräche mit lebensklugen und zupackenden Frauen, die – trotz widriger Bedingungen – ihr Berufsleben gemeistert, Kinder großgezogen und z. T. interessante Berufswege genommen hatten. Zehn der 15 von uns porträtierten Frauen3 möchte ich im Folgenden darstellen und ihre Gemeinsamkeiten herausarbeiten. Es handelt sich um: Margarete Kijak, geb. 1929, Ursula Westhues, geb. 1930, Edelgard Holtbrügge, geb. 1931, Christa Werdnik, geb. 1931, Maria Knicia, geb. 1934, Elisabeth Recktenwald, geb. 1935, Gisela Schiwkowski, geb. 1936, Maria Hettmer, geb. 1938, Christel Schlüter, geb. 1939 und Helga Töpfer, geb. 1942.

Familiärer und zeitgeschichtlicher Hintergrund
Die zehn hier vorgestellten Frauen gehören den Jahrgängen 1929 bis 1942 an. Alle sind Töchter aus Arbeiter- bzw. Handwerkerfamilien. Sieben von ihnen wurden in Recklinghausen bzw. Herten geboren, zwei in Pommern, eine in Polen. Die Hälfte der Zeitzeuginnen hatte als Kind bzw. Jugendliche Fluchterfahrungen, aufgrund von Evakuierungen im Zweiten Weltkrieg auch zwei der gebürtigen Recklinghäuserinnen.

Wie nachhaltig diese Ereignisse die Frauen geprägt haben, wurde in den Gesprächen mit ihnen deutlich. Ursula Westhues beispielsweise konnte noch sehr ausführlich ihre Erfahrungen bei der schwierigen und z. T. gefährlichen Rückreise von der Kinderlandverschickung in Bayern nach Recklinghausen schildern. Christel Schlüter flüchtete mit Mutter und Bruder von Danzig nach Dänemark. Dort wurde sie eingeschult. Auch bei ihr waren diese Erfahrungen noch sehr präsent. Erst ab 1947 lebte die Familie wieder zusammen mit dem Vater in Recklinghausen.

Die Schwierigkeiten der Nachkriegsjahre spiegeln sich insbesondere in den Berichten der ältesten Zeitzeuginnen wider. Margarete Kijak berichtet davon, dass die Familie dringend auf ihr Erwerbseinkommen angewiesen war. In der Erzählung von Christa Werdnik werden die Existenzsorgen daran deutlich, dass die Angst bestand, dass Flüchtlingskinder keine Lehrstelle bekommen würden. Dank der Tatsache, dass ihr Vater in einem Kaufhaus (Banniza) in der Innenstadt arbeitete, in dessen Räumen in der ersten Etage eine Bekleidungsfabrik (Textilfabrikation GmbH, später Turf) ihre Arbeit aufgenommen hatte, konnte sie dort 1947 eine Lehre als Herrenwäschenäherin beginnen.

Bildungswege und Berufswahl
Wie in der damaligen Zeit üblich haben alle Frauen die achtklassige Volkschule besucht. Das bedeutet, dass i. d. R. die Grundbildung mit 14 bzw. 15 Jahren abgeschlossen war. In allen Gesprächen – auch mit den hier nicht porträtierten Zeitzeuginnen – wurde deutlich, dass die Suche nach einer Lehrstelle für die Mädchen wie für ihre Familien eine Selbstverständlichkeit war. Bis auf eine Frau haben alle eine Ausbildung absolviert, allerdings nicht immer in dem von ihnen gewünschten Beruf. Frau Kijak machte eine kaufmännische Ausbildung. Nachdem sie diese Stelle verloren hatte, bewarb sie sich bei der Firma Povel und arbeitete dort als Plätterin und Hemdenlegerin.

Frau Westhues hatte gerne Lehrerin werden wollen, aber in den Wirren der Nachkriegszeit gab es keine Möglichkeit zu einem weiteren Schulbesuch oder einer entsprechenden Ausbildung. Da sie über die notwendigen Fertigkeiten verfügte, konnte sie in einem Handarbeitsgeschäft und bei einer Herrenausstattungsfirma arbeiten. Durch eine Anzeige wurde sie darauf aufmerksam, dass die Fa. Povel Näherinnen suchte. Im Januar 1949 begann ihre Beschäftigung in der Waldstraße. Sie hat keine Lehre gemacht, sondern wurde angelernt und hat dann Schürzen und Hemden genäht.

Vier der Frauen gaben an, dass sie gerne Schneiderin geworden wären. Edelgard Holtbrügge wollte Putzmacherin werden. Helga Töpfer wäre gerne Verkäuferin geworden, was sie nach der Familienphase (ab 1980) auch umsetzen konnte. Nur eine von ihnen, Maria Hettmer, absolvierte eine Schneiderinnenlehre. Bei ihr waren die familiären Beziehungen dafür sicher auschlaggebend. Ihre Tante, Frau Dodt, betrieb eine Schneiderei, in der sie schon als 12-jährige mitgeholfen hatte. Die wenigen kleinen Schneidereien in der Stadt konnten gar nicht so viele Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen, wie sie von den jungen Frauen nachgefragt wurden.

Das Ausbildungsplatzangebot für Mädchen mit Volksschulabschluss war in dieser Montanregion in der Nachkriegszeit insgesamt nicht sehr umfangreich. Da waren die Ausbildungsplätze für eine Anlernausbildung in den vor allem seit 1947 in Recklinghausen ansässigen Bekleidungsfabriken eine gute Möglichkeit. Sieben der zehn Zeitzeuginnen haben die eineinhalbjährige Ausbildung absolviert. Wichtig war, dass mit der Ausbildung im Anschluss an den Schulabschluss begonnen werden konnte.

Die Entscheidungen für einen bestimmten Ausbildungsberuf wurden in den Familien recht unspektakulär getroffen. Anzeigen oder Informationsveranstaltungen der Fabriken bildeten die Ausnahme. Bereits bestehende Arbeitsverhältnisse von Angehörigen ebenso wie Hinweise von Familienmitgliedern, Nachbarinnen und Nachbarn waren die Entscheidungsgrundlage. Hinzu kam die – im Verhältnis zu anderen Berufen für Mädchen und junge Frauen – relativ gute Bezahlung in den Bekleidungsfabriken.

Anlernausbildung
In Recklinghausen gab es ab Ende der 1940er Jahre vier mittelständische Betriebe mit 300 bis 500 Beschäftigten. Die Firmen: Wilhelm Laarmann Bekleidungswerk GmbH, Textilfabrikation GmbH (später Turf), Münsterländische Textilgesellschaft mbH (später Condor) und Paul Povel KG bildeten Herrenwäschenäherinnen aus. Die Lehrlinge arbeiteten dort unter Anleitung einer für die Ausbildung zuständigen Direktrice. Die Ausbildung zur Herrenwäschenäherin war eine duale Ausbildung, d. h. die Mädchen waren fünf Tage die Woche im Betrieb und gingen samstags in die Berufsschule. In manchen Fabriken gab es eine gesonderte Anlernwerkstatt, die von einer Direktrice geleitet wurde, in anderen sogenannte „Storchenbänder“, an denen die Lehrlinge und Schwangeren arbeiteten.

1954 schildert Magdalene Küper, Ausbildungsdirektrice bei der Fa. Povel in der Betriebszeitung die ersten Wochen der Ausbildung: „Zuerst mußten die Mädchen mit den elektrischen Maschinen vertraut gemacht werden. Manch schwerer Seufzer wurde dabei zum Himmel geschickt, und jede glaubte, das Maschinennähen nie zu lernen. Immer wieder mußte ich helfend einspringen und Mut machen. Nachdem wir die ersten Nähversuche hinter uns hatten und jede mit der Maschine umzugehen wußte, übten wir fleißig Nähte, Säume, Falten, Biesen usw. In der zweiten Woche gingen wir schon ein Schrittchen weiter. Da wurden Flicken eingesetzt, Knopflöcher ausgesteppt, Paspeln geübt, Kanten mit Schrägstreifen eingefaßt und Schlitzbesätze gesteppt. Und dann wurde die Arbeit schon interessanter (…). Zum Abschluß der ersten vier Wochen gab ich den Mädchen eine kleine Prüfungsarbeit. An einem Mustertuch sollten sie mir nun ohne Hilfe zeigen, was sie bisher gelernt hatten.“ (Küper 1954).4

Bei Christel Schlüter werden 1955 in ihrem Berichtsheft auch andere Seiten der Ausbildung bei der Fa. Turf erwähnt: „Meine tägliche Arbeit ist, morgens Staubputzen und wenn ich dieses verrichtet habe, darf ich nähen. Zuerst mußte ich gerade Nähte nähen üben, dann durfte ich Unterkragen nähen und Stäbchentaschen annähen. Dann durfte ich Kragen vornähen und sie an der Presse umdrehen und pressen. Am anderen Tag durfte ich die Kragen übersteppen und einnähen und Manschetten vornähen und übersteppen. Dieses aber war nur alles Übungsarbeit. Jetzt näh ich schon Kragen und Manschetten, die gebraucht werden. Das macht mir auch viel mehr Mut und ich streng mich auch viel mehr an, als bei den Übungsarbeiten, weil diese Sachen ja gebraucht werden müssen. Ich hoffe auch, daß ich nach meiner 1 1/2jährigen Lehrzeit erfolgreich weiterkomme.“5
Nachdem die Lehrlinge die Probezeit bestanden hatten, begann das Hemdennähen. Und mit zunehmender Sicherheit war „vorgesehen, dass die Mädchen zwischendurch auch im Nähsaal in der Produktion eingesetzt werden, damit sie die Bandarbeit gründlich kennenlernen“ (Küper 1954).

Ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung im Betrieb war das Führen eines Berichtsheftes, das alle sechs bis acht Wochen von den Chefs oder der Direktrice abgezeichnet werden musste und auch in der Berufsschule vorgelegt werden sollte. Nicht alle Auszubildenden haben diese immer so umfassend ausgefüllt, wie es zu unserem Glück Gisela Schiwkowski (geb. 1936) und Christel Schlüter (geb. 1939) gemacht haben, deren Berichtshefte uns vorliegen. Manchmal finden sich Stichworte zu den Tätigkeiten der Woche, manchmal wurden die Arbeiten ausführlich beschrieben sowie Zeichnungen und Stoffproben eingefügt. Im Heft von Gisela Schiwkowski fand sich auch eine genaue Schilderung des Betriebsausflugs im Jahr 1953.

Der Berufsschulunterricht für die Herrenwäschenäherinnen fand samstags in der Berufsschule in die Kemnastraße statt. Leider liegen uns nur wenige Daten dazu vor. 1952 z. B. besuchten 354 Mädchen die Klassen im Bereich Textilherstellung und -verarbeitung. Das lässt vermuten, dass es außer den vier mittelständischen Herrenwäschefabriken noch andere Ausbildungsbetriebe gab, zu denen uns allerdings leider keine Daten bekannt sind.

Einige der Zeitzeuginnen haben sehr anschaulich über die Aufgaben bei der praktischen Lehrabschlussprüfung erzählt. Konkretisiert werden diese im Berichtsheft von Gisela Schiwkowski mit den „46 Schritten bei der Herstellung eines Herrenoberhemds“. Diese Arbeitsschritte mussten die angehenden Herrenwäschenäherinnen in eineinhalb Stunden erfolgreich abarbeiten, um die praktische Prüfung zu bestehen.

Mit diesem Prüfungsteil der Anlernausbildung und der ebenfalls erfolgten theoretischen Prüfung durch die Industrie- und Handelskammer6 war die Schulpflicht der jungen Frauen noch nicht beendet. Diese ging bis zum 18. Lebensjahr. Sie arbeiteten fünf Tage die Woche in der Fabrik und gingen am Samstag weiter zur Berufsschule. Wie man aus zwei uns vorliegenden Abschlusszeugnissen der Berufsschule ableiten kann, wurden sie in den nun folgenden Schuljahren vor allem auf ihre künftige Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereitet. Sie lernten u. a.: Gesundheitspflege, Säuglingspflege, Ernährungslehre und Nahrungszubereitung. Die berufsfachlichen Fächer entfielen.

Die Berichtshefte der Frauen und vor allem ihre Lehrverträge und IHK-Zeugnisse brachten zutage, dass es sich bei der eineinhalbjährigen Anlernausbildung um eine von der Industrie- und Handelskammer anerkannte und mit einem Zertifikat abgeschlossene Ausbildung handelte. Bisher war in der entsprechenden Fachliteratur davon kaum etwas zu erfahren. Erst mit der Berufsbildungsreform am Ende der 1960er Jahre wurde die Unterscheidung in Lehrausbildung (i. d. R. dreijährig) und Anlernausbildung (i. d. R. eineinhalbjährig) durch ein Stufensystem ersetzt. Der Begriff des „Angelerntseins“ muss daraufhin eine neue Bewertung erfahren. Den jungen Frauen wurden nicht nur wenige Tage bzw. Wochen die notwendigen Handgriffe gezeigt, sondern die Anlernausbildung war durchaus eine anspruchsvolle und in Praxis und Theorie die Auszubildenden herausfordernde Ausbildung. Sie waren nicht „nur“ angelernt, wie es vielfach genannt wurde.

Erwachsenwerden in der Fabrik
Die von uns befragten Frauen waren beim Beginn ihres Erwerbslebens noch sehr jung, da die Volksschule damals nur acht Schuljahre umfasste. Sie waren zwischen 15 und 17 Jahre alt, Helga Töpfer sogar 14 Jahre. Das bedeutet, dass sie die ersten Schritte ins Erwachsenenleben in der Bekleidungsfabrik verbrachten.

Für diese Jugendlichen war die Firma nicht nur Lern- und Arbeitsort, sondern sie bot ihnen auch das Erlebnis der Zusammenarbeit in einer Gruppe Gleichaltriger. In ihren Erzählungen betonten sie dessen Bedeutung dadurch, dass sie den Zusammenhalt unter den Kolleginnen hervorhoben, z. B. die gegenseitige Unterstützung bei Reklamationen. Manche trafen sich schon auf dem gemeinsamen Weg zur Arbeit, sei es zu Fuß, mit dem Fahrrad oder der Straßenbahn. Fast alle hatten eine Kindheit erlebt, die vom Krieg und dessen Auswirkungen geprägt war. Durch die Arbeit und das Zusammensein mit Gleichaltrigen ergaben sich neue Perspektiven und vor allem gemeinsame Unternehmungen.

Die meisten der Zeitzeuginnen erinnerten sich gerne an diese Zeit und berichteten von langjährigen Freundschaften unter den Lehrlingen. So sagte z. B. Maria Knizia: „Ich hatte eine wunderschöne Lehrzeit. Wir Lehrlinge haben auch nach der Lehrzeit noch viel zusammen gemacht.“ Fast alle erzählten sehr positiv über die jährlichen Betriebsausflüge und Betriebs- wie Weihnachtsfeste, z. B. Gisela Schwikowski über den Betriebsausflug: „Gegen 9:00 Uhr nachts waren wir wieder in Recklinghausen. Ein wunderschöner Tag lag hinter uns, an den wir immer wieder gerne zurückdenken.“7 Viele der Frauen haben über die Jahrzehnte Fotos von Lehrlingsgruppen, Festen und Ausflügen aufbewahrt, die deren persönliche Bedeutung unterstreichen.

Arbeit in der Herrenwäschefabrik
Ebenso wie es selbstverständlich war, dass die jungen Mädchen eine Ausbildung machten, war es selbstverständlich für die meisten Mädchen wie für die Betriebe, dass die Ausgebildeten übernommen wurden. Hermann Hamm, Inhaber der Fa. Turf betonte z. B. 1972 im Prospekt zum 25-jährigen Firmen-Jubiläum, dass an seinen Bändern ausschließlich gelernte Fachkräfte arbeiteten.

Der größte Teil der Frauen arbeitete als Näherin im Akkord am Band. Dort war die Bezahlung für alle gleich und richtete sich nach dem Akkordergebnis. Pro Stunde gab es eine fünfminütige Pause des Bandes, die als Pinkel- und Rauchpause vorgesehen war, von den Frauen aber vor allen Dingen dazu genutzt wurde, um kleine Reklamationen zu erledigen oder Verzug aufzuholen. Disziplin und Pünktlichkeit war bei diesen Pausen notwendig, denn das Band wurde erst wieder gestartet, wenn alle Frauen an ihrem Platz waren. Am besten bezahlt wurden die Kragennäherinnen, die vor dem Band arbeiteten. Etwas weniger verdienten die Armabwärtsnäherinnen. Am wenigsten erhielten die Abfädlerinnen, die heraushängende Fäden abschneiden mussten. So berichteten die Zeitzeuginnen.

Bevor die Näherinnen am Band beginnen konnten, fand die Arbeit der Zuschneiderinnen statt. Bei der Fa. Povel z. B. waren das oftmals Näherinnen mit einer Zusatzausbildung, aber auch gelernte Schneiderinnen, wie Maria Hettmer, die über die entsprechende Ausbildung verfügte. Wenn die Schnittmuster für alle Einzelteile auf dem Stoff lagen, musste mit dem Bandmesser der Stoff geschnitten werden. Diese Arbeit erforderte einiges an Präzision und war nicht ungefährlich. Die zusätzliche Qualifizierung erwarben sich die Frauen im zweimonatigen Abendkurs der Privatschule Müller und Söhne, den diese dreimal in der Woche abends in Recklinghausen anbot. Die Anforderungen dieser Tätigkeit korrespondierten mit der persönlichen Herausforderung der Zuschneiderinnen. So sagte Maria Hettmer dazu: „Es war mein Ehrgeiz, die Schnittmuster so hinzubekommen, dass möglichst wenig Verschnitt entstehen konnte.“8

Nach der Währungsreform und vor allen Dingen am Beginn der 1950er Jahre gab es in der Bundesrepublik einen Konsum-Nachholbedarf. Entsprechend steigerte sich die industrielle Bekleidungsproduktion, in Recklinghausen erkennbar am Ausstoß an Herrenoberhemden. Bei der Fa. Povel wurden Anfang der 1950er Jahre täglich bis zu 1.200 Hemden angefertigt. Die anderen drei Firmen standen dem in nichts nach. Ein Symbol für diesen Produktionserfolg ist das sogenannte ‚Jubiläumshemd‘. Nach unseren Recherchen wurde es 1952 aus Anlass der Herstellung des Millionsten Herrenoberhemdes der Fa. Paul Povel KG in Recklinghausen hergestellt.

Dieser Umsatzerfolg bedeutete, dass es reichlich Arbeit für die Beschäftigten gab. Da blieben extra entlohnte Überstunden nicht aus. Deren Bezahlung und die Akkordlöhne waren für die jungen Frauen, die sich gerade in der Phase der Familiengründung befanden, ein willkommenes Zusatzeinkommen. So konnte es geschehen, dass Ursula Westhues als Fabrikarbeiterin mehr verdiente als ihr künftiger Ehemann als Angestellter. Zusätzlich zur recht guten Bezahlung gab es für die Frauen noch die Möglichkeiten, günstig Stoffe zu erwerben. Da viele von den beschäftigten Frauen zu Hause für ihre Familien Kleidungsstücke nähten, wurde es ihnen nach Absprache erlaubt, Reststücke Stoff zu kaufen. Das war eine Gelegenheit, die die meisten von ihnen – wie sie erzählten – gerne wahrnahmen.

Wie auch schon beim Sprechen über ihre Erfahrungen in ihrer Lehrzeit waren die Berichte der Frauen über den Berufsalltag sehr positiv. Frau Kijac z. B. schrieb in ihren Erinnerungen9: „Es war eine harte Arbeit, ich war abends immer ziemlich geschafft (…). Die Arbeitszeit war von morgens 8:00 Uhr bis nachmittags um 17:00 Uhr. Wir hatten eine Stunde Mittagspause. Wer sich sein Mittagessen warm mitgebracht hatte, konnte es sich in den Behältern in einem Bottich mit heißem Wasser warm halten. Wenn wir morgens ankamen, mussten wir zuerst unsere Karte, die sich in einer großen Steckwand neben der Stempeluhr befand, abstempeln. Das gleiche geschah nach Feierabend. Alle die weiter weg wohnten, sind mit dem Fahrrad zur Arbeit gekommen, so auch ich. Jeden Tag ergab dies pro Weg, ob es regnete oder schneite, eine gute halbe Stunde Strampelei.“10

Auch Ursula Westhues erinnert sich sehr positiv an die Zeit: Dort „… zu arbeiten, war ein Geschenk. Das Allerschönste war das Verhältnis mit den Kolleginnen. Es war so ein herzliches Miteinander.“11

In den Firmen wurde – nach unserem Eindruck aufgrund der Gespräche und auch vorliegenden schriftlichen Unterlagen – viel Wert auf die Pflege des Betriebsklimas gelegt. Bei der Paul Povel KG gab es in den 1950er Jahren mehrere Ausgaben einer Betriebszeitung12, in der nicht nur über betriebliche Abläufe und Betriebsfeiern, sondern auch über Heiraten und Geburten ihrer MitabeiterInnen berichtet wurde. 1949 beteiligte sich die Fa. Povel an den öffentlichen Feiern zur Geburt der 100.000sten Einwohnerin Recklinghausens, der ‚Großstadt-Ilse‘, deren Vater einer ihrer Beschäftigten war.

Die Angaben über die Arbeitszeiten und deren Lage waren in den Gesprächen unterschiedlich. Der Zeitumfang betrug laut Tarifvertrag bis 1965 42 Stunden. Präzise Angaben zur Lage der Arbeitszeit liegen uns nur von der Fa. Turf vor. Dort wurde von 7:00 bis 15:45 Uhr gearbeitet, an zwei Tagen in der Woche bis 16:45 Uhr, mit 15 Minuten Frühstückspause und einer halben Stunde Mittagspause. Wie schon im obigen Zitat von Frau Kijac dargestellt, brachten sich auch in den späteren Jahren die meisten Frauen ihr Essen im Henkelmann mit. Bei Turf wurde 1964 eine Werksküche für die Frühstücks- und die Mittagspause der Beschäftigten eröffnet.

Auf einen wichtigen Gesichtspunkt müssen wir noch zu sprechen kommen, der auch in den nächsten Lebensgeschichten noch eine Rolle spielen wird: Die meisten in der Bekleidungsindustrie als Näherinnen oder Plätterinnen in der Produktion arbeitenden Frauen waren Arbeiterinnen. Im 21. Jahrhundert ist uns selten noch bewusst, wie wichtig damals die Unterschiede zwischen Arbeiterinnen und Angestellten in den Betrieben, aber auch in der sozialen Umgebung waren. Die Statusunterschiede spiegelten sich im betrieblichen Alltag, unterschiedlichen Kleidungsvorschriften, aber auch der sozialen Absicherung wider. Arbeiterinnen und Angestellte waren in verschiedenen Krankenkassen und Rentenversicherungen, hatten damit z. T. unterschiedliche Leistungsansprüche und vor allen Dingen unterschiedliche Kündigungsfristen. Welche Konsequenzen das hatte, werden wir an zwei nachfolgend geschilderten Beispielen sehen.

Heirat und Mutterschaft
Bis auf eine der von uns befragten Frauen, haben alle Anfang bis Mitte ihrer 20er Jahre geheiratet. Allerdings wissen wir nur von einer von ihnen (Edelgard Holtbrügge), dass sie auf den Wunsch ihres Ehemannes ihr Erwerbsleben beendete. Eher wurde die Berufstätigkeit nach der Geburt des ersten Kindes beendet. Manche Frau schilderte: „Als mein Kind geboren wurde, sagte mein Mann, jetzt brauchst Du nicht mehr zu arbeiten.“ Aufgrund der damals nur unzureichend verfügbaren Betreuungsmöglichkeiten für Kleinkinder blieb vielen der Frauen gar nichts anderes übrig. Nicht nur der Wunsch des Ehemannes und die nicht verfügbare Kinderbetreuung, auch das geltende Familienrecht (Bürgerliches Gesetzbuch § 135613) sah die Rolle der Ehefrau darin, „das gemeinsame Hauswesen zu leiten„. Allerdings spielte die Unterstützung durch die Großmütter in vielen Familien eine nicht unwesentliche Rolle, da die junge Familie auf das Einkommen durch die Arbeit in der Fabrik angewiesen war. Zumal aufgrund von Akkordarbeit dort mehr verdient werden konnte als z. B. im Einzelhandel.

Das bedeutet allerdings nicht, dass die Frauen sich für ihr ganzes weiteres Leben auf ihre Funktion als Ehefrau und Mutter beschränkten. Bis auf wenige von ihnen berichteten die Frauen von weiteren Berufsverläufen, die in anderen Bereichen stattfanden. Helga Töpfer hat nach ihrer Familienphase endlich ihren Traumberuf als Verkäuferin ausgeübt. Maria Hettmer hat als technische Zeichnerin gearbeitet. Christa Werdnik war als Haushaltshilfe tätig. Gisela Schiwkowski arbeitete als Verkäuferin im elterlichen Geschäft, das sie später übernommen hat. Die meisten von ihnen haben nach ihrem Ausscheiden aus der Fabrik ihre nähtechnischen Fertigkeiten dafür genutzt, für sich und andere Wäsche und Kleidung herzustellen und zu reparieren.

Auch die nicht stattgefundene Karriere von Maria Knizia will ich hier nicht vergessen. Die Münsterländische Textilgesellschaft mbH, bei der sie gelernt hat, produzierte Anfang der 1950er Jahre nicht nur Herrenoberhemden, sondern auch Damenblusen. Der damalige Chef entdeckte, dass die Auszubildende Maria sich gut als Mannequin (heute als Model bezeichnet) für die Blusen eignete und setzte sie dafür auf Messen und bei Präsentationen in der Firma ein. Er wollte sie gerne in dieser Funktion behalten und bot ihr eine einjährige Ausbildung zum Mannequin an, für die sie nach Düsseldorf hätte gehen müssen. Maria Knizia schlug, da sie bereits verlobt war, dieses Angebot aus. Wie sie uns aber erzählte, hat sie auch nach dem Verlassen der Firma noch manchmal in dieser Funktion gearbeitet.

Interessant ist in diesem Zusammenhang der Generationenunterschied. Die fünf in der Nachkriegszeit geborenen, von uns befragten Frauen sind mit einer viel größeren Selbstverständlichkeit nach dem Größerwerden ihrer Kinder über Jahrzehnte berufstätig gewesen, allerdings nicht in der Bekleidungsindustrie.

Weitere Berufsverläufe
Die Verweildauer der von uns befragten Frauen in der Bekleidungsindustrie erstreckte sich von zwei bis zu 39 Jahren. Nur zwei unserer Zeitzeuginnen haben fast ihr ganzes Erwerbsleben in den Bekleidungsfabriken verbracht. Elisabeth Recktenwald blieb ledig und arbeitete vom Beginn ihrer Ausbildung (1952) bis zur Schließung des Betriebes insgesamt 25 Jahre bei der Münsterländischen Textilgesellschaft mbH (ab 1967 Condor Herrenwäschefabrik GmbH) und anschließend noch zehn weitere Jahre in anderen Bekleidungsfabriken. An ihrem Erwerbsverlauf kann illustriert werden, welche Entwicklungsmöglichkeiten sich den Herrenwäschenäherinnen boten.

Nach der Lehre arbeitete sie zunächst als Näherin. Ihr innerbetrieblicher Aufstieg begann damit, dass sie nach sechs Jahren als Musternäherin eingesetzt wurde. In dieser Funktion verblieb sie fünf Jahre, um danach als Ausbilderin für die circa zehn Lehrlinge im zweiten Lehrjahr zuständig zu sein.

Dieser Wechsel ihrer Funktion hatte auch einen Wechsel ihres Status von der Arbeiterin zur Angestellten zur Folge. Deutlich sichtbares Zeichen war der weiße Kittel der Angestellten anstelle des bunten Kittels der Arbeiterinnen. Als Angestellte erhielt sie nicht nur eine bessere Bezahlung, sie wurde auch Mitglied einer anderen Krankenkasse und der Rentenversicherung der Angestellten. Der verbesserte Kündigungsschutz der Angestellten zeigte seine Wirkung als die Firma Condor Anfang der 1970er Jahre in finanzielle Schwierigkeiten geriet und Personal abgebaut wurde. Ein Effekt ihres Status als Angestellte war, dass Frau Recktenwald wegen langjähriger Betriebszugehörigkeit nicht so schnell gekündigt werden konnte. Daher wurde sie ins Gewebelager versetzt. 1977 durch den Konkurs der Fa. Condor GmbH endete nach 25 Jahren ihre Tätigkeit in der Bekleidungsindustrie in Recklinghausen. In Recklinghausen gab es keine neue Beschäftigung für sie. In Dortmund arbeitete sie vier Jahre als Nähsaalleiterin bei einer Firma für Arbeitsbekleidung, bis auch diese Konkurs machte. Eine weitere sechsjährige Tätigkeit als Nähsaalleiterin bei einer Hemdenfabrik in Essen endete ebenfalls mit deren Konkurs. Ende der 1980er Jahre gab es für sie keine entsprechende Vollzeitstelle in der Region. Für eine alleinstehende Frau reichte jedoch der Verdienst der ihr angebotenen Teilzeitstellen nicht aus. Die strukturellen Veränderungen der Recklinghäuser Bekleidungsindustrie hinterließen in der Biografie von Elisabeth Recktenwald ihre Spuren.

Von all unseren Zeitzeuginnen hat Christel Schlüter am längsten in der Bekleidungsindustrie gearbeitet, die meiste Zeit (1955–1994 mit einer kurzen Unterbrechung) in der gleichen Firma, der Turf-Herrenwäschefabrik GmbH. Am 1. April 1955 begann sie dort ihre Lehre als Herrenwäschenäherin. Sie hatte Schneiderin werden wollen, aber für diesen Beruf fand sie keine Lehrstelle. Nachbarschaftliche Beziehungen ermöglichten ein Bewerbungsgespräch. Zum Gespräch nahm sie einige ihrer Handarbeiten mit. Diese überzeugten sowohl den Chef als auch die Direktrice.

Nach Beendigung der Lehre arbeitete Frau Schlüter als Springerin. Sie war schon früh sehr ehrgeizig und wollte ihre beruflichen Möglichkeiten ausprobieren. Daher kündigte sie 1960 bei Turf. Im Zeugnis der Firma wird die Wertschätzung für ihre Arbeit deutlich: „(Sie) gehörte zu den besten Näherinnen unseres Betriebes. Aus diesem Grunde wurde sie als Springerin für alle Arbeitsgänge am Herrenhemd eingesetzt.14

Zusammen mit einer Freundin wechselte sie zur Firma Bauer und nach kurzer Zeit zur Firma Laarmann. Dort lief es aber nicht zu ihrer Zufriedenheit. Arbeitsbedingungen und Arbeitsabläufe entsprachen nicht ihren Vorstellungen. So kam es ihr 1961 sehr gelegen, dass sowohl der Firmeninhaber der Firma Turf als auch der Betriebsleiter und die Direktrice sich darum bemühten, ihre ehemalige Mitarbeiterin wieder für den Betrieb zurück zu gewinnen. Schon sehr früh begann ihr innerbetrieblicher Aufstieg. Als 22-jährige wurde sie erst Vorarbeiterin, dann Bandleiterin und Ausbilderin. Diese Funktionen übte sie fast 30 Jahre aus.

Nach der Heirat 1965 erfüllte sich ihr Kinderwunsch leider nicht. Wie schon Anfang der 1960er Jahre suchte sie nach einer Verbesserung ihrer beruflichen und vor allem auch finanziellen Möglichkeiten. Trotz ihres Aufstiegs hatte sie immer noch den Status einer Arbeiterin. Eine Bekleidungsfirma aus Herne wollte sie abwerben und bot ihr das Angestelltenverhältnis an. Das blieb der Direktrice der Fa. Turf nicht verborgen. Sie sorgte dafür, dass Frau Schlüter ins Angestelltenverhältnis eingruppiert wurde. Damit verbunden war eine erhebliche Verbesserung ihres Verdienstes auf circa 1.000 DM.

Die Fa. Turf wurde in den 1980er und später vor allem in den 1990er Jahren nicht verschont von den strukturellen Veränderungen, die durch internationale Arbeitsteilung und vor allem die Öffnung des Ostblocks hervorgerufen wurden. Bereits Anfang der 1990er Jahre wurde die Produktion umorganisiert. Auch ein Geschäftsführerwechsel beschleunigte die Veränderungen. Der größte Teil der Maschinen wurde nach Rumänien gebracht, um dort neue Produktionsstätten aufzubauen. Einige Mitarbeiterinnen von Turf waren bereits dort mit dem Aufbau beschäftigt. In dieser Phase war Christel Schlüter in Recklinghausen als Musternäherin tätig. Auch ihr Arbeitsplatz sollte nach Rumänien verlagert werden. Ihre dort schon tätigen Kolleginnen hatten ihr von den dortigen schweren Arbeitsbedingungen und der katastrophalen Unterbringung berichtet. Christel Schlüter stellte sich die Frage, ob sie sich dieses in ihrer gesundheitlichen Situation – nach zwei Krebserkrankungen – noch zumuten sollte und entschied sich dagegen. Sie wählte 1994 die Frühverrentung.

Wie auch andere Zeitzeuginnen hat Christel Schlüter – trotz eines wenig positiven Endes ihrer dortigen Tätigkeit – sehr positiv über ihre Arbeitserfahrungen, das – in der meisten Zeit – angenehme Betriebsklima, die regelmäßigen Betriebsfeiern (auch über das Ende der Beschäftigung hinaus) und den Zusammenhalt unter den Kolleginnen berichtet.

Resümee
Es war eine tolle Zeit mit den von uns interviewten Frauen. Wir haben im Zusammenhang mit der Ausstellung15 und manchen Veranstaltungen die Chance gehabt, uns wiederzusehen und interessante Gespräche zu führen. Vieles in den Gesprächen mit Schnittmusterzeichnerinnen, Herrenwäschenäherinnen und Plätterinnen hat uns immer wieder berührt und beeindruckt. Hervorzuheben ist ihr Durchhaltewillen und ihre Zielstrebigkeit. Wir haben Frauen kennengelernt, die in der bisherigen Frauenforschung kaum einen Platz gefunden haben und die auch in der regionalen Geschichtsschreibung bisher nicht angemessen gewürdigt worden sind.

Je mehr wir uns mit ihnen beschäftigt haben, desto mehr wuchs unser Respekt vor ihnen, ihrer zupackenden Art, ihr Leben zu meistern, ihrer Lebensklugheit und Energie. Wir erhielten Einblick darin, wie sie mit den eher traditionell vorgegebenen Frauenbiografien umgingen und ihren Weg fanden. All dieses motivierte uns, ihre verborgene Geschichte zum Leben zu erwecken und für Andere sichtbar zu machen. Wir bedanken uns bei ihnen für diese Erfahrungen.

Dr. Karin Derichs-Kunstmann, Arbeitskreis Recklinghäuser Frauengeschichte

Der vom AK herausgegebene Katalog kann über die Website des AK – www.frauengeschichte-re.de – für 12 € (+ 2,50 € Versandkosten) bezogen werden.




		
Zitation: Derichs-Kunstmann, Karin, Arbeiterinnenleben im Ruhrgebiet in der Nachkriegszeit, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/arbeiterinnenleben-im-ruhrgebiet-in-der-nachkriegszeit/

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Appolonia Pfaus

Appolonia Pfaus war eine in Bochum lebende Sintezza, die 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Über ihr Leben wissen wir nur wenig. Um Appolonia Pfaus im Kontext ihrer Kultur und Geschichte besser zu verstehen, machen wir zunächst einen großen Sprung in die Vergangenheit.

Der Weg der Romvölker durch Europa war stets vor allem von Ausgrenzung und Armut geprägt und von einem großen Misstrauen der Einheimischen. Ihre Ankunft 8./9. Jahrhundert in Europa war Resultat von Krieg und Gewalt, Konstruktionen über ihre Herkunft und ihren Charakter begannen kurz danach, ebenso wie weitere Verfolgungen.1 Die Romvölker waren eine Gruppe von Menschen mit denen wenig und über die viel gesprochen wurde. Ihre Geschichte war immer auch Faszinationsgeschichte, und sie wurde ohne die Einbeziehung derer geschrieben, die sie betraf. Zuschreibungen und Fremdbestimmung gingen Hand in Hand. Da Geschichte(n), Gesetze, Traditionen und Wissen bei ihnen mündlich überliefert wurden, waren diese wichtigen kulturellen Leistungen aus europäischer Sicht schlichtweg nicht vorhanden. Sie wurden damit ebenso abgewertet wie Völker außerhalb Europas, die als „Wilde“ galten.2

Imaginationen und rassistische Wissenschaft

Anthropolog:innen um 1800 zeichneten ein vergleichsweise wertschätzendes Bild, was damit zusammenhing, dass sie den Ursprung der Romvölker in Indien ausgemachten und ihre Sprache als vom Sanskrit abstammend – damit identifizierten sie die Sinti und Roma als indo-europäisch, damit passten sie in eine Kategorie, und die große Frage nach dem „woher?“ war damit beantwortet. Wissenschaft, Behörden und Teile der Literatur ließen aber nicht davon ab, sie als parasitäres Pariavolk einzustufen und darzustellen. Gleichzeitig entstand das forthin populäre Literaturgenre der „Zigeunerromantik“ als Gegenentwurf zum bürgerlich-industriellen Lebensideal und Selbstbild Europas.3 Doch galten solche Gegenentwürfe zum „zivilisierten“ Europa für den Rest der Gesellschaft nicht als erstrebenswert, und der imaginäre Raum der Romantiker, in dem Geheimnisvolles und Wunderbares und damit auch die Romvölker eine theoretische Akzeptanz fanden4, war eben genau das: imaginär. Die negativen Zuschreibungen, von Tier bis Teufel, enthielten meist schlicht all das was dem (Selbst-)Bild des zivilisierten Europäers nicht entsprach. So wurde die Romvölker für grundsätzlich uneuropäisch erklärt, Naturwesen, dem Tier näher als dem Menschen, unnütz für die Gesellschaft, auf einer niedrigen Entwicklungsstufe über die man sie auch mit Mühe nicht hinausbekommen konnte.5

Binäre Vorstellungen und Projektionen von Natur vs. Kultur, Emotionalität vs. Rationalität begegnen uns im Verlauf der Geschlechtergeschichte auch immer wieder in Bezug auf Frauen und Mädchen. Da überrascht es nicht, dass das Bild der „Zigeunerfrau“ oder des „Zigeunermädchens“ zentral für die Faszination aber auch Abwertung gegenüber Romvölkern war: Schönheit, Wildheit, Verführung, Abgründigkeit, extreme Emotionalität waren hier dominante Motive.6 Und wie im Sexismus und im Anti-Ziganismus üblich liegen Verehrung/Verklärung und tödliche Verachtung gefährlich nahe beieinander. Ein intersektionaler Blick auf die spezielle Diskriminierung von Sintezza und Romnja hilft also dabei, ihre Situation in ihrer Tragweite besser zu verstehen.

Ende des 19. Jahrhunderts gab die biologistische „Rassenlehre“ als „naturwissenschaftlicher“ Blick auf die Romvölker den ethnografischen Erkenntnissen über ihre verschiedene Gruppierungen einen neuen Rahmen, denn nun erhielt jeder Mangel an Anpassung, jede Gesetzesübertretung seitens Sinti und Roma einen angeblich wissenschaftlich bewiesenen Grund: die Biologie.7 Jede Diskussion über Armut, Ausgrenzung und Druck als Ursachen z.B. für Kriminalität mussten damit erst gar nicht geführt werde, das eigene Wahrnehmen und Handeln musste nicht mehr hinterfragt werden. Irrationale Ängste, Vorurteile und Machtinteressen erhielten damit einen pseudo-rationalen, pseudo-objektiven Anstrich mit dem Ruf nach staatlichem Eingreifen. So erreichte die Fremdbestimmung eine neue, in letzter Konsequenz tödliche Stufe.

Sinti:zze und Rom:nia in Bochum und Wattenscheid

Sinti:zze und Rom:nia im Ruhrgebiet gehörten zur Kirmeskultur, die sich rund um den Cranger Pferdemarkt seit dem späten Mittelalter entwickelt hatte. In der örtlichen Berichterstattung zur Cranger Kirmes lässt sich genau nachzeichnen, wie sich die romantisierende Verklärung des „fahrenden Volkes“ hin zum menschenverachtenden Rassismus im Nationalsozialismus verschoben hat.8 In Bochum und Wattenscheid wurden vor der Nazizeit Plätze an  Sinti:zze und Rom:nia verpachtet, doch dies stieß oft auf großen Widerstand der Bevölkerung: Es wurde bemängelt, dass die Plätze keine Sanitären Anlagen hatten, behauptet, dass die Sinti:zze und Rom:nia Krankheiten verbreiten würden, ihre Kinder schmutzig seien, zu viele Menschen auf zu engem Raum lebten. Selbst wenn – trotz in der Tat fehlender sanitärer Anlagen – die Befürchtungen hinsichtlich Krankheiten, Reinlichkeit und Platzmangel widerlegt werden konnten, nahm der Druck zu, und die Menschen mussten umziehen, auf Plätze außerhalb der Stadt, was ihnen Handel und Produktion für ihren Lebensunterhalt erschwerte. Und sanitäre Anlagen hatten diese zugewiesenen Plätze erst recht nicht, aber das spielte dann für die besorgte Bevölkerung keine Rolle mehr. Auch, dass viele deutschstämmige Arbeiterfamilien in ihren Wohnungen zum Teil deutlich beengter lebten als Sinti:zze und Rom:nia in ihren Wagen und Hütten, kam nicht zur Sprache.9

Diskriminierungen

Wie sahen  Abwertung und Vorurteile gegenüber Sinti:zze und Rom:nia aus im Vergleich zur Diskriminierung von Jüdinnen und Juden? Letztere wurden gesehen als das „Andere“, als das, was man nicht werden konnte und wollte: Eine Gruppe die fixiert ist auf wirtschaftliche Macht, ohne Bindung an Heimat oder Kultur. Die „Zigeuner“ dagegen wurden gesehen als etwas, das Angst vor einem Abstieg (z.B. durch extreme Armut, Krankheit oder Alter) machte: Eine Gruppe, deren Angehörige ohne Zivilisiertheit und Zugehörigkeit als Kreaturen der Natur ohnmächtig ihr Dasein fristeten. Beiden wurden unterstellt, als „Parasiten“ die Gesellschaft zu schädigen. In beiden Fällen wurde dass, was Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft an sich selbst ablehnten und nicht mit ihrem Selbstbild vereinbaren wollten, auf andere projiziert und in deren Vernichtung versucht auszulöschen.10 Damit verriet und verlor Europa letztlich alle Ideale von Zivilisiertheit, Menschlichkeit, Sitte und Anstand.11

Die im Kaiserreich und der Weimarer Republik praktizierte Idee,  Sinti:zze und Rom:nia zur Anpassung zu zwingen – also Sesshaftigkeit, Aufgeben von Sprache, Traditionen und Kultur – wurde bald von drastischeren Maßnahmen abgelöst. Eine auf „Rassenlehre“ basierende Gesetzgebung gegen Romvölker gab es bereits 1926. Während der NS-Diktatur ereignete sich dann das dunkelste Kapitel ihrer Leidensgeschichte: Die systematische Ermordung von Sinti:zze, Rom:nia und anderen Romvölkern – in Romanes Porajmos genannt. Die Nationalsozialisten benutzen die rassistische Idee vom  „Zigeuner“ als eine „minderwertige Rasse“ mit genetischer Veranlagung zum Stehlen und Vagabundieren, als „artfremdes Element, dass nie ein vollwertiges Glied eines Gastvolkes werden wird“.12 Anfang 1934 trat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft, das die Zwangssterilisation von Menschen aus Romvölkern legitimierte. Ihre körperliche Unversehrtheit war nicht mehr garantiert 

In Bochum wurden die Menschen auf speziellen Plätzen und in Obdachlosensiedlungen in Stadtrandgebieten angesiedelt, dort waren sie leicht zu kontrollieren, Razzien waren an der Tagesordnung. Ab 1939 erfolgte die komplette Erfassung durch Gesundheitsamt und Arbeitsamt, die Einstufung lautete „asozial“, „arbeitsscheu“, und ohne medizinischen Befund auf soziale Ausmerzung zielend: „angeborener Schwachsinn“. Dies war die Grundlage für KZ-Haft, und damit Folter und Ermordung 13. Die weit verbreitete Sterilisation14 von Frauen und Mädchen in den Lagern wurde kostengünstig ohne Narkose durch Injektion von Säure vorgenommen, die oft bis in den Bauchraum gelangte und zu schweren Blutungen und Schmerzen führte.15 Ab dem Frühjahr 1939 wurden Sintezze und Romnia vor allem ins KZ Ravensbrück deportiert,16 Männer mehrheitlich nach Sachsenhausen, Buchenwald und Mauthausen.

Sinti:zze und Rom:nia waren auch immer wieder Forschungsobjekte. Eva Justin, stellvertretende Leiterin der „Rassehygienischen und Bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt“ hatte über über „Zigeunerkinder“ in einem Kinderheim promoviert, sprach sich deutlich für Sterilisation aus, und war in Ravensbrück für die „Begutachtung“ von jugendlichen Sintizze und Romnia zuständig17 Hinzu kamen Folter und Ermordung als Versuchsobjekte von KZ-Ärzten.

Porajmos – Genozid an den Romvölkern

Etwa 17.000 Sinti:zze und Rom:nia wurden zwischen 1938 und 1945 in Konzentrationslagern ermordet, viele Namen und Lebensdaten sind nicht mehr zu ermitteln. Informationen über die Opfer wurden in vielen Fällen komplett vernichtet. Wie kompliziert sich die Forschung zum Beispiel in Bochum gestaltete, wird im Vorwort der VVN-Veröffentlichung „Verachtet, vertrieben, verfolgt. Die Verfolgung der Sinti:zze und Rom:nia in Bochum und Wattenscheid“ dargestellt: Herausforderungen waren die schwierige Auffindbarkeit der Akten, ungenaue Angaben in den Unterlagen, Rechtschreibfehler, beschädigte, unleserliche Dokumente. Hilfreich waren neben Akten des Gesundheitsamtes vor allem die Entschädigungsakten. So konnten Informationen über Appolonia Pfaus18 gefunden werden, nach der seit 2007 auf Anregung der VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten) nach Beschluss des Rates der Stadt Bochum sogar ein Park an der Windmühlenstraße in der Bochumer Innenstadt benannt ist .

Appolonia Pfaus

Appolonia Pfaus wurde am 18. Januar 1878 oder 79 in der französischen Schweiz geboren. Ihr Mann war der Sinto Josef Winter. Die unterschiedlichen Nachnamen sind dadurch zu erklären, dass Sinti:zze nach eigenen Bräuchen und nicht standesamtlich heirateten. Die so geschlossenen Ehen wurden staatlich nicht anerkannt, ihre Kinder galten damit als unehelich. 19 Sie und ihr Mann Josef Winter hatten elf gemeinsame Kinder. Drei starben früh. Appolonia Pfaus zog nach dem Tod ihres Mannes zu ihrem Sohn Peter nach Bochum. Die Familie wurde in einem Obdachlosenheim in der Meesmannstr. 117 untergebracht20, dies war in Bochum eine übliche Maßnahme seitens der Behörden, da es anders als in Wattenscheid hier kein spezielles Lager für die ethnischen Minderheit gab.21 Sie war mittlerweile Großmutter von 13 Enkelkindern. Auch ihr Sohn Michael lebte mit seiner Familie in Bochum, sowie auch weitere ihrer Kinder. Appolonia Pfaus‘ Sohn Georg war Soldat in der deutschen Armee,  Sinti und Roma wurden ab dem 1. September 1939 zunächst wie alle anderen wehrfähigen Männer eingezogen. 1941 und 42 wurde zwar ihr Ausschluss aus der Wehrmacht angeordnet wurde, doch dies wurde – einfach weil Soldaten gebraucht wurden und sicher auch Kameradschaft eine Rolle spielte – nicht konsequent umgesetzt. Georg Pfaus fiel 1942 in Russland. Ab 1943 wurden von Romvölkern abstammende Soldaten meist gegen den Widerstand ihrer Vorgesetzten und oft noch in Uniform von der Front weggeholt und nach Auschwitz gebracht.22

Appolonia Pfaus Sohn Peter war eigentlich Korbmacher. Auch er lebte in Bochum und arbeitete in der Rüstungsherstellung im Bochumer Verein. Dort wurden viele  Sinti:zze und Rom:nia beschäftigt, doch wurden sie im Zuge von Deportationen schnell durch „billigere“ Zwangsarbeiter ersetzt.23

1943 wurden Sinti und Roma aus den umliegenden Städten nach Bochum gebracht um von hier aus nach Ausschwitz deportiert zu werden. Am 21. Oktober desselben Jahres wurden Peter Pfaus und seine Familie deportiert, ebenso Michael Pfaus mit seiner Familie. Appolonia Pfaus, die noch keinen Deportationsbescheid bekommen hatte, entschied sich, mit ihrer Familie mitzufahren. Die Ehefrauen von Peter Pfaus und von Michael Pfaus waren schwanger. Erika, geboren am 08.12. 1943, starb am 09.02.1944; Renate, geboren am 15.01.1944, starb am 12.02.1944. Beiden hatte man, so wie allen Neugeborenen im Lager24 bereits Häftlingsnummern tätowiert. Insgesamt haben nur drei der elf Kinder von Appolonia Pfaus und nur vier ihrer fünfzehn Enkelkinder den Genozid der Nazis an den Romvölkern überlebt. Wir wissen das, weil in einer weiteren wichtigen Quelle, dem größtenteils erhaltenen „Hauptbuch“ des sogenannten „Zigeunerfamilienlagers“ in Auschwitz Birkenau, unter anderem auch Menschen aus der Familie Pfaus registriert wurden.

Die Hauptbücher des sog. „Zigeunerfamilienlagers“

Die Hauptbücher wären, wie viele andere Unterlagen gegen Kriegsende beinahe von den Tätern vernichtet worden, das ganze „Zigeunerlager“ sollte dem Erdboden gleich gemacht werden. Doch zwei polnische Häftlinge, Roman Frankiewicz und Tadeusz Joachimowski, die als Schreiber im Lager arbeiten mussten und so Zugang zu den Büchern hatten, retteten die wichtige Dokumente. Sie vergruben sie in einem Eimer neben der Baracke Nr. 31. Dort blieben die Bücher etwa vier Jahre verborgen. Dann wurden sie, Auschwitz war mittlerweile eine staatliche Gedenkstätte, von Mitarbeitern der Gedenkstätte ausgegraben. Anwesend war dabei auch Tadeusz Joachimowski. Damit konnten zumindest einige Menschen vor dem Vergessen bewahrt werden. Appolonia Pfaus ist im Hauptbuch mit dem Sterbedatum 12. Mai 1944 verzeichnet. Vier Tage später wurde das „Zigeunerfamilienlager“ geräumt, gegen den Widerstand der Häftlinge, der erbarmungslos niedergeschlagen wurde.25

Nach dem Krieg bemühten sich überlebende Angehörige um eine Entschädigung, die ihnen als Verfolgten des NS-Regimes zustand. Wie diese Prozesse häufig verliefen, und welchen Erfolg die Angehörigen der Familie Pfaus hatten, schildern die Autor:innen der VVN-Broschüre: „Da wurden für Appolonia Pfaus […] nur 2.700 DM als Entschädigung gezahlt, weil anzunehmen war, daß in einem Vernichtungslager eine mehr als 65-jährige höchstens fünf Monate zu leben hatte. Und das erst nach 1960, so lange dauerte dieser unwürdige Prozeß. Für die schwierige Beschaffung des Erbscheins sind allein 3.500 bis 4.000 DM fällig gewesen. In diesen Verfahren sind die Sinti und Roma ein zweites Mal ermordet worden.“26

Rassismus heute

Und heute? Viele Angehörige der Romvölker sind längst in Verbänden organsiert, zum Beispiel im Bundesromaverband und im Zentralrat der Sinti und Roma, auf deren Internetseiten https://www.bundesromaverband.de/ und https://zentralrat.sintiundroma.de/ es viele spannende Informationen gibt. Die Vorsitzende des Romaverbandes, Anwältin Nizaqete Bislimi, hat ein Buch über ihr Leben geschrieben, dass mit Vorurteilen aufräumt. Die Sängerin Marianne Rosenberg überraschte viele, als sie in ihrer Autobiografie „Kokolores“ 2006 über ihre Sinti-Wurzeln erzählte.[erfn_note]Vgl. Roseberg, Marianne: Kokolores. Autobiografie, Berlin 2006.[/efn_note] Und Dotschy Reinhard, Enkelin des legendären Gitarristen Django Reinhardt, liefert in „Everybody‘s GYPSY. Popkultur zwischen Ausgrenzung und Respekt“ aufschlussreiche Analysen. Nach Jahrhunderten der Zuschreibungen werden Stimmen von Angehörigen der Romvölker endlich stärker wahrgenommen.

Doch neben all dieser Fortschritten ist die Situation von Sinti und Roma in vielen europäischen Ländern immer noch von Diskriminierung und Gewalt geprägt.27 Auch ohne Rassentheorien sind Vorurteile gegen sie äußerst lebendig: Urvolk, romantischer Mythos mit Gypsy- oder Boho-Style, Bohéme-Ideal, generationenübergreifend kriminelle Banden, Asoziale28. Bis in die 1980er Jahre mussten Romvölker darum kämpfen, dass ihre Erfahrungen in der Nazizeit als rassistische Verfolgung (und nicht nur als simple Strafverfolgung) anerkannt wurde, obgleich dies eigentlich schon in den Entschädigungsunterlagen zu lesen war29. In osteuropäischen Ländern beobachtet Klaus-Michael Bogdal, dass deren niedriger Status innerhalb der EU-Hierachie oft durch Abwertung von Sinti und Roma kompensiert wird – ein Aufwerten der eigenen Identität also auf Kosten anderer.30

Aus dem Kosovo flohen 1999/2000 nach Morden und Vergewaltigungen durch albanische Nationalisten im Rahmen von ethnischen „Säuberungen“ ca. 100.000 Roma und Aschkali31. Sie waren dort 650 Jahre lang sesshaft gewesen, waren gesellschaftlich gut integriert und meist wohlhabend.

Und hier in Deutschland ermordete Tobias Rathjen am 19. Februar 2020 in Hanau aus rassistischen und rechtsextremistischen Motiven elf Menschen32, darunter die Romni Mercedes Kierpacz sowie die Roma Vili Viorel Păun und Kaloyan Velkov. Filip Goman, der Vater von Mercedes Kierpacz, brachte die furchtbare Kontinuität jahrhundertelangen Hasses gegen unschuldige Menschen auf den Punkt als er sagte: „Mein Opa wurde im KZ vergast, meine Tochter in Hanau erschossen.“

Einige Jahre bevor die Situation von geflüchteten Menschen an den Außengrenzen Europas als moralische Katastrophe benannte wurde, stellte Klaus-Michael Bogdal 2011 ein ähnliches Versagen in Bezug auf die Romvölker in Europa fest, die mit 10 Millionen Menschen ein zentrales Thema der politischen, sozialen und kulturellen Gestaltung unseres Kontinents sind. „Nicht zuletzt wird sich die Zukunftsfähigkeit des geistigen Konstrukts Europa am Umgang mit den Romvölkern messen lassen müssen.“33 Der Weg scheint noch lang, zu lang – und wir als Mehrheitsgesellschaft müssen uns in den Worten des afroamerikanischen Autors und Aktivisten James Baldwin fragen lassen: „It’s taken my father’s time, my mother’s time, my uncle’s time, my brothers’ and my sisters’ time. How much time do you want for your progress?“34

Linda Unger

Zitation: Unger, Linda, Appolonia Pfaus, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/appolonia-pfaus/

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Ulrike Janz

Für Ulrike Janz, Jahrgang 1956, beginnt gerade eine ganz neue Lebensphase: Der sogenannte „Ruhestand“. Sie ist gespannt, wie sich der wohl anfühlt und wie er auf Dauer aussehen wird, sagt sie während wir in ihrer gemütlichen, mit Büchern gefüllten Wohnung im Dortmunder Beginenhof sitzen. Pläne und Ideen hat sie viele, wie sich das für eine leidenschaftliche Aktivistin und lebenslange Macherin gehört. Ulrike Janz ist seit ihrem Studium an der Ruhr-Uni Bochum in der Frauen-Lesben-Bewegung aktiv, politisch interessiert war sie aber schon als Schülerin, und ein Klassenbewusstsein hatte sie als Arbeiter:innentochter ebenfalls schon früh. Wie also hat alles angefangen, damals in Recklinghausen?

Klassenbeste

Ulrike war schon immer ein Bücherwurm. Allerdings gehörten die Praxis, das Machen, in ihrer Familie immer selbstverständlich dazu. Die Mutter, eine Kinderpflege-Assistentin aus einer Bergmannsfamilie, legte Wert auf Qualität und gepflegtes Äußeres und nähte ausgezeichnet. Der Vater, Maurer und LKW-Fahrer, hatte ein enormes handwerkliches Geschick. Beide brachten ihren Töchtern Ulrike und Susanne vieles bei, auch wenn Ulrike von sich sagt, dass sie im Vergleich zu ihren Eltern weder so perfekt schneidert wie die Mutter, noch so talentiert heimwerkt wie ihr Vater.

Dem Vater fehlte es wegen seines Mangels an formaler Bildung oft an Selbstbewusstsein, doch seine Töchter, die ihn als lebensklugen Menschen und höchst begabten Handwerker schätzten, stärkten ihn. Die Mutter wurde aufgrund ihres Stils sowie ihrer kommunikativen und offenen Art auch von ihren Freund:innen aus der Bürger:innenschicht hoch geschätzt. So verstand Ulrike früh: Formale Bildung ist wichtig, aber andere Arten von Wissen und praktische Fähigkeiten sind ebenso wertvoll; soziale Klassen existieren und müssen klar benannt werden, man sollte sich als Arbeiter:innenkind aber davon nicht einschüchtern lassen.

Als Ulrike mit zehn Jahren auf eine weiterführende Schule gehen sollte, griffen dann aber doch Unsicherheiten und Ängste der Eltern: Um der Tochter als Arbeiter:innenkind schlechte Erfahrungen zu ersparen, entschieden sie sich, das lernbegeisterte Mädchen nicht aufs Gymnasium zu schicken, sondern auf die Realschule, mit dem Ziel später mal z.B. bei der Sparkasse zu arbeiten. Ulrike weinte zwei Wochen lang. Mit den guten Noten war es aus reiner Verweigerung erstmal vorbei. In der  Realschule herrschte strikte Geschlechtertrennung und es ging höchst autoritär zu. Doch mit der Zeit siegte die Lust am Lernen, und in der 8. Klasse war klar: Ulrike würde nach dem Realschulabschluss zum Gymnasium wechseln. Als Jahrgangsbeste und Dank der sozialdemokratischen Bildungsreform mit Schülerbafög begann 1971 Ulrikes Gymnasialzeit. Während sie an der Realschule noch vor einem Abstieg der Zensuren auf der neuen Schule gewarnt wurde, genoss sie den respektvollen Umgang am Gymnasium und wählte Geschichte und Französisch als Leistungskurse. Neben der Schule bestand Ulrikes Leben vor allem aus Disko, Nähen und Lesen, mit 13 hatte sie ihren ersten Freund, außerdem war sie ein wenig in der Schülervertretung aktiv. Dort begeisterte sie sich für linke Politik.

Den Eltern machten die linken Ansichten ihrer Tochter etwas Sorgen, die Stimmung in Deutschland war bedingt durch Aktivitäten der Roten Armee Fraktion zunehmend nervös. Zudem trat sie mit 18 aus der Kirche aus, was sich bei der Arbeitssuche nachteilig auswirken konnte. Der Vater war zwar politisch interessiert, hatte aber aufgrund seiner persönlichen Geschichte großen Respekt vor Autoritäten und hätte sich nie zugetraut, politisch aktiv zu werden. Der mittelschichtsorientierten Mutter war vor allem wichtig, dass es ihre Töchter einmal besser haben würden als sie selbst. 1974 bestand Ulrike das Abitur – Ziel war der Numerus Clausus gewesen, die Mutter hätte ein Medizinstudium gern gesehen, doch Ulrike entschied sich für Psychologie. In Bochum wurde sie angenommen und liebte die Ruhr-Uni vom ersten Moment an. Für ihre Eltern war klar , dass sie ihre Tochter in allem unterstützen würden, was sie sich vornahm.

In der Betonschönheit

Mit langen blonden Haaren, schwingenden Röcken, Make up, hohen Absätzen und einem eleganten Fuchspelzmantel stößt Ulrike  in linken Kreisen der Uni auf  Vorurteile: Wegen ihrer Kleidung hält man sie für einen Mittelschichtstochter und traut ihr politisch wenig zu. Hier können privilegierte Bürger:innenkinder einiges von ihr lernen, zum Beispie,l dass man sich erst mal leisten können muss, in einer Gesellschaft, die Wert auf Äußerlichkeiten legt, absichtlich abgerissen herumzulaufen. Im Studiengang Psychologie sind 40% der Studierenden schon älter, weil sie über den zweiten Bildungsweg an die junge Ruhrgebietsuni gekommen sind. So findetUlrike schnell eine Clique von interessanten Menschen, mit denen sie persönliche und politische Schnittmengen hat. Bald zieht sie ganz nach Bochum, denn täglich mit dem Zug von Recklinghausen zur Uni zu pendeln nimmt zu viel Zeit in Anspruch.

Das Psychologische Institut mit den Schwerpunkten Verhaltenstherapie und Gesprächstherapie ist bis Mitte der 1970er Jahre den Geisteswissenschaften zugeordnet, dann werden Statistikvorlesungen und -prüfungen Pflicht. Und das Institut, ohnehin der linken Spontiszene nahe, rebelliert: Die Studierenden streiken, wenn Statistikklausuren auf dem Stundenplan stehen. Ulrike, die sich für Anarchafeminismus interessiert, findet das sehr sympathisch, macht aber trotzdem 1977 ihr Vordiplom. Im gleichen Jahr beginnt sie, in einer von Psychologiestudentinnen gegründeten Frauengruppe aktiv zu werden und belegt von Studentinnen ins Leben gerufene Frauenseminare – ihr „organisierter Einstieg in den Feminismus“, wie sie selber sagt. Als Ulrike Alice Schwarzers „Der kleine Unterschied“ liest, blättert auch die Mutter in dem Buch und fragt: „Musst Du dann auch lesbisch werden?“ Ulrikes ehrliche Antwort: „Aber Mama, Du weißt doch, dass ich nicht lesbisch bin.“

Der 1978 gegründete Frauenbuchladen heißt sie mit offenen Armen willkommen. Hier, in der Szene die viele Frauen- und Lesbengruppen umfasst, die zu verschiedenen Themen politisch arbeiten, sich treffen, diskutieren, Aktionen machen, findet sie nach und nach eine theoretische und praktische, politische und persönliche Heimat. Sie arbeitet von 1977 bis 1981 in der Bochumer Frauenhausinitiative mit, auch im Studium wird das Thema Gewalt gegen Frauen behandelt, ebenso wie  sexuelle Störungen, Verhütung und Abtreibung – Studentinnen bringen diese Aspekte in Seminaren ein. Außerdem ist Ulrike für einige Jahre im FrauenLesbenReferat der Uni aktiv und ist eine Weile Referentin.

Dass sie Frauen auch anziehend findet, wird ihr erst allmählich bewusst. Nach Wochenenden in Frauenzusammenhängen zurück nach Hause zu ihrem Freund zu kommen, fühlt sich irgendwann seltsam unpassend an. Der verständnisvolle junge Mann, selbst anarchistisch engagiert und in einer feministischen Männergruppe aktiv, unterstützt die nun lesbisch lebende Freundin, es gibt auch ein gemeinsames Abendessen mit ihm und einer Frau, mit der Ulrike eine kurze Beziehung hat, doch das ist keine Dauerlösung. In den Frauengruppen wird viel darüber diskutiert, ob für Frauen ein befreites Leben nach den aus der eigenen gesellschaftlichen Situation entwickelten feministischen Grundsätzen (Politik der Subjektivität) in Beziehungen mit Männern überhaupt möglich ist. Für Ulrike und viele andere Frauen lautet die Antwort: Nein. So ist das Jahr 1982 von vielen Veränderungen geprägt: Nach dem Examen 1981 ist das Studium nun zu Ende. Ulrike hat Röcke und Make Up seit einigen Jahren hinter sich gelassen, nun verabschiedet sich auch von ihrem langen Haar – und hat ihr Coming Out.

Vom Film zum Buch zur Zeitschrift

Eigentlich hatte die Frauengruppe am Psychologischen Institut den Plan, im Ruhrgebiet ein feministisches Therapiezentrum zu gründen. Doch viele der Frauen gehen nach dem Examen in den Beruf und haben keine Zeit mehr, sich außerhalb des Arbeitsalltags im großen Stil zu engagieren.

Ulrike beginnt, Autogenes Training zu unterrichten. Gemeinsam mit anderen Lesben sowie feministischen Heteras gründet sie eine Gruppe gegen Imperialismus und Bevölkerungspolitik, die sich bald auch kritisch mit Reproduktions- und Gentechnologien auseinandersetzt und sich dagegen engagiert. Mit ihrer ersten ernsthaften lesbischen Beziehung zieht sie 1983 in eine Lesben-WG, die anderthalb Jahre besteht und als Lebensmodell auch eine wichtige politische Dimension hat. Wie Beziehungen aussehen können und welche Gestaltungsmöglichkeiten es gibt, ist in der Lesbenszene ein großes Thema, denn bürgerliche bzw. patriarchale Muster wollen die Frauen in der Bewegung nicht reproduzieren.1

Gleichzeitig sind Vorurteile und Diskriminierung seitens der Gesellschaft nach wie vor ein großes Problem. Als Ulrike mit ihrer Freundin eine Wohnung sucht, meint die Vermieterin beim Kennenlernen: „Wir mussten Sie ja erst mal sehen – Sie könnten ja auch Lesben sein!“ Mit der Wohnung klappt es trotzdem, die Eltern schenken gutes Geschirr und freuen sich über das ordentliche Zuhause mit ordentlichen Möbeln. Denn den Grundsatz: „Wie haben zu wenig Geld, um billige Sachen zu kaufen“ hat Ulrike verinnerlicht, auch was ihre Kleidung angeht. Die Eltern sind weiterhin unterstützend: „Brauchse was, Kind? Kauf was ordentliches!“ Der Vater plaudert mit Ulrikes Partnerinnen gern über Autos.

1984 nimmt Ulrike eine Stelle als Filmvorführerin im Uni-Kino an– eigentlich kein Job für Frauen, wie man ihr sagt, aber eine Lesbe könnte den schon machen. Na, ein Glück! Die Arbeitszeiten sind ungünstig für das eigene soziale Leben, die Kino-Gutscheine bleiben ungenutzt, die Bezahlung ist schlecht, doch Ulrike kann zum Teil das Programm mitgestalten und viele Aushilfen – meist junge Männer – anlernen. Der Vater ist stolz, dass sie eine technisch anspruchsvolle Arbeit macht, die Mutter vermutet eher, dass der Job nicht ungefährlich ist. Schwester Susanne arbeitet eine Zeit lang an der Kinokasse. Doch nach einem Konflikt des Uni-Kinos mit der Bochumer Lesbenszene, die erfolglos eine reine Frauenvorführung für den Film „Desert Hearts“ fordert und schließlich Stinkbomben ins Kino wirft, geht Ulrike, die mit dem Anschlag nichts zutun hatte, auf die Suche nach einer neuen Arbeitsstelle.

Im Bochumer Frauenbuchladen Amazonas ist Ulrike seit Ende der 1970er Jahre eine gute Kundin. Seite 1987 arbeitet sie dort ein mal pro Woche unbezahlt mit. Für das Kollektiv aus 15 Frauen ist 1988 klar: Amazonas muss sich professionalisieren, um effektiv wirtschaftlich arbeiten zu können und langfristig zu bestehen. Ulrike beginnt als Geschäftsführerin, zunächst zusammen mit einer anderen Frau, dann alleine. Zusammen mit unbezahlt engagierten Frauen sowie einigen ABM-Stellen, hält der 1978 gegündete Laden bis 2006 durch – den vielen Veränderung am Buchmarkt, in der Gesellschaft und in der FrauenLesben-Szene zum Trotz. Der mit Privatgeldern und Krediten umgebaute Geschäftsraum wird zu Ulrikes zweitem Wohnzimmer. Sie arbeitet pro Woche bis zu 60 Stunden, macht Büchertische, liefert Bestellungen aus. Nachdem sie nicht mehr über ABM-Stellen arbeiten kann, macht sie sich als Geschäftsführerin selbstständig. Bald wird klar, dass die Arbeit für eine Person zu viel ist, eine weitere buchbegeisterte Feministin  wird ihre Kollegin. Sie konzipieren gemeinsam mit dem Laden-Kollektiv aus Studentinnen, Sozialhilfeempfängerinnen und Lehrerinnen Veranstaltungsprogramme – Autorinnen wie May Ayim sind zu Gast, Frauen mit Migrationsgeschichte berichten von ihren Erfahrungen, feministische Themen werden präsentiert und diskutiert. Auch Ulrikes Eltern unterstützen den Frauenbuchladen während einer extremen finanziellen Krisensituation.

IHRSINN

Die meisten Menschen wären mit der Leitung eines Buchladens ausgelastet, doch Ulrike Janz fehlte eine Ausdrucksmöglichkeit für politische Analysen aus lesbischer Perspektive. Auf Reisen in Kanada und Großbritannien hatte sie Lesbenzeitschriften wie Gossip, Lesbian Ethics und Sinister Wisdom kennengelernt, die lesbisch-feministische Theorie in gut lesbarer Form vermittelten. Manch eine würde vielleicht das Fehlen solcher Zeitschriften in Deutschland bedauern und an dem Punkt stehen bleiben. Ulrike hingegen sah die Lücke und sagte: „Super! Sowas machen wir hier auch!“ Zusammen mit anderen Bochumer Lesben gründete sie 1989 IHRSINN.2

Die Redaktion, die gleichzeitig ein Verein war, traf sich einmal pro Woche bei einer Redaktionsfrau zu Hause, die jeweilige Gastgeberin kochte – Ulrike machte meist Quiche und Salat – es wurde gemeinsam gegessen, dann lange, lange diskutiert, und zum Ausklang gerne ein Schnaps getrunken. Die erste Ausgabe ging mit 1000 Exemplaren an den Start. Das Feedback war unterschiedlich – den einen war IHRSINN zu akademisch, andere freuten sich über eine gut lesbare Zeitschrift mit spannenden politischen Analysen. Schon früh beschäftigten sich die Autorinnen mit Antisemitismus, Klassismus und Rassismus auch in der FrauenLesbenbewegung. Dies forderte die Leserinnen heraus, sich  auseinanderzusetzen – deshalb galten die Zeitschrift und ihre Macherinnen bei manchen als anstrengend. Doch Ulrike kannte über ihre Arbeit im Buchladen das Publikum, und die Mischung aus theoretischen und erzählenden Texten gelang: IHRSINN verkaufte pro Ausgabe zwischen 1000 und 2000 Exemplare und erschien zwei mal jährlich von 1989 bis 2004. Die Zeitschrift einer kleinen, radikalen Minderheit innerhalb einer Minderheit war einzigartig in Europa.

Ulrike Janz schrieb zum Beispiel über Lesben im NS, Gen- und Reproduktionstechnologien, Rassismus in der FrauenLesbenbewegung, über Klassenunterschiede bei Lesben, und über die Zwiespältigkeit von lesbischen Vorbildern aus der Geschichte. Ein Aspekt der viele Themen berührte, war das Thema Klasse. Arbeiter:innentochter zu sein, ist für Ulrike ein integraler, prägender Teil ihrer Biografie und für ihre linke, kritische Perspektive ein fundamentales Analyseinstrument. So zeigte sich die besagte Zwiespältigkeit von Lesben aus der Geschichte zum Beispiel darin, dass sie zum Teil als Aristokratinnen ihr Geld und ihre Privilegien nutzten, um Räume und Möglichkeiten für Frauen und Lesben zu schaffen. Gleichzeitig hielten einige von ihnen den Faschismus für das einzig wirksame und daher unterstützenswerte Mittel gegen die Ausbreitung kommunistischer Systeme.3 Statt lesbische Vorbilder zu verklären oder zu verdammen, zeigen die Texte von Ulrike Janz ein in der öffentlichen Diskussion selten gewordenes Gut: Differenziertheit und die Fähigkeit, unbequeme Widersprüche auszuhalten statt selbstgerecht bzw. unkritisch zu werden.

Von außen in den akademischen Diskurs

Ein weiteres Thema, das im Querschnitt viele andere berührt, ist das Thema Nationalsozialismus. Eine feministische Kritik an den Reproduktions- und Gentechnologien war deren Ursprung in Forschungen im NS sowie die eugenische Motivation dahinter. Eine Analyse der Widersprüche in die Lesben sich begeben, wenn sie diese Technologien nutzen, fand sich in IHRSINN ebenso wie die klare Benennung eines Gefälles zwischen Frauen im globalen Süden und denen in „westlichen Gesellschaften“.4 Aktionen gegen die Weiterentwicklung und das Nutzen von Reproduktions- und Gentechnologien gingen auch von Bochum aus und wurden zum Teil polizeilich verfolgt. Die Bewegung reagierte auf inhaltlicher Ebene auf die Repressionen, indem sie eine internationale Konferenz organisierte, bei der Aktivistinnen und Wissenschaftlerinnen auf die Situation von Menschen mit Behinderungen hinwiesen, auf die Verdinglichung weiblicher Körper, und auf die menschenverachtenden Praktiken, die zu Entwicklung der Technologien vor allem Frauen als Opfer des NS und Frauen ehemaliger Kolonien im globalen Süden betrafen.

Ulrike Janz‘ Forschungen zum Thema Lesben im Nationalsozialismus fanden komplett außeruniversitär statt, fanden aber in akademischen Kreisen schließlich auch Beachtung. Zunächst gab es zu dem Thema nur eine einzige Dissertation: „Nationalsozialistische Sexualpolitik und weibliche Homosexualität“ von Claudia Schoppmann. So suchte Ulrike sich aus Büchern, Zeitschriften, Geschichten von Opfern zusammen, was es eben gab. Ihr Interesse war, selbst zu verstehen und verstehbar zu machen, wie das Merkmal „lesbisch“ in die komplizierten Opfer/Täter:innenstrukturen der KZs verwoben war. 5 Seit 1990 bot sie Workshops und Veranstaltungen zu Lesben im Nationalsozialismus an, beim Lesbenfrühlingstreffen 1992 in Bremen nahmen zum Beispiel 200 Frauen daran teil. Bald gab es deutschlandweit Einladungen, auch von Universitäten. Eine der wenigen Wissenschaftlerinnen, die sich mit dem Thema beschäftigten war Anna Hájková,6 die bis heute an der Universität Warwick in Großbritannien lehrt. Sie hatte mehrere Aufsätze verfasst, in der taz erschien ihr Artikel „Queering the Holocaust“. Ulrike schrieb ihr daraufhin – und bekam sofort eine Antwort: Die Professorin kannte alle ihre Texte, die allmählich auch von einem breiteren Fachpublikum wahrgenommen und zitiert, aber als grauen Literatur häufig nicht angemessen gekennzeichnet wurden, ein Problem über das Anna Hájková ebenfalls einen Artikel verfasste. Ulrike wurde zunehmend auch auf wissenschaftliche Tagungen eingeladen.

Sowohl in ihren 40ern als auch mit 50 hatte sie zwischenzeitlich die Idee zu promovieren und verfasste sogar ein Exposee. Doch Ulrike hätte aber noch mal Seminare zu Methoden etc. machen müssen, und das hätte besser in ihre 20er gepasst – es gab mittlerweile einfach so viel anderes zu tun, so viele andere spannende Themen. Die Eltern hätten zwar gern gesehen, wenn eine ihrer Töchter promoviert und eine akademische Karriere gemacht hätte: „Dass Du keinen Doktor heiraten wirst, ist ja klar!“ Und lange Zeit wollte Ulrike sich selber beweisen, dass sie das schafft – doch auch ihre Mutter fand schließlich: „Ach Kind, das musste jetzt auch nicht mehr machen.“

Ulrikes gesammelte Werke haben sicher den gleichen Umfang wie eine Promotion, und ob die mehr bewegt hätte als ihre vielen anderen Texte und Aktivitäten, ist schwer zu sagen. Sicher ist, dass Ulrike Janz das Thema Lesben im NS in den wissenschaftlichen Mainstream gebracht hat. Bevor sie sich aus der Forschung zurückzog, um andere Sachen zu machen, stellte sie Anna Hajkova ihre Texte für eine Internetplattform zur Verfügung.

Phasen-weise

Mit Beginn des neuen Jahrtausends zeichnete sich ab, dass für einige von Ulrikes Projekten und Tätigkeiten ein Ende in Sicht war und dass auch in der FrauenLesbenszene und ihren Orten Veränderungen anstanden.

Ulrike war 44 Jahre alt und hatte sich vorgenommen, mit 50 spätestens die Geschäftsführung des Frauenbuchladens niederzulegen. Mit Hilfe von Coachingstunden überlegt sie, wie der Abschied funktionieren könnte. Zunächst hörte ihre wichtigste Kollegin auf und Ulrike war einmal mehr die einzige Hauptamtliche. Doch es wurde eng für Frauenbuchläden: Zwar stieg der Umsatz im Bochumer Laden stetig, aber nicht mal eine Person konnte trotz zusätzlichen Anträgen und Spenden  wirklich davon leben. Ulrikes Hauptaufgaben, nämlich die Ladenarbeit, Bestellungen, Rechnungen, Büchertische, Auslieferungen, wurden zusätzlich zur  Redaktionsarbeit für IHRSINN einfach zu viel, und Zeit für Familie und Beziehung zu finden wurde immer schwieriger. Auch bei IHRSINN gab es Veränderungen: 15 Jahre nachdem die Zeitschrift ins Leben gerufen worden war, erschien die letzte Ausgabe. Der Abschied fiel Ulrike deutlich schwerer als der vom Buchladen, sie hätte die Redaktionsarbeit gerne fortgeführt und hatte bereits Ideen für eine Ausgabe zum Thema Wechseljahre. Statt dessen brachte sie 2006 ein Buch heraus, zu dem  ehemalige IHRSINN-Autorinnen Texte beitrugen: „Verwandlungen – Lesben und die Wechseljahre“.7

Ulrikes Plan, bei Amazonas aufzuhören stieß entweder auf Unglauben („Das machst Du eh nicht!“) oder auf politisch-moralische Einwände („Das kannst Du doch nicht machen!“). Ab 2004 wurden Frauen gesucht, die Ulrikes Aufgaben übernehmen könnten, doch es fand sich keine. Ab 2005 stand also die Frage im Raum: Wie wickelt man einen Laden ab? Ab Frühjahr war Ausverkauf, im Sommer gab es eine Reihe von Büchertischen. Viele Bücher gingen an Verlage zurück, die als politische Verlage solidarisch waren und die Remissionen gutschrieben. Auch das Antiquariat Doris Hermanns nahm zahlreiche Bücher ab. Am 31.12.2006 schloss Amazonas, der Bochumer Frauenbuchladen, nach 28 Jahren. Vielen Frauen fehlte er sehr, zumal auch das Frauencafé Tradinoi seine Türen geschlossen hatte und deshalb ein weiterer wichtiger Frauenort nicht mehr existierte. Auch Ulrike schmerzte der Abschied vom Laden bis zum letzten Tag – danach nicht mehr. Sie war bereits Anfang 2006 nach Dortmund gezogen, war seit 2007 zum ersten Mal seit ihrem Coming Out nicht in einer Beziehung – es war Zeit für einen Neuanfang.

Bei den Beginen

Beginenhöfe sind Frauenwohnprojekte, die es bereits im Mittelalter gab. Sie wurden ursprünglich von christlichen Frauen gegründet, die gemeinsam leben wollten, aber keine Nonnen waren. Heute sind Beginenhöfe nicht mehr an eine bestimmte Religion gebunden, Frauen aus verschiedenen Zusammenhängen, Lesben wie Heteras leben dort alleine oder in WGs, es gibt Gemeinschaftsräume und Gemeinschaftsprojekte.

Nur wenige im Dortmunder Beginenhof kannten Ulrike und ihre Arbeit. Sie „erfand sich neu“, auf einmal war alles offen – den Beginen des Mittelalters wäre dazu sofort ein Bibelzitat eingefallen: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ (Ps 31:9). Und wenn frau da steht, kann sie eigentlich auch tanzen. Und genau das tut Ulrike: Während ihrer „Auszeit“, die sie im Beginenhof mit Veranstaltungen, Gartenarbeit und Öffentlichkeitsarbeit für das NRW-weite Beginenhofnetzwerk verbringt, macht sie 2007 bis 2008 eine Tanzpädagogik-Ausbildung im Bochumer Zentrum für Tanz und Bewegung. Die Idee, sich mit Tanzkursen für älteren Frauen selbstständig zu machen, erscheint ihr zunächst interessant, aber mit 50 fühlte sich eine weitere Selbstständigkeit für Ulrike nur schwer vorstellbar  an. Statt dessen gibt sie Workshops bei Lesbenfrühlingstreffen und in anderen Zusammenhängen.

Doch auch sonst gibt es schnell wieder eine Menge zu tun. Im März 2007 beginnt sie bei der Anti-Gewalt-Beratungsstelle GESINE Intervention (Frauen helfen Frauen Ennepe-Ruhr-Kreis) zu arbeiten, von 2006 bis 2013 ist sie im Vorstand des Deutschen Lesbenrings e.V. aktiv und schreibt zu verschiedenen Themen für das Lesbenringinfo 8 ebenso in der Landesarbeitsgemeinschaft Lesben NRW.

Frau Janz tanzt weiter

Ulrikes Interesse und Engagement für lesbenpolitsche Themen ist auch jetzt, zu Beginn ihres Ruhestandes ungebrochen. Die Bochum-Bezüge haben nie ganz aufgehört, so ist sie immer noch im Bochumer Zentrum für Tanz und Bewegung aktiv, aber tanzt lieber für sich und mit der geliebten Tanztheater-Gruppe, als zu unterrichten. Die Gruppe ALTERnativLos für ältere Lesben (angesiedelt in der Rosa Strippe) koordiniert sie gemeinsam mit drei weiteren Lesben und organisiert dort auch  Veranstaltungen.

Besonders wichtig ist ihr seit Sommer 2021 die Mitarbeit in einer internationalen Unterstützungsgruppe für geflüchtete Lesben im kenianischen Flüchtlingscamp Kakuma. Ulrike hat eine  Möglichkeit zur finanziallen Unterstützung eingerichtet.9

Wenn sie heute auf ihre Biografie zurückblickt, fragt sie sich oft: Wie haben wir unsere vielen Interessen und Aktivitäten eigentlich unter einen Hut bekommen? Und es freut sie, dass die kleine radikale Minderheit innerhalb einer Minderheit mit großen Forderungen und mutiger Kritik über die Jahre doch einige Veränderungen in der Gesellschaft erreicht hat. Zwar sahen zum Beispiel radikalfeministische Lesben die Ehe äußerst kritisch und hätten sie am liebsten ganz abgeschafft, doch dass nun Lesben die Möglichkeit haben zu heiraten, wenn sie das möchten, findet Ulrike positiv. Und dass in Deutschland immer noch strengere Auflagen im Bereich Gen- und Reproduktionstechnologien existieren als in vielen anderen Ländern, hat auch mit der Aufklärungsarbeit von Feministinnen wie Ulrike Janz zutun, die immer wieder auf ihre Probleme hingewiesen haben und an ihre Anfänge in der NS-Ideologie erinnert haben. Also: Celebrate progress, not perfection.

Wenn sie könnte, würde Ulrike Janz ihrem jüngeren Selbst raten, einfach mal öfter eine Pause zu machen. Ihr jüngeres Selbst würde der heutigen Ulrike dagegen sagen: „Von wegen Ruhestand! Komm, lass uns loslegen, es gibt doch so viel Spannendes und Wichtiges zu tun!“ Klingt nach einem starken inneren Team, das sicher noch viel auf die (Tanz-)Beine stellen wird.

Linda Unger

Orte:

Der Frauenbuchladen Amazonas befand sich in der Schmidtstraße 12, 44793 Bochum. Dort war zuvor das Frauenzentrum.

Zum Zentrum Tanz siehe https://www-zentrumtanz.de

Zitation: Unger, Lina, Ulrike Janz, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/ulrike-janz/

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Dore Jacobs

Im „Bewusstsein eines sinnvollen Lebens“ – die Essener Sozialistin, Feministin und Gymnastiklehrerin

Debora, genannt Dore, war das älteste von drei Kindern der Frauenrechtlerin Berta Marcus und des Juristen und Kantforschers Ernst Marcus; geboren wurde sie am 27. Juni 1894 in Essen. Schon in der Kindheit und durch fachkundige Anleitung kam sie mit tänzerischer Gymnastik in Berührung, einem Lernfeld, das ihre Berufswahl und ihren Lebensentwurf wie kein anderes bestimmen sollte. Die von ihren Eltern erwünschte höhere Bildung blieb Dore jedoch zunächst versagt. Erst auf Druck des Vereins „Frauenwohl“1 und nachdem der Preußische Landtag 1908 Reformen beschlossen hatte, stimmten die örtlichen Behörden einer zweiten Mädchen-Gymnasialklasse zu.2 Dore durfte nach mehrmonatigem, von Lehrkräften erteilten Privatunterricht das Goethe-Realgymnasium besuchen, und sie bestand 1911, mit 17 Jahren, die Reifeprüfung.3 Zu diesem Zeitpunkt schwebte ihr nach eigener Aussage der Lehrerinnen-Beruf vor. Als sie ein Jahr lang Mathematik und Physik in Heidelberg studiert hatte, wechselte sie 1912 an die Technische Hochschule Dresden. Mehr als die beiden Fächer interessierte sie das Angebot der berühmten Bildungsanstalt des Tanzpädagogen Émile Jaques-Dalcroze4 in der Dresdner Gartenstadt Hellerau. In zwei Jahren erlernte sie die „Rhythmische Gymnastik“ und schloss mit einem Diplom ab. Ihr sei klar geworden, dass „nicht die Studienrätin mein eigentliches Anliegen war […]. Die Rhythmik hatte mich ganz in ihren Bann gezogen.“5 Im Jahr 1914 kehrte Dore nach Essen zurück und heiratete ihren langjährigen Gefährten und früheren Mathematik- und Physiklehrer Artur Jacobs (1880–1968). Ihr Studium, nun an der Universität Bonn, führte sie bis 1915 eher halbherzig fort. Sie konzentrierte sich zunehmend auf Bewegungsbildungskurse für Kinder und junge Frauen.


Engagierte Jugendgruppenleiterin

In Heidelberg, so Dore Jacobs in einem Erinnerungstext, habe sie erstmals über die „Judenfrage“ nachgedacht und sich während der Bonner Monate von Referaten des Religionsphilosophen und Zionisten Martin Buber inspirieren lassen.6 Sie übernahm die Idee einer jüdischen „Heimstatt“ und erwog sogar, nach Palästina auszuwandern. Mit Rücksicht auf ihre Familie – 1918 war Sohn Gottfried geboren worden – blieb sie in Essen und gründete zusammen mit ihrem Bruder Robert (1901–1978) und gemeinsamen Freunden eine lokale Gruppe des zionistischen Wanderbundes „Blau-Weiß“.7 Ihre Initiative war nicht nur politisch begründet, sondern auch angeregt durch „wilde“ Wanderungen in der freien Natur mit Artur Jacobs und ihren Eltern.8 Die erste Zusammenkunft der Jugendlichen hatte im Wohnhaus der Familie Marcus, Schubertstraße 11, stattgefunden. Nach dem Umzug von Dore, Artur und Gottfried in ein geräumiges Haus am Eyhof (1931 umbenannt in Am Dönhof) fand sich die Gruppe regelmäßig in einem der Kellerräume, ihrem sogenannten Heim, zusammen. Dort diskutierte man über Leseerlebnisse, hielt Referate und schmiedete Zukunftspläne. Sonntags trafen sich alle bei Wind und Wetter um halb acht am Hauptbahnhof und unternahmen ganztägige Ausflüge. In den Ferien ging der „Blau-Weiß“ wochenlang „auf Fahrt“: „Meine Gruppe war die einzige, in der Mädchen und Jungen zusammen wanderten. Wir waren unbegrenzt einsatzwillig. Schliefen wir im Hause, so wurden die Kleinen in die Betten gepackt, und die Großen lagen auf dem Boden. Und wenn wir, wie meist, im Wald schliefen, wurden ein Großer und ein Kleiner zusammen in einen Schlafsack gepackt. Wir waren in jeder Hinsicht radikal in unserem Wanderleben.“9

Das selbstbewusste Auftreten der jungen Leute ebenso wie Dore Jacobs´ erzieherischer Einfluss stießen in vielen Elternhäusern auf Kritik. Wenig Gegenliebe fanden zudem die auf den Aufbau eines jüdischen Staates gerichteten praktischen Berufswünsche. Dessen ungeachtet hielten die jungen Zionistinnen und Zionisten an ihren Zielsetzungen fest. Bestätigung erfuhren sie durch Hugo Hahn, seit 1923 zweiter Rabbiner der Jüdischen Gemeinde; er lud sie zu Festveranstaltungen in die Synagoge am Steeler Tor ein, wo sie Lieder in hebräischer Sprache vortrugen.10 Diese Wandergruppe bestand bis 1924. Ein Teil der „Blau-Weiß“-Mitglieder schloss sich nach der Auflösung dem pfadfinderischen „Kadimah“ an, ein anderer fand über Dore Jacobs den Weg zum „Bund. Gemeinschaft für sozialistisches Leben“11, kurz „Bund“ genannt.


Dore Jacobs und der „Bund“

Gleichgesinnte aus der „Freien Gruppe“ der Essener Volkshochschule12, sieben Frauen und zwei Männer zwischen 25 und 45 Jahren, hatten sich im Jahr 1924 zum „Bund“ zusammengeschlossen. Dore und Artur Jacobs bildeten darin den Mittelpunkt. Diese Gründer:innen blieben, soweit sie nicht in der NS-Zeit Deutschland verlassen hatten, noch Jahrzehnte nach dem Zweiten Krieg der respektierte „innere Kreis“. Mitglieder wurden sorgfältig ausgewählt, d. h. ein Beitritt aus eigenem Entschluss war nicht vorgesehen. Der Kreis suchte diese in Jugendgruppen, bei den „Naturfreunden“, in linken Parteien und Gewerkschaften, in Sportvereinen sowie in der Verwandtschaft.13 Bis zum Verbot 1933 gehörten schätzungsweise 200 Frauen und Männer zum „Bund“, organisiert in mehreren örtlichen Gruppen im Rhein-Ruhr-Gebiet – keineswegs durchweg Akademiker:innen. Sie hatten sich mit ihrem Eintritt bestimmten „Gesetzen“14 untergeordnet, dazu gehörten Entscheidungen über politische und berufliche Wege, die Abkehr von einer Konfession, Alkohol-Abstinenz, Experimente wie die „Bewährungsehe“ und die Kollektiverziehung. Der Zusammenschluss verstand sich als ein (beitragspflichtiger) Orden15, dessen Streben auf eine Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse gerichtet war und der Vorstellungen eines „ethischen Sozialismus“ und einer „ausbeutungsfreien Gesellschaft“ anhing. Dabei war weniger von der Marxschen Lehre als von Kants Philosophie die Rede.16 Mit einem rituellen Gelöbnis ging jede/r Einzelne die Verpflichtung ein, sein Leben fortan ausschließlich und aktiv diesem Zusammenschluss zu widmen.17 Anders als in Vereinen üblich, verzichtete der „Bund“ auf einen Vorstand, Statuten und Mitgliederlisten. Beschlüsse kamen in ständigem Gedankenaustausch zwischen dem „Inneren Kreises“ und den übrigen Mitgliedern zustande. Dore Jacobs beschrieb diesen sehr eigenen Weg der Willensbildung so: „Selbstverständlich nicht durch Befehl und Gehorsam. Aber auch nicht durch Abstimmung. Vielmehr durch klärende Aussprachen, durch gemeinsames Ringen um Erkenntnis, durch Einsicht und Einigung.“18

Der „Bund“ lebte Teile seiner Zukunftsperspektiven ganz unmittelbar, unter anderem indem ein dichtes Lern- und Arbeitsprogramm aufgestellt wurde; dazu gehörten häufige Zusammenkünfte und unzählige selbst verfasste Schriften und Papiere. Zugleich sollte durch Einflüsse insbesondere auf sozialistische Jugendgruppen eine revolutionäre Umgestaltung in Gang gebracht werden. Exemplarisch für den Schwung der Anfangszeit ist ein von Dore und Artur Jacobs initiiertes überparteiliches „Kulturkartell“; es setzte mit Bewegungs-Chören, Lesungen, einem „Arbeiter-Trio“ und anderen Darbietungen auf die Erneuerung proletarischer Ausdrucksformen.19 Ein pädagogisches Projekt war darüber hinaus auch die 1924 politisch erkämpfte Freie Schule in Essen-Rellinghausen.20 „Bund“-Mitglieder unterrichteten dort hauptsächlich Kinder aus Bergarbeiterfamilien. Sie vermittelten Lebenskunde statt des an anderen Volksschulen vorgeschriebenen Religionsunterrichts, und Dore Jacobs´ Gymnastik gehörte ebenso zum Lehrplan wie vielerlei naturverbundene Unternehmungen. In den Jahren hoher Arbeitslosigkeit richteten Lehrkräfte und Mütter eine Schulküche und eine Nähstube ein.21


Die Essener „Bundesschule für Körperbildung und rhythmische Erziehung“

Dore Jacobs entwickelte in vorsichtiger Absetzung von Jaques-Dalcrozes Körperbildung eine eigene Bewegungslehre, die „organische Gymnastik“, die sie seit 1920 systematisch vermittelte und darin ab 1925 hauptberufliche Gymnastiklehrerinnen und -lehrer ausbildete.22 Ihr ging es darum, „Hemmungen fortzuräumen, die der Wiedergabe musikalischer Vorgänge durch Bewegung aus falschem körperlichen Verhalten erwuchsen.“23 Körperliches und Seelisches sollten zusammenfließen. Dabei legte Dore ihr Augenmerk auf die Beziehung zwischen der äußeren Bewegung und der „Innenbewegung“, der Atmung und dem Blutkreislauf.24

1926/27 errichteten „Bund“-Mitglieder in Essen-Stadtwald ein berghüttenähnliches Holzhaus als ständigen Ausbildungsort, an dem nun auch VHS-Kurse für Laien stattfinden konnten und der Wohnungen für Lehrerinnen bot. Das Gebäude, seine bescheiden zweckdienliche Ausstattung und seine Anmutung waren nicht zuletzt Ausdruck der von Dore Jacobs formulierten Ansprüche.25Die „Bundesschule“ lag nur einen Fußweg entfernt vom Wohnhaus Am Dönhof 18, in dem Dore, Artur und Gottfried mit Vertrauten aus dem „Bund“ kurzzeitig oder auch über Jahre zusammenwohnten.26 Nachdem die staatliche Anerkennung des Ausbildungsgangs für künftige Gymnastiklehrer:innen erteilt und das Blockhaus bezogen worden war, begann für die Beteiligten eine neue Schaffensphase. Dore bezeichnete diese verschiedentlich als eine besonders fruchtbare: „Wir waren glücklich, am Stadtrand nahe beim Wald zu sein und bei gutem Wetter auf der Schillerwiese unseren praktischen Unterricht und im eigenen Garten die Theoriestunden geben zu können.“27

Sie registrierte eine vermehrte Breitenwirkung ihrer Gymnastik sowohl durch die Kurse im Haus als auch durch ein Netz von mehr als zwanzig in der Region wirkenden Absolventinnen und Absolventen. Der Erfolg erlaubte es, erwerbslose Männer und Frauen kostenlos aus- und fortzubilden.


„Fragwürdigkeit des heutigen Frauendaseins“

„Bund“-Mitglieder standen den Zielen der bürgerlichen Frauenbewegung nahe, dem Streben nach umfassender Bildung und nach wirtschaftlicher Autonomie durch Berufstätigkeit. Ihre politischen Ziele adressierten sie gleichwohl in erster Linie an Frauen und Jugendliche aus dem Proletariat, geleitet vom Gedanken eines größeren emanzipatorischen Bildungszusammenhangs.28 In den VHS-Kursen von Dore Jacobs und anderen hatten „Frauen-Themen“ einen festen Platz, wiederkehrend beispielsweise „Die Lage der Frau in der heutigen Gesellschaft“ oder „Eheprobleme“. Für Vorträge und Arbeitsgemeinschaften zur Sexualerziehung und zur „Mädchenfrage“ warben sie in der Sozialistischen Arbeiterjugendbewegung; in dieser nahmen sie nämlich noch „Weibchenhaftigkeit“ und festgelegte Rollen wahr.29 Im „Bund“ dagegen waren Gleichheitsverhältnisse im Großen und Ganzen Realität geworden: Bezahlte pädagogische Kräfte übernahmen die Kindererziehung, und in den Wohngemeinschaften verrichteten Männer und Frauen die Alltagstätigkeiten zu gleichen Teilen.30 Grundsätze „moderner Haushaltsführung“ kamen in Bildungsveranstaltungen immer wieder zur Sprache, auch in den Mütterkreisen an der Freien Schule Rellinghausen. Die herkömmliche Arbeitsteilung sollte durch öffentliche Ernährung, Großhaushalte u.a. überwunden werden: „Die Forderung der berufstätigen Frau zieht unausweichlich grundsätzliche Folgen, tiefgreifende Umwandlung in Bezug auf Haushalt, Familie, Kindererziehung usw. nach sich. Hier gilt es: Nicht vor den Konsequenzen erschrecken! Nicht auf halbem Wege stehenbleiben!“31

Dore Jacobs vertrat schon während der Weimarer Republik eindeutig feministische Positionen, und erstaunlicherweise hing sie der noch kaum verbreiteten Auffassung vom Erwerben weiblicher und männlicher Eigenschaften an, dem Gendering, wie heute gesagt wird. Die „Bund“-Frauen insgesamt lehnten naturhafte Vorstellungen über jungen- und mädchenhaftes Aussehen und Verhalten entschieden ab; sie sahen in Erziehung und Sozialisation die maßgeblichen Faktoren. Das hieß: „Grundsätzlicher Verzicht auf jedes Streben nach männlicher oder weiblicher Eigenart – nicht aus Gleichmacherei, sondern gerade um der wahren Eigenart der Geschlechter willen, die sich nur in der Lebensluft völliger Gleichheit ungehemmt entfalten kann.“32 Wie weiblich oder männlich menschliche Wesen seien, sollte sich demnach im Verlauf des Aufwachsens herausstellen.


Unterrichtsverbot – illegale Arbeit – ein Hilfswerk

Der „Bund“, seit 1931 „Internationaler Sozialistischer Orden“ genannt, wurde, nachdem die SA das Blockhaus gewaltförmig inspiziert hatte, im September 1933 verboten. Auch hatten die NS-Machthaber Mitglieder vorgeladen, einige vorübergehend in „Schutzhaft“ genommen. „Bund“-Mitglieder, so behaupteten sie, leisteten „marxistischen Bestrebungen Vorschub“.33 Artur Jacobs hielt sich aus Furcht vor einer Verhaftung monatelang bei Verwandten in Wuppertal auf, auch andere verließen das Ruhrgebiet. Die VHS-Arbeit der „Freien Gruppe“ war seit dem Sommer untersagt, und die „Bundesschule“ musste ihre Arbeit Mitte 1934 einstellen. Einen Teil der Räume konnte Dore bis zum Ende der Naziherrschaft an die katholische Pfarrgemeine St. Lambertus vermieten. Geringe Einnahmen erzielte sie außerdem durch Privatunterricht, der sich zuletzt auf wenige jüdische Schülerinnen beschränkte. Ihr faktisches Arbeitsverbot gefährdete die Existenz der Familie, zumal Artur Jacobs aufgrund seiner politischen Überzeugungen Pensionsansprüche verloren hatte.34 Gottfried, mittlerweile 16 Jahre alt, verbrachte angesichts dieser Entwicklung mehrere Wochen in Hamburg bei seiner Tante Eva, Dores Schwester, bevor ihn nach Diskriminierungserfahrungen an Schulen im Harz und in Essen Verwandte in den Niederlanden aufnahmen.35

Nach dem Krieg schrieb Dore über den in vielerlei Hinsicht tiefen Einschnitt: „Im Äußeren war das ein schwerer Rückschlag. Unsere Arbeit hatte eben damals einen Höhepunkt erreicht, der es erlaubt hätte, die Schule nun auch nach der wirtschaftlichen Seite auszubauen. Alles das war abgeschnitten. Umso intensiver arbeiteten wir nach innen, im kleinen Kreise befreundeter Kollegen.“36
Der „Bund“ bemühte sich in jenen Jahren um Unauffälligkeit. Jede/r erwartete (zu Recht) Hausdurchsuchungen, Postkontrollen, Verhaftungen und Verhöre und hatte sich genauestens auf solche Situationen vorbereitet. Schriften, Papiere und Protokolle mussten vorsorglich versteckt werden. „In Rollenspielen übten Mitglieder, wie sie in bestimmten Fällen – zum Beispiel bei einem Verhör – reagieren würden, und wurden anschließend von anderen Gruppenmitgliedern kritisiert. Die für richtig befundenen Antworten wurden schließlich so oft wiederholt, bis alle sie im Schlaf aufsagen konnten.37 Gefahr drohte, wenn Nachbarn im Stadtwald der Gestapo „verdächtiges Verhalten“ meldeten, das meinte: häufiges Kommen und Gehen unkonventionell gekleideter Besucher:innen.38 Dem „Bund“ gelang es, einen wenngleich reduzierten Zusammenhalt zu bewahren. Politische Versammlungen fanden in „Bundhäusern“ statt, aber auch im Sauerland oder an der See, wo man Formen der Widerständigkeit beriet und verabredete. Das Wandern und die tänzerische Gymnastik gaben den Treffen einen harmlosen Anstrich. Auch dass Opposition und Widerstand in der NS-Gedankenwelt vornehmlich als männliche Verhaltensmuster galten, kam dem „Bund“ mit seinem hohen Frauenanteil zugute.39

Bereits vor der Machtübertragung an Hitler hatten die „Bund“-Genoss:innen Gefahren für Jüdinnen und Juden erkannt und Schutzmaßnahmen überlegt. Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 machte eine unmittelbare Bedrohung sichtbar, und der Vernichtungswille des Regimes zeichnete sich nach dem Überfall auf Polen und zwei Jahre später mit den ersten Deportationen aus dem Reichsgebiet unzweifelhaft ab. Als jüdischer Teil einer „Mischehe“ war Dore noch geschützt. Sie erlebte aber, wie von Entrechtung und Enteignung betroffene Freundinnen und Freunde Deutschland zu verlassen suchten oder, wenn dies misslang, in die Verfolgungs- und Mordmaschinerie der Nazi gerieten, darunter auch ehemalige Mitglieder ihrer „Blau-Weiß“-Gruppe.40 Sie und etliche „Bund“-Mitglieder hielten Kontakt zur jüdischen Gemeinschaft, halfen ganz praktisch bei der Flucht aus Deutschland. Auch schickten sie eine große Zahl von Briefen und Paketen an in Ghettos und Lager Verschleppte, u. a. nach Theresienstadt und Auschwitz. Durch Hilfsbereitschaft und Einfallsreichtum konnten außer Lisa Jacob, Marianne Ellenbogen und Dore Jacobs fünf weitere jüdische Menschen gerettet werden, meist mit falschen Papieren oder „untergetaucht“ bei „Bund“-Mitgliedern an wechselnden Orten (auch im Blockhaus in der Leveringstraße). In Nachkriegsberichten und sogenannten Auslandsbriefen bezeichneten sie ihr unglaublich stabiles Netz von couragierten Unterstützer:innen als „Judenhilfswerk“.41

Dore Jacobs floh im Frühjahr 1944 mit Artur von Wuppertal, wohin das Paar umgezogen war, nach Meersburg am Bodensee. Dore hielt sich bis zum Kriegsende in einer von „Bund“-Freundinnen betriebenen Pension auf, teils verborgen, teils unter falschem Namen gemeldet, zuletzt getarnt als „ausgebombte Arierin“. Sie entging so der im Herbst 1944 im Rheinland angeordneten Einweisung jüdischer „Mischehe“-Partner:innen in Arbeits- und Konzentrationslager.42 Ob Dore und Artur die Stadt aufgrund von Gerüchten oder Hinweisen rechtzeitig verließen, ist in Befragungen nach dem Krieg offengeblieben.43 Im Rückblick schrieb Dore über dieses nicht nur von Ängsten bestimmte Warten auf das Kriegsende: „Das trotz aller kleinen Nöte und großen Schicksale von Wesentlichem erfüllte und auf Übergeordnetes gerichtete Zusammenleben im letzten Kriegsjahr gab allen, die es miterlebten, ein Gefühl tiefer Verbundenheit und Zuversicht. Alles war Vorbereitung auf einen neuen Anfang, auf den wir hoffnungsvoll hinlebten.“44


Neubeginn mit Enttäuschungen

Im Herbst 1945 baute Dore Jacobs ihre Körperbildungsarbeit in Wuppertal auf, bevor sie ab 1947 wieder im Essener Blockhaus unterrichtete. Dore und ihre Mitstreiter:innen knüpften erneut (nicht immer ganz reibungslose) Verbindungen zu Volkshochschulen in der Region.45 Ihre Bildungsambitionen suchten sie nun unter dem Namen „Der Bund – Volkshochschulkreis e.V.“ zu verwirklichen.46 Es war geradezu selbstverständlich, dass sogleich Kurse für Hörerinnen stattfanden wie „Not und Aufgabe der Frau nach 12 Jahren Hitler-Zeit“ 1946 in der VHS Wuppertal, „Die Aufgabe der Frau im neuen Deutschland“ 1948 in Langenberg oder „Organische Gymnastik und Bewegungsschulung für Frauen“ 1948/49 in Mülheim.

Dore Jacobs´ ganzheitlich verstandene, vielen noch aus der Vorkriegszeit bekannte Gymnastik fand Zuspruch bei Erwachsenen wie in der jüngeren Generation, bei Laien und zukünftigen Gymnastiklehrer:innen. Die über 50-jährige, gesundheitlich geschwächte Dore blieb Lehrerin an der Schule, übergab die Leitung aber bald an ihre ehemalige Schülerin und Freundin Lisa Jacob (1899–1989).47 Die „Bund“-Zielsetzungen traten seither in den Hintergrund, was auch mit der staatlichen Anerkennung als private Berufsfachschule und der Notwendigkeit (partei)politischer Zurückhaltung zu tun hatte.48 Die Nachfrage stieg und erlaubte es, Schülerinnen und Schüler auszuwählen. Im Lehrplan der dreijährigen Ausbildung fanden sich nun deutlicher als zuvor Fächer wie Gesundheitsbildung, Pädagogik und Staatsbürgerkunde, und das Berufsfeld schloss nach und nach soziale Bereiche ein. Lisa Jacob leitete die Schule bis 1970; ihr folgte Karin Gerhard, die von Dore Jacobs und Lisa Jacob unterrichtet worden war.49

Nach 1945 hielt Dore Jacobs, wie alle im „Bund“, an Sozialismusvorstellungen fest, ebenso an forcierter Gleichstellungspolitik. Hinzu kam die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, welche Unterstützungs- und Wiedergutmachungsprojekte im In- und Ausland einschloss. Auch nahm der Verein Gesprächskontakte auf zur SPD, zu den Jusos, zur FDP, der Arbeiterwohlfahrt, den Quäkern sowie anderen ihm nahestehende Organisationen. Aber der erwartete Aufbruch blieb aus. Das lag zum einen an einer geringeren Mitgliederzahl – einige nach 1933 Geflüchtete waren nicht zurückgekehrt –, zum anderen an internen Debatten über Form und Inhalt der zukünftigen Arbeit. Trotz vieler Bemühungen, an denen Dore Jacobs aktiv beteiligt war, nicht nur mit einem fast 100-seitigen „Aufruf an die Jugend“, blieb die Resonanz verhalten – bis auf Gottfried, ihren Sohn, hielten auch die „Bund“-Kinder Distanz. Die Nachgeborenen scheuten, wie zu hören war, das Einhalten strenger Gebote.50 Auch ältere Mitglieder wollten ihr Leben nun nicht mehr völlig von „Bund“-Gesetzen bestimmen lassen. „Es stellte sich schließlich heraus, dass die Jahre unter dem NS-Regime nicht, wie gehofft, das Vorspiel einer Führungsrolle gewesen war, die man in einer Nachkriegsgesellschaft anstrebte, sondern seine Schicksalsstunde.“51 Der „Bund“ existierte dennoch bis in die 1990er Jahre hinein in Essen und an anderen Orten. Die nun mehrheitlich aus Älteren bestehende Gemeinschaft veranstaltete unbeirrt Tagungen, knüpfte und pflegte Verbindungen, spendete für politische und soziale Institutionen.

Ein Mensch mit Prinzipien

Dore Jacobs verstarb am 5. März 1979 in Essen. Ihr Nachlass enthält Erinnerungstexte, in denen sie auf ein gelungenes und „sinnvolles“ Leben zurückblickt.52 Ohne Zweifel war sie, stets begleitet von ihren Freundinnen und Freunden, Vorreiterin selbstbestimmter Lebensformen. Schon im Jugendalter registrierte sie die Benachteiligung von Frauen und trat vehement für Gleichberechtigung, Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten ein. Sie hatte, wie alle im „Bund“, ein weltbürgerliches Politikverständnis, hielt Verbindungen beispielsweise nach Belgien, Palästina/Israel, Südafrika, in die USA, dort auch zur schwarzen Bürgerrechtsbewegung, zur Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit. Die nach dem Krieg verfassten „Auslandsbriefe“ zeugen von diesen grenzüberschreitenden Kontakten. Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus bekämpfte Dore, solange ihr dies möglich war. Es gelang ihr, nachhaltige Strukturen zu schaffen: in mehreren Volkshochschulen, in der Jugendarbeit und vor allem an der Gymnastikschule, die lange nach ihrem Tod zu einem Essener Berufskolleg mit Körperbildungsschwerpunkt werden sollte und – ganz ihrer Denkrichtung entsprechend – Mädchen und Jungen aus allen Schichten Schulabschlüsse bis hin zur Hochschulreife ermöglicht.

In das Bild dieser schöpferischen Frau gehört auch ein aus heutiger Sicht irritierendes Elitekonzept, ein Denken in „organischen Rangordnungen“. Dore Jacobs schwebte einerseits eine klassenlose Gesellschaft vor, andererseits schrieb sie dem von strikten Regeln und hohen Ansprüchen getragenen „Bund“ eine Avantgardefunktion gegenüber den erwähnten Zielgruppen zu. Diese sollten nichts weniger als den Vorkämpfern reflektiert und bewusst nacheifern. Auch intern hat sie eine „klare Hierarchie“ (Mark Roseman) mitgetragen. Ausdruck fand diese in jenem „inneren Kreis“, bestehend aus den Gründer:innen und zentriert um Artur Jacobs. Dessen Autorität stellte, soweit bekannt, niemand infrage; er blieb bis in die 1960er Jahre hinein tonangebend in der Auseinandersetzung mit Gegenwartsfragen und in der Vorbereitung politischer wie lebensweltlicher Entscheidungen, die in allen Gruppen jeweils ausführlich diskutiert, nicht aber zur Abstimmung gebracht wurden. In diesem Sinn lehnte Dore das in anderen (linken) Zusammenschlüssen herrschende Prinzip der Mehrheitsentscheidung als „demokratische Gleichmacherei“53 ab. Widersprüchlichkeiten wie diese stellen ihr leidenschaftliches Engagement beim „Bau einer besseren Welt“, das bis in die Gegenwart ausstrahlt, schließlich nicht in Frage.


Erinnern, Lernen, Spurensuche

Dore Jacobs sei in ihrer Heimatstadt kaum bekannt, schrieb Mark Roseman vor zwei Jahrzehnten.54 Das sollte sich inzwischen geändert haben, denn neben anderen Autorinnen und Autoren stiftete er selbst mit imponierenden Veröffentlichungen Aufmerksamkeit für die „Bund“-Geschichte.55 Auch hat die Essener VHS bei verschiedenen Anlässen an die Kursleiter:innen aus dem „Bund“ erinnert und sie gewürdigt.56 Als wichtiger Multiplikator kann in diesem Zusammenhang das Dore-Jacobs-Berufskolleg gelten. Wer die Namensgeberin war und dass die Ausbildung mit den Schwerpunkten „Bewegung, Sport, Gesundheit“ auf Dores Pädagogik zurückgeht, erfahren die Schülerinnen und Schüler im Rahmen von Projektwochen oder Lerneinheiten. Eine Vielzahl von ihnen wird vermutlich nach einem berufsqualifizierenden Abschluss in entsprechenden Tätigkeitsbereichen etwas von dem erworbenen Wissen weitergeben. Für tiefergehende Einblicke in Dore Jacobs Lebenszusammenhang liegen Bücher und Aufsätze vor, vielfach von ihr selbst verfasst. Die Hinterlassenschaften umfassen ebenso Briefe, Broschüren und autobiographische Texte. Einen großen Schatz davon verwahrt die Alte Synagoge/Haus jüdischer Kultur in Essen. Archivalien finden sich darüber hinaus im Stadtarchiv/Haus der Essener Geschichte sowie im Dore-Jacobs-Haus in der Leveringstraße 30, das zu einem auratischen Erinnerungsort geworden ist.57 Auch Dore Jacobs´ langjährige Wohngemeinschaft mit Ehemann Artur, Sohn Gottfried und „Bund“-Mitgliedern wird im unzerstörten Gebäude Am Dönhof 18 vorstellbar. Und obwohl das ansehnliche, 1905 erbaute Haus in der Schubertstraße 11 nach dem Zweiten Weltkrieg durch einen schlichten Neubau ersetzt wurde: ein Spaziergang im Moltke- und Südviertel veranschaulicht, in welchem Umfeld die Geschwister Marcus aufwuchsen, auch die Nachbarschaft zur befreundeten Familie Levy in der Moltkestraße 28. Dore Jacobs´ letzte Ruhestätte auf dem Essener Südwestfriedhof allerdings existiert seit einigen Jahren nicht mehr.

Dr. Heidi Behrens

Zitation: Behrens, Heidi, Dore Jacobs, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/dore-jacobs-1894-1979/

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Alleinerziehende türkische sog. Gastarbeiterin

Erzähl‘ es ihnen1

„Söyle onlara. Onca muayneden geçtik, sağlıklıydık geldiğimizde hepimiz. Çoğu ölüp gitti. Baban da ölüp gitti. Bruckhausen ya da Meiderich, bugünkü şehir parkının etrafında bulunmuş olan yaşam alanları. Aslında yaşam alanları değillerdi. Bruckhausen, Meiderich, taşıyıcıları ve tekerlekleriyle kanlı canlı insanlardan mürekkep fabrikalardı. Bugünse fabrika borularının yerini minareler, camiler, artık kimseye yurt olmayan yurtlar ve kültür yerine hayatta kalma mücadelesi veren kültür merkezleri almış. İçerisi bembeyaz, dışarısı ise isten, zulümden kapkara. Sen sevgi dolu ailenin kanatları altında, bir kervana aitsin. Sana hep sahip çıkmış olan bir kervan bu. Biz diyerek. Aidiyeti eleme tehdidiyle koruyan bir sevgiyle. Şimdi biliyorum bunun böyle olduğunu. Gettolarda buna verilen ismi de. Biz mahalle derdik. Ve mahalle sevgi ve gurur ile ilgiliydi. Aidiyetle, isle. Her bir grup için böyleydi bu – öyle çoktu ki bu gruplardan, gerçekte hepsi birbirinin aynı olan.  Bu yüzden tüm Duisburg mahalle.“       

Erzähl´es ihnen: All die Untersuchungen mussten wir machen.  Beweisen, dass wir gesund waren, als wir hier ankamen. Die meisten sind gestorben. Auch dein Vater. Duisburg, Bruckhausen, Meiderich, Hochfeld waren keine Stadtteile, sondern Maschinen mit menschlichen Rädern und Trägerinnen aus Fleisch und Blut. Heute stehen dort nicht Fabrikrohre, sondern Kulturorte, in denen – sie sagen: Kultur drin ist. Jetzt stehen wir draußen.  In den Ghettos, wie sie hießen, wir nannten es Mahalle. Und es hatte mit Liebe zu tun. Mit Zugehörigkeit. Für jede Gruppe, denn es gab so viele von denen, die alle gleich waren im Grunde. Deshalb bleibt ganz Duisburg unsere Mahalle.

Von Ankara nach Deutschland

Ich bin in Ankara aufgewachsen. Meine Eltern habe ich mit 12 Jahren verloren. Meine vier älteren Geschwistern, besonders mein älterer Bruder haben die Geschäfte meines Vaters übernommen. Wir haben einen kleinen Einzelhandel geführt mit Lebensmitteln und Stoffen. Ich habe mich sofort in euren Vater verliebt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Wir haben geheiratet und sind kurz darauf nach Istanbul gezogen. 1970 standen wir am Haydarpaşa Bahnhof und haben ihn verabschiedet.

 Liegt im Anfang der Reise der Kern eurer Wut? Ist es die Reise? Der Anfang? Lag es an uns? Ist es meine Arbeit? Sein Tod? Den ersten Moment seiner Reise, den vergesse ich nie. Ihr anscheinend auch nicht. Obwohl Du ihn nur aus Erzählungen kennst. Ich stand mit Deinen Geschwistern am Bahnhof. Zwei waren dabei. Er war 6 als wir am Bahnsteig standen. ‚Weißt du noch, der Unfall…?‘, hatte Dein Bruder gesagt und es Dir erzählt, als Du sechs warst. Der Zug, in den Dein Vater gestiegen ist, hatte einen technischen Defekt und deswegen war ein junger Mann auf das Dach des Wagons gestiegen und dort muss er ein Kabel angefasst haben. Er ist vor unseren Augen verbrannt. Der Zug hatte stundenlang Verspätung. Das war der Zug nach Almanya, in den er gestiegen ist, mein Mann.

Die Sorgen um alles, um den Tag, um den Abend, um das Morgen und das Gestern.

Dass ich euch meine Gefühle und meine Gedanken, Vorstellungen und Bedürfnisse nicht schon früher mitteilen konnte, tut mir wirklich leid. Die Sorgen um alles, um den Tag, um den Abend, um das Morgen und das Gestern. Unsere Integration, die ehemaligen Gastarbeiterinnen mit Migrationshintergrund, das Provokationslevel des systematisierten Teilhabedefizits, Denkmäler solltet ihr bekommen habt ihr gesagt. Ich verstehe das heute.

Mir bleibt keine andere Wahl, als zu verdrängen. Ich müsste viel zu viel erklären, die Türkei, Kohl, den Hass, die Baseballschläger hier, das Militär dort und auf meine kompromisslose Erziehung eingehend, um Verzeihung bitten oder, um Nachsicht zu bekommen, eine Welt der Erinnerungen aufbauen, in der das logisch erscheint, was wir gemeinsam erlebt haben.

Ich möchte noch sagen, dass ich eure Wut immer erkannt habe, ihr aber keinen Platz geben wollte. Aus dem ganz einfachen Grund, weil ich auch meiner Wut keinen Platz geben konnte, während ich jede einzelne DMARK umdrehen, festhalten berechnen und zurücklegen musste, damit ihr hier leben könnt. In Freiheit und Sicherheit. Der Ausländerbehörde habe ich gesagt: ‚Mein Mann arbeitete als Schweißer, Möbelbauer hatte er in der Türkei gelernt. Er wollte hier  in der Nachbarstadt eine Werkstatt aufbauen. Er führte Tagebuch und organsierte und schrieb für türkische Zeitungen. Sieben Jahre nach seiner Einreise gab es einen Betriebsunfall. Er und alle unsere Leute, sie trugen keinen Atemschutz – lediglich Stiefel, die sie selbst bezahlen bzw. mieten  mussten – so wie unsere Mülltonnen in der Arbeiterwohnung. Wenige Monate nach dem Unfall in der Schweißerei stirbt er an Krebs. Die Kinder gehen hier zu Schule. Ich muss arbeiten.  Ich musste ihm am Sterbebett das Versprechen geben, in Deutschland zu bleiben.‘  Es hat nichts gebracht. Ich habe umsonst erzählt. Erzählt ihr es ihnen.

Strategien des Überlebens

Die Aufenthaltserlaubnis, immer nur befristet. Immer diese Angst und Sorge im Nacken, im Schweiß. Das ich das nur bewerkstelligen konnte, weil ihr bis zur Einschulung in der Türkei wart, war es ein Fehler? Heute tut es mir leid. Keine Arbeit, keine Arbeitserlaubnis, keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, keine Unterstützung. Und so weiter. 

Du sollst wissen, dass es auch mich verletzt hat, schon vor Euch: ohne Euch zu sein, damit ihr hier sein könnt. Ich dachte, du würdest es heraushören, in den  leisen Stunden, wenn ich nachts das schneeweiße und nach Lavendel und Olivenölseife riechende Baumwolltuch um den Kopf gewickelt habe, locker doch? Leichtigkeit und Schutz lagen darin im Flüstern der Suren, im bedachten Umwälzen der schweren Seiten, die wie hauchdünne Holzschnitte kurz in der Handfläche liegen, bevor sie sich auf der nächsten Seite wiederfinden. Wie ich mit dem Finger den arabischen Buchstanden folgend immer für Euch gebetet habe. Immer auch deinen Vater informiert habe, mit ihm nachgedacht, gegrübelt, verzweifelt geweint, um mich dann wieder mit Dir beruhigen zu können.

Kulturelle Traditionen

Obwohl Du das Kopftuch geliebt hast, Du Dich in ilahis verliebt hast, sie Dir innere Ruhe – sei es auch kurz – geben konnten. Erst wolltest Du – Du warst 15 – mit dem hijab in die Schule. Ich habe es Dir verboten, so wie ich Dir verboten habe zu demonstrieren. Du hast es geliebt, tığ işi und beten. Du fandest Ruhe darin und dann… das Kommando Rolle rückwärts. Deine Distanz und Deine Wut erbitten sich Ähnlichkeit mit denjenigen, die Dich dazu veranlassen so wütend zu sein. Wie klärt man so etwas auf?

 Alle wichtigen Traditionen der Zusammenkunft waren dir dann, ab einem gewissen Alter, zuwider. Wie genau kann ich den Zeitpunkt festmachen? War es dieses WIR? Ich suche noch. Ist es Deine sture Entscheidung, nicht über DEINE Herkunft zu reden? Du willst nicht dem Integrationsmarkt dienen –  das sei alles Deine Sache. Ist damit eine Distanz oder eine Nähe zu mir verbunden?“

Unerzählte Geschichten

Frauen, mit denen ich gesprochen habe, alleinerziehende Frauen, die in den 1970er Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind, keine von ihnen hat je die Öffentlichkeit gesucht. Sie haben inspiriert und gestärkt, im Schatten von Demonstrationen für ihr Recht gekämpft, indem sie ihre Kinder mit zur Arbeit brachten und sich von ihnen helfen ließen. Frauen, mit denen ich gesprochen habe, sind Witwen und aus diesem Grund alleinerziehend in Deutschland. Ihre Männer sind an den Folgen ausbeuterischer Arbeitsbedingungen verstorben. Es ist eine unerzählte Geschichte, die in den 1940er Jahren in Anatolien beginnt. Diese Frauen gehen auf Handwerksschulen oder in die Dorfinstitute in Ankara und Umgebung. Sie heiraten mit Anfang zwanzig. Sie bekommen Kinder und ziehen nach Istanbul. Von Istanbul aus bewerben sich die Männer als Arbeiter und steigen 1970 am Haydarpasa Bahnhof in die Züge Richtung Deutschland. Die Familien kommen innerhalb der nächsten 3 Jahre nach, was offiziell als Familiennachzug beschrieben wird, bis zum Anwerbestopp im November 1970.

Die Bundesanstalt für Arbeit richtete ab den 1960er Jahren eine Zentralkartei für nichtdeutsche Arbeitnehmer ein, in der diejenigen ausländischen Arbeitnehmer:innen geführt werden, die arbeitsrechtlich auffallen. Mittlerweile sind Belegschaften mit bis zu 90 Prozent Ausländeranteil entstanden. Arbeitsrechtlich auffällig sind all jene, die sich gegen die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen oder gerechtere Urlaubsverteilung äußern.

Die Lebenssituation alleinstehender Elternteile war stark davon geprägt, ob sie selbst erwerbstätig waren oder nur die Ehepartner und ob sie noch vor dem Tod der Ehepartner eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis hatten oder nicht. Denn nach dem Tod des erbwerbstätigen Partners gab es kaum Möglichkeiten, eine Arbeitserlaubnis und eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Die Toten wurden zurückgeführt. Es gab keine muslimischen Friedhöfe. Und die Sorge vor Grabschändung war und bleibt groß. Vor allem Mütter standen nach dem Tod ihrer Ehepartner alternativlos vor dem Problem, als Hausfrauen keine Kinderbetreuung zu erhalten und – im Gegenteil zu deutschen Frauen – keine Sozialhilfe beantragen zu können. Sie schickten ihre Kinder bis zum dritten oder siebten Lebensjahr zu Verwandten in die Türkei. Sie putzen in den Finanzämtern, Banken, Kulturinstitutionen den Dreck der Industrialisierung und des Aufschwungs weg. Zur Einschulung kamen die Kinder aus der Türkei zurück. Durch die Schulpflicht der Kinder wurde die Aufenthaltsgenehmigung – stets befristet –  verlängert.

Von Anfang an bestand der Bleibewunsch bei unseren Müttern und Vätern, auch wenn es die Ausländer- und Wirtschaftspolitik in den 1970er Jahren gänzlich anders sah:  Sie sind gekommen um zu bleiben.

Zur Geschichte der alleinerziehenden sog. Gastarbeiterin

Die Geschichte der alleinerziehenden sog. Gastarbeiterin aus der Türkei ist oftmals eine andere Geschichte, als die der maximalen Ausbeutung der „klassischen“ sog. Gastarbeiter der großen Firmen. Die Geschichte der alleinerziehenden sog. Gastarbeiterin aus der Türkei ist eine Geschichte von Arbeits- und Lebens-UN-bedingungen, der illegalen Arbeit, derjenigen Arbeit, die ohne Anstellung, ohne Sozialversicherung „unterm Radar“ erledigt wurde und deren Arbeiterinnen – und ihre Kinder – keine Rechte hatten. Es ist die Geschichte der Drecksarbeit und des Mangels an allem, was mit kapitalistischen Werten messbar wäre. Und folglich ist es auch eine Geschichte eines bedingungslosen optimistischen Überlebenskampfes in einem zutiefst patriarchalen Umfeld.

Halbes Brot

Kaum jemand hat sich der Geschichte von alleinerziehenden sog. Gastarbeiterinnen aus der Türkei und des Gedenkens an die Toten so angenommen wie der Schriftsteller Fakir Bayurt (1929-1999). Er ist aus unterschiedlichen Gründen zu nennen, wenn es um die Geschichte von alleinerziehenden sog. Gastarbeiterinnen aus der Türkei geht. Der Roman Yarım Ekmek (Halbes Brot) ist der letzte Band seiner Duisburg Trilogie. Er versammelt darin das absolutes Thema des Gedenkens und der Erinnerungskultur. Baykurt setzt mit diesem letzten Band der Trilogie ein Zeichen: Er schreibt nicht mehr ausdrücklich positiv über die Solidarität der Arbeiter:innen untereinander. Und es geht ihm detailliert darum, wie das geht: das Ankommen. Die Protagonistin des Romans, Kezik Acar, bringt die Überreste ihres in der Türkei begrabenen Mannes nach Deutschland zur Familie des Verstorbenen.

Baykurts Familiennachzug beschreibt genau das Gegenteil der deutschen Politik des Familiennachzugs, indem die Überreste eines Angehörigen aus der Türkei zu seiner Familie nach Deutschland geholt werden und zwar auch, um in Deutschland mit Ritualen an gesamtgesellschaftlichen Orten das Gedenken ausleben zu können.

Wichtig ist dabei – wie in allen Geschichten von Gruppen, deren Geschichte in der offiziellen Geschichtsschreibung bis zum Moment der Bearbeitung in der breiten Öffentlichkeit nicht präsent ist – dass jede noch so kleine Erzählung von Bedeutung ist. Dies gilt besonders, wenn dabei für unsichtbar erklärte Lebensmodelle erzählt werden, wie die der Witwen, der Alleinerziehenden.

Dr. Nesrin Tanç

Zitation: Tanç, Nesrin, Alleinerziehende türkische sog. Gastarbeiterin, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/alleinerziehende-tuerkische-sog-gastarbeiterin/

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Aya Alalawi

Aya Alalawi klopft auf den freien Platz neben ihr auf dem Sofa. Die Ungeduld in ihrer Geste vermittelt die Botschaft: Es soll endlich losgehen mit dem Interview. Die 22-Jährige mit den verschleierten Haaren möchte ihre Geschichte erzählen; die Lebens-, Flucht- und Migrationsgeschichte einer Syrerin, stellvertretend für die Gruppe junger geflüchteter Frauen, die in Deutschland eine neue Heimat finden wollen.1

Kindheit und Krieg in Aleppo
Ayas Geschichte beginnt mit ihrer Geburt zu Beginn des Jahrtausends in Aleppo in Syrien. Sie beschreibt sich als wildes, ungestümes Kind, das ihre Haare am liebsten kurz trug und fast lieber ein Junge als ein Mädchen sein wollte. Angst vor Hunden, wie sie im arabischen Kulturkreis verbreitet ist, hatte sie nicht, genauso wenig vor Kamelen, auf denen sie gerne geritten ist. Ihr Mut gefiel auch ihrem Vater. Im Haus der Familie in Aleppo gab es in der unteren Etage einen Computerraum, in dem sich die erwachsenen Männer aufhielten. Dort war die kleine Aya oft dabei und spielte PC-Spiele. Ihre Kindheit beschreibt sie als glücklich und sorglos. Die Familie war reich, besaß ein Auto, hatte Geld.

2011 hatte sich aus dem Arabischen Frühling – der anfangs friedlichen Demonstrationen gegen die autoritär herrschenden Regime und die politischen und sozialen Strukturen in mehreren arabischen Ländern – in Syrien ein grausamer Bürgerkrieg entwickelt. Die Freie Syrische Armee (FSA) und Truppen der Regierung lieferten sich in der Millionenstadt Aleppo erbitterte Kämpfe. Aya war elf Jahre alt, als ihr Vater im Jahr 2012 durch eine Bombe tödlich verletzt wurde. Den Verlust ihres Vaters sieht Aya im Rückblick als Ende ihrer Kindheit. Sie war nicht mehr in der Lage zu spielen, sondern fühlte sich wie ein „verantwortliches Mädchen“, welches sich um ihre Familie kümmern muss. Sie ist die Älteste, ihr Bruder war drei Jahre, ihre Schwester erst ein Jahr alt.

Leben im Bürgerkrieg
Mit dem Tod ihres Vaters änderte sich auch die soziale und finanzielle Situation. Die 32-jährige Mutter versuchte weiterhin einen normalen Alltag zu organisieren, damit ihre Kinder die Abwesenheit des Vaters, der als Mechaniker das Geld für die Familie verdiente, nicht so sehr spürten. Zwei Brüder ihrer Mutter zogen ins Haus mit ein. Aya gab ihr Zimmer ab und teilte sich fortan eines mit ihrer kleinen Schwester. Nach etwa zwei Jahren war ihre Mutter gezwungen, nach und nach viele Dinge zu verkaufen. „Ich weinte jede Nacht. Ich vermisste meinen Vater und immer, wenn meine Mutter eine Sache verkaufte, war ich sehr traurig“, erinnert sich Aya und zuckt mit den Schultern, „ich war ein Kind.“

Inzwischen hatte sich der Bürgerkrieg zu einem Stellvertreterkrieg mit vielen Akteuren entwickelt. Obwohl die Einschränkungen im Alltag immer größer wurden, wollte Aya unbedingt weiterhin die Schule besuchen. „Ich konnte nicht einfach zuhause sitzen und nichts machen. Oft ging ich zur Schule mit dem Gedanken, dass ich heute vielleicht nicht mehr nach Hause komme, vielleicht einfach sterbe“, erinnert sich die 22-Jährige an Tage, an denen Kampfjets die Stadt überflogen und Raketen fielen. Dann erzählt sie von dem Tag, an dem sie eine Französisch-Klausur schreiben musste. Morgens schlug im Nachbarhaus eine Rakete ein, das Fenster ihres Zimmers zersplitterte. Trotzdem machte Aya sich auf den Weg zur Schule und schrieb die Klausur. Bis zur neunten Klasse gelang der Schulbesuch noch sporadisch, dann wurde es endgültig zu gefährlich, das Haus zu verlassen.
Der Alltag wurde immer schwieriger, Lebensmittelpreise stiegen rasant. Verwandte und Bekannte fielen Anschlägen zum Opfer, starben durch Raketen oder im Gefängnis, flohen in die Nachbarländer oder nach Europa. Als 2015 eine Bombe die eigene Wohnung zerstörte, ging nichts mehr. „Wer solche Situationen nicht selbst erlebt hat, kann sich nicht vorstellen, wie es ist, in Angst zu leben“, reflektiert Aya heute.

Flucht aus Syrien: „Sprechen Sie von uns als Überlebende!“
Die Familie rettete sich in die Türkei, hielt sich mit Gelegenheitsarbeiten in Istanbul über Wasser. Die damals 15-jährige Aya und ihre Mutter arbeiteten in einer Teefabrik. An einen Schulbesuch war gar nicht zu denken. „Wenn ich auf dem Weg zur Arbeit im Bus saß, sah ich durch die Scheibe oft, wie die Mädchen zur Schule gingen. Das gab mir ein schlechtes Gefühl. Deshalb habe ich sofort mit der Schule begonnen, als ich nach Deutschland kam“, erklärt Aya. Nach drei Jahren in der Türkei flog die Familie im Rahmen des Familiennachzugs zu den schon länger in Gelsenkirchen lebenden Großeltern. Eine lebensgefährliche Flucht übers Mittelmeer oder die Balkanroute blieb ihr so erspart.

Dennoch erforderte das Leben in einem neuen Land einen großen Einsatz und viel Energie. Es stellte damals und stellt auch heute noch ihre Identität infrage. „Wenn ich als Flüchtling bezeichnet werde, dann fühle ich mich nicht gut. Dann sehe ich die Gedanken in den Köpfen der Anderen, die mir sagen: ,Aja, du kannst nicht‘, ,du weißt nicht‘, ,du bist eine Frau mit Kopftuch‘, ,du bist eine Frau ohne Ziel.‘“, sagt Aya Alalawi. „Viele ahnen nicht, welche Schwierigkeiten wir durchgemacht haben. Jede Familie aus Syrien betrauert eine getötete oder vermisste Person, trotzdem sind wir mit voller Kraft, Optimismus und auch Erfolgen hier. Deshalb möchte ich bitten: Sprechen Sie von uns nicht von Flüchtlingen. Sprechen Sie von uns als Überlebende!“ Diese Worte äußert die 22-Jährige sehr bestimmt. Es ist ihr ein Anliegen, anderen Menschen von ihren Erfahrungen als Überlebende zu erzählen. Dazu zählt auch ihre Fähigkeit, sich auf Umbrüche einzustellen.

Leben und Lernen in Deutschland
So einschneidend die Veränderungen in ihrem Leben mit der Ankunft in Deutschland auch waren, Aya haben sie nicht so sehr erschüttert. „Ich bin ein neugieriger Mensch, deshalb lerne ich gerne neue Dinge kennen. Mit allen Sinnen habe ich das Neue und Ungewohnte aufgesogen. Ich habe einfach akzeptiert, dass mein altes Leben in Syrien vorbei ist und ein neues Leben in Deutschland beginnt“, erläutert Aya ihre Strategie, mit dem Kulturschock umzugehen. Aktiv zu sein, half ihr dabei. Direkt nach ihrer Ankunft im Grenzdurchgangslager Friedland in der Nähe von Göttingen wandte sie sich an die Sozialarbeiter und bot ihre Hilfe an. Schon in Istanbul hatte sie begonnen, Deutsch zu lernen. Ihre einfachen Sprachkenntnisse reichten aus, um zu übersetzen, den Neuankommenden das Camp zu zeigen und ihnen zu erklären, wie sie was organisieren müssen und wo der nächste Supermarkt ist. Anderen Menschen zu helfen, ist ihr eine Herzenssache.

Klassenfahrt und Schulwechsel
Und dann endlich, konnte Aya nach fast fünf Jahren erzwungener Pause wieder regelmäßig zur Schule gehen. Das erste Schuljahr in Deutschland sei gut gewesen, bewertet Aya, die damals als 18-Jährige in die Internationale Förderklasse an einem Berufskolleg aufgenommen wurde. Als Klassenbeste war sie ihrerseits in der Lage, ihren Mitschüler:innen zu helfen. In den nächsten beiden Jahren verlief der Spracherwerb schleppender, da sich ihre Klasse ausschließlich aus Jugendlichen anderer Länder zusammensetzte. „Wir haben viel Arabisch gesprochen, sogar während der Teamarbeit im Unterricht. Die Lehrer hat das nicht gestört. Sie haben unsere Fehler auch nicht korrigiert“, kritisiert die junge Frau. Allerdings bescherte die Schule ihr auch „die zwei besten Wochen meines Lebens“. Eine Fahrt mit einer Lehrerin und fünf weiteren Schüler:innen nach Bulgarien war eine völlig neue Erfahrung. Erstmals ohne Familie zu verreisen, außerhalb ihres Zuhauses in einem Hotel zu schlafen, Museen zu besuchen und in einem Projekt mitzuarbeiten und zu diskutieren, das hat ihr einfach gefallen.

Aber es gab auch Rückschläge. Als Aya gesagt bekam, dass sie mit ihren mangelnden Sprachkenntnissen kein Abitur erreichen könne, fühlte sie sich falsch eingeschätzt. Auch einigen ihrer Freunde und Freundinnen mit Migrationsgeschichte wurden geringere Lernkompetenzen zugeschrieben. In Schule und Alltag erleben sie immer wieder Formen von Rassismus, indem sie wegen ihrer Sprachkenntnisse und Herkunft abgelehnt und falsch eingeschätzt werden. Dabei hat Aya erfolgreiche Vorbilder: Syrerinnen, die sehr gute (Abschluss-) Noten erzielt haben. Und in ihrer Heimat Syrien hat Bildung einen ebenso hohen Stellenwert wie in Deutschland. Daher zieht sie im Sommer 2022 die Reißleine: Mit dem Realschulabschluss beendet sie ihre Zeit am Berufskolleg und wechselt zum Weiterbildungskolleg Emscher-Lippe, um sich auf ihr Abitur vorzubereiten. Hier verliert sie ihre Angst, mündlich am Unterricht teilzunehmen. „Ich liebe es, hier zur Schule zu gehen und habe wieder Lust, mehr zu lernen. Hier habe ich auch neue Freunde gefunden, z.B. aus Holland, Ungarn und der Türkei – und wir sprechen Deutsch miteinander!“, triumphiert sie mit strahlenden Augen.

Kinder und Jugendliche stützen die Familien
Auch in Ayas Familie fiel mit dem wachsenden Wortschatz die Entscheidung, im Alltag untereinander Deutsch zu sprechen. Wie viele Migrantenkinder, die die Sprache im neuen Land schneller lernen als ihre Eltern, begann die Jugendliche bei Behörden- und Arztbesuchen zu übersetzen. Aya sieht sich als wichtige Stütze der Familie, fördert ihre Geschwister, wo sie kann, ist stolz darauf, dass auch ihr Bruder sein Abitur machen wird und bereits Nachhilfe gibt. Sie ist verantwortlich für alle Papiere, regelt den Schriftverkehr und Austausch mit Behörden, Krankenkasse, Bank und Ärzten. Ihre Mutter vertraut ihr, deshalb gibt Aya sich besonders viel Mühe, alle Themen schnell zu verstehen. Viele Kinder und Jugendliche mit einer Migrationsgeschichte teilen diese meist ambivalente Erfahrung. Die nicht altersgemäße Beschäftigung mit existenziellen Fragestellungen wirkt oft verstörend. Aber es gibt auch Kinder und Jugendliche, die daran wachsen und stolz auf ihre Fähigkeiten sind.

Zukunft in Deutschland oder in Syrien?

Was hat Aya nach ihrem Abitur vor? Nach ihren Zukunftsträumen befragt, nennt sie drei Dinge: Sie will das Vollabitur sehr gut bestehen (und dann Ernährungswissenschaften studieren). Sie will sich weiterhin freiwillig engagieren und Kinder unterrichten („Ich fühle mich gut, wenn ich Menschen helfen kann, glücklich zu sein.“). Und: Nach dem Koran, den sie gerade auswendig lernt, will sie auch noch die Bibel lesen („Ich will andere Religionen kennenlernen und herausfinden, was unterschiedlich ist.“).

Den Gedanken, nach Syrien zurückzukehren, hat sie für sich verworfen. Solange Krieg herrsche, sei es nicht möglich und ihr Vater lebe ja auch nicht mehr. „Ich fühle mich als Teil der deutschen Gesellschaft. In Gelsenkirchen ist das leicht, finde ich. Hier sind so viele Menschen aus anderen Ländern“, beschreibt Aya ihr neues Heimatgefühl. Allein 8.790 Menschen mit syrischer Staatsbürgerschaft leben im Juni 2022 in Gelsenkirchen, dazu Bürger:innen aus weiteren 146 Nationen; die größten Gruppen bilden Menschen aus der Türkei und den Balkanstaaten.2 In ihrer Nachbarschaft in Rotthausen fühlt sie sich wohl, hat Kontakt zu deutschen Nachbarn und Menschen aus aller Welt. Die Familie hat sich die Traditionen ihrer Heimat wie das abendliche Beisammensein in der Familie, das Schmücken der Wohnung zum Ramadan und das Feiern von Eid bewahrt und ist gleichzeitig offen für das Leben in der neuen Gesellschaft: Aya nimmt Klavierstunden und lernt schwimmen. Außerdem betreut sie ehrenamtlich Kinder in einer Moschee in Essen.

Syrisches und muslimisches Leben in Gelsenkirchen
Der Glaube an Allah bestimmt einen Großteil ihres Alltags, ist Motivation und, in einem christlich geprägten Land, zugleich eine Herausforderung. Aya trägt einen langen dünnen Mantel und einen Hidschab, der Haare, Hals und Ohren bedeckt, selbstbewusst und als äußeres Zeichen ihrer Verbindung zu Allah. Ihr Gesicht ist dezent geschminkt, die Augen sind ausdrucksvoll betont. „Das Kopftuch ist wie ein Gebet für mich. Aber es ist für mich auch okay, wenn Frauen es nicht tragen. Das ist ihre persönliche Entscheidung“, legt Aya Wert auf Toleranz. Bruder, Opa und Onkel dürfen sie auch ohne Kopftuch sehen; also alle Männer, die sie aus verwandtschaftlichen Gründen nicht heiraten dürfte. Zuhause und auf Festen, wenn nur Frauen zugegen sind, trägt sie auch raffiniert geschnittene kurze Kleider.

Als junge Frau findet Aya es schon schwer, in Deutschland ihre Religion zu leben, weiß von Kritik an und Vorurteilen gegenüber Frauen, die aus religiösen Gründen ihr Haar bedecken. „Es ist für mich persönlich wichtig, dass mich die anderen respektieren, egal wo ich herkomme, egal, welche Kleidung ich trage, egal was meine Religion ist. Ich respektiere, wie Deutsche und Menschen anderer Nationen leben. Mir macht es Spaß, andere Kulturen kennenzulernen“, erklärt Aya.

Deshalb fühlt sie ein starkes Bedürfnis, ihre Gefühle mit anderen zu teilen und ihre Religion zu erklären. Dazu ein Beispiel: Am ersten Tag in der neuen Schule fragte ein deutscher Junge Aya aus, die an diesem Tag ein schwarzes Kopftuch trug: „Trägst Du das Kopftuch freiwillig oder zwingt Dich Deine Familie dazu?“, „Kannst Du auch eine andere Farbe tragen?“ Aya ging offen mit diesen Fragen um und erreichte damit Akzeptanz. Sie findet es nicht richtig, wenn Eltern bestimmen, dass die Mädchen ein Kopftuch tragen sollen, denn das geschehe dann aus traditionellen Gründen, aber nicht für die Religion. „Ich hoffe, die Art und Weise zu ändern, wie die Welt die Muslime sieht. Wir sind warmherzige und nette Menschen“, äußert sie.

Überlebende müssen stärker sein als andere
Da ist es wieder, das Erklärenwollen und um Verständniswerben, das Aya so wichtig ist. „Wir haben viel durchgemacht. Wir Überlebende müssen stärker sein als andere. Wir müssen unsere Meinung sagen, sonst werden wir überhört.“
Mit einer Botschaft möchte Aya Alalawi sich besonders an Überlebende von Krieg und Flucht richten: „Mach weiter, egal, was du erlebt hast, lerne weiter, mach deine Hobbys. Sage nicht, du hast keine Zeit, lege dein Handy weg. Deutsch zu lernen ist nicht schwer, man muss es nur Schritt für Schritt lernen. Hilf den Menschen. Wenn Du dies tust, macht es dich glücklich und es gibt dir Kraft.“

Gerburgis Sommer / Angekommen in Recklinghausen/Gelsenkirchen/Bottrop – Migrationsgeschichten aus vier Generationen

Orte:

Aleppo
Istanbul
Gelsenkirchen-Rotthausen

Literatur:

Respekt: Rassismus im Schulalltag, Bayerischer Rundfunk, 09.03.2022, Zugriff am 21.10.2022 unter
https://www.br.de/extra/respekt/rassismus-schule-diskriminierung-chancengleichheit-100.html

Rassismus in der Schule. Rassistische Diskriminierung in Schulen: eine empirische Analyse, Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung DeZIM e.V., Berlin, Zugriff am 21.10.2022 unter https://www.rassismusmonitor.de/kurzstudien/rassismus-in-der-schule/

Marx, Ann-Kristin, Zuwanderung in der Metropole Ruhr. Wahrnehmung und Wirklichkeit, Regionalverband Ruhr, 2020, Zugriff am 21.10.2022 unter https://www.rvr.ruhr/fileadmin/user_upload/01_RVR_Home/03_Daten_Digitales/Regionalstatistik/03_Publikationen/2020-09_Regionalstatistik_Ruhr_Zuwanderung_in_der_Metropole_Ruhr.pdf

Ungleiche Bildungschancen. Fakten zur Benachteiligung von jungen Menschen mit
Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem, Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) GmbH, Berlin, 08. April 2020, aktualisierte Fassung, Zugriff am 24.10.2022 unter https://www.stiftung-mercator.de/content/uploads/2020/12/2020_Kurz_und_Buendig_Bildung_final.pdf

Zitation: Sommer, Gerburgis, Aya Alalawi, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/aya-alalawi/

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Veye Tatah

Energiegeladen, wortgewaltig, überzeugend, kommunikativ, mit einem herzhaften lauten Lachen gesegnet und immer tipptopp gekleidet – so lässt sich Veye Tatah kurz und knapp beschreiben. Sie ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau in den Bereichen IT-Beratung und Entwicklung, Projektmanagement und interkulturelle Kommunikation, Inhaberin der Firma „Africa Positive Catering und Events“, Netzwerkerin, Bildungs- und Integrationsexpertin, Familienfrau mit zwei Söhnen und vor allem: Kopf, Herz und Chefredakteurin des Magazins Africa Positive.

Veye Tath ist angetreten, unser Afrikabild nachhaltig zu verändern und das Bild von Europa auf dem afrikanischen Kontinent realistischer und vielschichtiger zu vermitteln. „Es entstehen positive wie negative Vorurteile, weil man kein differenziertes Bild entwickeln kann, hier das Land des Wohlstandsversprechen – dort der Kontinent des Hungers und Elends. Beide Bilderwelten bestärken sich in einer explosiven Mischung, die tief hinein in individuelle wie politische Haltungen und Entscheidungen wirken.“1 Deshalb hat sie aus einem inneren Antrieb heraus voller Überzeugung im Jahre 1998 das Magazin Africa Positive gegründet:  „Wenn ich wirklich überzeugt bin von einer Sache, dann bin ich bereit, ein Risiko einzugehen. Ob ich Geld verliere oder nicht, ist nebensächlich. Ich muss das machen. Das ist eine Frage des Charakters.“ 2

Von Nkambe über Bremerhaven …

Veye Tatah wurde 1971 in Nkambe im westafrikanischen Kamerun geboren. Sie gehört zum Volk der Nso aus dem Nordwesten Kameruns. Ihr Vater war Lehrer, später Zollbeamter, ihre Mutter Hebamme und Krankenschwester. Sie wuchs behütet in einer Mittelschichtsfamilie auf, die Wert auf die Bildung ihrer Kinder legte. Kamerun war von 1884 bis 1919 eine deutsche Kolonie.3Der Versailler Vertrag von 1919, der nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg die Abtretung aller Kolonien des Deutschen Reiches regelte, überführte Kamerun offiziell in die Hoheit des Völkerbundes, der Großbritannien und Frankreich ein Mandat zur Verwaltung des Landes übertrug. Kamerun war fortan in ein Britisch-Kamerun und ein Französisch-Kamerun aufgeteilt.

Veye Tatah gehört zur im Nordwesten des Landes lebenden englischsprachigen Minderheit. Sie besuchte dort eine katholische Internatsschule. Nach ihrem Abitur mit naturwissenschaftlich-mathematischem Schwerpunkt nahmen die deutschen Nachbarn ihrer Eltern sie als Au-pair-Mädchen mit nach Bremerhaven. Sie lernte im Alltag dieser Familie die deutsche Sprache. Im Wintersemester 1992/93 verließ sie Bremerhaven und schrieb sich an der Universität Dortmund für das gerade ganz neu entwickelte Fach „Angewandte Informatik“ ein. Auf die Frage, warum sie als englische Muttersprachlerin nicht nach Großbritannien zum Studium ging, sondern nach Deutschland, dessen Sprache sie erst lernen musste, antwortet Veye Tatah mit einem Schulterzucken: „Das Leben hat seine eigene Dramaturgie.“4

Mit Rassismus wurde Veye Tatah zum ersten Mal in Deutschland konfrontiert. In Kamerun hatte sie nur positive Erfahrungen mit weißen Lehrkräften gemacht und auch keine Diskriminierung durch die weißen Nachbarn ihrer Eltern erlebt.  Als sie in Bremerhaven hingegen dem Sachbearbeiter einer Behörde ihren Ausweis vorlegte, wechselte dieser sofort ihr gegenüber sein Verhalten, wurde unfreundlich und ablehnend, als er sie als Afrikanerin und nicht als schwarze US-Bürgerin identifizierte. „Dies war meine erste Begegnung mit Alltagsrassismus, der mir in Deutschland seitdem ständiger Begleiter ist“.5

Während ihrer ersten Zeit in Deutschland fällt ihr noch etwas auf: Der afrikanische Kontinent  wird in den Medien nur in Bildern von Krieg, Hunger, Krankheiten und Katastrophen vor- und dargestellt: „Als erstes fielen mir die Fernsehberichte und die schrecklichen Bilder von Schwarzen Menschen unangenehm auf.“6 Auch Plakate von Hilfsorganisationen arbeiten mit mitleidserregenden Gesichtern Schwarzer Kinder, um Spenden für das arme Afrika zu sammeln. Die Kameruner Studentin ärgert es zudem ungemein, dass sich Deutschland dem afrikanischen Kontinent wie einem Land nähert: „Was sagen Sie als Afrikanerin dazu?“ Dies zeugt von Nichtbeachtung oder Unkenntnis der vielen unterschiedlichen Nationen, Ethnien, Sprachen, Kulturen, naturräumlichen Gegebenheiten auf dem afrikanischen Kontinent.

… nach Dortmund

Für das Buch „Worauf wir uns beziehen können“ erinnerte Veye Tatah eine Begegnung, die einen verstörenden Eindruck gibt von dem Alltagsrassismus, mit dem Schwarze Menschen konfrontiert waren und sind: „Eines Tages fuhr ich in der Straßenbahn Richtung City und saß zufällig meinem Mathematik-Professor gegenüber. Die erste Frage meines Herrn Professors war, aus welchem Staat ich käme. Ich antwortete: ‚Aus Kamerun‘. Er fragte, in welchem Bundesstaat der USA Kamerun läge. Ich antwortete, dass Kamerun nicht in den USA sei, sondern in Westafrika liege. Da guckte er sehr verdutzt: „Sie sind Afrikanerin?“ Und ich bejahte. Dann fügte er hinzu: „Ich dachte, Afrikaner sehen komisch aus – nicht so, wie Sie.“ Dann fragte ich ihn, wie komisch Afrikaner denn aussähen. Dann fiel mir ein: Seine Sicht auf Afrika und dessen Bewohner*innen könnte durch die mediale Darstellung Afrikas entstanden sein. Der Professor hatte wohl einfach erwartet, dass ich als Afrikanerin abgemagert, hungrig und hässlich aussehen würde – also so, wie die Afrikaner*innen im Fernsehen. Für ihn konnte eine normal aussehende Schwarze Frau wie ich nur Amerikanerin sein.“7

Erfahrungen wie diese ließen in Veye Tatah den Entschluss reifen, etwas gegen dieses eurozentrische und koloniale Afrikabild zu unternehmen: „Ich muss positive Bilder über Afrika verbreiten“. Und zugleich wurde ihr deutlich, wie sich die Vor- und Darstellungen Afrikas in Europa und die von Europa in Afrika gegenseitig bestärken: „In Afrika sieht man nur die heile Welt Europa – das Paradies – , in Europa das chaotische Afrika. Es gibt nichts dazwischen“.8 Sie entschloss sich, ein Magazin herauszugeben, das seine Zielsetzung bereits im Name tragen sollte: „Africa Positive“ und das differenzierte Bilder der jeweiligen Gesellschaften und Staaten auf dem afrikanischen Kontinent kommuniziert.

Africa Positive

Doch war die Informatik-Studentin weder als Journalistin, noch als Verlegerin geübt. Sie hatte noch nie einen Artikel geschrieben. Niemand fand ihre Idee damals unterstützenswert: „Wer liest denn sowas?“. Doch Veye Tatahs Zielstrebigkeit führte zum Erfolg: Sie konnte sich Geld für den Start des Magazins leihen. Und sie fand Unterstützung durch Osman Sankoh, einen Studenten, der am Fachbereich für Statistik promovierte und bereits an seiner Universität in Sierra Leone für die Unizeitung geschrieben hatte. Er wusste, wie Zeitung gemacht wird. Für ihren allerersten Beitrag des ersten Heftes, brauchte Veye Tatah keine journalistische Ausbildung – sie schrieb sich aus dem Bauch heraus „Warum Afrika Positive?“ von der Seele.

Wenn sie von einer Idee überzeugt ist, dann ist Veye Tatah bereit, dafür alles zu tun, und auch die Konsequenzen zu tragen. Das ist für sie „Charaktersache“: „Ich war besessen. Ich musste was verändern in Deutschland“.9 Zur Zeit der Magazingründung war sie noch Studentin, bezog kein Bafög oder anderweitige Unterstützung und finanzierte ihren Lebensunterhalt durch diverse Aushilfstätigkeiten. Das Magazin entstand in ihrem Wohnzimmer. Die Zeitschriftengründung ging sie höchst professionell an, suchte sich mit dem traditionsreichen Lensing-Druck in Dortmund eine professionelle Druckerei und einen Vertrieb, der das Magazin in Buchhandlungen u.a. auch strategisch gut überlegt an Flughäfen brachte.

Im Jahre 2023 feiert Africa Positive sein 25-jähriges Jubiläum – es erscheinen vier Hefte jährlich mit Informationen zu Ländern, Menschen, Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport – Informationen aus Herkunftsländern und aus der Diaspora. Interessante Persönlichkeiten werden porträtiert, immer wieder auch Afro-Deutsche, die eine wichtige Rolle als Vorbild einnehmen können, wie Florence Brolowski-Shekete, Schulamtsdirektorin und Bestseller-Autorin10 oder Aminata Touré, Sozialministerin in Schleswig-Holstein.11 Hier bezieht sich Africa Positive auf Konzepte afrodeutscher Bildungsarbeit: Das positive Bild vom Menschsein entsteht im weißen Europa aus der Abwertung kultureller Ausdrucksformen von Menschen in anderen Teilen der Welt, deren Vergesellschaftungen, Sprachen, Religionen, Kunst im Vergleich mit der eigenen weißen Kultur und Gesellschaft abgewertet werden: „Schwarzen Kindern, die in Deutschland aufwachsen, wird durch solche Darstellungen ein positiver Zugang zu ihrer afrikanischen Herkunft erschwert. Ihnen werden subtil Gefühle von Unterlegenheit und Minderwertigkeit vermittelt, die sich hinderlich auf ihre Entwicklung eines positiven Weltbildes auswirken können (…).“12 Diesem kolonialen Muster entgegenzuwirken, Schwarze Kinder zu bestärken, darin sieht Veye Tatah eine ihrer zentralen Aufgaben im Rahmen postkolonialer Bildungsarbeit. Afrodeutsche wie Florence Brolowski-Shekete oder Aminata Touré, aber auch Künstler:innen, Wissenschaftler:innen und Unternehmer:innen vom afrikanischen Kontinent können in Subjektivierungs- und Bildungsprozessen Empowerment vermitteln und ein positives Selbstbild stärken.13

Blickwechsel

Äußerst informativ sind im Magazin Beiträge mit landeskundlichem Profil und zur Politik afrikanischer Staaten im Geflecht internationaler Beziehungen. Was mit „Blickwechsel“ gemeint ist, den Africa Positive vornimmt, verdeutlicht exemplarisch ein Beitrag zum Süßkartoffelanbau. Er springt deshalb ins Auge, weil während des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine am 31. Oktober 2022 Russland das Getreideabkommen aufgekündigt hatte, durch das Weizen aus der Ukraine zum afrikanischen Kontinent transportiert wurde. Afrika ist von Weizenlieferungen abhängig. Fernsehbilder zeigten am 31. Oktober 2022 riesige Massengutfrachter, die sich auf dem Marmara-Meer stauen, und Off-Kommentare sprachen von einer Hungersnot auf dem afrikanischen Kontinent. Unter der Überschrift „Afrika: Wie die Süßkartoffel verhindert, dass die globale Weizenkrise in Afrika Fuß fasst“ gab es einen Bericht von Dr. Maria Andrade in Africa Positive von den erfolgreichen Bemühungen um die Diversifizierung von Lebensmitteln und die Implementierung eines widerstandfähigen Nahrungsmittelsystem auf dem afrikanischen Kontinent, in dem der Süßkartoffel eine wichtige Rolle zukommt.14 Es geht um die Dekolonialisierung der Essgewohnheiten und des Nahrungssystems.

Der afrikanische Kontinent

In Veye Tatahs Büro hängt eine große Karte des afrikanischen Kontinents. Es ist für sie nicht hinnehmbar, dass der Kontinent in der deutschen Medienkommunikation wie ein Land dargestellt wird, in dem zudem nichts als Krieg, Seuchen, Armut, Krankheit herrschen, ein Bild, das  fatale wirtschaftliche Folgen für den gesamten Kontinent zeitigt. Sie findet klare Worte für die wirtschaftliche Ausbeutung Afrikas durch den Globalen Norden. Und zugleich kritisiert sie afrikanische Staaten, die ihre Politik nicht am Gemeinwohl, sondern an ethnischen Klientel ausrichten und mit ihrem „Tribalismus“ die während des Kolonialismus etablierten Strukturen des „Teile und Herrsche“ in  Gegenwart und Zukunft weitertragen: Im Tribalismus erfolgt Privilegierung nicht aufgrund von Hautfarbe, sondern aufgrund ethnischer Herkunft, ein starkes Herrschaftsinstrument in Ländern, in denen viele ethnische Gruppen zusammenleben – allein in Kamerun gibt es 250 ethnische Gruppen. Posten werden nicht nach Qualifikation, Können, Erfahrung, Leistung vergeben, sondern nach der Ethnie der Eliten. Und so appelliert Veye Tatah, die Forderung „Black lives matter“ endlich auch auf dem afrikanischen Kontinent Politik werden zu lassen.15

In ihren Editorials greift Veye Tatah immer wieder aktuelle Diskussionen auf, wie die um Rassismus in der Polizei, nachdem in Dortmund der 16-jährige Mouhamed Lamine Dramé aus dem Senegal bei einem Polizeieinsatz erschossen wurde: „Viele Menschen fragen sich unwillkürlich, ob dabei Rassismus eine Rolle gespielt hat. Wäre Mouhamed ein blonder suizidgefährdeter Junge gewesen, hätten die Polizisten auch dann so schnell tödliche Schüsse abgefeuert? Waren 11 Polizisten mit Maschinenpistole gegen einen psychisch Kranken überhaupt verhältnismäßig?“16 Sie klagt die Doppelmoral in Europa, in Deutschland bei der Aufnahme von Flüchtlingen an, die Menschen aus der Ukraine willkommen heißen, Menschen aus anderen Kriegsgebieten hingegen abweisen.17

Afro-Ruhr-Festival

1998 hat Veye Tatah mit Menschen afrikanischer und deutscher Herkunft den gemeinnützigen Verein „Africa Positive“ gegründet: Er organisiert Freizeitaktivitäten für Kinder und Jugendliche, Bildungsangebote für Personen aller Altersgruppen, interkulturelle Familientreffen, Antirassismustrainings und seit 2010 das jährliche Afro-Ruhr-Festival, bei dem auch weiße Bands mit afrikanischen Grooves und Tunes aufspielen. Dies führt unweigerlich zu der Frage nach kultureller Aneignung. Veye Tatah sieht in dieser kulturellen Aneignung afrikanischer Kulturen im positiven Sinne Formen der Auseinandersetzung, Anerkennung und Wertschätzung, die ganz in ihrem Sinne für Austausch und Kommunikation stehen.

Vielheit

Als Veye Tatah zum Wintersemester 1992/93 nach Dortmund kam, gab es kaum Schwarze Menschen auf Dortmunds Straßen. Einige wenige studierten. Nach ihrem Abschluss als Diplom-Informatikerin arbeitete sie sieben Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Dortmund. Als sie die Universität verließ, hatte sich das Stadtbild verändert. Schwarze Menschen wurden in der Stadt zunehmend sichtbar und forderten ihren Platz in der Gesellschaft ein. Veye Tatah reflektiert diese Transformation, so registriert sie, das offener Rassismus abnimmt, während struktureller umso schärfer hervortritt. Ihre Erfahrungen schildert sie in einem starken Beispiel: Wenn sie als Schwarze Frau hinter dem Lenkrad ihres Transporter sitzt und Catering ausfährt – hier fährt die Chefin persönlich – , dann signalisieren ihr Blicke, dass sie als Schwarze wahrgenommen wird, die einen Dienstleistungsjob macht – Schwarze Menschen machen eben schlechtbezahlte Jobs als Fahrer oder Köchin. Steigt sie hingegen auf dem Parkplatz gut gekleidet in ihren Sportwagen, dann werden Blicke böse und signalisieren: „Wie kann sie so ein teures Auto fahren?“. Blicke sprechen „Das steht dir als Schwarze Frau nicht zu!“ Sie wird als wohlhabend wahrgenommen. Und dies paßt nicht zum Klischee: „Sie erwarten, ich muss eine Putzfrau sei, ich muss Essen verkaufen, aber der Sportwagen, der steht mir nicht zu.“18 Blicke und Körpersprache drücken dies machtvoll aus. Für Veye Tatah äußert sich hier sinnenfällig das koloniale Dispositiv, das die Gesellschaft tief durchdringt, denn: „Schwarze Menschen müssen arm sein und wir hier, die Weißen, müssen ihnen Geld geben.“

Ehrungen aus Eisen und am Bande

Für ihre beharrliche Arbeit an diesen tiefsitzenden kolonialen Sinn- und Deutungsmustern erhielt Veye Tatah viele Ehrungen, wie den „Eisernen Reinoldus“, den ihr der Presseverein Ruhr 2015 verlieh. Er würdigte damit ihre journalistische und verlegerische Arbeit.

Am 25. Februar 2010 wurde Veye Tatah der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland,  das Bundesverdienstkreuz am Bande, verliehen.

Uta C. Schmidt /frauen/ruhr/geschichte

Zitation: Schmidt, Uta C., Veye Tatah, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/veye-tatah/

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Saadet Ikesus Altan

Die Opernsängerin Saadet Ikesus Altan verbrachte die Jahre 1935–1941 beinahe durchgängig in Deutschland. In ihrer Prominenz und Wirkung gilt sie als Schlüsselfigur in der Geschichte der türkischen Oper. Sie wirkte in der Spielzeit 1940/41 als Altistin an der Duisburger Oper. In dieser Funktion ist die Prägung Ikesus’ durch ihren Aufenthalt in Deutschland und ihr künstlerisches Engagement in Duisburg einer näheren Betrachtung wert.1 Ihre Biografie steht außerhalb der Arbeitsmigration, wie sie für die Geschichte des Ruhrgebiets zentral ist. Sie verweist auf das städtische Musik- und Kulturleben Duisburgs in den Kriegsjahren. Sie wird hier als konstitutives Merkmal und bewegendes Moment transkultureller historischer Prozesse gesehen: Ikesus’ Lebensgeschichte und ihr Engagement in Duisburg stehen im Kontext des Geflechts der beiden Bündnisstaaten Türkei und Kriegsdeutschland.

Kulturtransfer für die neue Republik Türkei

Fatma Saadet Ikesus wird am 3. März 1916 in Konstantinopel geboren und steht stellvertretend für eine Generation von Intellektuellen und Künstler:innen aus der Türkei, die in den 1920er und 1930er Jahren in Berlin, dem Hotspot der „Goldenen Zwanziger“ leben und studieren.  Ikesus steht ebenso für die neu gegründete Republik Türkei, die sich am europäisch-humanistischen Weltbild (samt Kriegsführung) orientiert.  Denn in der Zeit des Nationalsozialismus schickt die türkische Regierung Studierende nach Deutschland. In denselben Jahren steigt die Zahl der durch die nationalsozialistische Verfolgung ins türkische Exil nach Istanbul gelangenden Professor:innen und Akademiker:innen. Im Jahr 1935 sind um die 40 Wissenschaftler:innen im türkischen Exil.2 So auch Paul Hindemith. Seine Werke erhalten ab 1936 im Zuge der Kulturpolitik des NS-Regimes an deutschen Bühnen Aufführungsverbot. 3 Hindemith ist zwischen den Jahren 1935 und 1937 in Ankara am Konservatorium als Experte tätig und verfasst dort im Staatsauftrag „Vorschläge für den Aufbau des türkischen Musiklebens“.4 Ikesus ist 19 Jahre alt, als Paul Hindemith sie 1935 für die Musikhochschule Berlin vorschlägt. Die türkischen Auslandsstudierenden im Naziregime werden dabei mit staatlichen Stipendien aus der Türkei gefördert. Saadet Ikesus ist eine von diesen Studierenden.

Studienjahre in Berlin

Ikesus erhält das Stipendium der Türkischen Republik, um im „Konservatorium der Reichshauptstadt“ in Berlin Gesangs- und Bühnenunterricht zu bekommen.5   Sie lernt Wilhelm Furtwängler und Sigrid Onegin kennen, die ihrer Karriere einen erheblichen Aufschwung gewähren. 6 Aus persönlichen Briefen von Zeitzeug:innen an die Publizistin Ingeborg Böer werden die enge Verbundenheit und das gemeinsame gesellschaftliche Leben der Künstler:innen aus der Türkei mit der intellektuellen Elite der Vorkriegsjahre deutlich: „Und Furtwängler sagte nach ihrem Vortrag in solch einer Veranstaltung: ‚Sie wird es sein!‘“ 7 Einige Studierende, so auch Ikesus, wohnen im Zentrum Berlins, in der Nähe oder direkt am Kurfürstendamm „in den Wohnungen reicher deutscher Juden, die nicht an Deutsche vermieten durften“.8 Am 9. November 1938 erlebt Saadet Ikesus die Reichspogromnacht in Berlin. Sie beschreibt in ihrer einzigen autobiografischen Veröffentlichung – einem schmalen Buch, als Interview geführt und als Erzählband bezeichnet – die Reichsprogromnacht und die Auswirkungen des Krieges. 9 Sie verzeichnet darin, wie sie eine Mitgliedschaft in der Reichskulturkammer beantragt, doch die NS-Beamten ihr diese zunächst verwehren. Ein öffentliches kulturelles Leben ist zu Zeiten des NS Regimes ohne das Bekenntnis zur NSDAP, die ausschließlich nachweislich als „arisch“ einzuordnenden Personen den Zugang zu öffentlichen Institutionen gewährt, unmöglich. Folglich muss Ikesus, um auf deutschen Bühnen auftreten zu dürfen,  unbedingt Mitglied der Reichskulturkammer werden. 10 Die Reichskulturkammer gibt Ikesus’ Antrag auf Mitgliedschaft nur statt, weil sie zu dem Zeitpunkt bereits Anfragen für Radioauftritte beim Sender Radiokurzwelle für Hörer:innen in der Türkei arrangiert hat und diese abzusagen droht. 11 Als Ikesus im Februar 1939 im deutschen Radio auftritt, kann sie den Beginn des Zweiten Weltkriegs im September nicht ahnen. Sie baut weiter ihre Kontakte auf und beharrt auf ihrer Anwesenheit und ihrem Aufenthalt in Deutschland.

Im Sommer 1939 fährt sie mit ihrem Geliebten Helmut Henze, der im Konservatorium in der Dirigentenklasse studiert, zu den Wagner-Festspielen nach Bayreuth. Sie wollen heiraten, doch Ikesus kann Henze nicht heiraten, weil ihr wieder der damals „notwendige Ariernachweis“ zur Heirat mit einem Deutschen fehlt. 12 Am 20. August 1939, einige Tage vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, ergeht an alle Studierenden aus der Türkei die Aufforderung, unverzüglich die Heimreise anzutreten und auch Ikesus reist vorerst zurück. Wer Ikesus erneut zur Rückkehr ins Kriegsdeutschland einlädt, ist unklar. Jedoch kommt sie im Jahr 1940 nach Berlin.13 Sie wird ab Oktober 1940 Mitglied der Reichskulturkammer und erhält einen Vertrag für die Spielzeit 1940/41 an der Duisburger Oper.

Der Beginn ihrer Karriere: das Engagement an der Duisburger Oper

Saadet Ikesus beendet 1940 ihr Studium und ist vom 14. Oktober 1940 bis zum 3. September 1941 auf der Bauschenstraße 26 in Duisburg-Mitte – nur wenige hundert Meter von der Duisburger Oper entfernt – als Untermieterin bei Familie Schmöpf gemeldet. 1933 wird die Köhnenstraße in Bauschenstraße umbenannt. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Umbenennung in Bauschenstraße zu Ehren eines treuen NS-Funktionärs durchgeführt wurde. Die Bauschenstraße wird 1945 wieder in Köhnenstraße rückbenannt und trägt bis heute diesen Namen. 14 Ikesus’ erste Rolle ist die Magdalene im „Rigoletto‟ von Verdi. Insgesamt hat Ikesus im Spielplan 1940/41 der Duisburger Oper in ihren Rollen als Hänsel in „Hänsel und Gretel“, als Czipra, die Z***, in „Der Z***baron“ und in „Carmen“ brilliert. 15 In ihren Memoiren berichtet sie von Gastspielen als „Carmen“ in Düsseldorf, Essen und Regensburg. 16 Durch die Spielplanstatistik von Iris Melzer lässt sich rekonstruieren, wie viele Auftritte Ikesus in ihren Rollen an der Duisburger Oper durchgeführt hat. Nach Melzers Auflistung sind es 52 Vorstellungen, in denen Ikesus mitwirkt hat. 17 Ikesus durchschaut die nationalsozialistische Propagandamaschine, wie sich ihren Aufzeichnungen entnehmen lässt. So singt sie in den Duisburger Kasernen im Rahmen der „Kraft durch Freude‟-Kampagnen aus der Operette des jüdischen Komponisten Leo Fall „Die Rose von Stambul“ vor Wehrmachtssoldaten. Ikesus’ Erinnerungen an das Propagandaprogramm „Kraft durch Freude“ tragen eine – für heutige Leser:innen befremdliche – Leichtigkeit und Hingabe, wenn sie schreibt: „[…] es war unmöglich, sich vor diesem Auftrag zu drücken. Wir wurden in Militärlastwagen zu einer Kaserne gefahren. Eigentlich gefiel es uns, zu den Soldaten zu gehen. Sie applaudierten sehr herzlich und schenkten uns Wurst, Eier und sogar Strümpfe […]. Man empfing uns in der Kantine. Der General hatte erfahren, daß ich Türkin war, und rief mich zu sich. Er sagte: ‚Unser Heer läuft von einem Sieg zum andern. Auch wenn man es nicht im Radio hört: unser Sieg steht außer Frage. Selbstverständlich ist es mir nicht erlaubt, daß wir tanzen, während unsere Jungen an der Front ihr Blut vergießen. Aber wir können an diesem schönen Tag unsere Körper bewegen zur Musik, und ich nehme die Rose von Istanbul als Begleiterin und tanze voraus.‘ Ich glaube, daß der höfliche General nicht wußte, daß die Operette Die Rose von Istanbul das Werk eines jüdischen Komponisten ist.“ 18 Als Ikesus durch ihre Arbeit an der Duisburger Oper immer erfolgreicher und als „neue Diva“ bezeichnet wird, muss sie gegen ihren Willen zurück in die Türkei. Die türkische auswärtige Politik hält es für schädlich, dass eine Türkin als deutsche Diva gefeiert wird. So heißt es in ihrem Buch Kara Böcek: „Mein Start ins Berufsleben ließ Brillantes erhoffen, doch durch einen Befehl aus Ankara wurden meine Vereinbarungen mit der Duisburger Oper und die Vereinbarungen zwischen der Oper und unserer Botschaft unwiderruflich beendet.“ 19 Bis die Türkei dem Deutschen Reich im Februar 1945 den Krieg erklärt, bleiben Henze und Ikesus in Briefkontakt. Henze muss nach Kriegsbeginn als Soldat nach Russland. Nach Jahrzehnten wird es zwar ein Wiedersehen geben, beide sind dann allerdings bereits mit anderen Partnern liiert.

Als Sängerin von vielen in den Kriegsjahren an der Duisburger Oper hat Ikesus keinen Einfluß auf die Programmgestaltung. In der Türkei gehört Ikesus hingegen zur säkularen Kulturelite der neu gegründeten Republik.

Transnationale Ebenen

Es geht bei der Befassung mit Ikesus weniger um die Anerkennung ihrer gesanglichen Leistungen für die Duisburger Oper, sondern vielmehr darum, die Darstellung des Aufenthalts von Saadet Ikesus zu Kriegszeiten in Duisburg als Folie zu sehen, vor der eine Erinnerungskultur der Einwanderungsgesellschaft neu und ergänzend kontextualisiert und thematisiert werden kann:  In den meisten Ausführungen ist die Erinnerungskultur an die Vorfahren der Einwohner:innen gebunden. Das heißt, dass sie in einer bestimmten Region (oder Nation) historische Momente miterlebt oder sogar teilweise Ideologien mitausgeführt haben oder von bestimmten Ideologien geprägt wurden. 20 Dabei werden die transnationalen Ebenen, diejenigen, in der sich Staaten und Ideologien (Nationalsozialismus), Steuerungsmechanismen gesellschaftlicher Lebensweisen (Bildungsreformen) gegenseitig fördern, durch Austauschprogramme beeinflussen – wie im Falle von Ikesus – und miteinander kooperieren, nicht genug verdeutlicht. Die Geschichte von Saadet Ikesus in Duisburg weist keinerlei Gemeinsamkeit auf mit den bisher geschaffenen und geförderten Narrativen zum türkischen Leben in Deutschland oder zu einer Kultur, die in Verbindung steht mit dem kulturellen Leben und der Kulturgeschichte der Türkei. Eine Erklärung dafür ist, dass die Türkei und Deutschland eine andauernde historisch-politisch-kulturelle Verbundenheit haben, deren problematische Gewaltgeschichte im Bereich der Kulturpolitik auf beiden Seiten ausgeblendet wird. Ikesus Erinnerungen an das Kriegsdeutschland haben in der türkischen Rezeption bis heute keine Rolle gespielt.

 

Von Duisburg auf die Opernbühnen der Türkei

Nach ihrer Rückkehr in die Türkei baut Ikesus gemeinsam mit Carl Ebert die türkische Oper auf. Die Musikwissenschaftlerin Elif Güleç unterstreicht, dass Ikesus eine der ersten türkischen Opernsängerinnen ist, die auf europäischen Bühnen arbeitet und ihr Engagement an der Duisburger Oper als der Beginn ihrer Karriere angesehen wird.21 Sie wird zudem die erste Opernregisseurin der Türkei, bringt zahlreiche europäische Stücke auf die Bühnen der neu gegründeten Republik und fördert so die Implementierung der Kulturreformen.22 Ikesus wird in den wenigen Publikationen und Medienberichten, die zu ihr und ihrem Wirken vorliegen, als „Lehrkraft aller Lehrkräfte/Hocaların Hocası“ geehrt und somit stets in den Kontext der kulturellen Bildung der Zivilgesellschaft und der offiziellen Kulturpolitik gestellt.23 Saadet Ikesus ist in ihren persönlichen Ambitionen der westlichen Oper gegenüber ein Beispiel für den Kulturtransfer im Sinne der Formierung kultureller Identität.24

Ein Eklat zur Beerdigung

Saadet Ikesus Altan stirbt am 12. Dezember 2007 mit 91 Jahren in Ankara. Auch nach ihrem Tod wirkt sie noch wie ein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse: Auf ihrer Beerdigung kommt es zum Eklat. Durch ihre säkulare Lebenseinstellung begründet, werden ihre Überreste nicht mit einem grünen islamischen Tuch bedeckt, sondern mit der türkischen Fahne. Das wird seitens des Imams der Trauerfeier boykottiert, so wie er ebenso zu unterbinden versucht, dass auf der Trauerfeier Schuberts Stück „An die Musik“ mit Applaus der Trauergemeinde begleitet wird. Es solle gebetet werden. Ikesus wird schließlich ohne das islamische Totentuch, lediglich mit einem grünen Tuch bedeckt, begraben. In diesem weiteren Kontext wird Ikesus’ Wirken für eine demokratisch-säkulare Gesellschaftsform in der Türkei in ihrer weitreichenden Bedeutung erneut greifbar.

Dr. Nesrin Tanç

Zitation: Tanç, Nesrin, Saadet Ikesus Altan, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/saadet-ikesus-altan/

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Alessandra Cuppini Alberti

1987, dem Jahr zunehmender Fremdenfeindlichkeit in Westdeutschland, gründete Alessandra Cuppini Alberti zusammen mit Ismet Kosan und anderen Gleichgesinnten aus Gewerkschaft, Schule und Wissenschaft den Senioren- und Migranten- „Verein für Internationale Freundschaften“, ViF Dortmund e.V., im Dortmunder-Norden. Sie prägte jahrzehntelang die Vereinsarbeit. In ihrer aktiven Zeit war sie die Stimme der Migranten und Migrantinnen in der Stadtpolitik, egal welcher Herkunft: im Ausländerbeirat, Sozialausschuss, Kulturausschuss und durch ihre Mitarbeit am Integrations-Entwicklungsplan. Jahrzehntelang initiierte oder leitete sie mit anderen Mitgliedern soziale Projekte für Frauen, Mädchen, Jugendliche und vor allem für die älteren, arbeitslos gewordenen Stahl- und Bergarbeiter – ehrenamtlich. Alessandra Cuppini Alberti hat im wahrsten Sinne ihre Stadt  gestaltet.1

Argelato bei Bologna

Alessandra Cuppini Alberti wurde in der kleinen Gemeinde Argelato bei Bologna als jüngstes von sieben Kindern des Stadtbeamten Ugo Cuppini geboren. 1940 war Krieg, in Italien stand Benito Amilcare Andrea Mussolini (1883-1945) als Diktator an der Spitze des faschistischen Regimes. Im Juni 1940 war er als Verbündeter des faschistischen Deutschlands in den Zweiten Weltkrieg eingetreten. Alessandra Cuppini Alberti kann sich an deutsche Soldaten erinnern, die in dem Haus ihrer Eltern einquartiert waren, an Freunde der Familie und nächste Verwandte, die sich den Partisanen gegen Mussolini angeschlossen hatten. Krieg und Bürgerkrieg schreiben grausame Geschichten: So wurde ihr Vater von einem Kommando fremder, nicht ortsansässiger Partisanen ermordet, angezeigt von Neidern im Dorf, als sie knapp vier Jahre alt war. Ihr Vater war kein Faschist, aber als Angestellter des Staates war er auch kein Gegner. Sein Bruder hingegen war Kommunist und Kommandeur der Partisanen im Kampf um die Vertreibung der Deutschen und den Sturz Mussolinis, doch er konnte den Bruder nicht retten. Später wurde auch Alessandras Lieblingsbruder Guido ermordet. Die Familie verarmte und hielt sich durch Schneiderarbeiten der Frauen für die bäuerlichen Familien der Umgebung über Wasser: Die Mutter und eine Schwester Alessandras hatten immer von einem eigenen Modesalon geträumt.

Der von Bernardo Bertolucci (1941-2018) inszenierte Monumentalfilm „Novecento“ (1900) gibt einen Einblick in die Herkunftsregion Alessandras, der Emilia-Romagna, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Alessandra Cuppini erinnerte sich an ihre Tante Lena, die ihr von den Kämpfen der Landarbeiter und Landarbeiterinnen gegen die „padroni“, die Gutsbesitzer, Anfang des 20. Jahrhunderts erzählte. Eingegangen sind diese Erfahrungen in das  auch bei uns bekannte Protestlied „Bella Ciao“, das von den Arbeiterinnen – den „mondine“ – im Reisfeld berichtet, „in risaia mi tocca andar“, die von morgens bis abends für einen „Hungerlohn“ unter sengender Sonne arbeiten mussten. Während der Arbeit war es verboten zu sprechen, und so sangen sie. Das Lied ist eine Klage, die zur Anklage und zum hoffnungsvollen Protest wird. Auf Melodie und Refrain griffen im Zweiten Weltkrieg die italienischen Partisanen zurück, die es zu einem über Italien hinaus bekannten antifaschistischen Lied machten.

Bella Ciao

Während die älteren Schwestern heirateten und einer ihrer Brüder in ein Priesterseminar eintrat, bekam Alessandra die Chance, in Bologna zur Schule zu gehen, zu studieren und zu promovieren. Sie studierte Germanistik: „Ich hatte gute Erinnerungen an unsere einquartierten Soldaten. Einer war aus Österreich, er half uns und besorgte Dinge zum Essen. Am meisten hat mich der Strudel begeistert, den er für uns machte. Dabei schlug er immer auf den Tisch ein ‚zack und klatsch, peng‘ und rief dazu ‚das ist für Hitler!‘ Wir mussten viel lachen“, erzählte sie später. Sie liebte die deutsche Literatur und schrieb ihre Doktorarbeit über E.T.A. Hoffmann: „Das Ende der Romantik und der Einstieg in die Realität“. Zu Beginn der 1960er-Jahre kam sie mit ihrer Studienfreundin Fausta zum ersten Mal nach Deutschland, an die Universität Kiel. Beide praktizierten eine frühe Form des heutigen „Erasmus“-Austauschs und besuchten während ihres Germanistikstudiums einmal im Jahr einen Ferienkurs an einer deutschen Universität. Sie studierten in Hamburg, an der Universität Frankfurt am Main und schließlich 1968 an der Westfälischen-Wilhelms-Universität in Münster: „Da empfahl man mir einen Studentenvertreter, er sei Italiener, der im Ausländerreferat besonders aktiv mit den ausländischen Studenten zusammenarbeitete. Es stellte sich heraus, dass er zwar einen italienischen Namen trug, aber kein Wort Italienisch konnte.“ Das war Peter Alberti. Beide heirateten 1970.

Die Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit hatten auch die Biografie Peter Albertis geprägt: Kurz nach dem Krieg nach Schottland geschickt, kam er in der Nachkriegszeit zurück zu seiner Familie nach Kahla in Thüringen in der Deutschen Demokratischen Republik, wo er mit seiner englischsprachigen Sozialisation Misstrauen und Ablehnung erfuhr. Später flüchtete er mit seinem älteren Bruder über das Lager Friedland nach Westdeutschland und begann ein Lehramtsstudium. Alessandra und Peter heirateten und zogen nach Dortmund, wo Peter Alberti eine Stelle als Lehrer fand. Auch Alessandra Alberti arbeitete als Lehrerin: Mit ihren kleinen Sohn Christian ging sie als Lehrerin zurück nach Italien, nach  Riccione und Rovereto, denn als Kriegswaise erhielt sie staatliche Unterstützung, die sie in Italien (ab)arbeiten musste. Sie kehrte später zu ihrem Mann nach Dortmund zurück.

Alessandra Alberti begann als Schwangerschaftsvertretung muttersprachlichen Unterricht im Dortmunder Norden zu erteilen: Es gab kein Material, sie musste es „erfinden“. Sie sah, in welch ärmlichen Verhältnissen ihre Schützlinge lebten und begann zu helfen. Es blieb nicht bei wohltätiger Hilfe. Mit italienischen Arbeitern und Arbeiterinnen gründete sie den ersten politischen italienischen Verein in Dortmund.

Autonome Organisation der italienischen Gemeinschaft

Fremdenfeindlichkeit und struktureller Rassismus zeig(t)e sich in vielen Zumutungen: Alessandra Alberti suchte an ihrem Wohnort Dortmund den Kontakt zur italienischen Community, die sich unter dem Dach der Caritas traf. In dieser Organisationsweise zeigt sich eine Struktur, die bis auf das Jahr 1962 zurückgeht, als die Bundesregierung mit drei Wohlfahrtsverbänden – der katholischen Caritas, dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirchen und der AWO – Verträge zur Betreuung der ersten angeworbenen Arbeitskräfte aus dem Ausland abschloss. Die Betreuung der aus einem katholischen Land stammenden italienischen Gemeinschaft übernahm die Caritas. Schon bald kam es zu Spannungen, da die Caritas mit paternalistischem Gestus gegenüber der zu betreuenden Community agierte und eine selbstbestimmte Arbeit der Zugewanderten verunmöglichte. Der sonntägliche Treffpunkt für die italienischen Familien wurde geschlossen. Italienerinnen und Italiener gründeten daraufhin einen Verein, dem sie in Anlehnung an italienische unabhängige und selbstständige, d.h. nicht staatliche Vereinigungen den Namen „Autonomes Zentrum der Italiener in Dortmund“ gaben. Ihnen war das deutsche Verständnis von „autonom“ nicht bekannt: Sie hatten einen politisch höchst umstrittenen Namen gewählt, in Deutschland verwies in den 1970er Jahren  das „autonom“ auf klassenkämpferische, linke politische Praxen.2 Dieses „autonom“ im Namen hat die Vereinsarbeit erschwert.

Arbeitskreis deutsche und ausländische Mitbürger

Bereits 1974 traf sich Alessandra Alberti im Dietrich-Keuning-Haus im „Arbeitskreis deutsche und ausländische Mitbürger“, der sich gegen die in Dortmund aktive rechtsextreme Szene und für eine aktive Ausländerpolitik einsetzte. Nach einer Demo gegen Neonazi-Organisationen wie die „Borussenfront“ am Borsigplatz, der damals als Zentrum der rechtsextremen Szene in Dortmund galt, wurden die Aktiven massiv bedroht und im spanischen Zentrum überfallen. Auch Alessandra Alberti erhielt aufgrund ihrer politischen Arbeit massive Drohungen in Briefform – das hieß in den 1980er Jahren noch nicht „Hate Speech“ und spielte sich nicht in sozialen Medien ab, doch die rechte Gewalt war nicht minder bedrohlich als heute.

Verein für internationale Freundschaften

Die Vereinsgründung ging aus der 1985 gegründeten und bis heute aktiven gewerkschaftlichen Initiative gegen Rechtsextremismus und Rassismus „Mach meinen Kumpel nicht an“ hervor. Die abwehrende gelbe Hand übernahm die Initiative als Logo von der französischen Initiative „SOS Racisme“. 1986 hatte sich auch in Dortmund bei Hoesch durch Mitglieder der Industriegewerkschaft Metall ein Verein „Gelbe Hand – mach meinen Kumpel nicht an“ unter dem Vorsitzenden Ismet  Kosan gegründet. Dieser wurde 1987 zum „Verein für Internationale Freundschaften Dortmund e.V.“ (ViF), um den Aktionsradius zu erweitern. Am 19.11.1987 wurde amtlich der Vereinsname geändert und Alessandra wurde zuerst stellvertretende, dann Vereinsvorsitzende. Sie machte ViF zu dem, was er bis heute ist: zu einer politischen Stimme von Zugewanderten und zu einem unabhängigen Treffpunkt für Menschen unterschiedlicher Herkünfte.

Die Gründung des „Vereins für Internationale Freundschaften“ erfolgte im räumlichen Umfeld der Westfalenhütte in der Dortmunder Nordstadt und zu einer Zeit, als die Stahlkrise viele der angeworbenen Arbeiter der ersten Generation bereits als Frührentner oder Arbeitslose „freigesetzt“ hatte. Werkswohnungen rund um den Borsigplatz wurden verkauft, die Mieten stiegen. Rentnerinnen, Rentner und ältere Arbeitslose meist türkischer und marokkanischer Herkunft wurden hart getroffen. Der Produktionsstandort schloss endgültig 2001. Die Hochöfen, die Sinteranlage und das Warmbreitbandwalzwerk wurden nach China verkauft und dort wieder aufgebaut. Die Vorstellung, die „sogenannten Gastarbeiter:innen“3 würden wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren, erwies sich als Trugbild. Bis zum Jahre 2000 galt in der Bundesrepublik das Staatsangehörigkeitsrecht von 1913: „‘Ausländer‘ wurden als vorübergehende Erscheinung angesehen und – wenn sie politisch aktiv waren – als potentielle Unruhestifter.“4 Diese Erfahrung hatte Alessandra Alberti auch bereits mit dem „Autonomen Zentrum der Italiener in Dortmund“ machen müssen. In dieser gesellschafts- und sozialpolitisch bedeutenden Transformationsphase mit zunehmend gewalttätiger Fremdenfeindlichkeit nahm der Verein seine Arbeit auf. Sein Name „Verein für Internationale Freundschaften“ drückt die Zeitgebundenheit seiner Gründung aus, denn er verstand (und versteht) sich nicht identitätspolitisch, sondern als ein Zusammenschluss von/ für Menschen mit verschiedenen Herkünften im Sinne gegenseitiger Verständigung und gemeinsamer Gestaltung der Gesellschaft. In der Formulierung „internationale Freundschaften“ kommt ein individueller Beziehungsaspekt zum Ausdruck, aber auch eine transnationale Vorstellung von vertrauensvoller und gleichberechtigter Beziehung jenseits von Herkunft, Klasse, Geschlecht, Religion.

Die erste Phase des Vereinslebens war geprägt von Aktionen gegen die Fremdenfeindlichkeit und die ‚Ausländerpolitik‘ bzw. ‚Integrationspolitik‘, ViF organisierte Veranstaltungen zu politischen Themen wie Rassismus, Folter, Frauenrechte oder für die doppelte Staatsbürgerschaft. Die Mitglieder engagierten sich 2003 gegen  eine Beteiligung der BRD am Irak-Krieg und beteiligten sich am interreligiösen Dialog zwischen den Glaubensgemeinschaften. 1989 trat der Verein dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtverband (DPWV) bei.

Vom ‚Ausländerbeirat‘ zum ‚Integrationsrat‘

Vor allem aber forderten die Vereinsmitglieder einen direkt gewählten „Ausländerbeirat“ als eigene politische Vertretung auf kommunaler Ebene und setzten damit die Frage nach politischer Repräsentation auf die Tagesordnung, denn Eingewanderte und ihre Nachkommen waren weder im öffentlichen Diskurs vorgesehen, noch durften sie ernsthaft politisch mitbestimmen. Sie unterstanden einer Sondergesetzgebung, dem „Ausländergesetz“, und wurden darin de facto als „Menschen zweiter Klasse“ festgeschrieben.5In Dortmund trafen sich Ende der 1980er Jahre Menschen als „Ausländerbeirat“ – darunter Sandra Alberti, Pili Gonzales und Viktoria Walz als „Grüne in Aktion“ – , um Rechte für Mitsprache und Gestaltung für Zugewanderte auf Kommunaler Ebene durch ein demokratisch gewähltes Vertretungsgremium und eine offensive Antidiskriminierungspolitik zu  fordern.6Im November 1993 waren sie endlich erfolgreich: Auf Beschluss des Rates der Stadt Dortmund wurde erstmalig offiziell ein „Ausländerbeirat“ als Vertretungsorgan direkt von den ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Dortmund gewählt. Damit war Dortmund die erste Stadt in Nordrhein-Westfalen, die diese Forderung nach politischer Vertretung von Migrantinnen und Migranten in der Kommunalpolitik umgesetzte. Mit der Neufassung der Gemeindeordnung im Jahr 1994 wurden dann Gemeinden, in denen mindestens 5.000 ausländische Einwohner und Einwohnerinnen ihre Hauptwohnung haben, zur Bildung von Ausländerbeiräten verpflichtet. Im Zuge einer Änderung der Gemeindeordnung 2009 wurde aus dem ‚Ausländerbeirat‘ ein ‚Integrationsrat‘. Auch Dortmund vollzog die Namensänderung: In der Begrifflichkeit ‚Ausländerbeirat‘ wird die historische Dimension dieser politischen Repräsentation deutlich – in der Verschiebung hin zum ‚Integrationsrat‘ manifestiert sich die Entwicklung im Migrationsregime.

ViF – Begegnungsstätte an der Flurstraße

1993 erhielt der Verein für internationale Freundschaften Nutzungszeiten in den von der Arbeiterwohlfahrt genutzten Räumlichkeiten einer städtischen Begegnungsstätte auf der Flurstraße in der Dortmunder Nordstadt, in denen er bis heute wirkt (Stand 2022). In der ersten Zeit auf der Flurstraße schlug dem Verein und seine Mitgliedern nicht allzu große Sympathie entgegen, er fühlte sich als „ungern gesehener Gast“. Im Grunde erhielt er die Räumlichkeiten nur, weil die AWO unter Mitgliederschwund litt und von der Stadtverwaltung jemand zusätzlich für die Nutzung der Räumlichkeiten gesucht wurde. Niemand sonst wollte in die Schmuddelecke am Borsigplatz ziehen und so bekam ViF zwei Tage zur Gestaltung seiner Angebote. Es gab viel Ärger, denn es waren selbstverständlich immer die „Ausländer“, die die Fenster angeblich nicht geschlossen hatten oder Dreck machten. Doch ViF entfaltete dort beharrlich und nachhaltig Seniorenarbeit von, für und mit Menschen der ersten Gastarbeitergeneration. Von Anfang an lag ein Schwerpunkt auf dem Handlungsfeld „Älter werden in der BRD“.7 

Alessandra Alberti versteht die Vereinsarbeit „international, praxisbezogen, selbsthilfefördernd, altersübergreifend“.8 Sie ruht auf drei Praxisfeldern zwischen Sozial- und Kulturarbeit: Es gibt erstens Informationen und Hilfen bei Antragstellungen, Übersetzungen, Fachvorträge, einen Ort zum Austausch, zum Treffen und Feiern; Gemeinsam unternehmen sie zweitens gemeinschaftsstiftende Ausflüge zu Kulturorten in Stadt und Region, zu Museen, zur Universität, zu Stätten der Industriekultur, Orte, die die Teilnehmenden kaum allein bereist hätten. Und drittens pflegen sie als Verein die deutsche Sprache: „Deutsch sprechen gegen die Einsamkeit“, reden und diskutieren, nicht nur in der eigenen Community in ihrer Muttersprache, so dass das Deutsch schnell wieder verlernt wird. Alessandra Cuppini Alberti hat dabei eigene didaktische Konzepte einer Hilfe zur Selbsthilfe entwickelt, so etwa, wenn nach Informationsveranstaltungen zur Gesundheits- oder Sozialpolitik alle gemeinsam mit den vortragenden Fachleuten Problemlösungen inhaltlich wie sprachlich durcharbeiten und sich darüber fit machen für Behördengänge, Antragsstellungen, Hilfegesuche.

Geschlechtersensible Alten- und Kulturarbeit

In einem Vortrag 2001 stellte Alessandra Alberti die Probleme zur Diskussion, die sich bei einer Öffnung der Einrichtungen der Altenhilfe und Gesundheitsbildung für Migranten und Migrantinnen ergeben. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Begegnungsstätte des ViF auf der Flurstraße von Menschen zwischen 50 und 80 Jahren aus Chile, Deutschland, Spanien, Italien, Indonesien, Iran, Ukraine, Marokko, Russland und vor allem aus der Türkei besucht: „Zu uns kommen Buddhisten, Christen, Muslime, Juden und Atheisten, ArbeitsmigrantInnen und AsylbewerberInnen“.9 Die Senioren und Seniorinnen mit deutschem Pass, die die Begegnungsstätte zu AWO-Öffnungszeiten frequentierten, waren zumeist hochbetagt und an Freizeitbeschäftigungen wie Kaffeetrinken und Kartenspielen interessiert. Sie hegten Vorurteile, Misstrauen, Angst, Ablehnung. Eine gemeinsame, vertrauensvolle Altenarbeit konnte sich nicht entwickeln. Denn die Migrantinnen und Migranten, die zum ViF kamen,  verstanden sich als aktive, junge ‚Alte‘, die nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes den Kontakt zur deutschen Welt nicht verlieren. Trotz deutscher Sprachdefizite wollten sie weiter in dieser Sprache über soziale und politische Themen diskutieren und ihnen war mehr als bewusst, dass sie für ein angstfreies und gelungenes Leben als Seniorinnen und Senioren in der Bundesrepublik aktiv etwas tun mussten. Alessandra Alberti ließ keinen Zweifel daran, dass die Doppelnutzung mit der Altengruppe der AWO schwierig war und eine gemeinsame Arbeit angesichts der Vorurteile auf deutscher Seite sowie, fehlender finanzieller und personeller Ressourcen nicht zu realisieren war.

Seit Ende der 1980er Jahre setzte sich der Verein unter dem Motto „Älter werden in der Fremde“ mit Wohnformen für Seniorinnen und Senioren auseinander, besichtigte Heime, Tagespflegeeinrichtungen, Altentreffs in Dortmund. Noch waren die Angebote nicht auf Bedürfnisse von Menschen mit nichtdeutschen Herkunftstraditionen ausgerichtet. Wie die meisten Deutschen auch wollten die zugewanderten Männer und Frauen in den eigenen vier Wänden, in der vertrauten Umgebung alt werden. Doch gab es Unterschiede: So verfügten sie über einen schlechteren Informationsstand und waren bei Pflegeanträgen leichter abzuwimmeln, Familien lebten oft auf engstem Raum, Platz für besondere Pflegeein- oder Umbauten stand nicht zur Verfügung. Ständig stieg auch die Zahl der Alleinstehenden. Sie lebten zumeist in Altbauwohnungen, die bei Beeinträchtigungen  schlecht altengerecht umzubauen waren. Zudem trug die stetige Verteuerung von Mieten und Nebenkosten zur Verarmung bei. Wichtig war in diesem Zusammenhang für Alessandra Alberti auch die Gesundheitsbildung: Informationsdefizite und Ängste, nicht gehört zu werden, führten oftmals zu schwierigen Krankheitsverläufen. An diesen Aktionsfeldern Alessandra Albertinis wird deutlich, dass das, was wir heute für die Soziale Arbeit als Standards ansehen, mühsam und in kleinen Schritten von den Senioren und Seniorinnen mit Einwanderungsgeschichte selbst erarbeitet wurde und immer wieder eingefordert werden musste.10 „Die deutsche Mehrheitsgesellschaft hat immer noch die Vorstellung, die Arbeitsmigranten und -migrantinnen gehen im Alter zurück in ihre Herkunftsländer oder werden in ihren großen Familien versorgt. Das ist schon jetzt immer weniger der Fall, weil sich die Kinder wegen fehlender Arbeitsmöglichkeiten in alle Winde zerstreuen“, erklärte Alessandra Alberti in einem Interview 2005.11 Armut, Krankheit, Isolation im Alter nähmen nicht nur eine herkunftsspezifische Dimension an, sondern auch eine Geschlechterdimension: Sie beträfen Frauen in spezieller Weise. Viele aus der ersten Zuwanderungsgeneration lebten von minimalen Renten unterhalb des Existenzminimums. „Sie waren eigentlich gar nicht vorgesehen, als man Arbeitskräfte anwarb“. So verstand Alessandra Alberti ihre Arbeit ausdrücklich auch frauenpolitisch – Frauen stark zu machen, um als Migrantinnen Rechte einzufordern.

Geschichte(n) erzählen

Am Ende ihrer aktiven Vereinszeit prägte Alessandra Alberti die Biografiearbeit, die ViF im Sinne einer aktiven Erweiterung der Erinnerungskultur um Themen wie Migration und Zuwanderung begann. Die Lebensleistungen der Zugewanderten gehören in die Geschichte der Bundesrepublik. Der ViF begann mit den Lebenserinnerungen von neun jungen Männern, die 14-, 15-jährig aus der Türkei ins Ruhrgebiet kamen, und am 1. April 1965 eine Lehre auf den Zechen Hansa, Germania, Schwerin und Emscher-Lippe begannen. Sie legten erfolgreich ihre Knappen- und Facharbeiterprüfung ab und wurden schließlich Techniker, Ingenieure, Steiger und Betriebsrat. Untergebracht waren sie während ihrer Lehrzeit in Pestalozzidörfern, die die Zechen nach dem Krieg für jugendliche Lehrlinge errichtet hatten, die ohne Familie aus den ehemaligen deutschen Gebieten östlich der Oder geflüchtet waren und nun Arbeit im Bergbau suchten. Sie wurden im Ruhrgebiet dringend gebraucht. Nachdem immer weniger Jugendliche für den Bergbau rekrutiert werden konnten, wurden türkische Jugendliche angeworben, die dann in diesen Pestalozzidörfern durch eine erfahrene Bergarbeiterfamilie als „Hauseltern“ betreut wurden.12Das Buch über ihre Lebensverläufe „Glückauf in Deutschland“13 wurde ein großer Erfolg. Die Wanderausstellung, die daraus entstand, zog durch Museen und Rathäuser des Landes. Der Verein erhielt zahlreiche Preise für seine Geschichtsarbeit.14 Im Jahr des Auslaufens des subventionierten Steinkohlebergbaus 2018 in Deutschland schrieben sich die neun Kumpels mit ihrem spannenden Buch und der interessanten Ausstellung in die allgemeine Industriegeschichte ein.

Es folgte das Projekt „Wir hier oben – ihr da unten: Die Frauen an der Seite türkischer Bergleute der ersten Stunde erzählen“. Acht Ehefrauen sprechen von ihren persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen übertage. Es war – so in ihrer Rückschau – ein erfülltes und erfolgreiches Leben mit und in zwei Kulturen. Doch war der Anfang schwer. Frauen deutscher Herkunft konnten Ende der 1960er Jahre keinen türkischen Freund mit nach Hause bringen. Taschengeldentzug, Ausgehverbot waren die Folge. Ein türkisches Mädchen hingegen, dessen Traummann in Deutschland arbeitete, landete nach kurzer Verlobungszeit und einer Fahrt im Ford 17M in einer schmucklosen Junggesellenbude zwischen Zeche, Halde und Kokerei – ohne Unterstützung durch eine türkische Nachbarschaft, die erst langsam  in den Zechensiedlungen entstand. Auch diese Erfahrungen und ihr Selbstverständnis als Bergmannsfrauen gehören zur Geschichte dieses Landes.15

Mit einem dritten Projekt widmete sich die Geschichtsarbeit des Vereins der heute zweitgrößten Zuwanderungsgruppe, den Eingewanderten aus der ehemaligen Sowjetunion, darunter auch jüdische Emigranten als sogenannte ‚Kontingentflüchtlinge‘: „Oma, woher kommst du? Du singst so schön.“16 Sie hatten als Jugendliche oder Kinder Krieg, Vertreibung oder Flucht erlebt, so ist es ihnen auch ein Bedürfnis, gegen Krieg und Diskriminierung anzuschreiben. Sie verließen sie die unsicheren Zustände nach dem Zerfall der Sowjetunion und kamen in den 1990er Jahren als Familien in die Bundesrepublik. Unter den Frauen waren hochqualifizierte Ingenieurinnen, Technikerinnen, die auf dem geschlechtsspezifisch segregierten deutschen Arbeitsmarkt keine ihrer Ausbildung angemessene Beschäftigung mehr finden konnten. Während sie in der Sowjetunion als ‚die Deutschen‘ galten, wurden sie hier zu ‚den Russen‘ und erfuhren Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Ausgrenzung.

Eine Italienerin in Deutschland

Alessandra Alberti ist keine typische Arbeitsmigrantin. Sie kam als Akademikerin nach Dortmund. Doch auch die „Dottora“ in Germanistik erlebte in Deutschland Fremdenfeindlichkeit: Sie sprach Deutsch, doch sie wurde als „Fremde“ markiert. Sie wurde beklaut und betrogen, so, als man ihr für drei Schweinekoteletts in der Metzgerei 12 DM (Deutsche Mark) abnahm. Sie war aus Italien gewohnt, dass Lehrpersonen mit Respekt gegenübergetreten wurde. Und nun in Deutschland wurde sie zur Seite gedrängt und nicht ernst, nicht für voll genommen.17Das war für sie klar und deutlich Fremdenfeindlichkeit. Bei der Geburt ihres Sohnes lag sie in den Städtischen Kliniken zwar erster Klasse – ihr Mann war Beamter – aber ihr Schreien und bitteres Rufen half nichts, als unter der Geburt die Schmerzen unerträglich wurden und sie Angst bekam. Sie wurde nicht beachtet. Sie hörte eine Schwester sagen: „Die Südländer schreien immer und übertreiben gerne.“  Erst eine Ärztin kam ihr zur Hilfe und leitete die Geburt ein: „Ich werde meine Not und diese Angst, dass mein Kind vielleicht sterben könnte oder krank zur Welt käme, nie vergessen.“ Diese Erfahrung nennt man heute wohl traumatisch. Alessandra Alberti erzählte, dass ihr Sohn – blond und blauäugig – sie in der gegenüber Fremden feindlich eingestellten Öffentlichkeit immer intuitiv unterstützte, so sprach er laut italienisch, damit sie sich nicht alleine fühlte.  In einer anderen Situation mit ihrem Sohn, mit dem sie italienisch sprach, damit er in zwei Sprachen aufwuchs, bat ein Verkäufer an der Haustür: „Rufen sie doch bitte die Hausfrau, ich möchte etwas vorstellen“, als sei sie das Hausmädchen. Stereotype wie diese, in denen sich die Herkunft auf die Arbeit überträgt, die den „Anderen“ in der eigenen Gesellschaft  zugewiesen werden, fasst die Soziologie heute unter „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“.18

POSTSCRIPTUM

Während diese Biografie zu Alessandra Cuppini Alberti entstand, lebte sie hochbetagt mit einer sehr schweren Form der Demenz in einem Pflegeheim der katholischen Kirche in Dortmund. Ljuba Schmidt, aktuelle Vorsitzende des ViF, kümmerte sich um sie, so, wie Alessandra sich um den Verein und um internationale Freundschaften gekümmert hat. Alessandra Alberti erkannte niemanden mehr und niemand wusste 2022, was sie von ihrer Umwelt noch aufnehmen konnte. So lassen sich einige biografische Hinweise für diesen Text nicht mehr vertiefen und Erzählungen konkretisieren. Zu einer bedeutenden Quelle wurden Gespräche, die Alessandra Cuppini Alberti anlässlich verschiedener Vereinsjubiläen mit Viktoria Waltz führte. In der WDR-Sendereihe „Erlebte Geschichte“ erzählte Alessandra Cuppini Alberti über ihre Erfahrungen als Italienerin im Ruhrgebiet und über ihr politisches Engagement.19 Ihr politisches (Vereins)Engagement lässt sich über die Vereinsunterlagen rekonstruieren, die sich mittlerweile im Dortmunder Stadtarchiv befinden. Alessandra Cuppini Alberti verstarb am 25. September 2023. Ihre letzte Ruhestätte liegt in ihrem Geburtsort Argelato

Viktoria Waltz, ViF/  Uta C. Schmidt, frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Internationale Altenbegegnungsstätte, Flurstraße 70, 44145 Dortmund

Stadtarchiv Dortmund, Stadtarchiv Dortmund Märkische Str. 14, 44122 Dortmund

Dietrich-Keuning-Haus Leopoldstr. 50-58, 44147 Dortmund

Borsigplatz, Dortmund

Westfalenhütte, Eberhardstr. 12, 44145 Dortmund

Zitation: Waltz, Viktoria/ Schmidt, Uta C., Alessandra Cuppini Alberti, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/alessandra-cuppini-alberti/

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Liselotte Rauner

Unterdrückung, Ausbeutung, Rechtlosigkeit, Krieg waren ihre Themen, der Alltag im Ruhrgebiet ihre Basis. Rezensenten und Gratulanten nannten sie wiederholt eine „Mutter Courage des Ruhrgebiets“, die mit lauter und kraftvoller Stimme ihre Widerstandsverse vortragen konnte. Viele ihrer Gedichte reimten sich, gaben eine Melodie vor und fanden in den 1970er und 80er Jahren in der Musikszene nicht nur des Ruhrgebiets großen Anklang. Die Sängerin Brigitte Lebaan, die Jazz-Interpretin Inge Brandenburg und Friedensaktivistin Fasia Jansen, der Sänger, Sammler und Archivar Frank Baier, die Liedermacher Dieter Süverkrüp, Werner Worschech und Klaus Hoffmann interpretierten ihre Texte musikalisch, nachzuhören auf mehr als 20 Schallplatten.

Ihre Biografie beschreibt Liselotte „Lilo“ Rauner um 1968 einmal lakonisch so: Geb. 21.2.1920 in Bernburg/Anhalt, Realschule, kaufmännische Lehre, Gesangsausbildung, 2-jährige Mitgliedschaft am Stadt- und Landestheater in Bernburg, seit 1948 wohnhaft in Wattenscheid, verheiratet, keine Kinder. Schreibe seit etwa dem 18. Lebensjahr aus Passion, keine Veröffentlichungen, erstmalig im Januar d.J. [1968] in der literarischen Werkstatt in Gelsenkirchen mit Gedichten an die Öffentlichkeit getreten, seitdem mehrere Lesungen und Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften. Vorgesehen für einige in Kürze erscheinende Anthologien und Reproduktionen mehrerer Arbeiten durch Frau Ursula Herking.1

Die Gelsenkirchener Werkstatt des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt und der Direktor der Stadtbücherei Gelsenkirchen, Hugo-Ernst Käufer, förderten und begleiteten ihre literarische Arbeit.
Sie gehörte zu den wenigen Lyrikerinnen des Ruhrgebiets, sie verwahrte sich aber gegen eine Zuordnung zur „Frauenliteratur“. Sie schrieb politische Lyrik, ihr ging es nicht um private Verhältnisse.

Anerkennung fand ihre Arbeit 1986 mit der Berufung in den Internationalen PEN- Club und als erste Preisträgerin des Literaturpreises Ruhr, bereits vorher war sie Preisträgerin im Reportage-Wettbewerb des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt (1969), Stipendiatin des Landes NRW (1977), Trägerin des Bocholter Kulturpreises (1978) und des Josef-Dietzgen-Literaturförderpreises (1982).

Der erste Gedichtband erschien 1970 unter dem Titel Der Wechsel ist fällig, es folgten weitere Gedichtbände im Oberhausener Asso-Verlag. Nach dem Tod ihres Mannes Walter 1992 stellte Liselotte Rauner ihr Schreiben ein, ohne ihn schien es unmöglich, Alltag und Schreiben zu bewältigen. Selbst von Freunden schottete sie sich fast völlig ab und trieb bewussten Raubbau mit ihrer Gesundheit.

1998 trat sie mit der Gründung der „Liselotte und Walter Rauner Stiftung“ zur Förderung neuer Lyrik, nach eigener Aussage die einzige private Literaturstiftung in Nordrhein-Westfalen, noch einmal an die Öffentlichkeit.

Hugo Ernst Käufer und Rainer W. Campmann beschreiben in ihren Nachrufen Lilo Rauner aus verschiedenen, gleichwohl bewundernd-liebevollen, sich ergänzenden Perspektiven. Käufer erinnert an den letzten Auftritt Rauners 2004: Ein Beweis dafür, dass nur sie selbst ihren Gedichten zur vollen Wirksamkeit verhelfen konnte. Das wußte sie auch.2 Campmann erinnert sich an das widersprüchlich-symbiotisch verbundene Paar Lilo und Walter, und während Käufer „die poetische Kraft ihrer Sprachbilder rühmte“ dachte er an den immer vorhandenen und unerfüllten Traum Rauners, eine Prosaarbeit zu schreiben.3

Lilo Rauner wird nicht vergessen, ihre Gedichte und Aphorismen, ihre Stiftung, eine nach ihr benannte Talentschule in Bochum und der Nachlass im Stadtarchiv Bochum (NAP 123) machen Werk und Person sichtbar und zugänglich.

Garantien der Obrigkeit
Ihr dürft alles tun
was wir euch sagen
doch ihr sollt nicht sagen
was wir euch tun

Ihr dürft alles ändern
was wir wünschen
doch ihr dürft nicht wünschen
daß wir uns ändern

Ihr dürft überall gehen
wohin wir wollen
doch ihr dürft nicht wollen
daß wir gehen
(1969)4

Zum 100. Geburtstag der Lyrikerin Liselotte Rauner am 21. Februar 2020 richtet die noch von ihr selbst 1998 ins Leben gerufene Liselotte und Walter Rauner Stiftung einen Lyrikwettbewerb aus. Politisch pointierte und freche Texte sollen prämiert werden, die der wehrhaften, für die Rechte der Zukurzgekommenen kämpfenden Schriftstellerin gefallen hätten.

Hanneliese Palm, Selm

Orte:

Liselotte Rauner Stiftung, Westring 32, 44777 Bochum

Liselotte Rauner-Schule, Bochum-Wattenscheid

Literatur:

Hugo Ernst Käufer (Herausgeber): Liselotte Rauner: Kein Grund zur Sorge, Oberhausen 1985

Rainer W. Campmann, Hugo Ernst Käufer (Hrsg.): Augenblicke der Erinnerung, Oberhausen 1991

Was gültig ist, muß nicht endgültig sein, Essen 1992

Zitation: Hanneliese Palm, Liselotte Rauner. Eine politische Lyrikerin des Ruhrgebiets, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/liselotte-rauner/

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Louisa Catharina Harkort, geb. Märcker

Das märkische Sauerland bot der Industrialisierung früh einen fruchtbaren Nährboden: Von der hier vorhandenen Wasserkraft, dem Metall- und Holzvorkommen profitierten zahlreiche ländliche Unternehmen. Eines der bekanntesten ist das Familienunternehmen Harkort mit dem Stammsitz auf Gut Harkorten bei Hagen. Materielle Grundlage der sozial und wirtschaftlich hervorgehobenen Stellung der Harkorts war der große landwirtschaftliche Betrieb auf Gut Harkorten, das bereits im Schatzbuch der Grafschaft Mark von 1486 erwähnt wird.1 Dabei konzentriert sich das Interesse hauptsächlich auf Friedrich Wilhelm Harkort (1793-1880), den Begründer der Maschinenfabrik in Wetter. Dass er die unternehmerischen Ressourcen zur Gründung hatte, verdankte er aber auch seiner Großmutter, Louisa Catharina Harkort, geborene Märcker. Denn diese leitete im 18. Jahrhundert das Unternehmen nach dem Tod ihres Mannes während drei Jahrzehnten und sicherte so seinen Bestand für die Familie und Nachkommen. Im Gegensatz zu ihrem Sohn und ihrem Enkel verfügt sie aber bis heute über keine ausführliche Biografie.2

Wirtschaftliche und gesellschaftliche Voraussetzungen

Der Märkische Raum war im 18. Jahrhundert eines der führenden frühindustriellen Gewerbezentren in Deutschland. Neben ihrem großen Landgut mit Äckern, Wiesen und Wäldern im Ennepetal bei Hagen bewirtschafteten die Harkorts ab 1753/63 das Gut Schede bei Wetter. Zusätzlich betrieben sie mehrere Hammerwerke sowie ein Handelsunternehmen, das um die Mitte des 18. Jahrhunderts über mehr als 200 Handelspartner verfügte.3

Das Lebensumfeld der Märckerin aus sozialer Sicht war durch die bedeutende Stellung der Familien Harkort und Märcker geprägt. Als Pastoren und Richter hatten ihre Vorfahren und diejenigen ihres Mannes in der ständisch-verfassten Gesellschaft des 18. Jahrhunderts einflussreiche Positionen inne.4 Der Familienstammbaum der Harkorts lässt sich gesichert bis auf das Jahr 1560 zurückführen; das Gut Harkorten, das 1705 gut 13 ha Land umfasste, wurde erstmals 1486 erwähnt. Handel in einem größeren Umfang führten die Harkorts bereits seit dem frühen 17. Jahrhundert.51754 zählte das Handelshaus unter Johann Caspar Harkort III., dem Ehemann der Märkerin, neben dem Handelshaus seines Onkels Carl Johann Harkort (1691-1761) in Hagen,6 zu den „prinzipalsten Kaufleuten so in Eisen-Waren fast durch ganz Europa handeln, die Fabrikanten in Arbeit unterhalten und da von ihr soutien haben.“7

Trotz ihres ländlichen Wohnsitzes traten die Harkorts im Kreis der städtischen Kaufleute und Unternehmer von Dortmund, Iserlohn, Lüdenscheid gleichberechtigt auf; in ihrer engeren Umgebung zwischen Hagen und Schwelm waren sie politisch und wirtschaftlich führend, in der gesamten Grafschaft Mark meinungsbildend.

Elternhaus und Ausbildung der Märckerin         

Louisa Catharina Märcker wurde 1718 in Hattingen in geboren. Zur Geburt hielt ihr Vater fest: „Anno 1718 den 2ten octobris hat der Liebe Gott morgens zwischen 6 und 7 Uhr uns mit einer jungen Tochter gesegnet, welche wir den 8. darauf durch die Tauffe von Sünden abwaschen und Louysa Catharina benamsen lassen.“ Taufpaten waren „die Hochwohlgebohrene Frau von Heider, gebohrene von Bousch, Frau zum Cliff, meine liebe Mutter Catharina Margaretha Cramers, und mein Schwiegervatter Bernh. Casp. Reinermann. Gott lasse es zu seiner Ehre und unserer Freude aufwachsen!“8 Der Vater, Johan Christoph Märcker (geboren 1688) stammte aus Essen, hatte an der Universität Utrecht 1711 in Medizin promoviert9 und hielt sich zeitweilig als „Medicina Doctor, Märckischer Landfisicus und hochfürstlich Essendischer Hof und Leib Fisicus“am Hof der Fürstäbtissin in Essen auf. Am 3.10.1716 hatte er sich mit Charlotte Maria Reinermann von Schede verheiratet (geboren 1691, gestorben nach 1738)10, die auf Gut Schede bei Wetter an der Ruhr aufgewachsen war.11

Louisa hatte zwei jüngere Brüder. Der Jüngere, Johann Friedrich (1723-1791), lebte und arbeitete nach ihrer Heirat mit den Harkorts auf Harkorten. Der ältere, Johann Christoph, wurde wie sein Onkel Hoffiscal zu Cleve.12 In ihrer Jugend verkehrte Louisa am Hofe der regierenden Fürstäbtissin von Essen, Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach.13 In Essen wurde sie auch am 5. Oktober 1732 evangelisch lutherisch konfirmiert.14 Das Essener Damenstift war kein Kloster – so lässt sich erklären, dass die Märckerin als Protestantin sich hier aufhalten konnte.15 Nicht nur hatte sie am Hof Zugang zu vielfältiger Literatur, sie war auch Teil des höfischen Lebens, übte sich im stilsicheren, selbstbewussten Auftreten und konnte Kontakte knüpfen, von denen sie in ihrem späteren Leben profitierte.16

Der Umgang mit Menschen außerhalb ihres eigenen Standes schärfte ihr Gespür für Repräsentation (im Sinne von Vertretung und Wahrung der eigenen (Standes)Interessen, welche in der Ständegesellschaft für die höheren Stände ein wichtiges Mittel zur Distinktion und zur Darstellung von eigener Macht, Bedeutung und Einfluss war.17 Louisa erwarb am Hof der Äbtissin somit wichtiges soziales und kulturelles Kapital.18

Bedeutungsvoll für ihre spätere Tätigkeit ist die Synthese, die dieses Kapital mit ihrer Herkunft aus dem landsässigen Bürgertum einging. Bürgerliche Tugenden wie Fleiß, Sparsamkeit und Gewissenhaftigkeit verbanden sich mit stilsicherem Auftreten und Kontakten in die höchsten Kreise und bereiteten die Märckerin bestens auf ihren künftigen Lebensweg vor, auf dem sie u. a. als „Fabriquendeputierte“ des Amtes Wetter die Interessen aller Hammerbesitzer gegenüber der preußischen Regierung zu vertreten hatte. Darüber hinaus wird in der Literatur zudem ihre Schönheit gerühmt; die jungen Männer sollen, so wird berichtet, ein Spalier gebildet haben, um ihr auf ihrem Weg zur Kirche den Weg freizumachen und sie zu bewundern.19

Louisa Catharina heiratete erst vergleichsweise spät mit dreißig Jahren: Ob dafür ihre protestantische Religionszugehörigkeit ausschlaggebend war oder ihre hohen Ansprüche an einen Ehepartner, muss offenbleiben.20Ebenso schweigen sich Quellen und Literatur darüber aus, wie sie ihren künftigen Ehemann kennenlernte. Dessen Wohnsitz lag allerdings nahe beim Gut der Mutter der Mäckerin.

Heirat, Ehefrau und Mutter

Im Juli 1748 heiratete Louisa Catharina Märcker den zwei Jahre älteren Johann Caspar Harkort III.21 Johann Caspar III. hatte den Stammsitz und einen Eisenhammer nach dem Tod seines Vaters 1742 übernommen. Für ihn war es die zweite Ehe; seine erste Frau war 1747 im Kindbett gestorben. Aus der Ehe von Louisa und Johann Caspar gingen sieben Kinder hervor, die beiden ältesten starben bereits kurz nach der Geburt. Fünf Kinder des Ehepaars, die beiden Jungen Johann Caspar IV. und Peter Niklas, sowie die drei Mädchen, Caroline Friederike, Louise Henriette und Helena Christina, geboren zwischen 1753 und 1759, erreichten das Erwachsenenalter.22

1756 ließ das Ehepaar auf Gut Harkorten ein neues, großes und repräsentatives Haus errichten, das Kontor- und Lagerräume enthielt und genügend Platz für die Unterbringung der zahlreichen Gäste aufwies. Treibende Kraft für den Neubau scheint die Märckerin und ihr Wille nach Repräsentation gewesen zu sein: Das Haus, errichtet von Eberhard Haarmann,23 gilt noch heute als eines der bedeutendsten Barock-Denkmäler in Berg und Mark.24  Der neue Wohnsitz hob sich in Ausführung und Pracht deutlich von den bisherigen und weiter bewohnten Häusern auf dem Gut ab. Schieferumkleidet, mit geschwungenem Giebeldach, repräsentativer Freitreppe vor der Eingangstür und reichen Holzschnitzereien legte es Zeugnis ab für den raschen Aufstieg der Familie und ihren großen Reichtum, zu dem sie in den Jahren vor dem Siebenjährigen Krieg gekommen war.25 Gleichzeitig war es aber auch, wie Ellen Soeding betont, ein äußerst zweckmäßiges Kaufmannshaus:
„Jeder Winkel unter Treppen und schrägen Wänden war durch Wandschränke ausgenutzt; die schöne Eichentreppe nahm wenig Raum ein, und die gleichmäßige Aufteilung der Zimmer, Comptoirs und Lagerräume erschien übersichtlich und klar.“26

Insofern kann das Haus als Sinnbild für die Art des Wirtschaftens und des gesellschaftlichen Anspruchs der Harkorts betrachtet werden: Klar strukturiert und zweckmäßig, vertrat es dennoch deutlich den Willen zur Prachtentfaltung und Repräsentation.27

Auch die Natur unterwarf die Märkerin ihrem anspruchsvollen Gestaltungswillen. Sie legte auf Harkorten ein Parkwäldchen mit importierten und fremden Pflanzen und Bäumen an, das „Boskett“ genannt wurde und allein der Muße und Freizeit gewidmet war. Bis dahin hatte es auf dem Gut nur Obst- und Nutzgärten gegeben.28 Das Anlegen eines Gartens in Anlehnung an das prachtvolle Vorbild der französischen Könige entsprach der damaligen Mode in den gehobenen Ständen und diente dem Ausdruck des Reichtums und des gehobenen Lebensstils der Familie Harkort.

Einen solchen zelebrierte die Mäckerin auch durch eine aufwendige Haushaltsführung. Dabei lebte die Märckerin aber durchaus maßvoll, leistete sich Luxus nur nach Möglichkeit und vermischte so adligen und bürgerlichen Lebensstil. Sie bestellte z. B., wie aus den Geschäftsbüchern ersichtlich ist, erst nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) erstmals nicht nur lebensnotwendige Waren, sondern auch silberne Tafelleuchter und eine große silberne Kaffeekanne.29

Soeding beschreibt die Märckerin als eine hervorragende Gesellschafterin, mit höfisch geprägten gesellschaftlichen Umgangsformen: „Ja, immer hatte sie Gäste im Haus, die kluge und schöne Märckerin; Verwandte, Bekannte, zahlreiche Geschäftsfreunde ihres Mannes. Sie liebte die Geselligkeit, die aus geistreichen Tischgesprächen bestand, aus Spaziergängen durch das liebliche Land und aus gemeinsamem Musizieren. Auch sie hatte ihre ‚Tafelrunde‘, und diese wurde bald zum geistigen Mittelpunkt der führenden Männer in der Grafschaft.“30

Gut Harkorten entwickelte sich nach der Einheirat der Märckerin zu einem gesellschaftlichen Mittelpunkt der Region, ja zu einer der Keimzellen der entstehenden frühbürgerlichen Gesellschaft des bergisch-märkischen Raumes. Gäste waren nicht nur durchreisende Handelspartner, sondern die benachbarte Kaufmannschaft, die örtlichen Pfarrherren und aufgeklärte preußische Verwaltungsbeamte wie der Freiherr vom Stein, der 1784 Direktor des Bergamtes in Wetter an der Ruhr wurde und die Entwicklung des Bergbaus und des Hüttenbaus in den westlichen Gebieten Preußens vorantrieb.31 Zu Besuch kam auch die Fürstäbtissin von Essen32 – bestehende soziale Kontakte pflegte die Märckerin kontinuierlich. Und als König Friedrich Wilhelm II. die Provinz Westfalen 1788 besuchte und sein Sohn in Hagen Aufenthalt nahm, wurden zwei Enkeltöchter der Märckerin ausgewählt, um diesen mit einem Blumenstrauß in seiner Unterkunft zu begrüßen.33So pflegte sie eine eigentliche Salonkultur in der preußischen Provinz – denn ein typisches Merkmal der Salons des ausgehenden 18. Jahrhunderts war, dass darin Standesgrenzen verschwammen: Adel und Bürgertum trafen unbeschwert zusammen. Die reibungslose Übernahme der Geschäfte nach dem Tod ihres Mannes lässt darüber hinaus darauf schließen, dass die Gespräche an den Gesellschaften nicht nur schöngeistig gewesen waren, sondern mit Sicherheit auch geschäftliche Themen betrafen.

Über die Erziehung der Kinder liegen kaum Quellen vor. Ellen Soeding betont die große Liebe der Märckerin zu ihren Kindern: „Diese Frau die ebenso klug wie umsichtig und energisch die Güter Harkorten und Schede verwaltete, die das Handlungsgeschäft und die Hammerwerke führte, als habe sie niemals etwas anderes getan, diese Frau war ihren Kindern gegenüber so zärtlich, so warm und voller Liebe, dass sie alle ihr Leben davon zehrten.“34

Davon zeugen insbesondere die wenigen erhaltenen Briefe der Märckerin an ihre Kinder.35 Zu den Pflichten der Märckerin als Mutter gehörte die Ausrichtung der Hochzeiten ihrer Kinder, wobei sie nicht an Kosten sparte. Gleichzeitig notierte sie jede Ausgabe akribisch, um sicherzustellen, dass alle Kinder gleichviel erhielten.36

Unternehmerische Wirksamkeit

1761 starb Johann Caspar III. überraschend an, wie die Quellen es bezeichnen, „Flussfieber37 und ließ neben seiner Witwe fünf unmündige Kinder im Alter zwischen zwei und acht Jahren zurück. Ihrem tiefen Schmerz gab Louisa in der Todesanzeige vom 12. Februar 1761 Ausdruck: „Es ist mir unmöglich, die Empfindungen des Jammers und des Schmerzes zu erklären, welche den 10ten Februaris des Abends um 9 Uhr meine Seele und mein Haus erfüllet haben. Die allerheiligste Vorsehung riss mir und meinen fünf unmündigen Kindern den Herrn Johann Caspar Harkort, diesen besten Ehegatten und zärtlichsten Vater, in dem 45sten Jahr seines Alters und in dem 13ten unser zufriedenen Ehe, nach einer langwierigen Schwachheit, durch den Tod von der Seite. Ich weiss, bey diesem, für mich und meine vaterlosen Waysen unersetzlichen Verlust mich mit nichts, als mit dem heiligen Willen des Ewigen und dem ungemeinen Glauben an den Heyland der Welt aufzurichten, womit mein würdigster Freund in den Genuss der Seligkeiten übergegangen ist.“38

Hatte sich ihr Mann bereits durch Unternehmensgeist ausgezeichnet,39 so stand ihm seine Witwe nun in nichts nach. Während der folgenden 34 Jahre führte sie das Unternehmen unter dem Namen „Johann Caspar Harkort Seelig Witwe“. Bis 1780 tat sie dies mit Unterstützung ihres Bruders Johann Friedrich Märcker und des Handlungsgehilfen Johann Caspar Wienbrack. Von 1780 bis zu ihrem Tod 1795 waren ihre beiden Söhne und sie zu gleichen Teilen Teilhaber und führten das Unternehmen gemeinsam als Compagnie-Handlung.40 Während dieser Jahre sicherte und mehrte sie mit großem unternehmerischen Erfolg Besitz und Vermögen ihrer Familie.

Dass sie die Handlung unter dem Namen ihres Mannes weiterführte, war durchaus üblich und zielte darauf, das Vertrauen der Kunden und Lieferanten in die Firma zu erhalten.41 Das Wort der „Wittib Harkort“ hatte Gewicht im Kreis der Verleger und Reidemeister an der Enneperstrasse in Westfalen.42 Dies ist nicht nur auf die einflussreiche Stellung der Familie Harkort zurückzuführen, sondern auch auf Person und Leistung von Louisa Harkort. Sie erhielt zwar Unterstützung von Bruder, Handlungsgehilfen und Söhnen – eine solche Hilfe fiel in einem Familienbetrieb aber auch einem männlichen Oberhaupt zu. Sie führte die Firma unbeschädigt durch den Siebenjährigen Krieg (1756-1763), wozu ihre guten Beziehungen zur Fürstäbtissin, die ihr einen Schutzbrief der Franzosen vermittelte, wodurch das Gut vor Plünderungen verschont blieb, nicht unwesentlich beitrugen.43 Sie leitete die Gutsverwaltung, baute den Export aus und legte neue Hämmer an. Das Unternehmen verfügte über drei Standbeine – den Handel, die Herstellung von Metallarbeiten im Verlagssystem sowie den Betrieb eigener Hammerwerke. Um alle drei Bereiche, sowie um die Vertretung der Interessen ihrer Berufsgruppe gegenüber der Regierung und um die Verwaltung ihres Gutes kümmerte sich die Märckerin mit Engagement.

Das Handelsgeschäft

Das Handelsgeschäft bildete den Haupterwerbszweig und die Quelle des wachsenden Wohlstands des Harkortschen Unternehmens. Dabei war der Handel eng verbunden mit der Produktion von Metallwaren und die Expansion des Handels im 18. Jahrhundert ging einher mit einer engeren Einbindung der Produktion in die Firma der Harkort.44 Der Schwerpunkt des Handels im ganzen 18. Jahrhundert lag im Export von märkischen Metallwaren wie Sensen und Messer in den Ostseeraum, vor allem nach Lübeck und Rostock, wo eigene Lager unterhalten wurden.45 Die Lübecker Geschäftspartner vermittelten die märkischen Metallwaren weiter nach Skandinavien und ins Baltikum. An weiteren Gütern wurden v. a. Lebensmittel und Luxuswaren gehandelt, oft wurden diese als Rückfracht von den Handelsplätzen der Nord- und Ostsee in die Grafschaft Mark importiert.46

Das Harkorter Handlungsgeschäft lieferte auf Anfrage alles, was bestellt wurde. Bestellt werden konnte, nach einer Zusammenstellung der Märckerin: „Ambosse! Axen und Beile, Nagelbohren, Friedbohren und Billancen, Caffeemühlen und Feuer Confoirs, Draht in allen Sorten … Feuerstähle, Fingerhüte und Nähringe, Feilen nach Steiermärker Art, Goldwaagen, Kuchen- und Waffeleisen, auch Tafelmesser aller Arten, Mundharpfen, Pfannen und Pulver, Sensen und Futterklingen aller Art, Baum- und Kerbsägen, Hand- und Spannsägen. Aller Arten von Schafscheeren, Heckenscheeren, Danziger Spaden und Schüppen, Schlösser, Schrittschuh, Schahl, metallene auch Compositionsschnallen, grosse Waagebalken und Winden. Geräthe für Zimmerleute als Hobels, Beitels und dergleichen.“47 Neue Artikel wie Kaffeemühlen, Waffeleisen oder Schlittschuhe wurden schnell ins Sortiment übernommen und von den Schmieden im Auftrag angefertigt.48 Ab 1770 kamen Wandkaffeemühlen und „Convoirs“ in Mode, eine Art Stövchen, um Kaffee und Tee auf dem Tisch warmzuhalten.49

Transportiert wurden die leichteren Handelsgüter über Land, die schwereren auf dem Wasser. Mut und Innovationskraft bewies die Märckerin, indem sie sich als eine der ersten an der Schiffbarmachung der Ruhr, die ab 1780 bis Herdecke schiffbar war,50 beteiligte. Da sie seit 1780 auf Gut Schede einen neuen großen Hammer betrieb, konnte sie bei dessen Roheisenversorgung über die Ruhr erhebliche Kosten sparen. Ab 1783 unterhielt sie mit dem Herdecker Kaufmann Bockmöller ein eigenes Schiff, das in den Sommermonaten zwischen Duisburg und Ruhrort verkehrte und die Harkorter Hammerwerke mit Eisen versorgte.51 Ruhrabwärts wurde Kohle transportiert. Die Organisation kostete viel Mühe. 1785 schrieb sie in einem Brief an ihren Schiffer: „Mein werter Herr Caspar! An den Unkosten muss gesparet werden, sonst wird mir die Wasserfahrt leid. Ich bemerke ungern, dass ich das Ein- und Ausladen noch bezahlen soll und die Schiffer nur müßige Zuschauer dabei sein sollen! Sodann soll ich auch Armengeld, Zollknechts-Geld und wer weiß wie viele Sachen noch bezahlen. Lieber Herr Caspar! Wir können uns beiderseits entbehren – aber auch nützlich sein. Lassen sie uns doch im Einverständnis bleiben. Ich gönne Ihnen zwar ihren Nutzen und habe ihnen ja die 6 Stüber, so die Schiffer in Cöln nach Wiesdorf geben müssen, zugekehrt… Lassen sie mir nun auch einen kleinen Vorteil, der mir gebühret für meine viele Mühe, die ich in der Sache habe.“52

Ab 1794 verlieren sich die Quellen, vermutlich war das Geschäft unrentabel. 1803 wurde das Schiff verkauft.53

Stand die Märckerin in allen bisher gezeigten Geschäftsbereichen ihren Mann bzw. ihre Frau, so musste sie in einem Bereich passen: bei den für die Firma so wichtigen Geschäftsreisen. Bei regelmäßigen Besuchen der Geschäftspartner pflegte man bestehende Kontakte, suchte und erschloss neue Absatzmöglichkeiten. In den 1760er Jahren unternahm der Bruder der Märckerin, Johann Friedrich, regelmäßig die Reisen nach Norddeutschland, ebenso der Handlungsgehilfe Wienbrack. In den 1780er Jahren wechselten sich die dann erwachsenen Söhne darin ab.54 Für Frauen schickte sich das Reisen nicht, ebenso delegierten auch häufig die älteren, männlichen Familienvorstände diese eher mühevolle Aufgabe an ihre Söhne.

Die Produktion von Metallwaren in den Hammerwerken

Der zweite wichtige Geschäftsbereich war die Metallwaren-Produktion, welche in der Zeit, als die Witwe Harkort das Unternehmen leitete, kräftig expandierte. Johann Caspar III. hatte fünf Hämmer besessen, 1780 betrieb die Witwe Harkort bereits acht Hämmer, die in allen drei Stufen des Verarbeitungsprozesses tätig waren: In der Herstellung von Rohstahl, bei der Anfertigung eines Vorprodukts sowie bei der Herstellung von Endprodukten.55 Kaum ein anderer Unternehmer betrieb im Amt Wetter mehrere Hammerwerke.

Die Märckerin kannte sich in ihrem Metier gut aus: So schrieb sie einem Stahllieferanten, dass sich sein Material nicht verschmieden lasse: „Sehen die Stahlkuchen glänzend aus, sind voller Christalle (Spalk oder Sprengel) und leicht brüchig, so sind sie streng im Schmelzen, geben harten Stahl und vertragen viel Zusatz. Fallen die Stahlkuchen dagegen ins Graue und wollen ungern beim Schlagen zerspringen, so schmieden sie sich zu weich und vertragen wenig Zusatz.“ 56 Zum Wachstumsschub der Firma trug bei, dass die Märckerin flexibel auf den Markt und die Nachfrage zu reagieren verstand und neue Produkte anbot und vertrieb. 1774 erweiterte sie ihr Angebot an Sensen um ein steiermärkisches Modell,57 nachdem ihr nach einer Weile der Erprobung die richtige Herstellung geglückt war. Die steirischen Ganzstahl-Sensen waren von besserer Qualität als die märkischen Sensen, bei denen nur die Schneiden verstählt wurden.58 Bereits im folgenden Jahr lieferte sie allein nach Petersburg 1.300 Stück steirische Sensen.59 Da das Unternehmen einen steten und hohen Bedarf an gutem Rohmaterial hatte, wurde nach neuen Lieferanten permanent Ausschau gehalten, und bei Bedarf auch sofort gewechselt. Selbst einem wichtigen Lieferanten in der Bendorfer Hütte bei Koblenz drohte die Märckerin im Mai 1784 angesichts einer Preiserhöhung unverhohlen mit dem Wechsel zur Konkurrenz: „Wenn auch das Eisen gut ist, so kann selbiges doch auch zu hoch im Preis werden. Dieß ist ietzo so, daß ich mich sehr irren müste, wenn deßen ietzo aus hiesiger gegend viel zu dem neuen Preise sollte bestellet werden, zumahl da sich ietzo zu Ründerorth ein gantz neues äußerst ergiebiges und vielversprechendes Bergwerck gefunden hat.“60

Ihr Umgangston mit Rohwaren-Lieferanten und Produzenten auf den Hämmern war durchaus resolut. Soeding beschreibt sie als klug, umsichtig und energisch.61 Unter ihrer Führung wuchs die Zahl der für die Harkortsche Firma tätigen Handwerker: Zu Beginn der 1790er Jahre waren 296 Kleinschmiede für die Compagnie-Handlung im Verlagssystem tätig,62d. h. sie verarbeiteten das vom Unternehmer gelieferte Rohmaterial zu dem von ihnen festgesetzten Preis. Dies weist auf die große Bedeutung der Harkortschen Fabriquen für die Bevölkerung der Mark hin. Die Witwe Harkort und ihr Sohn wurden von den übrigen Hammerwerksbesitzern denn auch immer wieder als Deputierte gewählt, um die Interessen der Unternehmer gegenüber der preußischen Regierung wahrzunehmen.63

So setzte sie sich gegenüber dem König für die Werbefreiheit ein, wovon ein Brief zeugt, in dem sie sich 1763 bei ihrem Geschäftspartner Hülsenbeck in Rohstock für eine verspätete Warenlieferung entschuldigt. Viele ihrer Arbeiter seien in die Armee abgeworben worden und die Hammerwerke standen ohne Schmiede da. „Anjetzowürden schon alle für Euch bestimbte Waaren unterwegens seyn, wan nicht die diesen gantzen Winter betriebene rogorense Königl Werbungen der F[abrique] einen abermahligen Stoss beygebracht, indem nicht allein sehr viele Fabric[anten] enrollieret, sondern auch viele aus den Landen gewichen, und noch jetzo ist man unsicher. Gegenwärtig sind wir hier darüber aus, von S[einer] K[öniglichen] M[äjestät] die werbefreiheit wenigstens für die Fabriq[ue] zu suchen. Hoffnung haben wir, solche zu erhalten. Wan darunter nicht reussiren, so ist es binnen Wochen um hiesige Gegenden geschehen.“64 1776 wurde die Frau Wittib Johann Caspar Harkort zusammen mit Johann Heinrich Elbers zu Hagen und Johann Heinrich Fischer von den Reidemeistern, Sensenfabrikanten, Amboß-, Reck- und Breitschmeiden des Gerichts Hagen an erster Stelle als Deputierte bevollmächtigt, sich für die Werbefreiheit und Beibehaltung der Holzkohlepreise einzusetzen.65

In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zeichneten sich Veränderungen ab: Neben den wichtigsten Handelsdestinationen Lübeck und Rostock, wo die Firma eigene Warenlager unterhielt, große Mengen von Messern, Sensen, Schneidemessern, Stahl und Pulver, breite Waren (Pfannen, Sägen) und kurze Waren sowie Kleineisenprodukte (Nägel, Nadeln, Waagen) absetzte, trat zunehmend der Handel mit kleineren Städten in Schleswig und Holstein, in Mecklenburg-Schwerin oder Pommern. Die Harkorts lieferten vermehrt direkt an die dortigen Kaufleute, die die Produkte den Endabnehmern verkauften: Die Handelskette wurde somit verkürzt und Kundenwünsche konnten vermehrt abgefragt und damit auch umgesetzt werden. In der Firma führte diese Entwicklung zur Konzentration auf einige wenige Produktegruppen. In den 1790er Jahren wurden nur noch Sensen und Stahl nach Lübeck geliefert.66 Diese Beschränkung auf wenige Produkte bewirkte eine Annäherung der Firma an die Produktionssphäre, ein Weg, der im 19. Jahrhundert von den Harkorts mit der Errichtung der Maschinenfabrik in Wetter 1819, des Puddelwerks 1837 und der Gießerei und Maschinenfabrik 1839, in der nach 1842 erstmals der Einsatz von Dampfmaschinen bezeugt ist, weiterverfolgt wurde.67

Diese Entwicklungen, die auch für andere zeitgenössische Unternehmen belegt sind, sprechen für einen intuitiven Geschäfts- und Unternehmerinnensinn der Märckerin. Der relativ späte Zeitpunkt, zu dem sie ihre Söhne als gleichberechtigte Partner in die Compagnie-Handlung aufnahm – Johan Caspar zählte 27 Jahre, Peter Niclas 25 Jahre und sie selbst bereits 62 Jahre –, lässt auch darauf schließen, dass sie an der Geschäftstätigkeit durchaus Spaß hatte und das Erbe ihres Mannes nicht bloß verwaltete und für ihre Söhne sicherte.

Nach der Französischen Revolution begann sich ein europaweiter Krieg anzukündigen. Die Märckerin packte im Herbst 1794 einige Kisten von Wertsachen, Silber und Kleidern, um sie nach Lübeck zu verschicken.68 Im Frühjahr darauf starb sie im März im Alter von 76 Jahren. Das Vermögen wurde zu gleichen Teilen an alle fünf Kinder vererbt; die beiden Brüder führten die Handlung bis 1810 gemeinsam weiter. Dann trennten sie sich und Peter Niclas zog auf Gut Schede.69

Gründe für ihren unternehmerischen Erfolg

Louisa Catharina Harkort führte das Unternehmen mit Erfolg, Weitsicht, großer Selbstverständlichkeit, und genoss unter ihren Geschäftspartnern hohes Ansehen. Die Gründe für ihren unternehmerischen Erfolg sind mehrere. Zum einen war mit dem Fideikommiß von 1732 ein Rahmen geschaffen worden, der das Unternehmen zusammenhielt: Die Märckerin verwaltete nach dem Tod ihres Mannes die Firma, um sie ihrem ältesten Sohn zu erhalten. Familie und Firma bildeten in den vorindustriellen Handelshäusern eine unauflösbare sozial-ökonomische Einheit. Die Geschäftspartner blieben als Gäste im Haus, die Heiratspartner kamen zumeist aus Kaufmannsfamilien und waren mit dem Geschäft vertraut. So hatte bereits die Ehefrau von Johann Caspar Harkort I., Ursula Catharina Hobrecker, die Handlung während der winterlichen Geschäftsreisen ihres Mannes geleitet und nach seinem Tod im Jahre 1714 während acht Jahren alleine geführt.70 Auch die Schwägerin der Märckerin, Helena Margaretha Harkort (1710-1800), eine ältere Schwester Johann Caspar Harkorts III., die 1731 den aus Lennep stammenden Tuchfabrikanten Johann Christian Moll (1702-1762) geheiratet hatte,71 führte nach dem Tod ihres Mannes 1762 das Unternehmen in Hagen während Jahrzehnten; die Familien beider Frauen standen in regem Kontakt.72

Zweitens verfügte Louisa Catharina Harkort über ein bedeutendes unternehmerisches Geschick und fachliches Knowhow, welches vergrößert wurde durch ihre Bildung, ihr Auftreten und die sozialen Kontakte, über die sie aufgrund ihrer Erziehung am fürstlichen Hof in Essen verfügte. Drittens sind die zeitgenössischen Sozialstrukturen sowie die Verfassung der Grafschaft Mark zu erwähnen: Allgemein prägte die Schichtzugehörigkeit Leben und Handeln im 18. Jahrhundert noch stärker als die Geschlechtszugehörigkeit.

Im Besonderen ist zudem die Verfassung der Mark, von Kirchspiel und Gericht Hagen und der Gemeinde Westerbauer, in der Gut Harkorten lag, anzuführen.73 Die Harkorts amteten hier seit dem 17. Jahrhundert als gewählte Rezeptoren, die die Steuern nach den Umlagequoten einzogen, die auf den Versammlungen der freien Einwohner, den Erbentagen, beschlossen wurden. Sie verwalteten auch das genossenschaftliche Markenerbe und das Schulkapital und übernahmen eine Sprecherrolle in der regionalen Wirtschaftspolitik. Gegenüber der staatlichen Obrigkeit vermochten sie ihre Interessen nicht nur zu artikulieren, sondern konnten sie auch durchsetzen. Diese Voraussetzungen und Strukturen prägten auch Spielraum und Wirkungsfeld der Märckerin: Denn Frauen und Witwen waren in Unternehmen in ganz Europa zu dieser Zeit kaum vertreten.74

Um 1800 begann der Übergang von der Ständegesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft, die Industrialisierung setzte ein und bewirkte eine verstärkte Trennung von Arbeits- und Wohnraum. Im Zuge dieses Wandels bildeten sich geschlechtsspezifische Rollenvorstellungen und Arbeitsteilungen heraus, die standesübergreifende Geltung beanspruchten und einforderten.75 Dadurch profitierte die Demokratisierung der Gesellschaft. Gleichzeitig wurde damit aber auch der Spielraum beschränkt, der Frauen aus führenden sozialen Schichten vor 1800 noch offen gestanden hatte.

Dr. Alexandra Bloch Pfister, Münster

Literatur:

Alexandra Bloch Pfister, Louisa Catharina Märcker. Eine großbürgerliche Unternehmerin aus dem 18. Jahrhundert, in: Ellerbrock, Karl-Peter und Tanja Bessler-Worbs (Hg.): Industriepioniere, Wirtschaftsbürger und Manager. Historische Unternehmerpersönlichkeiten aus dem Märkischen Südwestfalen, Dortmund 2007, S. 57-61 (= Gesellschaft für Westfälische Wirtschaftsgeschichte v.V., Kleine Schriften H. 32)

Alexandra Bloch Pfister, Louisa Catharina Harkort (1718-1795) – die Märckerin. In: Märkisches Jahrbuch für Geschichte, Bd. 112. Dortmund 2012, S. 66-88.

Zitation: Alexandra Bloch Pfister, Louisa Catharina Märcker. Eine großbürgerliche Unternehmerin aus dem 18. Jahrhundert, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/louisa-catharina-harkort-geborene-maercker/

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Marianne Kaiser

Auf ins Ruhrgebiet

In den 1960er-Jahren folgten Frauen ihren Ehemännern dorthin, wo sich für ihn berufliche Perspektiven eröffneten. Das galt auch für die meisten Studentenpaare. Als der Historiker Hans Kaiser als Assistent seines Professors 1967 an die Historische Fakultät der neu gegründeten Ruhr-Universität Bochum (RUB) wechselte, zog auch Marianne Kaiser mit ins Ruhrgebiet. Sie erinnert den Umzug von der traditionsreichen Universitätsstadt Göttingen in das Ruhrgebiet als Schock. Zwar kannte sie Industriewerke aus ihrem Heimatdorf Langelsheim und aus Goslar, wo sie ihr Abitur absolviert hatte, auch Bergbau gab es dort: „Aber dass die Schwerindustrie in der Region derart schmutzig und übel riechend war und den städtischen Raum derart dominierte, war mir fremd und zuwider. Und dass die Städte völlig unübersichtlich ineinander wucherten, machte mich hilflos.“ Sie wohnte in Bochum-Querenburg auf einer Baustelle und schaute auf das Opel-Werk. Es bedrückte sie, wie erbärmlich die Natur in der Region litt. In ihrem bisherigen Umfeld stieß sie auf Mitleid, dass es sie in diese unwirtlichste Region der Bundesrepublik verschlagen hatte.

Marianne Kaiser sollte sich zu einer kritischen Beobachterin des Strukturwandels im Ruhrgebiet entwickeln, den sie auch mitgestaltete. Der setzte mit der entstehenden ersten Universität der Region und dem neu angesiedelten Automobilwerk vor ihren Augen gerade ein. In der Erwachsenenbildung tätig, trug Marianne Kaiser zu dem Wandel von der Montan- zur Wissensgesellschaft bei.

Kindheit, Jugend, Studium

Als Marianne Krause 1940 in Rostock geboren, rechnet sie sich zu den Kriegskindern. Sie wuchs in Berlin in einer kleinbürgerlichen Familie auf. Wegen zunehmender Luftangriffe auf die Stadt wurde sie mit ihrer Mutter 1943 zu Verwandten nach Treseburg/ Ostharz evakuiert. Ende 1944 kehrte der Vater dorthin mit einer doppelten Beinamputation von der Ostfront zurück. Als im Sommer 1945 amtlich wurde, dass der Ostharz Teil der sowjetischen Besatzungszone werden würde, fürchtete die Familie Vergeltungsmaßnahmen von russischer Seite und flüchtete in die britische Besatzungszone. Die Flüchtlinge wurden in das Dorf Langelsheim nahe Goslar/ Harz eingewiesen. Es blieb fortan Wohnsitz. Der Vater baute mit seinem Auto einen Mietwagen-Betrieb auf. Beide Eltern wurden 1948 Mitglied der im Ort starken Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Die Tochter ging zu deren Jugendorganisation, den „Falken“. Aktuelle Politik war Gesprächsthema in der Familie.

Angesichts der Schulleistungen seiner Tochter bestand der Vater darauf, dass sie das Mädchengymnasium in Goslar besuchen und später studieren sollte. Die Mutter hingegen hielt für ihre Tochter die Mittlere Reife, temporäre Berufstätigkeit und anschließende Familiengründung für angemessen. Die Entscheidungsbefugnis in Familienangelegenheiten aber lag damals, und laut Bürgerlichem Gesetzbuch, BGB, rechtlich bis 1976 beim Vater und dessen „Letztendscheid“. 1960 bestand Marianne das Abitur. Wertschätzend erinnert sie sich an ihre Klassenlehrerin in der Oberstufe, Fächer Latein und Geschichte. Diese Lehrerin las mit ihren Schülerinnen bereits in den 1950er-Jahren Dokumente zum Nationalsozialismus, organisierte eine Klassenfahrt zum Anne-Frank-Haus. Sie behandelte im Unterricht die Geschichte der Frauenbewegung, insbesondere ihre Forderungen nach Gleichberechtigung, befürwortete die berufliche Eigenständigkeit von Frauen und lebte frauenbezogen, wie Marianne Kaiser viele Jahre später zufällig erfuhr. Zu Hause hingegen erhob der Vater Einspruch dagegen, als die Mutter wieder berufstätig werden oder ein politisches Amt übernehmen wollte. Er verfocht die Hausfrauenehe, was der Tochter angesichts des politisch offenen Klimas in der Familie nicht einleuchten wollte: „Anfangs war es für mich eine Herausforderung, die unterschiedlichen politischen Orientierungen und Wertvorstellungen im Elternhaus und in der Schule zu begreifen und mich dazwischen zu bewegen.“

Die Klassenlehrerin schlug die begabte Schülerin als Stipendiatin bei der „Studienstiftung des deutschen Volkes“ vor. Marianne Krause wurde angenommen. Sie begann, in Göttingen Deutsch und Englisch zu studieren, mit dem Ziel, Studienrätin an höheren Schulen zu werden. In diesem Beruf ließe sich, so ihre Überlegung, Beruf und Familie vereinbaren. Für eine Studentin aus kleinbürgerlichen Verhältnissen in den 1960er-Jahren, so Marianne Kaiser im Gespräch, war der Widerspruch zwischen intellektuellen Begabungen, wissenschaftlichem Interesse und erfüllender dauerhafter Berufstätigkeit auf der einen Seite und dem Druck, die weibliche Rolle in Ehe und Familie auszufüllen auf der anderen Seite, allgegenwärtig: „Wir jungen Frauen hatten die gesellschaftlichen Rollenzuweisungen doch selbst verinnerlicht!“ Persönlich erlebte sie in der Folge diesen Widerspruch als nicht lösbar und gab 1974 den Wunsch der Familiengründung nach ihrer Scheidung und nach einer Krebserkrankung auf.

1965 orientierte sie sich um: In der sich gerade akademisierenden Erwachsenenbildung taten sich neue Berufsmöglichkeiten auf. Denn im Kontext der Bildungsreform wurde erwachsenenbildnerische Tätigkeit zum ersten Mal als disponierende Vollzeitaufgabe konzipiert. Trotz absolviertem „Pädagogikum“ samt Schulpraktika entschied sie sich gegen das Staatsexamen und für eine Promotion als Studienabschluss. Sie forschte zum protestantischen deutschen Schultheater in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, indem sie Dramen in ihre historischen Kontexte stellte und als Antwort auf gesellschaftliche Probleme – hier den vordringenden Absolutismus und dessen Bildungsideale – interpretierte. Das war ein neuer Ansatz in der Barockforschung. Die später in einem renommierten Wissenschaftsverlag publizierte Dissertation trug den Titel: „Mitternacht. Zeidler. Weise. Das protestantische Schultheater im Kampf gegen Absolutismus und höfische Kultur.“ Die Promotion erfolgte 1970.

1965 heiratete Marianne Krause den Historiker Hans Kaiser. Ihr Stipendium endete, aber ökonomisch war sie durch die Ehe abgesichert und sie unterstützte ihren Mann bei der Fertigstellung seiner Dissertation 1969. Die Konzentration auf ihre eigenen Forschungen geriet dabei zeitweilig ins Hintertreffen, zumal auch der Umzug nach Bochum 1967 viele neue Erfahrungen eröffnete. Sie beteiligte sich wie ihr Mann an den Reformbestrebungen der Studentenbewegung an der RUB, war jedoch – anders als er – nicht Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Gleichwohl sympathisierte sie mit den Anliegen der Frauen im SDS und dem historischen „Tomatenwurf“1 auf die patriarchalen „Eminenzen“ der Studentenbewegung. 1968, als im studentischen Milieu der RUB über Klassenkampf und Revolution diskutiert wurde, verließ sie die „Basisgruppe Germanistik“ und wurde an der Volkshochschule (VHS) Bochum Kursleiterin für das Fach „Literatur“ im Grundstudienprogramm. Der dafür verantwortliche Fachbereichsleiter machte sie 1970 darauf aufmerksam, dass an der VHS Gelsenkirchen die Stelle des Leiters des Fachbereichs „Gesellschaft und Politik“ frei wurde. Sie bewarb sich und sollte, bis auf einen Abstecher in die hessische Weiterbildungslandschaft zwischen 1974 und 1977, diesen Fachbereich an der VHS Gelsenkirchen bis zum Jahre 2000 prägen. „Ich galt als eine Frau in einem Männerberuf. Damit lernte ich umzugehen.“

In den 1970er-Jahren: Eine Frau in einem Männerberuf

Am Ort fand sie 1970 eine tragfähige Angebotsstruktur für Erwachsene und Jugendliche vor. Zum VHS-Fachbereich „Gesellschaft und Politik“ gehörte die örtliche Arbeitsgemeinschaft „Arbeit und Leben“ (DGB/VHS), eine nach 1945 von Deutschem Gewerkschaftsbund (DGB) und den Volkshochschulen institutionalisierte Kooperation. „Arbeit und Leben“ suchte durch politische Bildung demokratische Willensbildung in der Gesellschaft zu fördern sowie, der Name ist Programm, soziale Gerechtigkeit und Solidarität als Grundlagen für Arbeit und Leben zu stärken. Für die Erwachsenen gab es bei der VHS Internatskurse und Gesprächskreise zu gesellschaftlich aktuellen Themen wie Chancengleichheit, Kalter Krieg, Antiautoritäre Erziehung u.a. Von 1970 bis 1973 war Marianne Kaiser dabei auch zugleich Jugendbildungsreferentin. Teilnehmende im Jugendbereich waren OberschülerInnen und Lehrlinge, die meistens aus Arbeiterhaushalten kamen. Die VHS pflegte in Weiterführung der Weimarer Bildungsvorstellungen demokratische Formen der Mitwirkung bei Wochenendseminaren und Kursen, ein Kreis von „Teamern“ gestaltete mit der Leitung gemeinsam die Programmplanung und die Kurse.2

Ab 1977 war sie dann nur noch für den Bereich der Erwachsenen zuständig. Dass in der VHS die Teilnehmenden nur auf freiwilliger Basis kamen, machte für Marianne Kaiser immer den besonderen Reiz dieser Arbeit aus, denn dies bedeutete einen ständigen Austausch zwischen Teilnehmenden und Kursleitungen sowie eine permanente Entwicklung neuer Angebote im Kontext zeitspezifischer gesellschaftlicher Problemlagen und Lernbedürfnisse.

Lernen in der VHS

Die Volkshochschule bot auch der Erwachsenenbildnerin selbst anfangs ein besonderes Lernfeld: Allmählich erschlossen sich Marianne Kaiser durch ihre Arbeit die Strukturen der zunächst als unwirtlich erfahrenen Stadt mit ihrer politischen Vorderbühne, der Hinter- und Unterbühne: das Selbstverständnis der Gewerkschaften und der Parteien, die wirtschaftlichen und kommunalpolitischen Gegebenheiten.

Nach dem Ende der Zeche „Graf Bismarck“ im September 19663 – für viele im Ruhrgebiet ein Fanal – hatte nicht nur in Gelsenkirchen die Einsicht zu wachsen begonnen, dass man nicht in einer konjunkturabhängigen Kohlekrise steckte, sondern am Anfang vom Ende des Kohlenzeitalters stand: 4 „Gelsenkirchen darf kein Armenhaus werden“, lauteten die Transparente auf den Demonstrationen.

Die zugezogene Erwachsenenbildnerin erfasste, wie sehr die Stadt politisch von der SPD und den Gewerkschaften geprägt war, die ihr Hauptziel angesichts der Krisen von Kohle und Stahl darin sahen, Arbeiterinteressen zu verteidigen. Sie nahm wahr, wie tief der montanindustrielle Komplex die patriarchale Struktur der Ruhrgebietsgesellschaft bestimmte und die Rolle der Frauen im Modell Ernährerlohn/ Zuverdienst festschrieb. Sie erfuhr, wie wichtig es für die Familien war, Arbeitsplätze und gute Bildungschancen für die Kinder zu sichern. Sie erlebte das Ansehen, das Willy Brandt mit seiner neuen Ostpolitik in der Stadt erfuhr.

1971 wurde sie Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), wechselte dann 1977 zur Gewerkschaft für den öffentlichen Dienst (ÖTV). Sie trat auch der SPD bei, weil sie Willy Brandts Forderung „Mehr Demokratie wagen“ überzeugte, verließ aber die Partei wieder, aus Protest gegen die Politik der Berufsverbote. Denn sie hatte in der Bildungsarbeit in Gelsenkirchen Kommunisten kennen gelernt, die sie als Personen beeindruckt hatten, und war der Auffassung, dass man sich mit ihnen inhaltlich auseinandersetzen müsste, ohne ihre Existenz zu gefährden. Ihr politisches Engagement galt von da an vor allem der Gewerkschaftsarbeit.

Auch die beruflichen Kontakte, die sie zur „Literarischen Werkstatt Gelsenkirchen“ im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ unterhielt, halfen der eingewanderten Literaturwissenschaftlerin, die Geschichte, die Mentalität und den Habitus der Menschen im Ruhrgebiet mit ihrem direkten, manchmal drastischen Ton zu verstehen. Und allmählich gewöhnte sie sich auch an die Industrielandschaft.

Blütezeit der Weiterbildung

Marianne Kaiser fand in den 1970er-Jahren in Gelsenkirchen ein besonderes Klima für die Erwachsenenbildung vor: Dr. Ulrich Jung, seit 1970 Leiter der VHS Gelsenkirchen, gehörte zu den zentralen Akteuren des nordrheinwestfälischen Weiterbildungsgesetzes von 1975. Dieses etablierte die Weiterbildung zum ersten Mal in der Bildungsgeschichte der alten Bundesrepublik als „vierte Säule“ des Bildungswesens.5Damit entwickelte sich eine Perspektive, die Weiterbildung als dauerhafte, permanente, altersunabhängige und unabgeschlossene Aufgabe für alle festschrieb. In der Stadt Gelsenkirchen war man sich einig darüber, dass eine so konzipierte Weiterbildung für die Bewältigung der wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Transformation eine hohe Priorität besaß.

1972 entstand in Gelsenkirchen mit Mitteln der Strukturförderung des Landes ein neues Gebäude für die Volkshochschule, das „Bildungszentrum“. Seine markante Lage in der Stadt gegenüber dem Musiktheater setzte die gewachsene Bedeutung der Weiterbildung stadtplanerisch um und übertrug die zeitgenössische wissenschaftliche Diskussion, Weiterbildung für alle gut und zentral erreichbar zu gestalten, im Rahmen des Gelsenkirchener Stadtumbaus geradezu mustergültig. In diesem für Weiterbildung positiv gestimmten Umfeld entwickelte Marianne Kaiser von 1977 an bis zu ihrem dienstrechtlichen Ausscheiden aus der VHS im Jahre 2000 langjährig die Arbeitsschwerpunkte Frauenbildung, Stadtgeschichte, Perspektiven des Strukturwandels, Ost-West-Thematik, Europäische Integration.

Frauenbildung

1971 bot Marianne Kaiser im VHS-Programm zum ersten Mal einen Gesprächskreis „Politik für Frauen“ an, zu dem es ab 1973 auch ein Kinderbetreuungsangebot gab. 1972 hatte der Deutsche Gewerkschaftsbund auf Initiative der Gewerkschaftsfrauen das „Jahr der Arbeitnehmerin“ ausgerufen, in einer Zeit, als in Deutschland Vollbeschäftigung herrschte und die Industrie auf eine zunehmende Einbeziehung von Frauen in den Arbeitsmarkt drängte. Das „Jahr der Arbeitnehmerin“ sollte einerseits für Diskriminierung sensibilisieren, andererseits zielte es auf die Verbesserung von Lebens- und Arbeitsbedingungen durch Erhöhung weiblicher Bildungschancen, Lohngleichheit und eine vom Mann unabhängige Rentenversicherung als politische Ziele.6

Über diese Fragen wurde auch in der VHS diskutiert. Dies geschah unabhängig von den Aktivitäten der „autonomen“ Frauenbewegungen, die sich um 1968 formierten, doch zeitgleich in einer gesellschaftlichen Situation, in der vieles in Bewegung geriet. Das Thema der Lohndiskriminierung gewann dann in Gelsenkirchen einige Jahre später große Bedeutung.

„Wir wollen gleiche Löhne – keiner schiebt uns weg!“

Als politische Weiterbildnerin und Gewerkschafterin wurde Marianne Kaiser dabei eine Akteurin in einem berühmten Arbeitsprozess der Bundesrepublik um „Gleichen Lohn für gleiche Arbeit“: Das Ruhrgebiet hatte nicht nur Arbeitsplätze in der Montanindustrie. Als dicht besiedeltes Gebiet stellte es auch ein großes Reservoir an weiblichen Arbeitskräften für die Konsumgüterindustrie und den Dienstleistungssektor bereit. So siedelten sich nach dem Krieg im Raum Gelsenkirchen, Wattenscheid, Recklinghausen Firmen der Bekleidungsindustrie an und kalkulierten mit den Frauen und Töchtern der Bergleute und Hüttenarbeiter als Arbeitskräfte sowie dem finanziell starken Absatzmarkt Ruhrgebiet.7 Später folgte die Elektroindustrie und Firmen wie die „Fotobetriebe Heinze“, die über Nacht Urlaubsfotos entwickelten und damit warben, dass die Farbbilder mit Datumsangabe auf der Rückseite entwickelt wurden. Damit reagierten sie auf ein doppeltes Konsumbedürfnis: Auf die sich entfaltende Reisewelle und die sich massenkulturell ausprägende Disposition, diese Reisen auch fotografisch festzuhalten. 1978 wurde deshalb bei Heinze im Laborbetrieb die Nachtarbeit eingeführt. Und zum ersten Mal stellte die Geschäftsleitung in dieser bisher nur mit Frauen besetzten Abteilung auch Männer ein.

Alle machten die gleiche Arbeit und waren in der gleichen niedrigen Lohngruppe. Die Männer erhielten dabei aber, zusätzlich zu ihrer tariflichen Nachtzulage, eine außertarifliche Zulage, die ihren Grundlohn im Schnitt um 25 Prozent erhöhte. Als diese Praxis bekannt wurde, verlangten die Frauen eine Gleichbehandlung. Der Arbeitgeber bestand auf seiner Vertragsfreiheit, der Betriebsrat strebte zunächst Verhandlungen an. Dazu organisierte er vorab eine Belegschaftsversammlung mit der DGB-Kollegin Marianne Kaiser als Referentin zum Thema „Lohngleichheit“. Alles blieb ohne Erfolg. Deshalb gab es danach außerhalb der Arbeitszeit Treffen der Frauen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Marianne Kaiser war als Gast dabei und sie bot im Rahmen von „Arbeit und Leben“ Seminare als begleitende politische Weiterbildung an, als sich abzeichnete, dass 29 der Frauen ihre Forderung auf gleiche Zahlung der außertariflichen Zulage auch vor Gericht einklagen wollten.

Anfang 1979 gaben sie ihre Klage vor dem Arbeitsgericht Gelsenkirchen wegen Verstoßes gegen das Gleichbehandlungsgebot nach EU-Recht bekannt. Im Sinne betriebsnaher Bildungsarbeit wurden die anstehenden rechtlichen Fragen des Prozesses von da an in den Seminaren in Kooperation mit der Gewerkschaft IG Druck und Papier behandelt.

Mit ihren gewerkschaftlichen und beruflichen Kontakten trug Marianne Kaiser im Frühjahr dazu bei, dass das Anliegen der Arbeitnehmerinnen in die örtlichen Öffentlichkeit(en) getragen wurde. Die Klage fand großes Interesse in den Medien, gewerkschaftliche Frauenausschüsse, Betriebsräte, parteilich und religiös gebundene sowie autonome Frauenbewegungen solidarisierten sich. Nach Marianne Kaisers Wahrnehmung nahmen sich gewerkschaftliche und autonome Frauenbewegung in diesem Prozess zum ersten Mal offen und konstruktiv zur Kenntnis. Die Lohnungleichheit empörte auch diejenigen, die ihr Selbstverständnis in der autonomen Frauenbewegung entwickelt hatten, und die Gewerkschaftskolleginnen räumten ein, dass an der Kritik der autonomen Frauen am „Patriarchat“ gerade im Ruhrgebiet etwas Wahres dran sein könnte.8 Dem Sieg der Frauen vor dem Arbeitsgericht vor Ort im Mai 1979 folgte im September die Niederlage vor dem Landesarbeitsgericht in Hamm, das aber eine Revision vor dem Bundesarbeitsgericht in Kassel zuließ.

Noch während der Rückfahrt von Hamm entschieden sich die Frauen, mit Unterstützung ihrer Gewerkschaft und des lokalen Gelsenkirchener Netzwerkes vor das Bundearbeitsgericht nach Kassel zu gehen. Der Prozess dort fand zwei Jahre später im September 1981 statt. In der langen Zeit zwischen den Prozessen zog die öffentliche Resonanz zur Unterstützung der Kolleginnen auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene immer weitere Kreise. Marianne Kaiser wirkte daran mit.

Begleitend zu den beiden ersten Gerichtsterminen hatten die Seminare bei „Arbeit und Leben“ in Kooperation mit der IG Druck und Papier stattgefunden. Dort war neben rechtlichen Aspekten auch zur Sprache gekommen, wie die Frauen den Verlauf ihrer Klage persönlich erlebten. Dabei waren Tonbandaufnahmen von den Diskussionen gemacht worden. Die Klage vor dem Bundesarbeitsgericht in Kassel hatte grundsätzliche Bedeutung und brachte für die Gelsenkirchener Arbeiterinnen aus „kleinen Verhältnissen“ gänzlich neue Erfahrungen. Sie mussten lernen, in einer medialen Öffentlichkeit zu stehen.

„Frauen sind keine Heinzelmänner“

Das in den Weiterbildungsseminaren aufgezeichnete Tonmaterial und andere Dokumente hatte Marianne Kaiser in Absprache mit den Kolleginnen und in Kooperation mit der IG Druck und Papier zu einem Manuskript verarbeitet.

Der Text sollte als Arbeitsmaterial für die weitere gewerkschaftliche Bildungsarbeit dienen. Doch dann kam ihr die Idee, es dem Rowohlt-Verlag für seine Reihe „Frauen aktuell“ anzubieten, was die prozessierenden Frauen billigten. Die Dokumentation wurde angenommen: „Wir wollen gleiche Löhne“ erschien 1980 und stellt heute eine wichtige Dokumentation zur Frauenbewegung der Bundesrepublik dar.

Angeregt durch das Buch entstand das Theaterstück im Auftrag der Ruhrfestspiele in Zusammenarbeit mit dem mobilen Rhein-Main-Theater „Frauen sind keine Heinzelmänner“, das 1980 Premiere in Gelsenkirchen hatte und danach im Festspielhaus am 1. Mai aufgeführt wurde.

1981 organisierte Marianne Kaiser mit, dass aus Gelsenkirchen vier Busse nach Kassel fuhren zu einer Großveranstaltung der Gewerkschaft Druck und Papier mit dem Motto „Solidarität mit den Heinze-Frauen“, die der Gerichtsverhandlung in Kassel einige Tage vorgeschaltet war und bundesweit für Aufmerksamkeit sorgte. Auch bei dem Prozess selbst am 9. September 1981 war sie wieder dabei. „Du hast uns immer bestärkt!“ dankten ihr die Kolleginnen noch Jahre später.

Der 5. Senat des Bundesarbeitsgerichtes gab den Klägerinnen Recht! Auch das Bundesarbeitsgericht bezog sich dabei auf Artikel 119 der Römischen Verträge, gleichsam das Gründungsdokument der Europäischen Union, in dem bereits der Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit festgeschrieben worden war.9 Das Urteil sollte Signalwirkung entfalten. Für die „Heinze-Frauen“ selbst blieb allerdings nur als Genugtuung, Recht bekommen zu haben. Denn kurz nach dem gerichtlichen Sieg stand die Firma Heinze vor der Insolvenz und konnte nicht zahlen. Für Marianne Kaiser zählt der Prozess „zu den wichtigsten Stationen meines Lebens. Er ist zu Recht in die Geschichte der Stadt und des Ruhrgebiets eingegangen.“

Gesellschaftlicher Wandel durch Bildungsangebote

1975 wurde nicht nur von der UN das „Jahr der Frau“ als Start für die „Dekade der Frau“ ausgerufen, sondern die Bewegungen gegen den § 218 intensivierten sich, nachdem das Bundesverfassungsgericht die 1974 vom Bundestag angenommene „Fristenregelung“ für verfassungswidrig erklärt hatte. Im Rahmen der allgemeinen frauenpolitischen Aufbrüche wuchsen in der VHS die Angebote für Frauen. Frauengesprächskreise, Tagesseminare, Wochenseminare fanden breite Resonanz bei Frauen, die in Erwerbs- und Hausarbeit standen. Türkische Frauen zeigten sich an Gesprächskreisen interessiert. Sie fühlten sich alle im Sinne des Mottos „Frauen können mehr“ angesprochen. Die begleitende Kinderbetreuung bei mehrtägigen preiswerten Seminaren von „Arbeit und Leben“ machte diese zusätzlich attraktiv. Die Teilnehmerinnen an den Frauenbildungsangeboten insbesondere bei „Arbeit und Leben“ kamen überwiegend aus dem Arbeiter- und Angestelltenmilieu und waren kaum mit den neuen Frauenbewegungen in Berührung gekommen. Dagegen hatten die zahlreichen Kursleiterinnen zumeist studiert und kannten Positionen der alten, der neuen wie auch der autonomen Frauenbewegungen.

Als wichtig erwies sich die Kontinuität der Angebote, für die das Weiterbildungsgesetz von 1975 die Strukturen sicherte, denn so wurden längerfristige Bewusstwerdungs- und Entwicklungsprozesse eingeleitet und begleitet. Marianne Kaiser erklärt dazu: „Zwischen 1978 und 1984 entwickelte sich die VHS zu einem Ort der Frauenöffentlichkeit in der Stadt und blieb es für lange Zeit.“ Seit 1985 kümmerte sie sich zwölf Jahre lang zusammen mit dem Frauenbüro um die Organisation einer jährlichen gemeinsamen Veranstaltung aller Frauenorganisationen in Gelsenkirchen zum Internationalen Frauentag. Diese Form der Kooperation trug dazu bei, dass Aktive verschiedener Organisationen miteinander ins Gespräch kamen und sich vernetzten.10

Unterstützt vom Frauenbüro initiierte Marianne Kaiser 1987 im Rahmen der landesweiten Aktion „Kultur 90“ zur Förderung beispielhafter Initiativen das Projekt einer „Frauengeschichtswerkstatt“, die Dokumente zu bemerkenswerten Frauen in der Geschichte Gelsenkirchens zusammentrug. 1992 veröffentlichten die Teilnehmerinnen ihre Dokumentation.11 Sie entwickelten Stadtrundgänge zur Frauengeschichte und auf dieser Basis entstand später eine weitere Publikation.12Damit gaben sie wichtige Impulse für eine Neuorientierung der Stadtgeschichte, die seitdem nicht nur in Gelsenkirchen nicht mehr ohne Frauen geschrieben werden kann.13

 „Am Ende meines Berufslebens habe ich es zu meinen positivsten Erfahrungen gerechnet, bei allen diesen frauenbewegten und frauenpolitischen Prozessen mitgewirkt zu haben,“ formuliert Marianne Kaiser und stellt einen Aspekt des Strukturwandels heraus, der so bislang kaum formuliert, diskutiert, geschweige denn systematisch untersucht worden wäre: „Die Frauenbewegung, die ich im Ruhrgebiet erlebt und in Gelsenkirchen mitgestaltet habe, verschränkte sich hier mit der Strukturkrise. Denn in dem Maße, in dem alte wirtschaftliche und soziale Strukturen wegbrachen und fragwürdig wurden, mussten die Frauen auch ihre eigene Situation neu denken und wagten mehr und mehr, sich mit der Beharrlichkeit patriarchalischer Haltungen auseinanderzusetzen und für sich neue Wege ins Auge zu fassen.“

Doch gehörten zu ihrem Programm von „Arbeit und Leben“ seit den 1970er-Jahren auch Studienfahrten, bei denen die Ost-West-Beziehungen vor Ort in Berlin, in der DDR und der UdSSR und Ungarn thematisiert wurden, ebenso wie Fahrten, bei denen es vor Ort in Brüssel, Luxemburg, Straßburg und in europäischen Nachbarländern um Prozesse und Formen der europäischen Integration ging.

Strukturwandel und Geschichtsbewusstsein

Die Bedeutung der Volkshochschulen für Individuen wie Gesellschaften lag und liegt darin, Wandel durch Bildungsangebote anzuregen und zu begleiten. In Gelsenkirchen bedeutete die Schließung von Bergwerken, Stahlwerken, Zuliefer- und anderen Produktionsbetrieben nicht nur den Verlust von Arbeit, Auskommen und Lebensperspektiven. Die ruhrgebietsspezifische Verknüpfung von Arbeitsplatz und Wohnung in Unternehmenshand führte auch zu einer Gefährdung günstigen Wohnraums, Nachbarschaften und sozialräumlicher Gewissheit, denn die Unternehmen suchten ihre Kolonien in frei verfügbares Bodenkapital zurück zu verwandeln. Der Abriss von Werksanlagen riss riesige Wunden in die Topografie der Stadt. Räumliche Orientierungen verschwanden. Im Austausch mit den Gewerkschaften plante Marianne Kaiser betriebsnahe Bildungsangebote, in denen die komplexen Probleme, die sich mit dem Ende der Montanindustrie einstellten, bearbeitet wurden: Thyssen Gussstahlwerk, Textilfabriken, Zeche Nordstern, Zeche Consol, Zeche Wilhelmine-Victoria, Zeche Hugo, Seppelfricke, Foto Heinze, Eurovia … – nach und nach schlossen Produktionsstätten mit traditionsreichen Namen.

Von 1981 bis 2000 dauerte das Ende des Werks „Thyssen Schalker Verein“, um dessen Erhalt in der ganzen Stadt vergeblich gekämpft wurde. Für Vertrauensleute und deren Frauen veranstaltete Marianne Kaiser Anfang der 1980-er Jahre Seminare im Rahmen von „Arbeit und Leben“. Sie schufen Bewusstsein, bereiteten Proteste vor und nach, setzten sich mit den Möglichkeiten und Grenzen des Erhalts auseinander und stärkten vor allem den Zusammenhalt.

Eine Möglichkeit, die immensen Verluste produktiv zu bearbeiten, stellten Geschichtswerkstätten im Rahmen der VHS-Arbeit dar. So bat, Jahre nach dem Ende des „Schalker Vereins“, der Teilnehmerkreis der Seminare Marianne Kaiser als Rentnerin, mit ihnen ein Buch über die Werksgeschichte zu erarbeiten.14 Sie reichte diesen Wunsch an ihre Nachfolgerin Brigitte Schneider weiter und beteiligte sich selbst mit einem Beitrag, in dem sie zusammen mit den Frauen deren Sicht auf das Ende des Werkes festhielt.

Bereits seit 1998 hatte sie einer Gruppe von Textilarbeiterinnen in Tagesseminaren bei „Arbeit und Leben“ Gelegenheit gegeben, Erfahrungen mit dem Niedergang „ihrer“ Industrie zusammenzutragen. Die Historikerin Birgit Beese half dabei. Seit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Bekleidungsindustrie in Gelsenkirchen eine wichtige Rolle gespielt, war dann über Italien und die Türkei nach Asien gewandert und völlig aus Gelsenkirchen verschwunden. Aus der Seminararbeit erwuchs das Buch „Arbeit an der Mode“, das mit seiner strukturellen wie erfahrungsorientierten Analyse bis heute eine wichtige Quelle zum Verständnis der Transformationen des Ruhrgebiets im Rahmen globalisierter Wirtschaft darstellt.15

Inwieweit diese Geschichtsarbeit als Kompensation des Verlustes oder als historisch-kritische Ermächtigung zu deuten ist, muss dahingestellt bleiben. In einer Stadt mit Strukturbruch wie Gelsenkirchen bot sie auf jeden Fall die Möglichkeit, ein Stück weit die Deutungshoheit über die eigene Biografie zurückzugewinnen und der Ohnmacht und Entmächtigung eigene Erzählungen entgegen zu setzen. Als Gutachterin bei diversen Wettbewerben des Forums Geschichtskultur zur Geschichte des Ruhrgebiets hat Marianne Kaiser diese überlebenswichtige Funktion von Geschichte herausgestellt und gegen die akademische Abwertung von Erinnerungen für eine Verschränkung von Erfahrungsgeschichte und Strukturgeschichte plädiert.

Ein weiterer früher und kontinuierlicher Schwerpunkt ihrer Arbeit war die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus. Daraus entstanden neben vielfältigen Aktivitäten in der VHS, die nachhaltig in die Stadt hineinwirkten16, auch zwei Publikationen. 17

Marianne Kaiser stieß dabei auf die Geschichte der ungarischen jüdischen Mädchen und Frauen, die als Zwangsarbeiterinnen des Werkes Gelsenberg eingesetzt waren und 1944 bei Luftangriffen starben.18 Einige der Zwangsarbeiterinnen hatten, teils durch die Hilfe des Arztes Dr. Bertram, überlebt. Als sie 1995 Ehrengäste der Stadt anlässlich der Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag des Kriegsendes waren, erlebte Marianne Kaiser, wie Peri Hirsch aus den USA vom spurlosen Verlust ihrer älteren verwundeten Schwester Blanka im Jahre 1944 sprach. Für Marianne Kaiser verbindet sich damit eine bewegende Erinnerung an ihre Bildungsarbeit: Es gelang in der Frauengeschichtswerkstatt, insbesondere dank Marlies Mrotzek, durch Kontakte und glückliche Umstände, Blanka Pollaks Todesumstände und ihr Grab in Bottrop ausfindig zu machen.

Bis 1999 sorgte Marianne Kaiser dann privat in Kooperation mit der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit mit der Familie Hirsch dafür, dass der verschollenen Schwester Blanka Pollak ein Grabstein gesetzt wurde. Der wurde in Anwesenheit der Familie Hirsch bei einer würdigen Totenfeier in Bottrop geweiht. Peri Hirsch und Marianne Kaiser stehen seither in freundschaftlichem Kontakt.

Parallel zu dem Angebot geschichtsbezogener Themen machte Marianne Kaiser die VHS seit Mitte der 1980er-Jahre aber auch zu einem Ort, an dem immer wieder zukunftsorientierte Überlegungen zur Gestaltung des Strukturwandels öffentlich vorgestellt und diskutiert wurden. Dazu suchte sie die Kooperation mit dem Sekretariat für Zukunftsforschung, der Internationalen Bauausstellung, der Lokalen Agenda 21 und von StadtplanerInnen.

Wann gehört man dazu?

Als Fachbereichsleiterin, Kursleiterin, engagierte Gewerkschafterin, ehrenamtliche Personalrätin und Arbeitsrichterin erwarb sich Marianne Kaiser bei ihrer Arbeit in den Augen vieler Menschen Glaubwürdigkeit und Autorität. Hilfreich bei all dem war, so sagt sie selbst, ihre Fähigkeit und Freude daran, „zu kooperieren und Netzwerke zu knüpfen.“ Gleichwohl eckte sie in der lange Zeit SPD-geprägten politischen Kultur der Stadt Gelsenkirchen auch gelegentlich an, so z.B. als auf ihre Anregung hin der DGB-Kreisfrauenausschuss 1978 das Theaterstück zur Betriebsschließung der Textilfirma Eurovia „Zehn Jahre danach“ aufführen ließ19, in dem Oberbürgermeister Werner Kuhlmann in deutlichen Worten kritisiert wurde, oder als sie 1984 bei den Personalratswahlen mit Platz 1 auf der ÖTV-Liste der Angestellten die von der SPD favorisierten KandidatInnen überholte. Auch mit ihrer Kandidatur bei den Landtagswahlen 1985 für die „Friedensliste“, die in der Lesart der Sozialdemokratie als kommunistisch gesteuert galt, setzte sie trotz aller Kritik als Kriegskind Marianne20 ein Zeichen. Zuvor war sie in der Friedensbewegung aktiv gewesen.

Die Zugereiste entwickelte im Laufe der Jahre viel Zuneigung für das Ruhrgebiet und vor allem zu den Menschen und ihrer Mentalität. Die unermüdlichen Anstrengungen der Kommunalpolitik, den wirtschaftlichen Wandel voranzutreiben und ehemalige Industriestandorte für neue wirtschaftliche und kulturelle Zwecke weiter zu entwickeln, beeindruckten sie, wie sie im Gespräch betont. Doch diese positiven Veränderungen milderten die Wucht des Strukturbruchs nur partiell. Gelsenkirchen insgesamt tut sich mit wirtschaftlichen Erfolgsgeschichten schwer.

Auch nach dem Ende ihres Berufslebens blieb Marianne Kaiser in Gelsenkirchen, lebte aber auch bis 2004 teilweise aus persönlichen Gründen in der Toskana, wo sie 1985 ihren zweiten Mann gefunden hatte, ohne ihren Lebensmittelpunkt ganz dorthin zu verlegen. Denn sie hatte mittlerweile im Ruhrgebiet Wurzeln geschlagen. Die geschundene Natur der Industrielandschaft hatte sich unter einem blauen Himmel über der Ruhr21 erholt, nicht zuletzt, weil die „Tausend Feuer“ der Montanindustrie nicht nur in Gelsenkirchen verloschen sind. Und das Opel-Werk, das ihr in ihrer ersten Bochumer Wohnung den Blick auf die Natur versperrte, gibt es mittlerweile auch nicht mehr.

Uta C. Schmidt /frauen/ruhr/geschichte

Orte:

VHS Gelsenkirchen, Ebertstr. 19, 45879 Gelsenkirchen

Zitation: Schmidt, Uta C., Marianne Kaiser. Eine Erwachsenenbildnerin als kritische Begleiterin und Akteurin im Strukturwandel, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/marianne-kaiser/

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Hedwig Averdunk

Hedwig Averdunk stand kurz vor ihrem 43. Geburtstag, als sie bei der Wahl am 4. Mai 1924 in die Duisburger Stadtverordnetenversammlung gewählt wurde.1 Bis 1933 sollte sie als Stadtverordnete der erst im Dezember 1918 gegründeten Deutschen Volkspartei (DVP) die politischen Geschicke der Stadt mitbestimmen.2 Die damalige Oberlehrerin und spätere Oberstudienrätin, nach 1945 Leiterin des städtischen Übersetzungsbüros, kam aus einer Gelehrtenfamilie: ihre Eltern waren Alma und Heinrich Averdunk, der bekannte Duisburgers Gymnasialprofessor, Museumsleiter und Geschichtsforscher.3

Hedwig wäre bereit gewesen, bereits 1919 als eine der Kommunalpolitikerinnen der ersten Stunde in die Stadtverordnetenversammlung einzuziehen. Allerdings hatte ihr die eigene Partei Steine in den Weg gelegt: Die Liste der Wahlvorschläge der Deutschen Volkspartei (DVP) enthielt insgesamt 30 KandidatInnen, davon drei Frauen – alle auf hinteren Listenplätzen (Platz 9, 15 und 22). Hedwig Averdunk war auf Platz 9 positioniert und als sieben Kandidaten der DVP Einzug in die Duisburger Stadtverordnetenversammlung 1919 hielten, war keine Frau dabei.4

Die parteiübergreifende, durchweg schlechtere Platzierung von Frauen auf den hinteren Listenplätzen wurde im Duisburger General-Anzeiger am 20. Februar 1919 – drei Tage vor der Kommunalwahl am 23. Februar 1919 – in einem Kommentar pointiert aufgegriffen, in dem das schlechte Abschneiden der Frauen bei der Wahl zur Stadtverordnetenversammlung bereits prognostiziert und damit begründet wird, dass „die Parteien nicht sehr galant gegen ihre Damen waren, sondern sie ziemlich ins Hintertreffen votiert haben.“5

In der Realität allerdings wurde die Prognose des Duisburger General-Anzeigers noch überboten: Von den insgesamt 75 Stadtverordneten in Duisburg 1919 waren nur 4 Frauen (5,3 %)6, zwanzig weniger, als von den Parteien aufgestellt worden waren. Damit erzielte Duisburg hinsichtlich der Frauenquote das schlechteste Wahlergebnis der damals größten Städte im rheinisch-westfälischen Industrierevier, wo z.T. doppelt so viele Frauen in die Stadtverordnetenversammlungen Einzug hielten wie in Duisburg.7

„… auch die überparteiliche Zusammenarbeit mit den Frauen der anderen Fraktionen nannte sie ihre Arbeit.“8

Erst 1924 war es dann so weit: Hedwig Averdunk, zu diesem Zeitpunkt Oberlehrerin am Lyzeum mit Oberlyzeum und Studienanstalt zu Duisburg (das spätere Frau-Rat-Goethe-Gymnasium), schaffte es, als eine von acht DVP-KandidatInnen – diesmal positioniert auf Platz 5 der KandidatInnenliste – ein Mandat in der Stadtverordnetenversammlung zu erringen – als einzige Frau ihrer Partei.9

In der Stadtverordnetenversammlung arbeitete sie in insgesamt zehn Ausschüssen mit. Ihre Schwerpunkte lagen im Schul-, Kultur- und Jugendbereich. Es ist davon auszugehen, dass sie sich – ohnehin Mitglied im Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein (ADLV), Abteilung Philologinnen10 – als Mitglied im „Verwaltungs-Ausschuß der höheren Lehranstalten“ und in der Schuldeputation11für Mädchen- und Frauenbildung einsetzte. Dafür hatte sie wichtige Mitstreiterinnen in der Stadtverordnetenversammlung: Franziska Schumacher (Zentrum) und Margarete Pasie (Deutsche Demokratische Partei), allesamt Lehrerinnen und im Vorstand der „Arbeitsgemeinschaft der Frauenvereine Groß-Duisburgs“ aktiv.12

Im Vorfeld der Kommunalwahlen, die am 17. November 1929 stattfinden sollten, setzte sich Hedwig Averdunk in ihrer Vortragstätigkeit stark für kommunale Frauenpolitik in unterschiedlichen Zusammenhängen ein. Bereits im Oktober 1929 hatte die Arbeitsgemeinschaft der Duisburger Frauenvereine mit ihren 28 angeschlossenen Frauenorganisationen13 in einem offenen Brief unter der Überschrift „Wahlwünsche der Duisburger Frauen“ den Umgang der Parteien mit der Frauenpolitik auf das Schärfste kritisiert: Die Frauen(verbände) forderten vor allem die Einbeziehung der Kommunalpolitikerinnen in alle Politikfelder und darüber hinaus eine bedeutende Erhöhung des Frauenanteils (in der Wahlperiode 1924–1929 waren nur fünf Frauen unter den 63 Stadtverordneten) in der Stadtverordnetenversammlung. Vor diesem Hintergrund und angesichts „der großen Zahl weiblicher Wähler“, so wurde exponiert, „halten wir die bisherige zahlenmäßige Vertretung der Frauen im Stadtparlament nicht für ausreichend. Wir erwarten auf das Bestimmteste, daß die politischen Parteien, in deren Rahmen wir bereit sind zu arbeiten, sowohl Kandidatinnen an aussichtsreicher Stelle der Listen bringen, als auch die Gesamtliste viel stärker mit Frauennamen durchsetzen, als das bisher geschehen ist. Wird es gewünscht, sind wir bereit, Persönlichkeiten zu benennen.“14

Einen Monat später, zwei Tage vor der Kommunalwahl, prangerte Hedwig Averdunk explizit „die „Frauenfeindlichkeit einiger Listen“ an und unterstrich in diesem Kontext die Relevanz einer „überparteilichen Zusammenarbeit mit Frauen anderer Fraktionen.“15 Laut Pressebericht wies sie in ihrem Vortrag auch „auf die besondere Bedeutung dieser ersten Kommunalwahl des vereinigten Duisburg–Hamborn hin, die auch über die leitenden Posten der  neuen Großstadt entscheide“, und betonte die Notwendigkeit, dass „Frauen Plätze in der Kommunalverwaltung innehaben sollten.“16

Dies korrespondierte mit dem Wahlkampfprogramm der DVP aus dem Reichstagswahlkampf von 1919, wo es in Duisburger Wahlanzeigen u.a. hieß: „Frauen und Mädchen! Die Deutsche Volkspartei wirbt um Euch. Sie tritt ein für die Volle Gleichberechtigung der Frau! Zulassung der Frau zu öffentlichen Aemtern …“17

Während der gesamten Phase der Weimarer Republik kooperierten offensichtlich die weiblichen Stadtverordneten der bürgerliche Parteien: Diese waren neben Hedwig Averdunk von der DVP Friederike Heidkamp und Franziska Schumacher von der Zentrumspartei sowie Margarete Pasie von der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Für diese Politikerinnen, die im Übrigen alle als Lehrerinnen in unterschiedlichen Positionen und Schulformen tätig waren, besaß Frauenpolitik einen hohen Stellenwert, was nicht zuletzt daran zu sehen war, dass Pasie und Schumacher dem Vorstand der „Arbeitsgemeinschaft der Frauenvereine Groß-Duisburgs“ angehörten.

 

1910 – 1937: Berufliche Entwicklung

Hedwig Averdunks Ausbildung als Fremdsprachenlehrerin, begleitet durch verschiedene Auslandsaufenthalte18, verlief zielgerichtet, wie ihr Werdegang bis 1912 laut Angaben des „Königlichen Provinzial-Schulkollegiums“ im Kontext des Einstellungsverfahrens als Lehrerin19belegt: „Hedwig Averdunk, evangl. Konf., geb. 1881 zu Duisburg, besuchte die städtische höhere Mädchenschule zu Duisburg und das Lehrerinnen-Seminar zu Wolfenbüttel, woselbst sie Ostern 1901 die Lehrerinnen-Prüfung für höhere Mädchenschulen ablegte. Nach 2jährigem Aufenthalte im Auslande war sie als Lehrerin an der höheren Mädchenschule in Wolfenbüttel tätig. Darauf bereitete sie sich auf das Studium an der Universität vor, das sie nach bestandener Aufnahmeprüfung Ostern 1906 an der Universität Bonn begann. Im Sommer 191020 bestand sie das Oberlehrerrinnen-Examen in Englisch und Französisch, verbrachte darauf einige Monate im Auslande und folgte im Oktober desselben Jahres einer Berufung an das Lyzeum mit Oberlyzeum zu Crefeld. Zu Ostern 1912 wurde sie (als Oberlehrerin, d.V.) an das Lyzeum mit Oberlyzeum und Studienanstalt zu Duisburg (das spätere Frau-Rat-Goethe-Gymnasium, d.V.), gewählt.“

Das Duisburger Lyzeum mit Oberlyzeum und Studienanstalt zeichnete sich vor dem 1. Weltkrieg durch einen bemerkenswerten Geschichtsunterricht aus: So wurde ein „wahlfreier Kurs“ „Geschichte“ von Herrn Oberlehrer Dr. Knoke angeboten, in dem u.a. neben der Sozialgesetzgebung die „Rechtsverhältnisse und Stellung der Frau von der altgermanischen Zeit bis auf unsere Tage“ und „Bisherige Ergebnisse und Ziele der Frauenbewegung“ als Unterrichts-Themen behandelt wurden.21 Von 1929 bis 1937 arbeitete Hedwig Averdunk als Oberstudienrätin am Städt. Lyzeum in Ruhrort, der damaligen Kaiserin-Auguste-Viktoria-Schule22 – heute Aletta-Haniel-Gesamtschule.23

 

Frauen in Führungspositionen an der Schule?! – Männerprotest und Frauensolidarität

Die Lehrerin empfahl sich für Leitungsfunktionen: 1928 kam sie für die Position der Direktorin der Kaiserin-Auguste-Viktoria-Schule, des Städtischen Lyzeums in Ruhrort, ins Gespräch. Später sollte sie eine frei werdende Oberstudienratsposition als Stellvertretung des Schulleiters an dieser Schule besetzen. Die Wahl zur Direktorin des Städtischen Lyzeums in Ruhrort wurde verhindert. Als es um die Besetzung der Stellvertretung ging, opponierte der Elternbeirat dieser Schule erneut gegen die Besetzung einer Funktionsstelle mit einer Frau. Er argumentierte, „dass eine so große Schule wie das Lyzeum mit den ihm angegliederten zahlreichen Nebenstellen nur durch eine männliche Kraft geleitet werden kann“ und war der einmütigen Auffassung, „dass die Besetzung der freigewordenen Stelle des Stellvertreters ebenfalls nur durch einen Herren erfolgen darf …Weiterhin erscheint es aus sozialen Gründen wünschenswert, die höheren Bezüge eines Oberstudienrates eher einem Herrn als einer Dame zukommen zu lassen, da der Herr zumeist verheiratet und Familienvater ist.“24

Einer solchen Auffassung und Vorgehensweise traten die Duisburger Frauenverbände und die Lehrerinnen der Kaiserin-Auguste-Viktoria-Schule strikt entgegen: So forderte die „Arbeitsgemeinschaft der Frauen-Vereine Groß-Duisburgs“25 in einem Antrag vom 21. Mai 1928 nachdrücklich, nachdem „seinerzeit“ ihr „Antrag an die Stadtverwaltung, die freigewordene Direktorstelle an der Kaiserin-Auguste-Viktoriaschule mit einer Frau besetzen zu wollen“ nicht realisiert worden sei,  die Stadtverwaltung erneut auf, „nunmehr die durch diese Wahl erledigte Oberstudienratsstelle einer Frau zu übertragen“.26 Für das gleiche Anliegen setzte sich mit Schreiben vom 31. Juli 1928 eine weitere Gruppe von Frauen ein – nämlich (offensichtlich alle) 21 „seminarischen und akademischen Lehrerinnen der Kaiserin-Auguste-Viktoria-Schule“. Sie forderten mit einer „Eingabe der Lehrerinnen der  Kaiserin-Auguste-Victoria-Schule“ die Stadtverwaltung auf, „die Oberstudienratsstelle an unserer Anstalt zum Wohle der Schule und ihrer Schülerinnen mit einer Frau zu besetzen.“27

Am 14. November 1928 erklärte der „Personalausschuss der höheren Lehranstalten“, der bereits zuvor Hedwig Averdunk unterstützt hatte, einstimmig sein Einverständnis für die Besetzung der Oberstudienratsstelle mit Hedwig Averdunk. Diese Entscheidung führte zu einer erbitterten geschlechterdifferenzierten Kontroverse im Kollegium, das die Möglichkeit zur Stellungnahme erhalten hatte. Diese Gelegenheit ließ sich die „Gruppe der männlichen Lehrkräfte“ der Kaiserin-Auguste-Viktoria-Schule nicht entgehen und protestierte geschlossen gegen die Einstellung einer Frau in einer Führungsposition an der Schule generell – und zu Hedwig Averdunk ad personam. In dem Schreiben der männlichen Lehrkräfte an den Oberbürgermeister heißt es: „… Grundsätzlich wenden wir uns gegen die Ernennung einer weiblichen Lehrkraft auf diesen führenden Posten … Eine Kampfstellung zwischen einem weiblichen und einem männlichen Lager ist eine unerquickliche Erscheinung.  Wir haben sie bis vor wenigen Jahren an unserer Anstalt nicht gekannt. Dass es heute anders ist, geht wesentlich auf die Bestrebungen der in Frage stehenden Dame zurück; sie ist die Führerin einer Bewegung, die auch in unser Kollegium den Angriffsgeist hineingetragen hat …“28

Der damalige Oberbürgermeister Karl Jarres nahm umgehend dezidiert – und zwar am 1. Dezember – nach dieser Eingabe der „Gruppe der männlichen Lehrkräfte“ vom 29. November 1928  zu dieser Angelegenheit Stellung und setzte sich, in deutlicher Abgrenzung zu der frauenfeindlichen Haltung der „Gruppe der männlichen Lehrkräfte“ der Kaiserin-Auguste-Viktoria-Schule, für die Stellenbesetzung der Oberstudienratsstelle mit „Studienrätin Frl. Hedwig Averdunk“ ein, „nachdem sich der Verwaltungsausschuss einstimmig für die Berufung der äusserst tüchtigen und unter ihren Fachkollegen angesehenen Lehrerin ausgesprochen“ hatte.29 Am 16. April 1929 erhielt Hedwig Averdunk die Bestallungsurkunde als Oberstudienrätin.30 Sie hatte diese Führungsposition bis 1937 inne.

Die Auswirkungen des Nationalsozialismus auf Hedwig Averdunk

Beim Wahltermin am 12. März 1933 wurden 77 Abgeordnete in den Duisburger Stadtrat gewählt; darunter befand sich keine Frau mehr. Das nationalsozialistische Regime hatte die Stadtverordneten und explizit die Frauen durch dem „Führer“ Adolf Hitler ergebene Männer („Ratsherren“) ersetzt. 31

Ihrem Ausscheiden aus der Kommunalpolitik Anfang 1933 folgte im Juli 1937 ihre vorzeitige Pensionierung aus dem Schuldienst – „aus politischen Gründen“: Hintergrund war, dass sie am 25. Mai 1937 einen Antrag auf  „Versetzung in den Ruhestand“ gestellt hatte.32 Dass es sich hier um die „Zwangspensionierung“ – wohl notgedrungen auf eigenen Antrag – einer strikten Gegnerin des Nationalsozialismus gehandelt haben dürfte, wird durch ihre offensichtlich von Schule und Politik eingeforderte Erklärung auf einem Formblatt der Kaiserin-Auguste-Viktoria-Schule vom 2. Oktober 1935 deutlich. Hier gibt sie an,  dass sie dem Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein als Dach- und Berufsverband33, Abteilung Philologinnen bis zu seiner Auflösung 1933 angehört habe,34 dass sie bis zu seiner Auflösung 1933 Mitglied im Reichsbund höherer Beamten und ab 1933 im Philologen Verband gewesen sei. Außerdem führt sie auf, dass sie dem N.S.L.B. (Nationalsozialistischer Lehrerbund) vom 1. August 1933 bis zum 1. Januar 1934 angehört habe.35 Die Angabe zur Kürze der Dauer ihrer Mitgliedschaft im N.S.L.B. muss deutlich als Provokation empfunden worden sein. Ihre politische Einstellung geht auch aus ihrem Antrag auf „Anerkennung als Geschädigter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ vom 6. bzw. 12. Dezember 1952 hervor, wo sie exponiert, dass sie „im Mai 1937 aus politischen Gründen mit sofortiger Wirkung“ aus ihrem „Amt als Oberstudienrätin an der damaligen Kaiserin-Auguste-Viktoria-Schule in Duisburg Ruhrort entfernt und zum 1. November 1937 zwangspensioniert“ wurde. Nach intensiver Prüfung durch den „Kreis-Anerkennungsausschuss“ wurde sie per Beschluss vom 30. Juni 1953 offiziell als „Geschädigte der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ anerkannt, zumal sie „nach ihrer eigenen Erklärung weder Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen“ war „noch … jemals Antrag auf Aufnahme in diese gestellt“ hat.36 Wie Hedwig Averdunk von 1937 bis 1945 ihren Lebensunterhalt verdiente, ist nicht bekannt.

 Die „gebildete Dame“ und Duisburg im Wiederaufbau: 1945 – 1955 Leiterin des städtischen Übersetzungsbüros37

1945 wurde sie als Leiterin des städtischen Übersetzungsbüros (Dolmetscherbüros) vom damaligen Oberbürnach dem 2. Weltkrigermeister Dr. Weitz ins Rathaus berufen. Er bedankte sich ausdrücklich bei ihr, dass sie sich – immerhin im Alter von 64 Jahren – „liebenswürdigerweise dem Dolmetscherbüro der Stadtverwaltung zur Verfügung gestellt“ habe.38 Am 20. Juni 1945 verfügte er, dass „das Übersetzungsbüro unter der Leitung der Frau Oberstudienrätin Averdunk“ ihm „unmittelbar“ unterstehe und ferner: „Das Büro wird dem Besatzungsamt – 19/6 – als selbständige Dienststelle in personeller usw. Hinsicht angegliedert.“39

Offensichtlich hatte nach dem 2. Weltkrieg ihre Arbeit einen hohen Stellenwert beim Wiederaufbau der Industriestadt Duisburg und ihrem wirtschaftlich wichtigen Binnenhafen: Sie wäre, so berichtete die Presse anlässlich ihres 90. Geburtstags, als Dolmetscherin bei fast allen wichtigen Verhandlungen mit den Besatzungsmächten dabei gewesen und habe darüber hinaus „alle Anträge der Industrie zum Wiederaufbau der zerstörten Werke und auf Wiederaufnahme der Arbeit“ bearbeitet.40

Erst am 30. Juni 1954 schied Hedwig Averdunk, die „am 29. Mai 1946 das 65. Lebensjahr vollendet“ hatte, mit 73 Jahren aus dem Dienst der Stadt Duisburg aus und trat endgültig in den Ruhestand.41

Für Hedwig Averdunk hatte die Solidarität unter Frauen, so wie sie sie selbst im Kontext ihres Beförderungsverfahrens an der Schule und sicherlich im „Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein“ erlebt hatte, eine große Bedeutung. In der Politik allerdings lehnte sie „gesonderte Frauenwahllisten, wie sie in der einen oder anderen Stadt aufgetaucht“ waren, ab. Stattdessen propagierte sie die überparteiliche „Zusammenarbeit mit den Frauen der anderen Fraktionen“ und damit die  Durchsetzung von Fraueninteressen durch „fruchtbare Zusammenarbeit“ innerhalb der jeweiligen Partei.

Insgesamt gesehen hat sie mit ihrem beruflichen und politischen Wirken einen wichtigen Beitrag zur Verwirklichung von Frauenrechten in Duisburg geleistet und bereits in der Weimarer Republik wichtige Grundlagen gelegt.42

Doris Freer/ Duisburg

Orte:

Duisburg

Literatur:

Freer, Doris, Weibliche Abgeordnete in der Stadtverordnetenversammlung Duisburg 1919 – 1933, in: http://www.frauenbueros-nrw.de/images/ratsfrauen_pdf/Duisburg.pdf (Zugriff 20. Aug. 2019)

Ein ausführlicher Städtevergleich nebst einem Literatur- bzw. Quellenverzeichnis zu den befragten Städten findet sich in Freer, Doris, Die ersten weiblichen Duisburger Stadtverordneten 1919 – 1933, in: Duisburger Forschungen, Bd. 63 (2019) (in Druck).

„Frauen machen Geschichte. Materialien zur Duisburger Frauengeschichte“, hg. Stadt Duisburg/ Gleichstellungsstelle für Frauenfragen, Duisburg 1991.

Die Anfänge des Mädchenschulwesens – oder: Öffentliche versus private Bildung für Mädchen im 19. Jahrhundert. In: Arnold, Udo u.a. (Hrsg.): Stationen eines Hochschullebens. Festschrift für Annette Kuhn. Dortmund 1999, S. 330-346.

Zitation: Freer, Doris, Hedwig Averdunk, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/hedwig-averdunk/

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Elfriede Amelong

Es war bereits Nacht, etwa 1 Uhr früh am Sonntag, dennoch hatte sich unten auf der Straße eine größere Menschenmenge eingefunden. Sie beobachtete das Vorgehen im Haus. An der Wohnungstür versuchten mehrere angetrunkene Männer, sich gewaltsam Zutritt zu verschaffen. Aus dem 2. Stock heraus schrien zwei Frauen um Hilfe.

Ein Schuss fiel – wer auf wen schoss, wurde nie geklärt, verletzt wurde niemand.1

Durch die Hilferufe aufmerksam geworden näherte sich der Polizeioberwachtmeister Koch der Szene in der Göringstraße 10. Er sah, dass die beiden Frauen gewillt waren, aus dem Fenster zu springen. Um sie davon abzuhalten, versuchte er, in das Haus zu gelangen. Vor der Wohnungstür traf er auf etwa acht Männer, die – wie der Polizist später zu Protokoll gab – „durch lautes Stoßen und festes Rütteln an der Tür Einlass in die Wohnung” forderten. Als die Frauen erkannten, dass ein Polizist anwesend war, baten sie um etwas Zeit, um sich ankleiden zu können, und öffneten die Tür.

Im selben Moment bat Elfriede Amelong um polizeilichen Schutz gegenüber den SS-Männern. Mit vorgehaltenem Revolver verschafften sich die Eindringlinge Zutritt. Die Durchsuchung der Wohnung konnte der Polizist nicht verhindern, ebenso wenig, dass die Männer einige Gegenstände beschlagnahmten: eine Büste des verstorbenen Reichspräsidenten Friedrich Ebert, Protokolle der Stadtverordnetenversammlung, auch den den Nazis besonders verhasste Roman „Im Westen nichts Neues” von Erich Maria Remarque.

Zu den Eindringlingen zählten noch einige Handlanger, die Schmiere stehen sollten, sich aber in eine nahegelegene Wirtschaft zurückzogen, um sich weiteren Mut anzutrinken. Mit den Beutestücken unterm Arm, die beiden Frauen – neben Amelong wohnte ihre Freundin Ida Labonté in der Wohnung – zwischen sich, marschierten die SS-Männer sowie einige Gesinnungsgenossen von SA und Stahlhelm von der Göringstraße, der heutigen Bebelstraße, in Annen, zur SS-Wache im alten Wittener Rathaus. Dort wurden die beiden Frauen festgehalten, bis sie um 4 Uhr morgens entlassen wurden. Über die Vernehmung ist nichts bekannt. Labonté erlitt – so berichtete sie nach dem Krieg – einen Herzanfall.

Am nächsten Tag, dem 3. Juli 1933, sollten die Frauen erneut auf der SS-Wache erscheinen. Stattdessen aber entzogen sich beide dem Zugriff der Nazis durch die Flucht in das noch freie Saarland, wo Amelong und Labonté im Tagesaufenthaltsraum des Bergarbeiterverbandes Saarbrücken, dem „Heldenkeller”, Kontakt mit ihrem Freund, dem „roten Landrat” von Hörde, Wilhelm Hansmann, aufgenommen haben sollen.

Im Dezember 1933 kehrte Amelong nach Witten zurück, Labonté erst im März 1934. Offenbar hielten sie die Lage in Deutschland nicht mehr für gefährlich, während sie sich noch vor jenem Ereignis im Juli 1933 durch ständigen Wechsel des Aufenthaltsortes gegen die Übergriffe der neuen Machthaber zu schützen gesucht hatten. Auch eine dauerhafte Ausreise muss Amelong erwogen haben, denn im März 1933 hatte sie einen Auslandspass beantragt.

Elfriede Amelong wurde am 13. Februar 1895 in Berlin geboren. Die Eltern ihrer Mutter besaßen ein Gut in Schlesien. Ihr Großvater väterlicherseits arbeitete als Klempnermeister im pommerschen Stolp, ihr Vater als Metzgermeister. Ihre Eltern schickten sie nicht auf eine höhere Schule, sei es, weil sie ein Mädchen war, sei es, dass sie sich das Schulgeld nicht leisten konnten.

Nach der Volksschule besuchte sie für ein Jahr eine Höhere Handelsschule für Mädchen und arbeitete anschließend als Buchhalterin in verschiedenen Betrieben. Obschon sie zu Kriegsbeginn an einem Ausbildungskurs in der freiwilligen Kriegskrankenpflege teilgenommen hatte, war sie offenbar nicht als Krankenschwester tätig. Wenige Tage vor der Novemberrevolution 1918 zog sie nach München, wo sie sich neben ihrer Arbeit in den freien Gewerkschaften engagierte, sich insbesondere um die Frauenfrage im Handelsgewerbe kümmerte und – vermutlich an einer Einrichtung der Arbeiterbildung – Volkswirtschaftslehre und den Sozialismus studierte. Auch trat sie aus der Kirche aus.

Im Zuge ihrer Gewerkschaftsarbeit erkannte sie, dass ihre Talente auf einem anderen Gebiet lagen. In München – so berichtete sie – „hatte ich Gelegenheit, auf Vorschlag meiner Organisation [vermutlich der Gewerkschaft] und Bestätigung durch das Ministerium für soziale Fürsorge an einem Sonderlehrgang zur Ausbildung für die berufliche Wohlfahrtspflege vom 1. Juli bis 31. Dezember 1920 unter Erhalt von Stipendien teilzunehmen”. An der sozialen Frauenschule München wurde sie in allen Aspekten der Fürsorge unterrichtet, auch in Sozialversicherung, Sozialgesetzgebung, Arbeitsrecht und Erwerbslosenfürsorge.

Am 28. Juli 1921 bewarb sich Amelong auf die ausgeschriebene Stelle als Fürsorgeschwester in der kleinen Arbeitergemeinde Annen. Zwei Wochen später stimmte der „Arbeitsausschuss zur Schaffung eines Wohlfahrtsamtes” dem Vorschlag des sozialdemokratischen Gemeindevorstehers August Schlischo, Amelong vorläufig anzustellen, mit knapper Mehrheit zu.

Dass Annen 1921 eine Fürsorgerin anstellte, stand in dem größerem Zusammenhang der Modernisierung der Sozialpolitik in der Gemeinde. Anderswo, auch in Witten, bestanden zahlreiche sozialpolitische Einrichtungen schon länger, in den kleinen Bergbaugemeinden im Landkreis Hörde jedoch waren die Finanzen zumeist ebenso wenig vorhanden wie der politische Wille. Nach der Revolution 1918 versuchte der neue Landrat Hansmann, die Fürsorge im Kreis mustergültig auszubauen. Und die in Annen seit 1919 herrschende SPD nutzte die ihr gegebenen Möglichkeiten.

Aus unzusammenhängenden Einzelhilfen wurde binnen weniger Jahre ein System der Familienfürsorge geschaffen. Ein Wohlfahrtsamt sollte die Bemühungen koordinieren. Amelong arbeitete in der Säuglings- und Kinderfürsorge, der Mütterberatung und in der Lungenfürsorge.

Hier organisierte sie während der Ruhrbesetzung 1923 bis 1925 Transporte hilfsbedürftiger Kinder in das unbesetzte Gebiet. Außerdem überwachte sie die Volksküche. Nach der Eingemeindung Rüdinghausens nach Annen 1922 wurde mit Ida Labonté eine zweite Fürsorgerin eingestellt. Die beiden wurden Freundinnen und gingen – darauf lassen jedenfalls einige Quellen schließen – eine lesbische Beziehung ein.

„In der Familienfürsorge”, so beschrieb Amelong ihre Tätigkeit, „gilt der Hausbesuch der Fürsorgerin der ganzen Familie und nicht nur dem Säugling oder Schulkind oder nur dem lungenkranken Vater, oder nur dem kriminell gewordenen Jugendlichen, oder nur den im Haushalt als Sozialrentner lebenden Großeltern. Die Sorge des einzelnen Familienmitgliedes ist die Sorge der ganzen Familie. Die Fürsorgerin muss das Vertrauen der Familie besitzen, sie muss die sozialen Verhältnisse kennen und auch ihre Entwicklung würdigen.”

Mit der Eingemeindung nach Witten, so fürchtete Amelong zu Recht, könnten die sozialpolitischen Errungenschaften Annens verlorengehen. Vor allem aber würde die Stadt Witten weit weniger Mittel zur Verfügung stellen. Dass diese Befürchtungen eher untertrieben waren, war allerdings weniger dem mangelnden politischen Willen zuzuschreiben als vielmehr der katastrophalen Finanzlage der Städte im Zuge der Wirtschaftskrise ab 1929.

Amelong hatte 1921 die Annener AWO mitgegründet und nahm den Vorsitz ein. Nach der Eingemeindung Annens nach Witten stand sie dem AWO-Stadtverband vor. Auch in dieser Funktion bezog sie engagiert Stellung gegen die „Individualisierung der Fürsorge” und gegen die Einschränkung der Maßnahmen des Wohlfahrtsamtes.

Das dritte Standbein Amelongs war die Kommunalpolitik. Etwa zur selben Zeit, als ihre endgültige Anstellung anstand, trat sie der SPD bei. Und 1924 stand sie auf dem sicheren dritten Platz der Kandidatenliste der SPD für die Annener Gemeindevertretung. Nach der Eingemeindung wurde sie 1929 und 1933 auch in das Wittener Kommunalparlament gewählt, zuletzt stand sie hinter dem Magistratsmitglied Alfred Junge auf Platz 2 der Liste.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde ihr Mandat annulliert, da sie aufgrund einer Reichsverordnung als städtische Angestellte nicht gleichzeitig Kommunalparlamentarierin sein dürfe. Schließlich wurde sie aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” zunächst beurlaubt und schließlich entlassen. Vorausgegangen waren Beschuldigungen der Annener Ortsgruppe der NSDAP gegen Amelong und Labonté, die sich auch gegen den Strich gebürstet lesen lassen:

„Kam 1920 nach Annen [richtig: 1921], zerlumpt. Wurde vom roten Kreiswohlfahrtsdirektor Küch in Berlin aufgelesen [sie war in München]. Entwickelte sich hier zum ungeheuren Agitator der S.P.D. Als Fürsorgerin wurden von ihr die roten Kreise Minderbemittelter bevorzugt. Nach Dienst empfing sie in den Amtsräumen die Frauen der Freigeistigen Gemeinschaft usw. Diese wurden hier geschult und unterrichtet. Freundin von Hansmann und dessen Frau. Bis kurz vor seiner Verprügelung [er wurde überfallen und misshandelt] hat Hansmann der Amelong sehr oft Besuche abgestattet und bis Mitternacht ausgedehnt.

Die Nationalsozialisten wollte sie mit Stumpf und Stiel ausrotten. War bis zuletzt Stadtverordnete der S.P.D. Am 21. März [1933] hisste sie noch die schwarz-rot-gelbe Fahne [die Farben der Flagge der deutschen Republik waren und sind schwarz, rot und gold]. Diese wurde von S.A. entfernt. Revolverschnauze. Man vermutet, dass sie es mit Anstand, Sitte und Moral nicht genau nimmt. Große Gefahr für die Jugend. Wird sich nie im Sinne des neuen Staates betätigen.”

Erfolglos versuchte Amelong, sich gegen ihre Entlassung zur Wehr zu setzen. Sie sei, so verteidigte sie sich gegenüber dem Regierungspräsidenten, in die SPD nur eingetreten, weil diese „dem Wirken der Fürsorge, also dem schaffenden Volke helfen [zu wollen], wohlwollend zur Seite stand”. Bereits am 1. April 1933 war sie aus der Partei ausgetreten. Amelong wurde im März 1933 ein Auslandspass nicht genehmigt, sie sah sich somit zum Bleiben gezwungen.

Wie aber, so lautete die entscheidende Frage, konnte sie der unmittelbaren körperlichen Bedrohung durch die nationalsozialistischen Schergen entgehen? Ihre erste Strategie bestand offensichtlich darin, den Wiedereinstieg in ihren Beruf als Fürsorgerin zu versuchen, dazu aber musste sie den Makel der Zugehörigkeit zur sozialdemokratischen Partei abzustreifen und austreten. Doch auch dieser Weg blieb ihr verwehrt.

Die eingangs geschilderten Vorgänge um die Hausdurchsuchung in der Nacht vom 1. auf den 2. Juli 1933 sind allein deshalb so ausführlich bekannt, weil Amelong und Labonté 1935 den Mut aufbrachten, den Staat aufgrund der dabei entstandenen Schäden zu verklagen. Damit setzten sie umfangreiche Ermittlungen der Polizei in Gang, die die für die Nationalsozialisten peinlichen Begleitumstände ausführlich offenlegten.

Wortführer der SS war der Dachdecker Adolf D., der bereits 1926 wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe verurteilt worden war. Ein weiterer Teilnehmer, Erich R., wurde 1934 aus der SS ausgeschlossen, da er wegen Körperverletzung zu neun Monaten Gefängnis verurteilt worden war, was die NSDAP nicht hinderte, ihn in ihre Reihen aufzunehmen.

Der SS-Mann Karl D., den Amelong Anfang 1935 um die Herausgabe der gestohlenen Schreibmaschine bat, erschien bald darauf – so berichtete Amelong – „in der Uniform eines Polizeibeamten in meinem Geschäft und forderte in meinem persönlichen Interesse unter allgemein gehaltenen Drohungen mich zur Zurücknahme der von mir gestellten Behauptungen auf. Ich lehnte ab und wies ihn zur Tür hinaus.”

Selbst der Regierungspräsident hielt die Darstellung der beiden Frauen für glaubwürdig, erachtete aber „eine Erörterung der dem Anspruch zugrundeliegenden Vorgänge vor den ordentlichen Gerichten [für] untunlich”. Nicht zuletzt um die Begleitumstände der Machtübernahme nicht in der Öffentlichkeit der Gerichte bloßstellen zu lassen, hatten die neuen Machthaber 1934 ein Gesetz erlassen, das der Allgemeinheit die Lasten eines Ausgleichs der im Zuge der „nationalsozialistischen Erhebung und Staatserneuerung” entstandenen Schäden aufbürdete. 1936 schließlich entschied das Innenministerium in Berlin, den Frauen einen Ausgleich von 300 Reichsmark zu zahlen. Der unterzeichnende Staatssekretär Dr. Stuckart war derselbe, der sechs Jahre später an der berüchtigten Wannsee-Konferenz zur „Endlösung der Judenfrage” teilnahm.

Nach Amelongs Rückkehr aus dem Saarland im März 1934 eröffneten die beiden Frauen ein Lebensmittelgeschäft am Crengeldanz, Hörderstraße 4 – offenbar so erfolgreich, dass Amelong eine wirtschaftliche Ehrenurkunde mit der Unterschrift des Gauleiters der NSDAP erhielt. Dennoch waren sich die verschiedenen Behörden des Nazireiches nicht einig, wie sie ihre politische Zuverlässigkeit einschätzen sollten.

Während ein Gericht 1938 „einen günstigen Eindruck gewonnen” haben will, urteilte der NSDAP-Kreisleiter Weber 1937, sie „gilt im nat.-soz. Sinne als absolut unzuverlässig”, obschon sie zuletzt – „vielleicht aus Eigennutz” – dem Winterhilfswerk gespendet habe. Ihr Geschäft habe sie „offensichtlich tatkräftig entwickelt”, jedoch „[h]auptsächlich dadurch, dass eine größere Anzahl Gesinnungsgenossen von auswärts bei ihr ihren Einkauf tätigen”. Das Geschäft habe bis 1938 unter dem dauernden Boykott der Nazis gestanden, berichtete Labonté, das könnten Sozialdemokraten wie Albert Martmöller, Karl Rabenschlag oder Heinz Wallbruch bestätigen. Unklar bleibt allerdings, weshalb sich das Geschäft dennoch gut entwickeln konnte.

Seit September 1936 bemühte sich Amelong um den Kauf des Lebensmittelgeschäfts des jüdischen Kaufmanns Hugo Rosenthal in Stockum, Hörderstraße 326. Die Verhandlungen, so Amelong zwei Jahre später, seien jedoch wiederholt an dessen Ehefrau und am zu hohen Kaufpreis gescheitert. Amelong hielt auch den Kaufpreis, den Rosenthal 1938 mit einem Essener Kaufmann aushandelte, für zu hoch, wie sie in einem Gespräch mit einem Sachbearbeiter des Gauwirtschaftsberaters der NSDAP in Bochum am 24. Oktober 1938 äußerte. Einen Tag später wiederholte sie gegenüber der gleichen Stelle brieflich ihre Kaufabsicht und fügte hinzu, dass sie zuvor dem verlangten Kaufpreis und weiteren „Vergünstigungen, die mir mit der Einhaltung der Stellung zur Judenfrage als nicht erlaubt und annehmbar schienen”, widersprochen habe.

Rosenthal verkaufte schließlich an den Essener Kaufmann, der wiederum das Geschäft an Amelong vermietete. Ihre Äußerungen Rosenthal gegenüber sind nicht überliefert. Nutzte sie dessen Notlage aus, wollte sie nur ohne jede Rücksicht ein Geschäft erwerben oder versuchte sie ihm zu helfen, Deutschland so bald wie möglich verlassen zu können?

Amelong hatte bis 1933 im Haus Bebelstraße 10 gewohnt, das Joseph Rosenthal gehörte, einem Bruder Hugo Rosenthals. Denkbar ist daher, dass sie im Sinne Rosenthals handelte, und nur über den Kaufpreis konnten sie sich nicht einig werden. Oder hatte sich Amelong dem Nazi-Ungeist angenähert, war sie zur Antisemitin geworden? Der Sohn Rosenthals jedenfalls schilderte später, sie habe sich „wie eine ausgesprochene Judenfeindin nach Übernahme des Geschäftes” verhalten und ein Schild mit der Aufschrift „Juden werden hier nicht bedient” angebracht. Oder führte sie die Behörden vor, indem sie auf der Klaviatur der Nazi-Ideologie spielte und ihnen vormachte, sich im nationalsozialistischen Sinne zu verhalten?

Diese Fragen lassen sich mit den vorhandenen Akten nicht mehr klären. Eindeutig ist jedoch, dass Amelong wie auch der Essener Kaufmann nicht die akute Zwangslage der jüdischen Kaufleute unmittelbar nach dem Novemberpogrom 1938 ausnutzten. Weil den Nazi-Behörden der Kaufpreis am Ende immer noch zu hoch war, verschleppten sie Rosenthal und seinen Sohn Hans schließlich für sechs Wochen in das KZ Sachsenhausen, bis sie ihn mit der Maßgabe entließen, einen Teil der Kaufsumme den Nazis zukommen zu lassen. Anders als seinem Sohn gelang es Rosenthal nicht mehr rechtzeitig auszuwandern – 1942 wurden er und seine Frau Laura im Rigaer Ghetto ermordet.

1941 drohte der NSDAP-Kreisleiter Dedecke, Amelong die Handelserlaubnis zu entziehen, da sie den Kaufpreis für das Geschäft noch nicht an Rosenthal entrichtet habe. Sie rechtfertigte sich mit dem Hinweis, dass der Gauwirtschaftsberater ihr verboten habe, an Rosenthal zu zahlen. Der aber widersprach, er habe ihr lediglich empfohlen, den Kaufpreis auf ein Sperrkonto zu zahlen. Das hätte letztlich nur bedeutet, dass die Nazi-Behörden leichter auf das Vermögen Rosenthals hätten zugreifen können.

Wegen Krankheit gab Amelong 1941 beide Geschäfte an Labonté ab, die bald darauf den Stockumer Laden weiterveräußerte. Was Amelong zwischen 1941 und dem Kriegsende tat, lässt sich nicht rekonstruieren. Kurz nach der Befreiung im Frühjahr 1945 bemühte sie sich um die Wiedereinstellung in den öffentlichen Dienst, am 5. Juni 1945 stellte ihr der vorläufige Bürgermeister ein Zeugnis über ihre vor 1933 geleistete Arbeit aus. Seit 1948 wirkte sie im Gesundheitsamt, zuletzt als Leiterin der Verwaltung des Amtes.

Hier galt sie als „einziger Mann” unter den vielen Frauen, als eine harte Verhandlungspartnerin. Doch immer häufiger wurde sie krank und zur Kur geschickt, bis sie 1957 vorzeitig pensioniert wurde. Ihren Beruf hatte sie ohnehin nicht mit Neigung versehen, sie hielt ihre Aufgaben dort für „Kleinkram”. Aber von etwas musste sie ja leben, so sehr ihre Interessen auch auf der politischen Ebene lagen. Wie konnte die Verwaltung, die sich so perfekt in das Nazi-Regime eingepasst hatte, umfassend demokratisiert werden? Aber auch: Wie ließ sich der Wohlfahrtsstaat wiederaufbauen und ausbauen? Das waren die Fragen, mit denen sie sich beschäftigte. Und dazu nutzte sie ihre Verbindungen.

Amelong verfügte über gute Kontakte zu den britischen Besatzungsbehörden. Hetty Santorius, damals Vorsitzende des AWO-Ortsvereins Annen-Ardey, erinnerte sich später, dass sie zusammen mit Amelong von einem britischen Offizier eingeladen wurde: „Wir haben dadurch Nahrungsmittel, Kleider usw. zur Verfügung gehabt, um sie den ärmeren Leuten dann zu verteilen.” Die AWO, die 1945 wiedergegründet worden war, hatte unter Amelongs erneuter Leitung einen raschen Aufschwung genommen, von rund 800 im Jahre 1945 stieg die Mitgliederzahl bis Anfang 1948 auf rund 3.000.

Als Vertreterin der Frauen, später der AWO saß Amelong mehrere Jahre lang im Vorstand des Wittener Stadtverbandes und auch des Bochumer Unterbezirks der SPD. Anfang 1950 wurde sie nicht wieder aufgestellt und außerdem bedrängt, aus dem Unterbezirksvorstand freiwillig auszuscheiden.

Dem war eine immer wieder auftretende Kritik an ihr vorausgegangen. Mehrere Genossen warfen ihr vor, „innerhalb der AWO diktatorisch vorzugehen”. Andere, darunter Heinz Wallbruch, setzten sich für sie ein, sie müsse sich auf einer SPD-Versammlung nicht zu ihrem Verhalten in der AWO äußern. Offenbar – das zeigen die Protokolle mehrerer Stadtverbandssitzungen aus der frühen Nachkriegszeit – war das Verhältnis von Partei und Wohlfahrtsorganisation in einem Wandel begriffen.

Denn auch in Stockum weigerte sich 1950 die dortige AWO-Ortsgruppenvorsitzende, der Partei gegenüber Rechenschaft abzulegen. Der Aktionsausschuss der Wittener SPD diskutierte 1949 in Amelongs Abwesenheit über sie, dabei bezogen der Fraktions- und Stadtverbandsvorsitzende Walter Nowak ebenso wie die Frauenbeauftragte und spätere Bundestagsabgeordnete Alma Kettig sowie zahlreiche weitere Funktionäre gegen sie Stellung: „Allgemein wurde zum Ausdruck gebracht, dass die Genossin Amelong, obwohl sie hohe Funktionen in der Partei bekleidet, sich in jeder Hinsicht passiv verhält und dass sie wegen Vernachlässigung ihrer Aufgaben aus allen Parteiämtern entfernt werden muss.” Einer warf ihr gar vor, „ein wesentlicher Teil der im Arbeitsausschuss der A.-W. tätigen Frauen und der auf der Generalversammlung zugelassenen Delegierten sei von der Gen. Amelong geschmiert worden”.

Die Vorwürfe oder die Beschreibung der Diskussionen innerhalb der AWO zu überprüfen, ist nicht mehr möglich, da deren Protokolle nicht überliefert sind. Manches scheint an den Haaren herbeigezogen zu sein. Fest steht jedoch, dass Amelong ihre Prioritäten im Konfliktfall immer aufseiten der AWO setzte. In erster Linie war sie Sozialpolitikerin, ob als Fürsorgerin oder als Vorsitzende der sozialdemokratischen Wohlfahrtsorganisation. Ihre parteipolitische Anbindung war ihr hingegen letztlich zweitrangig. Auch nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt der AWO-Vorsitzenden blieb sie deren Ehrenvorsitzende.

Amelongs Beziehungen zu den britischen Militärbehörden blieben gut. 1949 wurde sie eingeladen, auf Kosten der britischen Regierung an einem sechswöchigen Kursus im englischen Wilton Park Educational Centre teilzunehmen, der im Rahmen der Re-Education-Politik deutsche Teilnehmer aus unterschiedlichen Bereichen mit der britischen Demokratie vertraut machen sollte. Hier wurden in zivilisierter Atmosphäre die brennenden Fragen der jüngsten Vergangenheit und auch der unmittelbaren Zukunft besprochen. War es eine Spitze gegen ihre innerparteilichen Kritiker? Jedenfalls schrieb sie am 29. November 1949 dem Wittener Stadtrat: „Die Arbeit in Wilton Park beruht auf freien, von Sachkenntnis getragenen Diskussionen, die auf diesem neutralen Boden ohne Leidenschaft geführt werden.”

Elfriede Amelong, die zeitlebens eine streitbare Persönlichkeit war, starb am 20. Oktober 1965 in Witten. Ihr Leichnam war der erste, der im neuen Krematorium des Hauptfriedhofs in Witten eingeäschert wurde.

• geb. am 13. Februar 1895 in Berlin

• gest. am 20. Oktober 1965 in Witten

• ledig, keine Kinder

• Konfession dissident

• seit 1921 Fürsorgerin in Annen, später Witten

• 1921 Gründerin AWO Annen

• 1921-1933 AWO-Vorsitzende Annen, später Witten

• 1924-1929 Gemeindevertreterin Annen (SPD)

• 1929-1933 Stadtverordnete Witten (SPD)

• 1948-1957 Verwaltungsleiterin Gesundheitsamt Witten


Dr. Frank Ahland /
Stadtarchiv Unna

Literatur:

Frank Ahland: Elfriede Amelong. Streitbare Sozialpolitikerin, in: Wittener. Biografische Porträts, hrsg. von Frank Ahland u. a. in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Witten, Witten 2000, S. 129-139

Zitation: Ahland, Frank, Elfriede Amelong, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/elfriede-amelong/

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Albertine Badenberg

Albertine Badenberg stammte aus einer gutbürgerlichen katholischen Familie: Ihr Vater war Landvermesser und Architekt, ihre Mutter kam aus einer Wiener Offiziersfamilie. Sie war die älteste von sieben Geschwistern, von denen die meisten später im Ausland lebten, und besuchte in Steele – eine Ortschaft an der Ruhr, die damals kaum mehr als 5.000 Einwohner zählte, und 1929 von der Stadt Essen eingemeindet wurde – die höhere Töchterschule. Mit 15 Jahren lebte sie eine Zeitlang, wie in bürgerlichen Kreisen üblich, zuerst in Belgien, danach in England.

Verein katholischer deutscher Lehrerinnen (VkdL)

Sie ergriff den für bürgerliche Mädchen typischen Beruf der Lehrerin und absolvierte ihre Ausbildung an dem Lehrerinnenseminar der Hildegardisschule in Koblenz, an dem sie 1885 die Prüfung für Mittlere und Höhere Schulen ablegte. Im selben Jahr wurde sie Mitglied des in Koblenz gegründeten Vereins katholischer Lehrerinnen für Hessen-Nassau, Preußen und Rheinland, der 1894 in Verein katholischer deutscher Lehrerinnen (VkdL) unbenannt wurde. 1894 gründete bzw. organisierte Albertine Badenberg in Frankreich und England Stellenvermittlungsstellen für katholische Lehrerinnen– sowohl Französisch als auch Englisch wird sie nach ihren Auslandsaufenthalten perfekt gesprochen haben. Dem Verein ging es – so eine Broschüre anlässlich des 100-jährigen Bestehens1 – um die „religiöse Vertiefung der persönlichen Lebenshaltung seiner Mitglieder“. Fräulein Badenberg – als Lehrerin unterlag sie dem sogenannten Lehrerinnenzölibat, d. h. dass ihr mit einer Verheiratung umgehend gekündigt worden wäre, eine Bestimmung, die in der Weimarer Republik für einige Jahre aufgehoben und dann bis 1951 Bestand hatte – spielte in dem Verband eine große Rolle. Dies kann man der Jubiläumsschrift entnehmen, wo ihr unmittelbar nach der Gründerin und langjährigen Vereinsvorsitzenden Pauline Herber (1852 – 1921) gleich eine ganze Seite gewidmet wurde.2

1886, mit knapp 21 Jahren, trat sie ihre erste Stelle als Lehrerin an der Laurentiusschule in Steele an und 1887 übernahm sie die Leitung der Deutschen Schule in Genua. Am 1. März 1888 starb jedoch ihr Vater, woraufhin sie nach Steele zurückkehrte und die Rolle des Familienoberhaupts übernahm. Rückblickend schrieb sie: „Ich musste also der Mutter zur Seite stehen und bin heute froh, sagen zu können, dass ich es geschafft habe, für die Ausbildung meiner Geschwister zu sorgen. …“3 Eine beachtliche Leistung, da die Brüder Ingenieure und die Schwestern Lehrerinnen wurden. Bis auf ihre Schwester Olga, die sich als Fotografin ausbilden ließ und mit ihrem Mann, dem bekannten Fotografen Waldemar Titzenthaler, später in Berlin lebte.4

Albertine Badenberg blieb zeitlebens dem Verein katholischer deutscher Lehrerinnen eng verbunden, der sich u. a. für eine qualifizierte Lehrerinnenausbildung und für die rechtliche und finanzielle Besserstellung der Lehrerinnen engagierte. 1907 trat der Verein für die Hochschulreife für junge Frauen ein – was in Preußen bis 1908 nicht möglich war –, ein Jahr später für eine bessere Besoldung der Lehrerinnen in Höhe von 75 bis 80 % der Männer sowie für Fortbildungsschulen für ungelernte Arbeiterinnen.5 Seit 1898 zählte Badenberg zu den Vorstandsmitgliedern des Vereins. Im Laufe der Jahrzehnte war sie u. a. an der Einrichtung einer Rechtsberatung, von Pensionszuschuss-, Studien- und Wohnungseinrichtungskassen sowie der Neueinrichtung der vereinseigenen Heime nach 1945 beteiligt.6

Frauenbewegung und Katholischer Deutscher Frauenbund (KDFB)

Früh habe sie sich mit der Frauenbewegung beschäftigt, so Badenberg in ihren in den 1950er Jahren verfassten Erinnerungen: „Es war die Zeit, in der sich der Bund Deutscher Frauenvereine mächtig entwickelte und besonders unter Helene Lange und Gertrud Bäumer auch in den Kreisen katholischer Frauen lebhaft kommentiert wurde.“ Um „die Organisierung der katholischen Frauen durchzuführen“ und zugleich den liberalen Ideen entgegenzutreten, die in der von Helene Lange herausgegebenen Zeitschrift „Die Frau – Monatsschrift für das gesamte Frauenleben“ vertreten wurden, habe sie mit anderen die ab 1902 erscheinende Zeitschrift „Die christliche Frau“ konzipiert.7 1896 hatte Helene Lange (1848-1930) vom Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein konstatiert: „Erst durch das Frauenstimmrecht wird das allgemeine Stimmrecht zu etwas mehr als einer blossen Redensart.“ Dies war eines der ersten Plädoyers für das Frauenwahlrecht in Deutschland8 und diese liberale und egalitäre Idee mochte Badenberg nicht teilen.

Geteilt haben wird sie die Überzeugung der in Hacheney (heute Dortmund) geborenen Hedwig Dransfeld (1871-1925), die ab 1905 verantwortliche Redakteurin der Zeitschrift: „Denn die Frau von heute weiß, daß sie als einzelne dem Volksganzen gegenüber für gewöhnlich ohne Macht und Einfluß ist; sie muß sich ihre Organisationen selber schaffen und durch sie Macht und Einfluß gewinnen. Das ist im wesentlichen auch erreicht worden.“9

Und so zählte Badenberg als Vertreterin des VdkL 1903 zu den Gründerinnen des Katholischen Deutschen Frauenbundes (KDFB), dessen vorrangigstes Ziel zu Beginn die Frauenbildung war.

Diese Initiierung einer eigenständigen katholischen Frauenbewegung in Deutschland wurde in der katholischen Männerwelt weitgehend abgelehnt. Für Frauen – so argumentierte der Theologe und Zentrumspolitiker Carl Joseph Mausbach (1861-1931) – sei „das Hinaustreten aus dem Hause in die Sitzungssäle und Wahlversammlungen ein sehr zweifelhafter Tausch.“ Die „sozialen Wünsche und Bestrebungen“ der Frauen seien in der Hand der Männer doch gut aufgehoben“.10 Der Katholische Frauenbund Deutschlands konnte daher wegen eines Einspruchs aus Rom erst ein Jahr später seine Arbeit aufnehmen, um dann drei Studienkommissionen für wissenschaftliche, soziale und karitative Belange einzurichten.11 Albertine Badenberg war zwischen 1910 und 1936 Hauptkassiererin des Katholischen Frauenbundes und hat – wie Jahre zuvor bei der Ausbildung ihrer Geschwister – finanziell sehr geschickt agiert und taktiert und über die Organisation von Lotterien u.a. den Bau eines Bildungsheims, einer Sozialen Frauenschule in Aachen und des Frauenbundhauses in Essen-West ermöglicht.12

1908 war das Jahr, in dem eine wichtige Forderung der bürgerlichen Frauenbewegung und damit auch von Albertine Badenberg erfüllt wurde: Mit der Mädchenschulreform konnten nun auch Mädchen in Preußen Abitur machen und wurden an Universitäten zugelassen. 1908 war zudem das Jahr, in dem Fräulein Badenberg in den Vorstand des Frauenbunds gewählt wurde, für den sie am 3. März 1909 in Steele einen Zweigverein gründete, dem umgehend 180 Frauen beitraten.13 Bis Mitte 1917 sollte es im gesamten Deutschen Kaiserreich 348 solcher Zweigvereine geben, nachdem im „September 1916 …überall eine lebhafte Propagandatätigkeit“ eingesetzt hatte.14

Wahlrechtsbewegung

Badenberg agierte für den Verein vor allem in schriftlicher Form und verfasste „Eingaben, Flugblätter … Broschüren“, die Themen wie Vereinsgesetzgebung, Versicherungswesen oder Alkohol behandelten. 1910 brachte sie einen Taschenkalender heraus, in dem sie über „den Stand der damaligen Frauenbewegung sowohl auf nichtkatholischer als auch auf katholischer Seite“ informierte. Da die katholischen Frauen „um die Zeit von 1911/12 … durch das Vorgehen der Stimmrechtsverbände wach geworden“ waren, diskutierten sie „ihrerseits ihre Haltung zu diesen Bestrebungen“. Viele hätten sich damals für das Frauenwahlrecht ausgesprochen, wobei sie ihre eigene Position in ihren Aufzeichnungen nicht konkret benennt.15

Eventuell teilte sie die Überzeugung vieler evangelischer Frauen, die im Deutschen Evangelischen Frauenbund organisiert waren und ein Frauenstimmrecht bei kirchlichen und kommunalen Gemeindewahlen forderten, jedoch die staatspolitische Gleichberechtigung im „Interesse des Vaterlandes“ ablehnten. Für diese Frauen war das politische Frauenstimmrecht angesichts der „innenpolitischen Verhältnisse und der noch vielfach mangelnden Reife der Frauen in absehbarer Zeit kein Segen für unser deutsches Volk“. Im Gegenteil: Sie sahen darin „eine im höchsten Grade bedenkliche Stärkung der staatsfeindlichen Parteien“.16

Das von Badenberg genannte Themenfeld „Vereinsgesetzgebung“ lässt vermuten, dass sie sich für den VdkL gegen das seit 1850 geltende Verbot der Mitgliedschaft von „Frauenspersonen“ – so das Gesetz – in politischen Vereinen aussprach. Wobei viele bürgerlichen Frauen nach Einschätzung der Historikerin Barbara von Hindenburg skeptisch waren, in den ausschließlich von männlichen Honoratioren besetzten Parteien mitzuwirken, die sich vor allem um den kommunalen Immobilienmarkt, die Infrastruktur und dergleichen kümmerten. Ihre eigenen Handlungsfelder, die im sozialen und karitativen Bereich lagen, konnten die engagierten Frauen besser außerhalb der Parteien verfolgen, sowie sie es bereits seit Jahrzehnten taten.17

Vermutet werden kann anhand ihrer Notizen, dass Badenberg vor 1918 das Frauenwahlrecht weder ablehnte noch befürwortete, stattdessen abwartete. Als ihr und allen Frauen ab 20 Jahren am 12. November 1918 vom sechsköpfigen Rat der Volksbeauftragten allerdings das Wahlrecht zugestanden wurde, stürzte sie sich – die seit 1917 das Generalsekretariat des Katholischen Frauenbundes in Köln leitete – beherzt in das politische Geschehen und mischte kräftig im Wahlkampf mit.

Engagement

Mit dem militärischen und politischen Zusammenbruch des Kaiserreichs sowie dem Ausbruch der Revolution standen alle Parteien vor der Aufgabe, sehr schnell einen Wahlkampf zu organisieren, denn von der Ausrufung des allgemeinen Wahlrecht für Männer und Frauen am 12. November 1918 bis zur ersten Wahl am 19. Januar 1919, es war die zur Nationalversammlung, lagen nur etwas mehr als acht Wochen. Kurz darauf, am 26. Januar 1919 folgten die Wahlen zur verfassungsgebenden preußischen Landesversammlung und Anfang März erfolgte dann die dritte Wahl, die Wahlen für die Stadtverordnetenversammlungen. Es galt, 17,7 Millionen wahlberechtigte Frauen, die Mehrheit der Wählerschaft, für sich zu gewinnen.

Hedwig Dransfeld warnte Ende 1918 vor der drohenden Alleinregierung der Sozialdemokratie. Hoch pathetisch sprach sie von „der größten Not des Vaterlandes“ und von „der Schicksalswende unseres deutschen Volkes“. Die Frauen seien „zur entscheidenden vaterländischen Tat“ aufgerufen und das Frauenstimmrecht hätte „den Charakter einer tiefernsten Pflicht erhalten.“ Man brauche daher neben „willensfeste[n] Wählerinnen“ diejenigen, „die auch in der politischen Betätigung ein hehres Ziel vor Augen haben“. Das Zentrum mit seinem Leitsatz „Freie Entfaltung der Mitarbeit der Frauen bei dem Wiederaufbau und der Pflege des deutschen Volkslebens unter voller Auswertung der weiblichen Eigenart“ sei die zu wählende Partei, wobei die Frauen „als vollberechtigte Staatsbürgerinnen“ nun „so gut wie die Männer die Verantwortung für die gesamte äußere und innere Ordnung unseres Vaterlandes [zu ]tragen“ hätten.18

Schaut man in die Quellen, so ist selbst 100 Jahre später noch die Aufgeregtheit der damaligen Zeit zu erspüren. In die ohnehin aufgeheizte Stimmung – hinter den Menschen lagen Kaiserreich, vier Jahre Krieg, große Entbehrungen (auch im Ruhrgebiet hatte es ab 1916 Hungertote gegeben), rückkehrende, zum Teil stark traumatisierte Soldaten, Frauen, die von jetzt auf gleich ihre Arbeitsplätze für die Männer räumen mussten und eine völlig ungewisse politische Zukunft – wirkte der Erlass von Johann Franz Adolph Hoffmann (USPD), der Ende 1918, Anfang 1919 preußischer Bildungsminister war, die kirchliche Schulaufsicht in Preußen abzuschaffen, höchst explosiv. Damit brachte er sowohl die Katholiken als auch die Protestanten gegen sich auf. Das Zentrum fand hierüber eine zündende Wahlkampfparole und die Deutschnationale Volkspartei wusste damit ihre protestantische Wählerschaft zu motivieren. So menetekelte das Westfälisches Volksblatt kurz vor der Reichstagswahl am 17. Januar 1919:

Wähler der Nationalversammlung
folgt ihr der Sozialdemokratie
dann droht der Kulturkampf!
dann entrechtet man die Kirche!
dann schließt man die Klöster!
dann hält Einzug die Simultanschule!
dann herrscht der Geist Adolf Hoffmanns!19

Auch Albertine Badenberg erinnerte sich an diesbezügliche Diskussionen innerhalb des katholischen Milieus. Selbst katholische Politiker hätten „die katholischen Schulen aufgeben wollten“, und nur die Androhung des Frauenbundes, eine eigene Frauenpartei zu gründen, habe dies abwenden können.20 „Durch die Schulung, die unsere Frauen im Laufe der Zeit erfahren hatten, wurde in unseren Reihen schnell begriffen, daß es im Wesentlichen von den Frauen abhängen würde, ob die neue Reichsverfassung christlich oder unchristlich sein würde. Im Westen organisierten wir eine Reihe geeigneter Persönlichkeiten, u. a. Studentinnen, die in zahlreichen Vorträgen die Frauen von der Notwendigkeit überzeugten, daß Wahlrecht auch Wahlpflicht sei. Ich glaube, man darf sagen, daß der Ausfall dieser Wahl im positiven Sinne ein Verdienst der Frauen gewesen ist. Männer wollten damals mutlos werden.“21

Das Wahlengagement von Albertine Badenberg und vieler bürgerlicher Frauen entsprang 1919 weniger dem Wunsch, Gleichheit in politischer und sozialer Hinsicht zu erlangen, wie es die SPD gefordert hatte, sondern dem Verlangen nach Aufrechterhaltung des klerikalen Einflusses. Und damit waren sie höchst erfolgreich, denn nicht nur in Steele errang das Zentrum mit 3.412 Stimmen und 18 Mandaten einen klaren Wahlsieg.22 Unter den Abgeordneten waren zwei Frauen: Fräulein Josefine Hülsebusch und Frau Katharina Schröder, beide vom Zentrum. In der Stadt Essen waren von 102 Stadtverordneten acht Frauen von fünf Parteien, drei für das Zentrum.23

Einstieg in Parteipolitik und Landtag

Und Fräulein Albertine Badenberg? „Nach dem Zusammenbruch im Jahre 1918, als den Frauen die politische Laufbahn eröffnet wurde, habe ich mich intensiv in diese Arbeit hineingestellt. Ich gehörte nicht nur dem Verband der Zentrumspartei für den Kreis Essen, sondern auch dem Vorstand für die Rheinprovinz und weiter noch dem Gesamtvorstand der Zentrumspartei für Preußen an. 1924 wurde ich als Abgeordnete in den Preußischen Landtag gewählt, wo ich 8 Jahre bis 1932 als Abgeordnete verblieb. … Hauptsächlich interessierten mich dort Fragen der Schule, Fragen der Gleichberechtigung, der Gehälter der Männer und Frauen, wobei ich aber immer stets den Grundsatz vertreten habe, das gleiches Gehalt nicht schematisch verstanden werden dürfte.“ Badenberg hatte sich bereits 1919 zur Wahl stellen lassen, doch war sie auf Listenplatz 6 nicht gewählt worden.24

Albertine Badenberg, die 1955 für ihr ehrenamtliches Engagement den Bundesverdienstorden erhielt, die höchste Anerkennung, die die Bundesrepublik für Verdienste um das Gemeinwohl ausspricht, war vermutlich keine aktive Befürworterin des Frauenwahlrechts vor 1918, engagierte sich aber sofort im politischen Raum, als Frauen dies ab 1919 möglich war. 1912 hatte sie in einem sehr nüchternen Text über „Das neue Versicherungsgesetz für Angestellte“ gefordert, dass Frauen bei der Wahl der Vertrauensleute „entschlossen und geschlossen vorgehen“ sollten. Stünden sie hier abseits, würden sie vornherein eine wichtige Position preisgeben und auf Jahre hinaus auf allen Einfluss verzichten.25

Eins ist gewiss: auf gesellschaftspolitischen Einfluss hat Albertine Badenberg zeit ihres langen Lebens nicht verzichtet.

Susanne Abeck frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Albertine-Badenberg-Weg, 45276 Essen

Literatur:

Elisabeth Prégardier: Engagiert. Drei Frauen aus dem Ruhrgebiet. Albertine Badenberg. Helene Weber. Antonie Hopmann, Annweiler 2003

Zitation: Abeck, Susanne, Albertine Badenberg (1865 – 1955), Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/albertine-badenberg-1865-1955/

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Elisabeth Zillken

Elisabeth Zillken wurde am 8. Juli 1888 in Wallerfangen an der Saar als das älteste von fünf Kindern von Anna und Engelbert Zillken geboren. Nach dem Abschluss der höheren Schule in Saarlouis begann sie eine Ausbildung an einer privaten höheren Handelsschule in Köln. Das Studium an der Kölner Handelshochschule schloss Zillken 1910 mit dem Diplom ab. Danach unterrichtete sie bis 1916 an den kaufmännischen Unterrichtsanstalten in Köln, Hannover und Düsseldorf.

Katholischer Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder

Elisabeth Zillken wurde wegen ihres sozialen Engagements Angnes Neuhaus empfohlen, der Gründerin und Vorsitzenden des Katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder (KFV) aus Dortmund.  Am 1. Oktober 1916 übernahm Zillken die Stelle der Generalsekretärin des KFV. Mit seinen sog. Rettungshäusern und Mutter-Kind-Heimen bot der Fürsorgeverein u.a. jungen alleinstehenden Müttern, insbesondere aus dem Arbeitermilieu, Unterkunft nach der Entbindung, Hilfen bei der Suche nach Arbeit sowie Pflegestellen für ihre Kinder an.

Von Agnes Neuhaus übernahm Zillken die Schulung der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und deren Einweisung in die jeweiligen Arbeitsgebiete. Mit der Errichtung einer eigenen Fürsorgerinnenschule in Dortmund Ende 1916 leisteten Zillken und der KFV einen wichtigen Beitrag zur Professionalisierung der Sozialarbeit bei. Aus diesen Anfängen entwickelte sich eine soziale Frauenschule, die 1927 die staatliche Anerkennung bekam. Im folgenden Jahr wurde die Leitung der Schule Dr. Anna Zillken, der jüngsten Schwester Elisabeths, übertragen.

Während des Ersten Weltkriegs galt das Engagement des Fürsorgevereins neben der Jugend- und Gefährdetenfürsorge auch der Kriegswohlfahrt. In den Anstalten des Vereins wurden Schneiderarbeiten für das Heer durchgeführt; gegen Kriegsende kam die gezielte Betreuung von ausländischen Gefangenen hinzu. Nach dem Krieg konzentrierte sich der KFV in Zusammenarbeit mit anderen karitativen Institutionen wie dem Deutschen Caritasverband auf die Linderung der sozialen Not unter der Bevölkerung.

Stadtrat und Reichstag bis 1933

Im Jahr 1919 wurde sie von der Zentrumspartei als Kandidatin für den Dortmunder Stadtrat aufgestellt und gehörte ihm fortan – mit Ausnahme der Jahre 1933 bis 1945 – als Stadtverordnete an. Als Agnes Neuhaus 1930 im Alter von 70 Jahren auf eine erneute Kandidatur verzichtete, kam Zillken als Vertreterin des Zentrums in den Deutschen Reichstag.

Über ihre Arbeit und die des Fürsorgevereins in der NS-Zeit schrieb Zillken: „Die Geheime Staatspolizei überwachte uns; sie verbot den Jugendämtern, uns zur Arbeit heranzuziehen, sie verbot uns die Adoptionsvermittlung und die Arbeit in den Gefängnissen.(…) Die Arbeit in den Gefängnissen haben wir trotzdem weitergeführt, weil sie von nationalsozialistischer Seite niemand tat. (…) Wir mußten uns manche Hausdurchsuchung und Aktenbeschlagnahme gefallen lassen. Ich mußte mich jeden Monat bei der Geheimen Staatspolizei in Dortmund-Hörde melden. Auch die Schule hatte erhebliche Schwierigkeiten. 1944 wurde Haftbefehl gegen mich erlassen, der aber wegen merkwürdiger Verkettungen nicht durchgeführt werden konnte.“ (Mein Leben -meine Arbeit, in: Elisabeth Zillken 1888-1980, hg. v. SkF, Zentrale Dortmund, [Dortmund 1981, S. 5-13.]

Der überparteiliche Frauenausschuss in Dortmund

Im Jahr 1944, nach dem Tod von Agnes Neuhaus, übernahm Zillken zusätzlich zu ihrem Amt als Generalsekretärin (bis 1958) den Vorsitz des Fürsorgevereins. Nach dem Kriegsende wurde sie von der englischen Militärregierung zum Mitglied des provisorischen Dortmunder Stadtparlamentes und des ersten nichtgewählten nordrhein-westfälischen Landtags bestimmt. Als CDU-Mitglied gehörte sie dem Landtag bis 1947 an. Als stellvertretende Vorsitzende der Frauenvereinigung in der CDU arbeitete Elisabeth Zillken in dem überparteilichen Frauenausschuss der Stadt Dortmund, der im September 1946 in einer konzertierten Aktion von ihr, Helene Wessel (Zentrum), Charlotte Temming (KPD), Elli Zey (SPD), der Oberfürsorgerin der Stadt Dortmund, Margarethe Hinsberg, Margarethe Faehre (CDU), Hertha Tüsfeld (KPD) und der Ärztin Dr. Paula Köster ins Leben gerufen wurde. In fünf Arbeitskreisen erarbeitete der Ausschuss, dem 20 bis 30 Frauen angehörten, praktische Vorschläge zur Bekämpfung der Not in der Nachkriegszeit, so zur Erfassung und Verteilung von Lebensmitteln, Organisation der Kohlenzuteilung, Instandsetzung von Schulen, Errichtung von Heimen für Flüchtlinge oder Einrichtung von Kindergärten, Waschküchen und Volksküchen.

Profilierte Sozialpolitikerin der CDU

Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre war Zillken u.a. an der Vorbereitung bzw. Novellierung diverser Gesetze beteiligt wie z.B. des Jugendwohlfahrtsgesetzes, des Gesetzes zur Vereinheitlichung und Änderung familienrechtlicher Vorschriften oder des Bundessozialhilfegesetzes.

Mit Ausnahme einer kurzen Unterbrechung in den Jahren 1950 bis 1953, in denen Johanna Schwering Vorsitzende des Gesamtvereins war, stand Elisabeth Zillken bis zu ihrem 83. Lebensjahr (1971) an der Spitze des Katholischen Fürsorgevereins, der sich 1968 den Namen Sozialdienst Katholischer Frauen (SkF) gab. Zudem war sie Vizepräsidentin des Deutschen Caritasverbands und des Zentralkomitees der deutschen Katholiken sowie Vorstandsmitglied des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge. Sie starb am 28. November 1980 in Dortmund.

Dr. Ursula Olschewski / Dortmund

Orte:

Dortmund

Literatur:

Ursula Olschewski, Elisabeth Zillken - Leben und Wirken der Präsidentin des katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder, in: Lebensläufe im Sozialkatholizismus des Ruhrgebiets (Berichte und Beiträge 42), Essen 2003, S. 104-115.   Andreas Wollasch, Der Katholische Fürsorgeverein Mädchen, Frauen Kinder (1899-1945), Freiburg i.Br. 1991.  Sozialdienst Katholischer Frauen, Dortmund (Hg.), Elisabeth Zillken zum Gedächtnis, Dortmund 1980.

Zitation: Olschewski, Ursula, Elisabeth Zillken, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/elisabeth-zillken-1888-1980/

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Ida Noddack-Tacke

Ida Noddack-Tacke wurde am 25. Februar 1896 als Tochter des Lackfabrikanten Tacke geboren. Sie besuchte die „Höhere-Töchterschule“ in Wesel. Als sie erfuhr, dass seit 1908 auch Frauen zum Studium zugelassen wurden, beschloss sie, das Abitur abzulegen. Ihr Vater unterstützte ihre Ambitionen bereitwillig und finanziell großzügig, wenn auch mit dem Hintergedanken, Ida könne einmal die väterliche Fabrik übernehmen. Das Wesel nächstgelegene Mädchengymnasium war die St. Ursula-Schule in Aachen, das allerdings noch keine Prüfungsberechtigung hatte. Ida legte also ihre Abitur-Prüfung extern ab und ging anschließend nach Berlin an die Technische Hochschule. Als eine der ersten Frauen in Deutschland studierte sie von 1915-1921 Chemie. Sie war sich ihrer besonderen Rolle als studierende junge Frau bewusst und fand Kontakte zum „Verein studierender Frauen“. 1919 legte sie ihre Diplom-Prüfung ab. In diesem Jahr erhielt sie für eine weitere wissenschaftliche Arbeit den 1. Preis der Abteilung für Hüttenkunde der Technischen Hochschule Charlottenburg.

1921 promovierte Ida Tacke zum Dr. Ing mit einer Arbeit über Die Anhydride höherer aliphatischer Fettsäuren. Danach arbeitete sie rund zwei Jahre in der Wirtschaft. Als sich die Gelegenheit zur Rückkehr in die Forschung bot, gab sie ihre Stelle auf und widmete sich zusammen mit dem Chemiker Walter Noddack der Suche nach den noch unbekannten Elementen mit den Nummern 43 und 75 im Periodensystem. Die Forschungstätigkeit war mit harter körperlicher Arbeit und vielen Reisen ins Ausland verbunden, da das gesuchte Element nur im Gestein der Erdkruste vorkommt.

Drei Jahre später war dem Forscherpaar die Entdeckung der gesuchten Elemente, die sie Rhenium und Masurium nannten, durch die Analyse ihres Röntgenspektrums gelungen.
1926 heirateten Ida Tacke und Walter Noddack. 1926 hielt Ida auch ihren ersten wissenschaftlichen Vortrag vor 900 Chemikern. Der Vortrag kam einer Sensation gleich. Eine zeitgenössische Stimme dazu: „Heute hat bei uns zum erstenmal ein Mädchen geredet – und sie hat es sogar gut gemacht.“

Viel Staub wirbelte Ida Noddack-Tacke 1934 mit ihrer These auf, Urankerne könnten bei Neutronenbeschuss in größere Bruchstücke zerfallen. Lise Meitner, Otto Hahn und Fritz Strassmann gelang vier Jahre später die Kernspaltung! Ida Noddack-Tackes frühe Erkenntnis würdigte Otto Hahn – jedoch erst 1966 – mit dem Ausspruch: „Und die Ida hatte doch Recht“.

Das Ehepaar Noddack beschäftigte sich mit dem ubiquitären Vorkommen der Elemente. So gelang es ihnen, Spuren seltener Elemente in Meerestieren und in Meteoritengestein nachzuweisen. Mit dem Postulat von der Allgegenwart der Elemente schufen sie die Grundlagen für die Chemie der Spurenelemente und die Kosmochemie. Rund 50 Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften zeugen von Ida Noddack-Tackes wissenschaftlicher Produktivität. Zusammen mit ihrem Mann erhielt sie als erste und bislang einzige Frau die Liebig-Gedenkmünze des Vereins Deutscher Chemiker und die Scheele-Medaille der Schwedischen Chemischen Gesellschaft.

Das Ehepaar Noddack wurde zwischen 1932 und 1937 zehnmal für den Nobelpreis vorgeschlagen, verliehen wurde er ihnen nicht, wohl auch, weil man in Schweden keine Forscher aus dem nationalsozialistischen Deutschenland ehren wollte. Ida Noddack starb am 24. September 1978 in Bad Neuenahr.

Bärbel Reining-Bender/ Wesel

Orte:

Ida-Noddack-Straße 44, 46485 Wesel

Literatur:

Noddack, Ida, Über das Element 93, in: Angewandte Chemie, 47. Jg. (1934), S. 653–655.
Schubert, Fritz, Die "deutsche Marie Curie";  Serie in der Rheinischen Post (RP), Berühmte Niederrheiner, 36. Jg., Düsseldorf, 15. August 2009, S. B 6 (mit 3 s/w Fotos).

Zitation: Reining-Bender, Bärbel, Ida Noddack-Tacke, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/ida-noddack-tacke/

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Olga Eckstein

Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten wurde 2008/ 2009 zum Thema „Helden. Verehrt, verkannt, vergessen“ ausgelobt. Unter den 6.600 Schülerinnen und Schülern, die 1.831 Beiträge einreichten, befand sich auch Sarah Matern von der Christoph-Stöver-Realschule in Oer-Erkenschwick. Sie gewann einen Förderpreis mit ihrer Arbeit über die Kunst- und Turmspringerin Olga Eckstein.

Mit ihrer historischen Spurensuche hat Sarah Matern eine nahezu vergessene Person des öffentlichen Lebens in die lokale Traditionsbildung und Erinnerungskultur zurückgeholt: Ihre Arbeit regte als ein weiteres Ergebnis eine Ausstellung an, mit der sich Oer-Erkenschwick im Jahr der Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010 präsentiert und ihr Profil als Sportstadt weiter schärfen kann. Dabei hatte es Sarah Matern schwer, überhaupt eine Person aus der relativ jungen Geschichte der eigenständigen Stadt Oer-Erkenschwick zu finden, die sich zur Bearbeitung als „Heldin“ anbot: Weder ihrem direkten familiären Umfeld, noch dem obersten städtischen Vertreter fielen auf Anhieb Namen ein. Nur der Hartnäckigkeit von Sarah Matern und der ernsthaften Förderung ihres Erkenntnisinteresses durch Schule, Stadtarchiv und Lokal-Presse ist es zu verdanken, dass die Sportlerin Olga Eckstein wieder in das öffentliche Bewusstsein dringen konnte.

Olga Eckstein wurde in eine saarländische Familie hinein geboren, die dem Ruhrbergbau in die Region folgte. Entdeckt wurde Olga Eckstein 1935 im Alter von 15 Jahren bei einer Schul-Schwimmstunde im Oer-Erkenschwicker Hallenbad. Als die Klasse die Aufgabe bekam, vom 3-Meter-Brett zu springen, glitt sie so geschickt ins Wasser, dass der Leiter des Hallenbades und Schwimmtrainer Walter Bach auf sie aufmerksam wurde. Dieser Anfang einer Erfolgs-Geschichte verweist erstens darauf, dass sich die Kommune ein Hallenbad leistete, was in den schnell gewachsenen Städten der Bergbauregion nicht als selbstverständlich galt; zweitens verweist er darauf, dass dieses Hallenbad mit einem 3-Meter-Sprungturm ausgestattet war, auch dies war nicht selbstverständlich; und er setzte voraus, dass Schwimmen zum Schulsport gehörte.

Von nun an ging Olga Eckstein regelmäßig in den Sportverein SV Neptun, um unter Walter Bach zu trainieren. Bereits ein Jahr später wurde sie zu Vorbereitungslehrgängen des Deutschen Schwimm-Verbandes eingeladen. Zu den Trainingsstunden kamen immer wieder Neugierige, die die Sportlerin bei ihren faszinierenden Sprüngen beobachteten. Auf einer Internetseite der Stadt Oer-Erkenschwick erinnerte sich ein Zuschauer: „Sie war eine schöne Frau: Eine durchtrainierte frauliche Figur, das Gesicht wirkte von der Seite klassisch römisch, ihre dunkeln Augen zum schwarzen Haar ließen uns von ihr schwärmen.“

1937 erreichte Olga Eckstein den dritten Platz bei den Deutschen Meisterschaften im Turmspringen. 1939 in Hamburg, 1940 in Berlin, 1941 in Wien, 1942 in Hirschberg, 1943 in Erfurt und 1947 in Frankfurt holte sie jeweils Gold bei den Deutschen Meisterschaften. In den Jahren 1944, 1945 und 1946 fanden kriegsbedingt keine Wettbewerbe statt. Bei einem Länderwettkampf zwischen England und Deutschland im Jahre 1939 konnte Olga Eckstein die amtierende Europameisterin Slade im Turmspringen schlagen.

Weitere internationale Erfolge, vor allem die Teilnahme an Olympischen Spielen, blieben ihr wegen des Zweiten Weltkrieges verwehrt. 1952 versuchte sie – vergebens – eine Qualifikation für die Olympischen Spiele in Helsinki zu erreichen. Danach gab sie ihre aktive Karriere auf, widmete sich jedoch weiterhin der Vereins- und Jugendarbeit im SV Neptun. Sie brachte in VHS-Kursen älteren Menschen das Schwimmen bei. Die Stadt Oer-Erkenschwick verlieh ihr dafür die Goldene Ehrennadel.

Olga Eckstein war im Betriebsrat der Zeche Ewald Fortsetzung als Sozialberaterin angestellt. 1954 zog sie mit dem Boxer Günter Strangfeld zusammen, den sie bereits 1942 auf dem Bahnhof in Recklinghausen kennen gelernt hatte. Erst 1995 legalisierten sie ihre „wilde Ehe“ durch einen Trauschein. Kurz nach der Heirat erkrankte Olge Eckstein an schwerem, aggressivem Darmkrebs und fünf Jahre hoffte sie, die Krankheit zu überstehen. Am 9. März 2000 starb Olga Strangfeld–Eckstein. Der Schwimmverein Neptun Erkenschwick e.V. formulierte in seinem Nachruf: „Durch ihren Sport wusste sie, wann ein Wettkampf beendet ist.“

Sarah Matern forschte so intensiv über Olga Eckstein, dass sie am Ende das Gefühl hatte, sie noch persönlich gekannt zu haben. In ihrem „Fazit“ greift sie das Wettbewerbsthema noch einmal auf und schreibt: „Ich habe während der Erarbeitung dieses Projektes gelernt, dass ein Held nicht immer viel Geld haben oder weltberühmt sein muss, um ein Held zu sein. Ein Held kann für mich persönlich auch einfach eine Person mit einer starken Persönlichkeit sein, die vieles durchhalten musste und trotzdem nicht aufgegeben hat. Meiner Meinung nach kann jeder von uns für jemanden eine Heldenperson werden. Man muss Individualität beweisen und sich in nichts hineinreden lassen.“

Uta C. Schmidt/ FRAUEN.ruhr.GESCHICHTE.

Orte:

Die Arbeit von Sarah Matern sowie Zeitungsausschnitte und Bilder zu Olga Eckstein sind im Stadtarchiv Oer–Erkenschwick einzusehen.

Literatur:

Matern, Sarah, Helden. Verehrt – Verkannt – Vergessen: Olga Hoffmann–Eckstein, unveröffentlichter Wettbewerbsbeitrag zum Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 2008/2009, [Oer–Erkenschwick], [2008/2009]. 

Zitation: Schmidt, Uta C., Olga Eckstein, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/olga-eckstein/

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Die „Radbod“-Witwen

Es war der 12. November 1908, als sich in den frühen Morgenstunden auf der Zeche Radbod in Hövel bei Hamm in 850 m Tiefe eine schwere Schlagwetter-Explosion ereignete. Trotz schnell eingeleiteter Rettungsmaßnahmen fanden 350 bzw. 351 Bergleute den Tod. Etwa 1.150 Männer verloren durch das Unglück ihren Arbeitsplatz.

Nachdem durch eines der größten deutschen Grubenunglücke viele Frauen und ihre Kinder den Ernährer verloren hatten, begann für diese ein Leidensweg, der Not und Elend mit sich brachte und viele an den Rand ihrer Existenz trieb. Betroffen waren vorrangig Witwen, aber auch Familien, deren Väter durch das Grubenunglück arbeitslos wurden.

Nach dem Stand vom 5. April 1909 hatten 235 Witwen, 626 Halbwaisen, neun Vollwaisen und neun Aszendenten (Eltern, Großeltern, Pflegekinder) einen Angehörigen bei dem Grubenunglück verloren. Die Hinterbliebenen erhielten ab dem 19. November 1908 ein Sterbegeld i.d.R. in Höhe von 80 Mark und eine kleine Hinterbliebenenrente aus der Gewerbe-Unfallversicherung. Sie durften zunächst in den gemieteten Zechenhäusern wohnen bleiben. Viele Witwen mussten nun dazu verdienen.

Eine Welle der Hilfsbereitschaft ging nach dem Unglück durch ganz Europa. Es wurden zahlreiche Hilfsaktionen durchgeführt. Das Kronprinzenpaar initiierte die „Sammlung des Kronprinzenpaares“. Kaiser Wilhelm II. bewilligte 25.000 Mark aus seiner Privatschatulle. Mit der Verteilung der Spenden wurde ein Zentralhilfskomitee beauftragt. Die im Rahmen der sogenannten Radbodspende gesammelten Gelder beliefen sich am 22. Januar 1909 auf 1.574.669 Mark. Hieraus gewährte das Zentralhilfskomitee in Münster Zusatzrenten in Höhe von 150 Mark pro Witwe, 75 Mark für jede Halbwaise und 150 Mark für jede Vollwaise.

Die Meldungen in den Zeitungen erweckten immer wieder Hoffnung auf rasche Unterstützung bei den Hinterbliebenen. Nachdem bis Ende 1908 zwar immer wieder die Verteilung der Spendengelder in den Komitees angesprochen wurde, aber keine konkreten Informationen bekannt wurden, kam es am 8. Januar 1909 zu einer ersten Protestversammlung der „Witwen von Radbod“ in Hamm. Emma Osterwinter übernahm den Vorsitz der Versammlung. „Die Witwen wünschten, endlich einmal zu hören, wie und wann das Geld, das lediglich für sie und ihre Kinder gesammelt wurde, verteilt werden soll.“ Sie forderten die direkte Verteilung der gesammelten Gelder. Die Witwen verfassten eine Resolution, in der es u.a. heißt: „Zirka 200 Frauen und Mütter, deren Ernährer auf Zeche \Radbod\ zu Tode gekommen sind, verwahren sich dagegen, dass das Zentral-Hilfs-Komitee, welches ausschließlich aus … Personen besteht, die von der Lage der Arbeiter und deren Frauen gar keine Ahnung haben, uns zumutet, die von der Oeffentlichkeit für uns gespendeten Gelder nicht verwalten zu können. Es ist eine Rohheit, die seinesgleichen sucht, dass man das, nachdem unsere Ernährer auf dem Schlachtfelde der Industrie zu Hunderten dahingemordet, uns auch noch solche Beleidigungen ins Gesicht zu sagen wagt, wie – ‚wenn ihr das Geld auf einmal bekommt, bringt ihr euch ja um\.“

Weiter wurde von den Witwen ausgeführt: „Die Kleidungsstücke usw., welche man von den gesammelten Geldern gekauft und uns für uns und unsere Kinder gegeben, hätten wir, wenn wir das Geld dafür bekommen, bedeutend vorteilhafter kaufen können. Wir haben auf dem Rathause und im Lutherhause Sachen bekommen, die von den Motten derartig zerfressen waren, dass man sie keine drei Tage anziehen konnte. Man hat sich nicht einmal gescheut uns zu sagen, – \und was wollen Sie denn, Sie sind doch so jung, Sie können doch bald wieder heiraten.\“

Im März 1909 reichten sechs Witwen – Franziska Maly, Franziska Dora und Amalie Krawanja aus Hövel, Theodora Spirat aus Bockum, Franziska Waterkotte und Emma Osterwinter aus Hamm – eine Zivilklage gegen die Mitglieder des Lokalkomitees in Hamm ein. In der Klageschrift wurde beantragt, einen Teil der Spenden anteilig zu verteilen und den Rest für Renten zu verwenden, die so gestaltet sind, dass nach Ablauf der vermutlichen Lebensdauer der Hinterbliebenen das gesammelte Kapital aufgezehrt ist.

Auf Grund dieser Klage forderte das Hammer Lokalkomitee „dass alle Leistungen aus der Spende an die Klägerinnen und diejenigen Witwen, welche sich nicht ausdrücklich mit den vom Zentralkomitee aufgestellten und vom Lokalkomitee angenommenen Verteilungsgrundsätzen einverstanden erklären, bis auf weiteres eingestellt werden.“

Während des Prozesses veranlasste die Zechendirektion am 23. April 1909 folgende Pressemeldung: „Aus der Kolonie Radbod u.a., es sei interessant zu hören, dass sich die ruhiger denkenden, besonneren Witwen der Kolonie durch das agitatorische Vorgehen der Frauen Dora und Karawanja derartig abgestoßen fühlten, dass sie der Direktion mit der Bitte nähergetreten seien, man möge beiden Witwen kündigen, da andernfalls keine Ruhe in die Kolonie wieder einziehen könne. Nach der Ruhe aber sehne man sich endlich. Dieser Protest der besonnenen Witwen lasse erkennen, dass der ganze Prozeß, der die Begriffe Wohltätigkeit und Dankbarkeit jedem menschlichen Empfinden zum Trotz auf den Kopf stelle, von der Mehrheit der Witwen nicht gutgeheißen werde. Die Direktion der Zeche habe dem geäußerten Wunsche entsprochen und den beiden genannten Witwen die Wohnung gekündigt.“ Ob tatsächlich Witwen aus der Kolonie bei der Zechenverwaltung vorgesprochen haben, ist nicht nachzuweisen.

Am 1. Mai 1909 zogen die Initiatorinnen der Klage, die in der Kolonie Radbod wohnten,„in auffälliger Aufputzung von der Kolonie zur Stadt Hamm. Die Witwen trugen schwarze Trauerkleidung und Hüte mit wehendem Flor, dazu auf der linken Brustseite eine kreuzweise verschlungene kleine rote Schleife, während sie um die Taille eine 2 m lange und 20 cm breite Schleife von rotem Tuch geschlungen hatten. In Hamm wurden sie der Polizeiverwaltung zugeführt, wo die Schleifen beschlagnahmt wurden.

Die Klage der „Radbod-Witwen“ auf Auszahlung der eingegangenen Spendengelder wurde am 13. Mai 1909 vor der Zivilkammer des Landgerichts Dortmund abgewiesen. Wegen ihrer Demonstration am 1. Mai 1909 wurden die Witwen vom Amtsgericht Hamm „wegen Verübung groben Unfugs mit je 25 Mark ev. 5 Tagen Haft bestraft.“

Eine der klagenden Witwen war Franziska Dora. Sie wurde 1879 in Ueckendorf geboren und lebte seit dem 5. Oktober 1908 mit ihrem Mann Adolf und ihren sieben Kindern in Hövel. Ihr Mann starb bei dem Grubenunglück. Aufgrund einer Zwangsvollstreckungssache kam es zu einer Räumungsklage, die am 21. Mai 1909 vollstreckt wurde. Dabei wurde sie des Meineides verdächtigt und verhaftet. Ihre Kinder im Alter von vier Monaten bis 14 Jahren kamen in das katholische Waisenhaus Vorsterhausen in Hamm. Ihr ältester Sohn August floh und fand eine Bleibe bei August Ruppel im Hammer Norden, wo auch seine Mutter nach ihrer Haftentlassung einige Zeit lebte. Nach der Quellenlage durfte Franziska Dora ihre sechs jüngeren Kinder nicht mehr bei sich aufnehmen.

Als in den 1920er Jahren die Zusatzrenten aus dem Spendenfonds ausblieben und sich die gesetzliche Hinterbliebenenrente kaum veränderte, wuchs die Not. So bat die Witwe Hedwig Walensiak in Nychy um zusätzliche Unterstützung. Sie schrieb im Oktober 1924: „Mein Ehemann ist verunglückte in der Zeche Radbod und hat mich und ein Kind unter einem Jahre in ein großes Unglück gestürzt, denn unser Brotgeber und Versorger ist tot. Die Knappschafts-Berufsgenossenschaft … hat uns eine monatliche Rente um 27,55 Mark festgesetzt. Gegen diesen Bescheid habe ich Protest erhoben und geltend gemacht, daß ich bei 1,81 Mark täglichem Einkommen doch nicht mit dem Kinde bei den hiesigen teuren Zeiten durchkommen kann, da ich noch 42 Mark Wohnungsmiete zahlen muß.“

Im Dezember 1929 wandten sich einige der Radbod-Witwen in einem gemeinsamen Brief nochmals an die Verwaltung der Radbod-Spende in Münster: „Da wir seid Jahren nichts mehr von dieser Spende gesehen haben sind wir doch begierig zu wissen was mit diesem Gelde gemacht worden ist. Wie Ihnen bekannt sein dürfte ist damals von einigen Radbod-Witwen ein Versuch gemacht worden das ganze Geld ausbezahlt zu bekommen es ist Ihnen gesagt worden wir sollten auf unsere alte Tage was haben was haben wir jetzt Hunger und Elend aus allen Winkeln deshalb wäre es sehr angebracht wenn uns die Herren mit ein anständiges Weihnachtsgabe beschenken wollen. Das Geld ist und kann nicht alle sein es sind uns doch nur immer die Zinsen ausbezahlt worden. Und verfallen ist es auch nicht das lass ich mir nicht mehr vormachen da ist auf alle Fälle mit gearbeitet worden und wir müssen jetzt hungern und darben dafür. Das Geld war doch für Witwen und Waisen gespendet da hatte nimand ein Recht ohne unser Wissen und Willen mit dem Gelde zu arbeiten oder es verfallen zu lassen, deshalb müssen wir darauf dringen das wir von dem Gelde mal endlich was in die Finger bekommen wir haben die Jahre grade genug Elend gehabt.“

Der Vorstand der Radbod-Spende aber stellte alle Zahlungen ein, ohne die Empfänger aktiv zu informieren. Er reagierte nur noch auf Anfragen und Anträge. Als Begründung wurde angegeben, dass infolge der Inflation kein Geld mehr in der Stiftung „Radbodspende“ vorhanden sei. Nach einer Aufwertung von Vermögenspapieren war es möglich, kleinere Restsummen an die Hinterbliebenen auszuzahlen. Im Dezember 1932 erhielten sie aus der „Radbodspende“ den Betrag von 31,72 RM als Schlusszahlung.

Ute Knopp/ Stadtarchiv Hamm

Orte:

Ehrenfriedhof Bockum-Hövel, Ermelinghofstraße/ Fritz-von-Twickel-Weg, 59075 Hamm

Zitation: Knopp, Ute, Die "Radbod"-Witwen, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/die-radbod-witwen/

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Gerta Overbeck

Gerta Overbeck wurde 1898 in eine großbürgerliche Dortmunder Familie hineingeboren, die eine künstlerische Atmosphäre pflegte und die musischen Neigungen ihrer Kinder förderte. Ihre Mutter Hedwig war die Tochter des Oberbürgermeisters Schmieding, ihr Vater Julius entstammte einer im Brauwesen erfolgreichen Familie. Um 1900 zog die Familie nach Selm-Cappenberg, wo bereits der Großvater ein Haus als ländliches Refugium hatte erbauen lassen. Gerta Overbeck verbrachte dort den Großteil ihrer Kindheit und Jugend.

Nach dem Abitur studierte sie von 1915 bis 1918 am Zeichenlehrerseminar der Kunstgewerbeschule Düsseldorf und schloss die Ausbildung mit dem Examen ab. Elementares Zeichnen war seit 1872 in Preußen obligatorisches Unterrichtsfach und der Bedarf an guten Zeichenlehrern wuchs. Die Ausbildung bot auch Frauen eine berufliche Perspektive. Nach dem Examen absolvierte Gerta Overbeck zunächst ein Probejahr als Zeichenlehrerin am Goethe-Lyzeum in Dortmund. Im Herbst 1919 schrieb sie sich jedoch an der Kunstgewerbeschule in Hannover ein, um sich künstlerisch weiterzuentwickeln. Dafür erhielt sie insbesondere in der Grafikklasse von Fritz Burger-Mühlfeld (1882–1969) entscheidende Impulse.

Fritz Burger-Mühlfeld lehrte die Gestaltungsprinzipien abstrakter Komposition im Zusammenspiel mit figürlicher Bildgestaltung. Ihm ging es weniger um die Nachahmung der Wirklichkeit als vielmehr um Konstruktionen von Wirklichkeit. „Ich selbst hatte mein Zeichenlehrerexamen in Düsseldorf gemacht und sehnte mich nach künstlerischer Ausbildung. Burger-Mühlfeld war ein äußerst anregender Künstler und Lehrer. Bei ihm konnte ich die Köpfe und Töpfe, die Schmetterlinge, Eichenblätter und Zigarrenkisten, überhaupt die ganze Perspektive vergessen, die man mir in Düsseldorf auf dem Seminar beigebracht hatte“, erinnerte sich Gerta Overbeck später. Gemeinsam mit Studienkollegen und -kolleginnen suchte sie Bildthemen und Sujets im Alltag, bei den kleinen Leuten und ihren Nöten. Im Mittelpunkt ihres malerischen Interesses standen der Mensch und die Komposition. Gestalterisch verband sie in ihren frühen Arbeiten expressionistische, konstruktivistische wie auch kubistische Stilelemente.

Mit voranschreitender Inflation musste Gerta Overbeck aus materieller Not das Studium 1922 aufgeben. Sie ging zurück nach Dortmund und unterrichtete bis 1931 als Kunsterzieherin an verschiedenen Lyceen. Ihre engen, freundschaftlichen Bindungen in Hannover, insbesondere zu den Künstlern Grethe Jürgens (1899–1981) und Ernst Thoms (1896–1983), blieben jedoch bestehen: „In Dortmund wohnte ich, in Hannover war ich beheimatet.“ In ihrer unterrichtsfreien Zeit zeichnete und malte sie intensiv weiter. Zu den Milieustudien und Genreszenen kamen Baustellen- und Industrieansichten mit Zechen, Halden, Hochöfen und Stahlwerken. In Bildern wie „Stahlwerk“ (1925), „Industrielandschaft“ (1927) oder „Dortmunder Norden“ (um 1932/33) verbildlichte Gerta Overbeck die industrielle Arbeitswelt des Ruhrgebiets eindrücklich. In Werken wie „Im Café“ (1923), „Jazzkapelle“ (1925), „Sechtagerennen“ (1926) oder „Im Kino“ (1927) gab sie vielschichtige Einblicke in die gesellschaftlichen Entwicklungen der Weimarer Republik. Die Gouache „Im Cafe“ beispielsweise zeigt eine Frau ohne Begleitung in einem Kaffeehaus, heute ein Topos der selbstbewussten und unabhängigen Neuen Frau der Zwanziger Jahre. Sie ist zudem interessant, da bisher dieses Bildthema in der Malerei erst ab 1925 nachgewiesen werden konnte. Gerta Overbeck griff es aber schon 1923 auf – vor Otto Dix oder Ernst Thoms. Künstlerinnen wie sie verkörperten selbst den neuen Frauentyp, den sie in ihren Bildern immer wieder thematisieren und in seinen vielschichtigen Beziehungen zur Moderne reflektierten.

Nach neunjähriger Lehrtätigkeit entschloss sich Gerta Overbeck 1931 – trotz Weltwirtschaftskrise – als freie Künstlerin zu arbeiten und ging zurück nach Hannover. Sie arbeitete an der von Grethe Jürgens herausgegebenen Kunstzeitschrift „Der Wachsbogen“ mit und nahm an einer Reihe von Ausstellungen teil, wie etwa an der großen Sonderausstellung „Die Neue Sachlichkeit in Hannover“, wo sie mit der hohen Anzahl von 17 Arbeiten vertreten war. Das Jahr 1933 bildete zunächst keine Zäsur, die Hannoverschen Neusachlichen unterlagen keinem direkten Ausstellungsverbot. Die sich bis 1937 verfestigende NS-Kunstpolitik zwang sie jedoch zunehmend zu harmloseren Sujets und unverfänglichen Themen.

1937 brachte Gerta Overbeck ihre Tochter Frauke zur Welt und heiratete kurz darauf den Vater des Kindes, den Schriftsteller Gustav Schenk (1905–1969). Die Ehe bestand bis 1940. Noch 1937 verließ Gerta Overbeck Hannover und ging für mehrere Monate nach Worpswede. Anschließend kehrte sie zusammen mit ihrer Tochter ins Elternhaus nach Selm-Cappenberg zurück.
Ein für sie schwieriges, eher zurückgezogenes Leben begann. Von ihrer Kunst konnte sie nur sehr bescheiden leben. Sie leitete Zeichen- und Malkurse an der Volkshochschule in Lünen. Künstlerisch blieb sie der realistischen Bildsprache verbunden. Die Menschen und die Umgebung ihres Wohnortes standen nun im Mittelpunkt ihres Interesses. Außerdem setzte sie sich mit religiösen Themen auseinander. Zudem experimentierte sie mit weiteren künstlerischen Techniken wie etwa der Glasmalerei. Von 1958 bis 1961 besuchte sie die Klasse für Glasmalerei an der Werkkunstschule in Braunschweig.

Als in den sechziger Jahren die Neue Sachlichkeit wiederentdeckt wurde, rückte auch Gerta Overbeck in den Focus der kunsthistorischen Aufarbeitung. Sie erfuhr endlich die verdiente Anerkennung und Würdigung. Am 2. März 1977 starb Gerta Overbeck in Lünen.

Werke von ihr befinden sich im Sprengel Museum in Hannover, im Museum der Stadt Lünen und im Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Stadt Dortmund. Viele aber auch in privaten Sammlungen. In den Städten Hannover, Lünen, Selm-Cappenberg und Wolfsburg sind Straßen nach ihr benann

Olge Dommer / LWL-Industriemuseum

Orte:

Werke von Gerta Overbeck im Museum der Stadt Lünen, Schwansbeller Weg 32, 44532 Lünen
Werke von Gerta Overbeck in der Sammlung und in der ständigen Ausstellung „Die Neue Stadt“ im Museum für Kunst- und Kulturgeschichte, Hansastraße 3, 44137 Dortmund
Gerta Overbeck Straßen in den Städten Lünen und Selm-Cappenberg sowie Hannover und Wolfsburg

Literatur:

Almus, Georg (Autor), FORUM KUNST, Kunstverein Lünen, Gerta Overbeck - Lünen/ Selm - Gerta Overbeck, Veröffentlichungen zu Kunst- und Kulturschaffenden, Kunst- und Kulturförderern des Raumes Lünen, mit Texten von Frauke Schenk, MArie-Luise Huster, Fotos von Anneliese Kretschmer, Lünen 2012.
Dommer, Olge:„Und sehnte mich nach künstlerischer Ausbildung“. Zum Leben und Werk von Gerta Overbeck (1898-1977), in: Heimat Dortmund, 1/ 2008, S. 14–17.
Fuhrmeister, Christian (Hg.),„Der stärkste Ausdruck unserer Tage“, Neue Sachlichkeit in Hannover, Ausstellungskatalog Sprengel Museum Hannover, Hildesheim 2001.
Lehnemann, Wingolf, Gerta Overbeck, Informationen aus dem Museum der Stadt Lünen, Nr. 26, Lünen 2002.
Mensch und Menschenwerk im Blick der Verschollenen Generation. Ausgewählte Werke der Sammlung Brabant, Ausstellungskatalog Schloss Cappenberg, hg. v. Kreis Unna/ Thomas Hengstenberg, Bönen 2006.
Reinhardt, Hildegard: Gerta Overbeck (1898–1977), in: Britta Jürgs: (Hg.): Leider hab ich‚Äôs Fliegen ganz verlernt. Portraits von Künstlerinnen und Schriftstellerinnen der Neuen Sachlichkeit, Berlin 2000, S. 124–139.
Zielke, Sigrid: Mit Cappenberg eng verbunden. Gerta Overbeck-Schenk und die Neue Sachlickeit, in: Jahrbuch des Kreises Unna 2010, Band 31, hg. v. Kreis Unna/ Der Landrat, S. 80–84.

Zitation: Dommer, Olge, Gerta Overbeck, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/gerta-overbeck/

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Erna David

Erna David wurde 1904 in Dortmund-Kley als Tochter des Bergmanns Hermann David geboren. Sie besuchte die Volksschule im nahen Eichlinghofen und verließ diese mit 14 Jahren nach den üblichen acht Schuljahren im Frühjahr 1918. Im selben Jahr schloss sie sich der Arbeiterjugendbewegung an. Nach dem Ersten Weltkrieg expandierte der Dienstleistungsbereich, und immer mehr Frauen fanden in dieser Branche Beschäftigung. Auch Erna David erhielt in Dortmund eine Anstellung als Kontoristin bei einer Buchdruckerei, bei der sie einfache Büroarbeiten erledigte. Nach drei Jahren verließ sie den Betrieb auf eigenen Wunsch, um sich 1924 sozialdemokratischen Organisationsarbeiten zuzuwenden, für die sie sich autodidaktisch und durch Kurse vorbereitet hatte.

Im Sozialdemokratischen Verein für den Wahlkreis Dortmund-Hörde war Erna David als Hilfssekretärin tätig, verließ aber auch diese Stellung nach einem Jahr, um sich, mit 21 Jahren mittlerweile volljährig, in Wohlau (Niederschlesien) zur Krankenschwester ausbilden zu lassen. Dass sie für die Ausbildung nach Schlesien ging und nicht in Dortmund blieb, könnte mit der generell in dieser Zeit einsetzenden Abwanderungsbewegung zusammenhängen. Viele verließen das Ruhrgebiet, da es u.a. durch den passiven Widerstand während der Ruhrbesetzung durch die Franzosen im Jahr 1923 zu einer hohen Erwerbslosigkeit gekommen war. Auch die sich abzeichnende Krise im Ruhrkohlenbergbau mit Zechenschließungen und Massenentlassungen sowie die extreme Wohnungsnot veranlasste zahlreiche Menschen, dem Revier den Rücken zu kehren. 1927 legte Erna David in Wohlau das staatliche Examen zur Krankenpflegerin ab.

Von Schlesien verschlug es Erna David nach Berlin, wo sie zunächst als Krankenschwester in Neukölln arbeitete und ab Oktober 1929 für zwei Jahre die Wohlfahrtsschule der Arbeiterwohlfahrt (AWO) besuchte. Dieser Verband war im Dezember 1919 von Marie Juchacz, eine von 37 Frauen in der Weimarer Nationalversammlung (und die erste weiblich Rednerin im Parlament) gegründet worden. Während ihrer Zeit bei der Wohlfahrtsschule war Erna David als Geschäftsführerin der Abteilung Lotterie im Büro des Bezirksausschusses der AWO Berlin tätig. Im September 1931 legte sie ihre staatliche Abschlussprüfung als Wohlfahrtspflegerin mit dem Hauptfach Gesundheitsfürsorge ab. Um die staatliche Anerkennung als Wohlfahrtspflegerin zu erlangen, musste sie eine einjährige praktische Tätigkeit in hauptamtlicher wohlfahrtspflegerischer Arbeit nachweisen. Zur Jahreswende 1931/32, als sich die verheerenden sozialen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auch in der Reichshauptstadt weiter verschärft hatten, übernahm Erna David die Leitung der Bezirkswinterhilfe in Neukölln.

Im Januar 1933, eine Woche vor der Machtübernahme durch Adolf Hitler und die NSDAP, reichte sie schließlich den Antrag auf die Erteilung der staatlichen Anerkennung als Wohlfahrtspflegerin ein. Bereits im Februar wurde dieser Antrag zurückgewiesen, da die von ihr bisher ausgeübten Tätigkeiten „nicht auf einem umfassenden Gebiet der Gesundheitsfürsorge“ gelegen, sondern „vielmehr vorwiegend der wirtschaftlichen Betreuung hilfsbedürftiger Personen“ gedient hätten. Um die staatliche Anerkennung dennoch zu erlangen, musste sich Erna David in Form eines Aufnahmeantrags an den Reichsminister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung wenden. Dieser genehmigte dann drei Jahre (!) später im Frühsommer 1936 die staatliche Anerkennung als Volkspflegerin (Sozialarbeiterin).

Während der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Behörde, wurde Erna David, die zu dieser Zeit als Angestellte in der öffentlichen Verwaltung im Bezirksamt Neukölln arbeitete, im März 1933 im Zuge der unverhohlen als „Säuberung“ bezeichneten Entlassung „nichtarischer“ bzw. nicht regimetreuer Personen des öffentlichen Lebens von der Stadt Berlin gekündigt. Im Kündigungsschreiben war von „Rücksicht auf den von der Reichsregierung vertretenen Standpunkt, dass Fremdständige in der öffentlichen Verwaltung nicht zu beschäftigen sind“, die Rede. Die Nationalsozialisten hatten vermutlich hinter dem für sie alarmierend klingenden Nachnamen eine Person jüdischer Herkunft vermutet. Doch dieser Irrtum schien sich bald aufgeklärt zu haben, denn es ist überliefert, dass Erna David von 1932-1945 beim Gesundheitsamt Neukölln als Fürsorgerin beschäftigt war.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zog es die inzwischen 42-jährige Erna David zurück ins Ruhrgebiet. Sie wollte in ihrer Heimatstadt Dortmund arbeiten, wo in den ersten Nachkriegsjahren – ebenso wie im übrigen Deutschland – die Bevölkerung um ihr Überleben kämpfen musste. Erna David engagierte sich beim Wiederaufbau der AWO in der stark zerstörten Ruhrgebietsstadt. Von 1946 bis 1967 war sie geschäftsführende Vorsitzende des dortigen Bezirksausschusses Westfalen-West der AWO, einer der ersten im Nachkriegsdeutschland. In den darauf folgenden zwei Jahren war sie Geschäftsführerin des Kreisverbandes der Wohlfahrtseinrichtung in ihrer Heimatstadt. Im Frühjahr 1969 wurde Erna David pensioniert, blieb jedoch Ehrenmitglied des Vorstandes des Kreisverbandes der AWO in Dortmund. 1979 erhielt Erna David die Marie-Juchacz-Plakette. Diese höchste Auszeichnung der Arbeiterwohlfahrt und wird an die Mitglieder verliehen, die besonderes Engagement für den Verein gezeigt haben und politisch für die Belange der AWO einstanden. Zehn Jahre später konnte die inzwischen 85-jährige Erna David noch miterleben, wie ein AWO-Seniorenzentrum in Dortmund-Brünninghausen nach ihr benannt wurde. Erna David starb drei Jahre später am 19. Mai 1992 in Dortmund.

Die bisher eher unbekannte Erna David hatte sich zeitlebens der Fürsorge ihrer Mitmenschen verschrieben. Sie ging selbstbewusst ihren Weg im Ruhrgebiet in den ersten Jahren der Weimarer Republik, bekam die Schikanen und den Terror des Hitler-Regimes während ihrer Zeit in der Reichshauptstadt Berlin unmittelbar zu spüren und half nach 1945, ihre Heimatstadt Dortmund wieder aufzubauen. Erna David ist nicht nur mit dem Wiederaufbau der Arbeiterwohlfahrt nach 1945 in Dortmund, sondern auch mit dem Sozialwesen ihrer Heimatstadt insgesamt eng verbunden.

Nadine Kruppa / Bochum

Orte:

Erna-David-Seniorenzentrum, Mergelteichstraße 27-35, 44225 Dortmund

Zitation: Kruppa, Nadine, Erna David, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/erna-david/

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Rebecca Hanf

Rebecca Hanf engagierte sich in Witten jahrzehntelang für die Stadtgesellschaft. Am Ende ihres Lebens wurde sie Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Paris, 2. August 1946: Der Philosoph und Schriftsteller Salomo Friedländer (1871-1946), bekannt unter dem Pseudonym „Mynona“ (rückwärts gelesen „anonym“), schrieb kurz vor seinem Tod an Dr. E. Löwenstein: „Besten Dank für Ihren Brief vom 29. VII. Er mutet mich an wie eine Ueberbrückung der schauerlichen Kluft des Verschwindens der verehrungswürdigen Frau Hanf, deren letzte Sorge Kant war. – Mein fast 30jähriger mündlicher und schriftlicher Verkehr mit Ernst Marcus ist die größte Begnadung meines Lebens, und ich verdanke Marcus auch die Bekanntschaft mit Frau Hanf, auf deren Urteil er immer großen Wert legte …“.

Rebecca Hanf, geboren am 20. Februar 1863 in Iserlohn, stammte aus der seit 1648 in Westfalen ansässigen jüdischen Familie Löwenstein-Porta. Im Alter von 22 Jahren heiratete sie den Wittener Bankier Moritz Hanf und zog in das Haus ihrer Schwiegereltern nach Witten bis zur Fertigstellung der 1903 im Parkweg 14 (ehemals Johannisweg 12) erbauten „Villa Hanf“. Als Mutter von sechs Kindern (zwei weitere Kinder starben im Säuglingsalter) widmete sie sich zunächst der Haus- und Familienarbeit. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts engagierte sich Rebecca Hanf in Witten als Kunst- und Kulturförderin, als bürgerliche Frauenrechtlerin und in der ehrenamtlichen Fürsorgearbeit. Sie war beispielsweise Mitinitiatorin und Mitarbeiterin der 1906 in der Stadt gegründeten Rechtsschutzstelle für Frauen und Mädchen und der Berufsberatungsstelle des überkonfessionellen und bürgerlichen Vereins Frauenwohl in Witten. Sie gründete und leitete den Fachverein der Schneiderinnen und wurde beauftragte Vertreterin dieser Berufsgruppe in der Handwerkskammer Dortmund zu einer Zeit, in der es noch kein Frauenwahlrecht gab. Als langjährige Vorsitzende des 1865 gegründeten Jüdischen Frauenvereins und 2. Vorsitzende des 1902 gegründeten Vereins Frauenwohl leistete sie während des Ersten Weltkriegs aktive Nachbarschaftshilfe. Rebecca Hanf schrieb auch gelegentlich Artikel für das Wittener Tageblatt, das sie selbst als „Käseblatt“ bezeichnete, und für regionale und überregionale Mitteilungsblätter der bürgerlichen Frauenbewegung. Die Musikliebhaberin – sie spielte Klavier – und an Literatur und Philosophie hoch Interessierte lud regelmäßig zu Lesestunden und Musikabenden in die Villa im Parkweg ein.

1904 lernte Rebecca Hanf den in Essen lebenden Juristen und Philosophen Ernst Marcus kennen, der sich für einen „Wiederentdecker und restlosen Versteher Kants“ hielt. Mit Bertha Marcus geborene Auerbach, die u. a. im Vorstand des Vereins Frauenwohl in Essen tätig und mit Ernst Marcus verheiratet war, diskutierte Rebecca Hanf frauenrechtliche Fragen. Mit ihm verband sie eine innige intellektuelle Freundschaft, die in Korrespondenzen und Gesprächen über die Ideen Immanuel Kants und in den zahlreichen Publikationen von Ernst Marcus, die sie redigierte und für die sie öffentlich warb, zum Ausdruck kam. Kant und die Ideen der Aufklärung erfuhren um 1900 eine intensive Rezeption auf der Suche nach neuen Bezugspunkten für Individuen und Gesellschaftsordnungen. Ihren Artikel Aus den Tiefen des Erkennens, erschienen in der Frankfurter Zeitung vom 6. Juni 1926, leitete Rebecca Hanf mit den Sätzen ein: „Zweifellos herrscht heute ein starkes Bedürfnis nach geistiger Führung. Man sucht bei Chinesen, Indern, Griechen nach Weisheit. Warum nicht bei dem großen deutschen Denker, der uns zeitlich und sprachlich so viel näher steht, dessen Name auch im Weltruhm strahlt – bei Kant?“

Bis Ende der 1930er Jahre wurde Kants Werk auch von Witten aus in Briefwechseln mit namhaften Schriftstellern und Philosophen im In- und Ausland diskutiert. Salomo Friedländer beispielsweise zählte zu Rebecca Hanfs regelmäßigen Korrespondenzpartnern. Sie unterstützte ihn finanziell in seinem Exil in Frankreich, wohin er unter dem Verfolgungsdruck der Nationalsozialisten geflohen war.

In der so genannten Reichskristallnacht vom 9. auf den 10. November 1938 konnten sich die Eheleute Hanf vor den brutalen Angriffen der Nazis im Keller ihres Hauses verstecken. Zwei Monate später gelang ihnen die Flucht zu Verwandten in die Niederlande, wo Moritz Hanf im Mai 1943 in Hilversum verstarb. Wenige Wochen vor seinem Tod äußert sich Rebecca Hanf in einem Brief an Friedländer zu den Ereignissen der Reichspogromnacht: „… Haus und Hausrat war unbewohnbar und unbenutzbar gemacht worden, wir selber, wir beiden Alten, körperlich verschont geblieben, aber die Nerven! Und dem Sohn hat man arg mitgespielt. Ich hatte schon geglaubt, dass ich, wenn wir erst ausser Landes wären, unsere Erlebnisse erzählen könnte, etwa schriftlich, aber auch dazu reichts noch nicht. Stellen Sie sich nur vor, dass ich mir den Höllenlärm der Nacht überhaupt nicht mehr zurückrufen konnte, ich hatte mir eben keinen Begriff davon machen können, und so ist es auch heute nur der Anblick des verwüsteten Hauses, den ich zurückrufen kann – das Ohr hat den lebendigen Eindruck nicht aufgenommen. – Wie recht taten doch diejenigen, die [vor] dem Vaterland den Rücken kehrten! Wir glaubten, man würde uns Alten die 6 Bretter und das Plätzchen in der Erde gönnen! Sogar den nicht mehr in Gebrauch befindlichen Friedhof, auf dem die Eltern meines Mannes ruhen, hat man verwüstet …“

Am 10. Juni 1943 wurde Rebecca Hanf im Alter von 80 Jahren in das Sammellager Westerbork verschleppt. Aus der dortigen Krankenbaracke bat sie per Postkarten und gelegentlichen Briefen ihre Verwandtschaft um die Zusendung von Büchern Kants und Marcus, um sich und anderen Frauen „die Nerven zu stärken.“ Robert Marcus, der Schwiegersohn von Rebecca Hanf, schrieb am 2. Oktober 1976 aus Herzlia, Israel, an das Leo-Baeck-Institute in New York: „Details bzgl. Frau Rebecca Hanf, die vom Archiv erbeten wurden, wurden mir von deren Sohn, meinem Schwager, übersandt … Man mag vielleicht hinzufügen, dass man Frau Hanf gestattete, ihr Handexemplar von Kants Kritik der reinen Vernunft mit in die gas-chambers zu nehmen …“
Dies ist die „schauerliche Kluft des Verschwindens der verehrungswürdigen Frau Hanf …“, die nach dem Ersten Weltkrieg gehofft hatte, die Zeit des Völkermordes könne überwunden werden: Sie wurde am 25. Januar 1944 im Alter von 80 Jahren von Westerbork in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort nach ihrer Ankunft am 27. Januar zusammen mit 688 Deportierten in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau ermordet.

Dr. Martina Kliner-Fruck/ Stadtarchiv Witten

Orte:

Rebecca-Hanf-Straße, 58454 Witten
Parkweg 14, 58452 Witten
Stadtarchiv Witten, Ruhrstraße 69, 58452 Witten, stadtarchiv@stadt-witten.de

Literatur:

Martina Kliner-Fruck, Villa Hanf: „Leise hoffe ich, daß meine philosophischen Dinge erhalten bleiben ...“ Nachruf auf Rebecca Hanf, in: Wittener Frauengeschichte(n): Dokumentation einer Stadtrundfahrt, 2. verb. Aufl., Witten 1992, S. 36-38. (erhältlich über das Stadtarchiv Witten)

Zitation: Kliner-Fruck, Martina, Rebecca Hanf, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/rebecca-hanf/

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Christa Kleinhans

Christa Kleinhans gehört zu den Pionierinnen des Frauenfußballs in Deutschland. Etwa 150 Länderspiele hat sie in der Nationalelf in den 50er und 60er Jahren bestritten. Zu einer Zeit, als den Frauen das Fußballspielen in Deutschland offiziell verboten war.

Ihr erstes Fußballtrikot hat Christa Kleinhans noch abgestottert. Das war Mitte der 50er Jahre, als sie bei der Post in die Lehre ging. Doch durch nichts hätte sich die sportliche junge Frau davon abhalten lassen, Fußball zu spielen. Denn Mitte der 50er Jahre wird endlich wahr, wovon sie schon von klein auf träumte.

Aufgewachsen ist Christa Kleinhans im Dortmunder Stadtteil Hörde im Schatten des Stahlwerks Hermannshütte. Schon als Kind mischte sie bei den Jungs fußballerisch kräftig mit: „Und wie das damals so war spielte eine Straßenecke gegen die andere Straßenecke. Und da war ich als einziges Mädchen zwischen den Jungs. Und war eigentlich ganz gut.“ Ungewöhnlich für die damalige Zeit: Auch die Eltern lassen die kleine Christa gewähren.

Doch an eine Karriere als Fußballerin ist erst einmal nicht zu denken. Das Deutschland der Nachkriegsjahre ist aus weiblicher Sicht fußballerisches Niemandsland. Christa Kleinhans wird Leichtathletin. Anfang der 50er Jahre einmal sogar westdeutsche Meisterin in der 4×100 Meter-Staffel ihres damaligen Vereins OSV Hörde.

Nach dem „Wunder von Bern“ 1954 ist ganz Deutschland im Fußballfieber. Auch die Frauen wollen endlich Fußball spielen. Vor allem im Ruhrgebiet gründen sich Damenfußballvereine. Das ruft den Deutschen Fußball-Bund auf den Plan. Im Sommer 1955 verbietet er den Damen das Kicken. Angeblich sei der harte Männersport nichts für das vermeintlich schwache Geschlecht. Den Fußball begeisterten Frauen ist das herzlich egal. Schon 1956 gibt es zwei Damenfußballvereine in Dortmund: Grün-Weiß und Fortuna. Als Christa Kleinhans dies erfährt, hängt sie sofort ihre Laufschuhe an den Nagel: „Man war ja wirklich manchmal wie von Sinnen, mein Gott noch Mal, ein Kindheitstraum wird wahr.“ Damals habe sie ein unbeschreibliches Glücksgefühl empfunden. Endlich Fußballspielen – trotz Verbots. „Wir spielten Fußball und damit war für uns die Sache erledigt. Wir haben uns durch nichts aufhalten lassen.“

Christa Kleinhans wird Mitglied bei Grün-Weiß Dortmund und dann schnell vom Konkurrenten Fortuna abgeworben. Sie wird die Nummer 7 im Team, Rechtsaußen mit „einem Drang zum Tor“, wie sich ihre damalige Mannschaftskameradin Anne Droste erinnert. 1957 dann ihr erstes Fußballländerspiel gegen Westholland im Münchener Dantestadion. Die deutsche Frauen-Nationalelf gewinnt vor 18.000 Zuschauern das Spiel mit 4:2. Für Christa Kleinhans bis heute ein unvergessliches Erlebnis.

Von 1958 an wird der Frauenfußball professioneller organisiert. Josef Floritz, Ex-Trainer von Borussia Neunkirchen gründet mit anderen die Deutsche-Damen-Fußballvereinigung und kümmert sich von nun an um die Fußballländerspiele. Doch nicht immer kriegen die berufstätigen Frauen dafür auch frei. Die meisten Arbeitgeber ahnen nichts von der Fußballbegeisterung ihrer Mitarbeiterinnen. „Und dann wurde natürlich gelogen, was das Zeug hielt“, erinnert sich Christa Kleinhans. Man habe die Omas wieder und wieder sterben lassen. Oder man war regelmäßig am Wochenende krank.

Trikots und Schuhe muss Christa Kleinhans selber bezahlen. Und das bei einem mageren Lehrlingsgehalt von anfangs rund 45 Mark. Auch die Trainingsbedingungen sind alles andere als ideal. Sportvereine dürfen den Frauen ihre Plätze wegen des DFB – Verbots nicht zur Verfügung stellen. Man droht ihnen ansonsten den so genannten Sportgroschen zu entziehen. Und so heißt es improvisieren. Christa Kleinhans und ihre Mannschaft spielen, wo immer es möglich ist. Mal stellt der Vater einer Spielerin seinen Garten zur Verfügung. Mal wird in einem öffentlichen Park gekickt. Einen festen Trainingsplatz gibt es nicht. „Und dann ist man halt mit seiner Tasche mit der Straßenbahn gefahren und hat geguckt, wo können wir dieses Mal trainieren.“

An schwere Verletzungen kann Christa Kleinhans sich nicht erinnern. Aber daran, dass sie ein paar Mal vom Platz gestellt wurde. „Irgendwie sind mir die Nerven durchgegangen, weil ich viel auf die Socken kriegte.“ Und sie erinnert sich noch gut an ein Spiel in Hörde Anfang der 60er Jahre, als sie vom Platz geflogen ist. „Das war das schlechteste Spiel überhaupt, was ich je abgegeben habe.“ Ihr Vater, erzählt sie, habe überall voller Stolz mit seiner Fußball spielenden Tochter geprahlt. Doch die dreht sich nach einem Foul einfach um und scheuert ihrer Gegenspielerin eine. „Ja, dann durfte ich duschen gehen.“

Fast zehn Jahre lang dreht sich im Leben von Christa Kleinhans alles um Fußball. 1965 dann das letzte Freundschaftsspiel gegen eine holländische Auswahl in Schwerte. Josef Floritz, der bis dahin die Spiele organisierte, war gestorben. Zudem fehlt den Fußballerinnen der Nachwuchs. „Die mit uns fast zehn Jahre in der Mannschaft spielten, lernten dann auch einen Mann kennen, wollten Kinder kriegen und dann war niemand mehr da.“ Nach dem Abschiedsspiel in Schwerte löst sich ihr Verein Fortuna Dortmund auf.
Christa Kleinhans wechselt zum Handball und wird auch darin sehr erfolgreich. Zuletzt spielt sie sogar Bundesliga. Als 1970 der DFB dann das Fußballverbot für die Frauen aufhebt, wird auch sie gefragt, ob sie nicht wieder Fußball spielen will. „Und ich habe gedacht, ne, Schluss, aus. Jetzt nicht mehr. Jetzt spielst du Handball, du spielst auch gerne Handball und jetzt bleibst du dabei. Dadurch war das Thema vom Tisch.“

Die Liebe zum Fußball ist geblieben. Nach wie vor sieht die Fußballpionierin am liebsten Spiele der Frauen. Nur für ihren Lieblingsverein Borussia Dortmund macht sie regelmäßig eine Ausnahme. Schon seit Jahren hat sie eine Dauerkarte. Und wenn sie mit ihrer ehemaligen Fußballmitspielerin Anne Droste bei Wind und Wetter auf der Tribüne sitzt, wird öfters auch mal ausgiebig gemeckert. „Wenn die eben schlecht spielen, gehen wir auch schon mal 10 oder 15 Minuten vor Spielende nach Hause, weil wir denken, ne, ne, ne, ne, das tun wir uns nicht mehr rein.“
Sie seien damals richtige Powerweiber gewesen, sagt Christa Kleinhans heute rückblickend auf die Anfänge des Frauenfußballs in Deutschland. Nichts und niemand hätte sie davon abhalten können. Und sie ist – wie FIFA-Präsident Josef Blatter – ziemlich sicher: „Die Zukunft des Fußballs ist weiblich.“

Andrea Kath

Orte:

Infopoint Phoenix-See, Aussichtsplattform mit Blick auf Dortmund-Hörde ohne Hüttenwerk; Kohlensiepenstraße, 44269 Dortmund
Das Spiel der Frauennationalmannschaft fand statt im Mathis-Stinnes-Stadion, Beisekampsfurth, 45329 Essen

Literatur:

Hoffmann, Eduard/ Nendza, Jürgen, Verlacht, verboten und gefeiert. Zur Geschichte des Frauenfußballs in Deutschland, Weilerswist 2005.

Zitation: Kath, Andrea, Christa Kleinhans, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/christa-kleinhans/

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Frida Levy

Frida Levy

In der Essener Erinnerungskultur ist Frida Levy (1882-1942) fest als Kunstmäzenin verankert, die von den Nationalsozialisten 1942 nach Riga deportiert und dort oder in der Nähe ermordet wurde.1 Eine Schule in Essen wurde 2000 nach ihr benannt und gleich zwei Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig – einer in Essen, ein zweiter an ihrem letzten Wohnort in Berlin-Wilmersdorf2 – erinnern an sie. Das Wissen um ihr Engagement für Frauen und für das Frauenwahlrecht ist inzwischen zwar bekannt, jedoch weit weniger verbreitet.

Frida Levy kam gebürtig aus Geseke und zog mit ihrem Mann Fritz, einem promovierten Juristen, kurz nach der Hochzeit am 29. März 1901 nach Essen, wo er einen Teil seines Referendariats absolvierte. In Essen lebte Verwandtschaft von ihm, die angesehene Familie Hirschland, eventuell war dies der Grund für ihren Zuzug ins Ruhrgebiet.3 Wenige Jahre später bereits zog – so der Levy-Biograf Ludger Hülskemper-Niemann – die „großbürgerliche Familie, die stark nach außen orientiert war“, in „ein großzügiges Haus in der Moltkestraße“.4 Das Paar, das bis 1919 gemeinsam vier Kinder bekam, führte ein kulturell und gesellschaftspolitisch aktives Leben und lud regelmäßig Künstler und Intellektuelle zu Lesungen, Vorträgen und Diskussionen ein, zu denen auch der Maler Karl Schmidt-Rottluff zählte.5 Frida Levy war kunstinteressiert und besuchte Kurse an der Folkwangschule. Das Portrait, das der Maler Fritz Reusing von ihr 1907 anfertigte, ist heute in der Alten Synagoge Essen zu besichtigen.


Frauenpolitische Aktivität im Verein Frauenwohl

Bereits mit deren Einrichtung 1902 wurde das Ehepaar Mitglied der Essener Zweigstelle des 1888 in Berlin von Minna Cauer gegründeten Vereins Frauenwohl. 6 Neben 171 Frauen zählten neun Männer zu den Gründungsmitgliedern. 7 Unter ihnen auch Angehörige namhafter Essener Familien wie Baedeker und Hirschland, Frauen städtischer Honoratioren wie Bankdirektoren, Kommerzienräte, Pfarrer und Redakteure, aber auch Frauen wie Margarete Herz, eine Dentistin, die einem lesbisch-feministischen Netzwerk zwischen Essen, Gelsenkirchen und Bochum angehörte.8

Zu den Mitgliedern der ersten Stunde zählte neben den Levys das Ehepaar Marcus. Zusammen mit ihrem Mann Ernst setzte sich Bertha Marcus (1869-1918) dafür ein, dass Mädchen das Gymnasium besuchen und Abitur machen durften. Sie erreichte durch ihren Besuch beim preußischen Kulturminister in Berlin die Genehmigung zur Gründung der ersten Gymnasialklasse für Mädchen in Essen.9

Mit einem Statut wurden die Aufgaben und Ziele des Essener Vereins Frauenwohl definiert:

„§ 2. Zweck des Vereins ist die Förderung aller berechtigten Frauenbestrebungen der Gegenwart.“

㤠3. Zur Erreichung dieses Zweckes werden:

  1. a) im Verein Vorträge von Männern und Frauen gehalten und besprochen;
  2. b) Arbeitsgruppen gebildet, die gemäß den gefaßten Beschlüssen die Zwecke des Vereins zu verwirklichen haben.

§ 4. Der Verein hält sich fern von jeder politischen und religiösen Parteistellung.“10

Als erstes wurde 1903 eine Rechtsschutzstelle eingerichtet, kurz darauf ein Mädchenhort.11

Frida Levy arbeitete seit 1904 in der Rechtsschutzstelle, in der zehn Frauen tätig waren. „Von unserem stets hilfsbereiten Anwalt [RA Breidenbach] belehrt und geleitet, erteilten wir Frauen und Mädchen Rat in Rechtssachen; wir setzten Bitt- und Armenrechtsgesuche auf, machten Eingaben, vermittelten gütliche Ausgleiche (besonders bei Gesinde- und Mietstreitigkeiten); wir halfen mit Rat und Tat bei der Berufswahl, machten stets mit glücklichem Erfolg die Alimentationsansprüche von Mutter und Kind frühzeitig geltend; durch Sammlung des Materials suchten wir notwendige Prozesse so vorzubereiten, dass dem Rechtsanwalt die Übersicht erleichtert wurde, wir suchten da, wo nicht zu helfen war, den Unglücklichen wenigstens Gelegenheit zu rückhaltloser Aussprache zu geben.“12 Man wollte damit den „in ungeordnete Verhältnisse Geratenen wieder zu einem geregelten Leben“ verhelfen13 und arbeitete seit 1910 eng mit der städtischen Rechtsauskunftsstelle zusammen. Zuständig sah sich die „Auskunfts- und Beratungsstelle für Frauen (Rechtsschutzstelle für Frauen)“ für alle Fälle, bei „denen die ratsuchenden Frauen von einer Frau“ beraten werden wollten.14 Für 1911 verzeichnet der Jahresbericht 778 Beratungen.15

In den Folgejahren richtete der Verein Frauenwohl Gruppen für verbesserte Frauenkleidung (1905) und für Realgymnasialkurse für Mädchen (1905), einen Frauenklub (1906), Mütterabende (1909) und eine Auskunftsstelle für Frauenberufe (1910) ein.16

Der Gruppe für verbesserte Frauenbekleidung gehörte Frida Levy nachweislich 1910 an. Dieser Gruppe ging es darum, „die Körperkultur des weiblichen Geschlechts zu fördern und für Fortgestaltung einer gesundheitsgemäßen, ästhetischen Frauenkleidung im Sinne des unverschnürten Körpers zu wirken.“17 Mag man die Wortwahl der Vertreterinnen der Ersten Frauenbewegung auch befremdlich finden, so ist sie durchaus vergleichbar mit den BH-Verbrennungen der Zweiten Frauenbewegung in den 1970er Jahre.18

Es ging um die Befreiung der Frau, Befreiung weitgefasst verstanden als Möglichkeit, Begrenzungen zu überschreiten, sei es durch Bildung, sei es durch juristischen Rechtsbeistand oder durch Ablage der bis dahin (für bürgerliche Frauen) üblichen Korsetts.

Frida Levy tritt für das Frauenwahlrecht ein

Es lässt sich nicht exakt datieren, wann Frida Levy diese Form des sozialen und caritativen Engagements, mit denen Frauen innerhalb der durch und durch von Männern bestimmten Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs öffentliche Anerkennung gewinnen konnten,19 als nicht ausreichend betrachtete, um Frauen die ihnen gebührende gesellschaftliche Position zu verschaffen. 1910 war Minna Cauer in Essen zu Gast und referierte vor den Vereinsmitgliedern über „Warum hat die Frau die Pflicht, sich mit den öffentlichen Angelegenheiten zu beschäftigen?“20 Cauer hatte bereits 1895 gesagt, dass das Wahlrecht keine „Belohnung“ sein könne, „weil man zur Freiheit nicht erziehen kann, sondern durch die Freiheit erzogen wird.“21

Wenig später nur wurde Frida Levy Vorsitzende des Essener Ortsvereins für Frauenstimmrecht, Vorsitzende des Rheinischen Provinzialvereins für Frauenstimmrecht und Mitglied im erweiterten Vorstand des Preußischen Landesvereins für Frauenstimmrecht, deren Vorsitzende Minna Cauer war.22

1907 noch hatte Clara Zetkin dem Verein vorgeworfen, „zum großen Teil dem Frauenwahlrecht gleichgültig, im besten Falle aber als laue Freunde“ gegenüberzustehen23, doch forderte der Landesverein 1911 das Frauenstimmrecht als eine Forderung der Gerechtigkeit, der sozialen Notwendigkeit und der Kultur. „Soll die Stimmrechtsbewegung eine kraftvolle volkstümliche Bewegung werden, oder soll sie auf eine dünne Oberschicht wohlhabender Frauen beschränkt sein, die zwar für Frauenrechte, aber nicht für Volksrechte eintreten? Wer Gerechtigkeit und Kultur nicht als Phrase gebraucht, um für sich selbst Sonderrechte zu erlangen, der trete der Organisation bei, die in Preußen, dem Lande des Dreiklassenwahlsystems, für das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht für beide Geschlechter kämpft: dem Preußischen Landesverein für Frauenstimmrecht!“24

Bei der Reichstagswahl am 12. Januar 1912 hatte der Verein und seine Mitglieder so viel Courage und trug in den Wahllokalen den Inhalt folgenden Flugblatts vor: „Ich protestiere gegen meinen Ausschluss von der Reichstagswahl, da ich als deutsche Staatsangehörige über 23 Jahre auf Grund der bestehenden Verfassung wahlberechtigt bin. Alle Gesetze und Verordnungen, die sich nur der männlichen Form bedienen, sind verbindlich für beide Geschlechter, sofern nichts anderes bestimmt ist. Eine diesbezügliche Bestimmung liegt in der Verfassung des Deutschen Reiches nicht vor, folglich sind alle Staatsangehörigen wahlberechtigt und der Ausschluss der Frauen bedeutet eine Verletzung von Gesetz und Verfassung. Wir Frauen wollen nicht nur die Pflichten dem Reiche gegenüber erfüllen, nämlich ihm die Bürger schenken, arbeiten und Steuern zahlen, wir fordern als Staatsangehörige auch unsere Rechte, nämlich die volle politische Gleichberechtigung.“25

Das Engagement nach 1919

Frida Levy trat also aktiv für das Frauenwahlrecht ein, bevor es durch sechs Sozialdemokraten – drei MSPD- und drei USPD-Mitglieder – revolutionsbedingt am 18. November 1918 festgelegt wurde.26 Die Betonung, dass es Sozialdemokraten waren, die den Frauen das Wahlrecht zubilligten, ist deswegen von Relevanz, weil noch im Oktober 1918 alle Parteien bis auf die SPD das Wahlrecht für Frauen abgelehnt hatten.27 Die MSPD-Abgeordnete Marie Juchacz (1879-1956), die am 19. Februar 1919 als erste Frau in der Nationalversammlung sprach, betonte, dass erst die Revolution „die alten Vorurteile überwunden“ hätte28, während ihr Nachredner, der Zentrums-Abgeordnete Dr. Mayer hervorhob, dass „die bewundernswerten Leistungen der Frauen“ während des Krieges alle Bedenken darüber, ob Frauen in die „politische Arena“ gehörten, beseitigt hätten.29 Das Wahlrecht also verstanden als eine Form der Belohnung für die harte Arbeit an der sogenannten Heimatfront.

Ob Frida Levy Mitglied der Sozialdemokratie war, wie ihr Mann Fritz seit 1914 – der 1918/1919 juristischer Berater des „Arbeiter- und Soldatenrates“, für kurze Zeit stellvertretender Polizeipräsident, später sozialdemokratischer Stadtverordneter und Beigeordneter des Kulturdezernates der Stadt Essen war –, ist nicht bekannt.30 Sie saß nachweislich als „Bürgervertreter“ im Ausschuss für Volksbildung.31 Wie sie dort gewirkt hat, ist nicht mehr nachvollziehbar.

Bekannt ist, dass das Ehepaar Levy ihre jüngste Tochter Susanne an einer bekenntnisfreien Schule anmeldeten, einer Schulform, die vor allem linksorientierten Eltern gegen den z. T. erbitterten Widerstand der christlichen Konfessionen und der Bildungsbürokratie 1923 in Essen durchgesetzt hatten.32 Hier wurde eine Forderung von Johann Franz Adolph Hoffmann (USPD) umgesetzt, der Ende 1918, Anfang 1919 preußischer Bildungsminister war, und der mit der Ankündigung, die kirchliche Schulaufsicht in Preußen abzuschaffen, sowohl die Katholiken als auch die Protestanten gegen sich aufgebracht und damit den Wahlkampf richtig in Schwung gebracht hatte.33

Frida Levy hielt zwischen 1924 und 1930 neun Vorträge, die von „Jugend und Alkohol“ über die „sozialistische Erziehung“ bis hin zu „Sexualprobleme in der Jugendbewegung“ reichten.34 Hedwig Richter hat hervorgehoben, dass Frauen mit ihrem Engagement gegen Prostitution, unhygienische Wohnverhältnisse, Alkohol und schlechte Schulbildung die „ganze Gesellschaft im Blick“ gehabt und sich „eine bisher nicht gekannte Autorität im öffentlichen Leben“ erarbeitet hätten.35 Diese Autorität sieht die Historikerin Kirsten Heinsohn durch den Übergang zur parlamentarischen Bürokratie wieder schwinden, weil sich gesellschaftspolitische Gestaltungsmöglichkeiten in die Parteien und Verwaltungen verlagerten hätten.36

Ob Frida Levys sozial-politischer Gestaltungsraum mit der Erlangung des von ihr erkämpften Wahlrechts kleiner oder größer geworden ist, muss an dieser Stelle offen bleiben. Sie hat sich in der Essener Stadtgesellschaft engagiert und sich einen Namen gemacht, der bis heute erinnert wird. Anders übrigens als ihr Mann, nach dem keine Straße oder Schule benannt sind, obgleich er in der Essener Politik nachweislich eine Rolle gespielt hat.

Susanne Abeck frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Frida-Levy-Gesamtschule, Varnhorststraße 2, 45127 Essen

Zitation: Abeck, Susanne, Frida Levy, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/frida-levy/

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Ottilie Schoenewald

Am 21. Dezember 1883 wurde Ottilie Mendel in Bochum als siebtes Kind einer angesehenen Kaufmannfamilie geboren. Sie wuchs behütet von Dienstboten und Erzieherinnen auf, besuchte eine Höhere Töchterschule und wurde früh in das gesellschaftliche Leben der Stadt eingeführt. Nach dem Tode des Vater unterstütze sie ihre Mutter im elterlichen Geschäft.

Ihrem eigenen Bekunden zufolge gehörte ihr Elternhaus dem liberalen Judentum an, ihr Vater war lange Jahre Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde in Bochum. Seit ihrer Verheiratung mit dem angesehenen Bochumer Rechtsanwalt Dr. Siegmund Schoenewald im Jahre 1905 widmete sie sich sozialer Arbeit in diversen Frauenverbänden, auch im örtlichen jüdischen Frauenbund, deren „Mitgliedschaft … dazu berechtigte, … die Vorschläge der Herrn Vorsitzenden (Rabbiners) durch Kopfnicken zu bestätigen“, wie sie es im Rückblick ironisch formulierte. Ferner war sie schon vor dem 1. Weltkrieg für die Bochumer Frauenrechtsschutzstelle tätig.

Als in der noch jungen Weimarer Republik 1918 endlich nach langem Kampf das aktive und passive Wahlrecht für Frauen eingeführt wurde, entschied sich Ottilie Schönewald für eine Kandidatur bei der Deutsche Demokratische Partei. Sie gehörte zu den ersten Frauen im Bochumer Stadtrat, in dem sie zudem laut Bericht des „Volksblattes“ als erste Frau überhaupt das Wort ergriff. Es folgen Jahre intensiver politischer Ausschussarbeit, die sie ab 1926 gegen überregionales Parteiengagement und umfangreichere jüdische Verbandsarbeit eintauschte – auch weil sie im Stadtparlament Anfeindungen von neu gewählten Nationalsozialisten befürchtete.

1929 war sie in den Hauptvorstand des jüdischen Frauenbundes gewählt worden, dessen Leitung sie 1934 bis zu seiner Auflösung 1938 übernahm. Das vom jüdischen Frauenbund für die Zeit nach 1933 selbst gesetzte Ziel der Hilfe zur Selbsthilfe lässt sich gut an dem Wirken Ottilie Schoenewalds belegen: Das 1933 erlassene Schächtverbot hatte dazu geführt, dass rituelle Schlachtungen in Deutschland untersagt wurden. Für jüdische Familien, die koschere Mahlzeiten einhalten wollten, bedeutete dies, den Speiseplan auf vegetarische Gerichte umzustellen, wie man in etlichen Artikeln in den Blättern des jüdischen Frauenbundes verfolgen kann. So erklärt sich auch, warum das Jüdische Kochbuch 1935 eine dritte Auflage erlebte, in deren Vorwort Ottilie Schoenewald als Vorsitzende des Jüdischen Frauenbundes der Arbeit jüdischer Hausfrauen Respekt zollt.

Ottilie Schönewald wurde auch konkret aktiv, wie es ihrem Bericht über die Ausweisung der von den Nationalsozialisten so genannten Bochumer Ostjuden (es handelte sich um Nachfahren von polnischen Zwangsarbeitern des 1. Weltkrieges) vom Oktober 1938 zu entnehmen ist: So setzte sie alle Hebel in Bewegung, um Hilfsgüter zu organisieren, sorgte für die Herbeischaffung koscheren Essens zum Gefängnis, in dem die Männer inhaftiert waren, konnte schließlich für Frauen und Kinder bei der Gestapo Plätze im Wartesaal der 3. Klasse am Bahnhof erwirken und beruhigte sogar einige der Familien, indem sie über ihren Ehemann als Rechtsanwalt Formulare für geschäftliche Vertretungsvollmachten erstellen ließ. So können die Veröffentlichung eines Kochbuchs und die Organisation von Verpflegung als ihr ziviler, wenn nicht gar als ihr politisch motivierter Widerstand gegen die NS-Diktatur gelesen werden. Mit ihrem Bericht über die Bochumer Ereignisse hat sie darüber hinaus – es sind dies die ausführlichsten und eindringlichsten Aufzeichnungen über derartige Vertreibungen aus Städten – Geschichte geschrieben und so zur Erinnerung an den Holocaust beigetragen.

Die Reichspogromnacht vom neunten auf den zehnten November 1938 brachte für die Schoenewalds wie für alle anderen jüdischen Familien in Bochum eine tief greifende Zäsur: Siegmund Schoenewald wurde in das Konzentrationslager (KZ) Sachsenhausen verbracht und die Wohnung des Ehepaares verwüstet. Nach Siegmund Schoenewalds Rückkehr aus dem KZ fiel die Entscheidung, Deutschland zu verlassen. Über Holland emigrierten beide im Sommer 1939 nach England. Dort verstarb Siegmund Schoenewald 1943. Ottilie Schoenewald wanderte 1946 zu ihrer Adoptivtochter Doris (verheiratete Klaber) in die USA aus, wo sie bis zu ihrem Tode 1961 lebte. In all diesen Jahren arbeitete sie engagiert politisch weiter, u.a. während ihrer Zeit in England im Vorstand der „Association of Jewish Refugees“ und in den Staaten im „International Council of Jewish Women“. Jahrelang hat sie als Opfer des Nationalsozialismus ihr Wiedergutmachungsverfahren betrieben – allerdings erfolglos.

So mag man es als eine späte Wiedergutmachung ansehen, dass 1998 eine Straße im Stadtteil Wiemelhausen und 2005 eine Schule der Erwachsenenbildung nach ihr benannt wurden. Die Ironie der Geschichte: Das Ottilie-Schoenewald-Weiterbildungskolleg zog 2008 in das renovierte Gebäude der alten Bochumer Wirtschaftsakademie. Leiter jener Wirtschaftakademie war von 1954 bis 1967 Peter-Heinz Seraphim. Der Volkswirtschaftler machte sich in der NS-Zeit einen zweifelhaften Namen als Experte für das „Ostjudentum“. In den Zeiten des Kalten Krieges konnte er aufgrund seiner Kenntnisse über den osteuropäischen Raum unbeschadet eine neue Karriere starten. Dass nun genau dieses Bauwerk den Namen jener Bochumerin führt, die beherzt beim Abtransport der Ostjuden auftrat, und als Schule das Andenken an ihren Namen bewahrt, erscheint mehr als gerechtfertigt und ermöglicht eine andere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als die der Verdrängungspolitik der 50er Jahre.

Ottilie Schoenewald kann aber nicht nur als Leitfigur der deutschen Frauenbewegung und der Bochumer Lokalpolitik gesehen werden, sondern hat mit ihrer Vita auch Zeugnis eines lebenslangen Lernens abgelegt: Als junge Frau bildete sie sich juristisch für ihre Beratungstätigkeit bei ihrem Mann weiter, als über Fünfzigjährige belegte sie in England Buchhaltungskurse, in Oxford studierte sie Englisch und Literatur und später in den USA Sozialwissenschaften. Wer wäre eine geeignetere Patronin für ein Institut des Zweiten Bildungsweges als diese Bochumerin?

Dr. Anja Wieber/ Ottilie–Schoenewald–Weiterbildungskolleg

Orte:

Ottilie-Schoenewald-Weiterbildungskolleg, Wittener Straße 61, 44789 Bochum
Ottilie-Schoenewald-Straße. 44789 Bochum

Literatur:

Schoenewald, Ottilie, Lebenserinnerungen. Für das Leo Baeck Institut, New York 1961, siehe http://digital.cjh.org//exlibris/dtl/d3_1/apache_media/407139.pdf
Schneider, Hubert, Ottilie Schoenewald. Kämpferin für Frauenrechte, soziale Rechte, Menschenrechte, Bochum 2008 
Kaplan, Marion, Der Mut zum Überleben. Jüdische Frauen und ihre Familien in Nazideutschland, Berlin 2001/ New York 1998
Gleisung, Günter u.a., Die Verfolgung der Juden in Bochum und Wattenscheid, Bochum 1993
Maierhof, Gudrun, Ottilie Schönewald. Jewish Women: A Comprehensive Historical Encyclopedia, 1 March 2009. Jewish Womens Archive, June 27, 2010, see: http://jwa.org/encyclopedia/article/schoenewald-ottilie

Zitation: Wieber, Anja, Ottilie Schoenewald, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/ottilie-schoenewald/

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Agnes von der Vierbecke

Agnes von der Vierbecke entstammt einem alten märkischen Adelsgeschlecht auf Haus Vierbecke in Hengsen, heute Holzwickede. Von dem 1600 abgebrannten Anwesen sind bis auf Reste der Gräften keine Spuren mehr im Gelände sichtbar. In den politischen Mythos der stolzen Reichsstadt Dortmund hat sich Agnes von der Vierbecke unauslöschbar eingeschrieben. Das kleine Holzwickede wiederum benutzt die historische Gestalt, um sich märkisch gegen das städtische Oberzentrum Dortmund zu positionieren, obwohl das tragische Ende der Vierbecke nur bedingt für eine positive Identitätsbildung taugt. In der Gegend um Holzwickede erzählt man sich noch heute die Sage von ihrem goldenen Spinnrad.

Die historische Agens von der Vierbecke heiratete den reichen Dortmunder Hansekaufmann Hildebrandt Sundermann, der einer angesehen Patrizierfamilie entstammte. Damit wurde sie Teil der führenden Gesellschaftsschicht, die den Rat wählte und aus ihren Reihen den Bürgermeister ernannte. Nach dem Tode Hildebrandts lebte sie weiter mit ihrem Sohn Arnt in Dortmund. Wie eine Insel lag im 14. Jahrhundert die wohlhabende Reichsstadt Dortmund inmitten der Herrschaftsgebiete der Grafen von der Mark und der Erzbischöfe von Köln.

1378 hatten sich unter der Führung des Dietrich von Dinslaken, dem Bruder des Grafen Engelbert von der Mark, sechzehn Edelmänner zusammengeschlossen, um die Reichsstadt Dortmund am 4. Oktober einzunehmen. Ein Fehdebrief war bereits überreicht. Es heißt, Agnes von der Vierbecke habe die Koalitionäre unterstützt, indem sie zusammen mit ihrem Sohn und dem Junggrafen Konrad von Dortmund das Wißstraßentor durch eine List für zwei Wagen öffnen ließ. Sie hatte zuvor mit den Märkern vereinbart, dass der erste mit Holz beladene Wagen unter das äußere Fallgitter fahren und dort stehen bleiben sollte, damit das Gitter nicht wieder heruntergelassen werden konnte, während das Innengitter geöffnet wurde. Im zweiten Wagen waren unter dem Heu Bewaffnete versteckt. Sobald dieser Wagen durch das Tor gefahren war, sollten sie die Torwächter überwältigen. Die außerhalb des Walles versteckten Märker konnten dann auf ein Zeichen durchs Stadttor eindringen und die Stadt einnehmen. Agnes schickte den Pförtner zu den Fleischbänken, um ihr Pfefferpotthast zu kaufen. Dann stieg sie auf den Torturm und gab den im Hinterhalt wartenden Märkern mit einem weißen Tuch das verabredete Zeichen für den Angriff. Doch der Plan misslang, da das Innengitter nicht geöffnet wurde.

Agnes von der Vierbecke wurde mit ihrem Sohn und dem Junggrafen von Dortmund auf dem Torturm gefangen genommen und sofort zum Tode verurteilt. Die beiden Männer wurden auf dem Alten Markt hingerichtet. Sie jedoch wurde auf den Tat-Wagen gebunden und verbrannt. Agnes war 37 Jahre, die beiden Männer Arnt und Konrad 17 Jahre alt.

Der märkische Adel war über die schnelle Hinrichtung empört und erhob Klage gegen die Stadt. 1378 beeidete Dietrich von der Mark die Unschuld der drei Angeklagten. Zehn Jahre später eröffnete Graf Engelbert von der Mark eine große Fehde. Als erster der 17 Gründe für die Auseinandersetzung gab er die  Hinrichtung der unschuldigen Agnes von der Vierbecke, ihres Sohnes Arnt und des Grafen von Dortmund an. Zwar konnte sich Dortmund in dieser letzten großen mittelalterlichen Fehde noch einmal seiner Unabhängigkeit versichern, die Kriegsfolgen brachten die Stadt jedoch an den Rand des wirtschaftlichen Ruins. Jahrhunderte lang gedachte Dortmund mit einer Prozession an Michaelis, dem 29. September, dieser Auseinandersetzung, feierte sich als wehrhafte Gemeinschaft und beschwor seine städtische Identität.

Im Volksglauben waren Frauen, die wie Agnes verbrannt wurde, stets Hexen.  In Holzwickede arbeitete man die historische Begebenheit zu einer Sage um: Darin heißt es: Der Teufel in Gestalt eines galanten Mannes mit dunklem Gesicht, grünem Mantel, rotem Hut und unterschiedlich großen Schuhen buhlte um Agnes von der Vierbecke, er versprach ihr ein goldenes Spinnrad, das von selber spinnen konnte – was für ein Geschenk angesichts der nie enden wollenden, mühseligen Spinnarbeit. Als die Dortmunder die Hexen ausrotten wollten, erfuhren sie auch von Agnes und ihrem Spinnrad. Sie versuchten, Agnes nach Dortmund zu locken, was ihnen jedoch misslang. Daraufhin holten sie sie heimlich mit einem Wagen, banden sie darauf fest und verschleppten sie in ihre Stadt.In Dortmund wurde sie als Hexe verbrannt. Und während sie in den Flammen starb, versank das goldene Spinnrad im Brunnen des Hauses Vierbecke.

Uta C. Schmidt/ FRAUEN.ruhr.GESCHICHTE.

Orte:

Holzwickede, Unnaer Straße, 59439 Holzwicke (ehemaliger Truppenübungsplatz)
Wißstraßentor, 44137 Dortmund
Alter Markt, 44137 Dortmund

Literatur:

Hieber, Hanne: Die "Verräterin" von Dortmund, in: dies.: Drutmunde – Tremonia – Dortmund, Dortmund 1999, S. 40-41.
Hieber, Hanne: Agnes von der Vierbecke. Verräterin von Dortmund oder unschuldig verbrannt auf dem Markt der Stadt?, in: Heimat Dortmund 2/2003, S. 12-14.
Von goldenen Spinnrädern und gräulichem Unfug der Flachszieherinnen. Bele von Benninghofen, 1343, in: Hieber, Hanne, Drutmunde - Tremonia - Dortmund, Dortmund 1999, S. 34-36.
August Meininghaus: Der Verrat Agnetens von der Vierbecke in Chronik und Geschichte, in: Beiträge zur Geschichte Dortmunds und der Grafschaft Mark 22, 1913, S. 311-331.
Sondermann, Dirk, Ruhrsagen, Bottrop 2005.

Zitation: Schmidt, Uta C., Agnes von der Vierbecke, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/agnes-von-der-vierbecke/

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Eva Vliegen

Die Welt versank im Chaos, am Niederrhein, gen Ende des 16. Jahrhunderts: Als militärisches Operationsgebiet von Spaniern und Niederländern im niederländischen Aufstand ausgesaugt; durch die Kämpfe zwischen dem konvertierten Kölner Erzbischof Gebhard Truchsess von Waldburg und dem Papst um die Säkularisation der kurkölnischen Territorien bedrängt, durch Abgaben, Truppeneinquartierungen, Verschleppungen, Plünderungen, Brandschatzungen, Seuchen erdrückt …

Da ging ein Gerücht um: Eva Vliegen lebe in Moers ohne jegliche Nahrungsaufnahme. Die Moerser taten alles, um dieses Medienereignis zu vermarkten. Der Magistrat der Stadt Moers stellte ein Attest aus, der das Wunder amtlich verbriefte. Selbst in Amsterdam, London und im Gebiet des heutigen St. Petersburg kursierten Abbildungen von Eva Vliegen. Aus allen Schichten und Generationen pilgerten Menschen nach Moers. Fürstinnen, Theologen und Wissenschaftler besuchten Eva, die als Waise bei ihrer Tante Katrin in der Moerser Neustadt im Haag wohnte.
Seit frühester Kindheit an Armut und Hunger gewöhnt, wurde ihr nach einer schweren Erkrankung im Alter von 19 Jahren „jede Nahrungsaufnahme so sehr zum Übel“, dass sie fortan ohne Essen und Trinken lebte. An jedem dritten Tag bei Sonnenaufgang, so wurde berichtet, erschien jedoch ein Engel, der ihren Mund mit süßem Tau befeuchtete: Eva Vliegen ernährte sich somit durch spirituelle Nahrung – durch Licht sowie süße Tautropfen, ein seit den frühen Kirchevätern bis in die Barockzeit prominentes Bildzeichen für Gnade.

Der berühmte Stadtmedicus Wilhelmus Fabricius aus Bern kam nach 13-tägiger Beobachtung zu dem Schluss: „Sonst ist das Mädchen mit Frömmigkeit begabt, geht zum Gottesdienst, ist von mittelmäßiger Größe, bleich von Farbe, hat eingefallene Augenlieder, ist ziemlich mager. Die Schleimhäute sind feucht. Sie weint häufig. Der Puls ist matt, dunkel, doch ordentlich. Unter die Leute geht sie an einem Stecken. Von Flöhen und Mücken wird sie belästig wie andere auch. Sie scheint nicht gerade klug zu sein, redet aber gottesfürchtig in Glaubenssachen, ist verständig in Haus und anderen Dingen. Der Atem ist frei.“

Ein Flugblatt verbreitete 1614, ein Engel habe Eva verkündet, Gott würde die Menschheit ob ihrer Taten bestrafen. Von diesem Moment an verweigerte sie auch das Sprechen und blieb bis zu ihrem angeblichen Tode am 1. März 1614 stumm.

Doch Eva Vliegen lebte und hungerte weiter, bis nach dem Tode ihrer Tante im Jahre 1628 der über 30 Jahre währende „Betrug“ entdeckt wurde: Die Tante hatte ihr heimlich Nahrung zugesteckt. Eva Vliegen wurde zu öffentlicher Geißelung und Ausweisung verurteilt. Prinz Friedrich-Heinrich von Oranien, mittlerweile Landesherr zu Moers und Statthalter der Niederlande, ließ unter Berufung auf ihre „Einfalt“  Gnade vor Recht walten. Am 10. Juni 1637 starb Eva Vliegen eines natürlichen Todes.

Das angebliche Mirakel der Totalabstinenz war im 16. und 17 Jahrhundert, dem „Konfessionellen Zeitalter“, weit von einer allein persönlichen Entscheidung der Betroffenen entfernt. Es handelte sich um ein öffentliches Spektakel, eine Inszenierung, in der pekuniäre, politische wie wissenschaftliche Interessen zusammenfielen und das in höchstem Maße politisch instrumentalisiert wurde.

Eva Vliegens Geschichte steht für den Kampf um Deutungsmacht der Konfessionen ebenso wie für die Ablösung theologisch-religiöser hin zu wissenschaftlich-empirischer Einordnung körperlicher Phänomene.

Ernährung steht kulturell als eine Art von „Sprache“ zur Verfügung, über die ein Grad individueller Verfügungsgewalt besteht. Eva Vliegens Geschichte ereignete sich im protestantischen Moers zu Beginn der Neuzeit, in der das Wissen um religiös motivierte Nahrungsverweigerung als frauenmystische Lebensform und um charismatische Heiligkeitsmodelle noch präsent war. Mit der Wahl dieser Lebensführung erschlossen sich Tante und Nichte über nüchternes Kalkül hinaus auch eine Möglichkeit, den vorgezeichneten Lebensmustern ihres Standes und Geschlechts zu entkommen.

Uta C. Schmidt/ FRAUEN.ruhr.GESCHICHTE.

Orte:

Haagstraße, 47441 Moers

Literatur:

Bongen, Heide, Eva Vliegen, in: Schweitzer, Silke (Hg.), Auf den Spuren Moerser Frauen, Moers 1997, S. 12-14.
Pulz, Waltraud, Nüchternes Kalkül - Verzehrende Leidenschaft. Nahrungsabstinenz im 16. Jahrhundert, Köln 2007. 

Zitation: Schmidt, Uta C., Eva Vliegen, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/eva-vliegen/

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Emma Horbach

Am Ende des 19. Jahrhunderts war Sprockhövel ein Bergarbeiterdorf mit starker landwirtschaftlicher Prägung. Am 15. Juni 1884 erblickte dort Emma Rödelbrunn das Licht der Welt. Das Mädchen war eines von sieben Geschwistern. Emmas Vater war Bergmann, doch er verdiente nicht genug für die große Familie. So mussten auch alle Kinder mitarbeiten. Emma ging täglich vor der Schule Geschirr spülen. Dafür bekam sie Brot und ihre Schulhefte – sie spülte bei einem Schreibwarenhändler. Nach der Schulentlassung ging Emma wie viele junge Arbeitermädchen „in Stellung“.

Sie arbeitete als Dienstmädchen, im Gegensatz zur Fabrikarbeit galt dies als akzeptierte Form der Erwerbsarbeit für junge Frauen. Leicht war diese Tätigkeit nicht und die Willkür einiger Dienstherrinnen war unvorstellbar: So verlor Emma in Elberfeld ihre Stelle, weil der Hausherrin die Äpfel nicht schmecken, die Emma für sie auf dem Markt kaufen musste. Als sie in Blankenstein – heute ein Stadtteil von Hattingen – bei einem Lebensmittelgroßhändler in Dienst war, lernte Emma Karl Horbach kennen. Von nun an verlief ihr Leben nicht mehr ganz in den damals üblichen Bahnen.

Mit 23 Jahren heiratete sie Karl Horbach. Als Christin bestand sie auf einer kirchlichen Trauung, doch bald wurde sie zur kritischen Christin. Karl Horbach war in der SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) und in der Gewerkschaft aktiv. Und auch sie entwickelte politisches Bewusstsein. 1907, dem Jahr ihrer Eheschließung, verhinderte noch das preußische Vereinsgesetz ein aktives parteipolitisches Engagement: Von 1850 bis 1908 verbot es die Mitarbeit von Frauen in politischen Parteien.

1908 brachte Emma Horbach Zwillinge zur Welt und es vergingen kaum drei Jahre, da hatte sie vier Kinder zu versorgen. Die Familie wohnte in Hattingen in der Friedrichstraße. Karl Horbach arbeitete schwer, doch das Geld reichte selten. Und dann begann 1914 der Erste Weltkrieg.

Die Horbachs waren SPD-Mitglieder. Enttäuscht und wütend mussten sie zur Kenntnis nehmen, wie die SPD in Berlin den Kriegskrediten zustimmte. Für die Familie Horbach hatte dies direkte Auswirkungen: Das fünfte Kind wurde 1915 geboren, während der Vater an der Front kämpfte. Emma Horbach brachte die Familie in den Kriegszeiten allein über die Runden. Sie blieb politisch aktiv, verteilte Flugblätter. Die Suppe aus der Kriegsküche trug sie trotz des Hungers in der Familie nicht nach Hause, sie schüttete sie aus Protest direkt in den Straßengraben. Als „Rädelsführerin“ wurde sie verwarnt.

Am Ende des 1. Weltkrieges, mit Beginn der Weimarer Republik, erhielten Frauen das aktive und passive Wahlrecht. Emma Horbach kandidierte 1919 bei der Hattinger Stadtratswahl für die USPD, die Unabhängige Sozialdemokratische Partei, die sich 1917 aus der Ablehnung der Kriegskredite gegründet hatte. Sie erhielt den achten Listenplatz, doch fielen auf die USPD nur sieben Sitze im Stadtparlament. Nach der Auflösung der USPD zog Emma Horbach 1924 als Stadtverordnete für die KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) in den Hattinger Rat, in den Kreistag und 1930 in den Westfälischen Provinziallandtag. Häufig reiste sie als Referentin durchs Land. Das Dienstmädchen Emma Horbach wurde Politikerin. Wo hatte sie das Reden gelernt?

Während des Kapp-Putsches beteiligte sich das Ehepaar Horbach an der Verteidigung der jungen Demokratie. Beide wurden verhaftet und verbrachten einige Zeit im Gefängnis. Als Emma Horbach verbotene Zeitungen vor der Henrichshütte verkaufte, wurde sie erneut verhaftet und kam für vier Wochen in das Essener Gefängnis Haumannshof. „Eine Frau kann in dieser Zeit nur Hausfrau sein“, so stand es bei ihrer Verhaftung in der Zeitung. Doch da der Verdienst ihres Mannes nicht für die Familie reichte, konnte sie gar nicht „nur“ Hausfrau bleiben. Sie musste ihr eigenes Geld verdienen. Sie wusch Bettwäsche und arbeitete als Bauhelferin auf der Henrichshütte.

Während der Inflation 1923 standen die Frauen zum Zahltag am Werkstor der Henrichshütte, um den Lohn ihrer Männer in Empfang zu nehmen. Sie mussten sofort das Lebensnotwendigste einkaufen, bevor das Geld weiter an Wert verlor. Sie hasteten die Blankensteiner Straße hoch, dort gab es den werkseigenen Konsum. Doch gerade in dem Moment ließen die Verkäuferinnen die Gitter herunter, um die Preise erneut höher auszuzeichnen. Emma Horbach sprang auf die niedrige Schaufensterstufe und forderte die Frauen auf, mit ihr zur Werksleitung zu gehen um zu erfahren, wie man von dem wenigen Geld Leben und schwer Arbeiten sollte. Die meisten Frauen folgten ihr.

1932 wurde die KPD verboten. Die KPD-Abgeordnete Emma Horbach durfte das Stadtgebiet Hattingen nicht mehr verlassen. Karl Horbach kam für mehr als ein Jahr ins Gefängnis. 1939 beantragte das Ehepaar, nach Grünscheid ins Bergische Land ziehen zu dürfen. Dort fand Karl Horbach eine Stelle als Verwalter einer Hühnerfarm. 1941 verlor der jüngste Sohn Heinz in der Sowjetunion sein Leben. Der Sohn Karl starb 1943 im Hattinger Krankenhaus.

Das Ehepaar Horbach und die drei Töchter überlebten den Zweiten Weltkrieg. Nach dem Tode ihres Mannes 1955 kehrte Emma Horbach nach Hattingen zurück. Sie blieb politisch aktiv. Bis zu ihrem 80. Lebensjahr stand sie als Vorsitzende der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes vor.

1976, im Alter von 92 Jahren, starb Emma Horbach geborene Rödelbronn in Hattingen.

Ute Senger/ LWL-Industriemuseum Henrichshütte Hattingen

Orte:

LWL–Industriemuseum Henrichshütte Hattingen, Werksstraße 31
Friedrichstraße, 45525 Hattingen

Literatur:

Dickhut, Luise, Die Horbachs, Erinnerungen für die Zukunft, Essen 1988. 
Keine Zeit um auszuruhen, Haus- und Lohnarbeit vom Hattinger Frauen im 19. und 20. Jahrhundert, hg. Volkshochschule der Stadt Hattingen, Hattingen [ca. 2005].

Zitation: Senger, Ute, Emma Horbach, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/emma-horbach/

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Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach

Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach war nahezu 50 Jahre Fürstäbtissin in Essen von 1726-1775. Als Gründerin des sogenannten ‚Waisenhauses’ in Essen-Steele stellt Erwin Steiner sie in der Festschrift zu dessen 300-jährigem Bestehen als „Heilige der Nächstenliebe“ in eine Reihe mit Elisabeth von Thüringen und Mutter Theresa. Die „Fürstin-Franziska-Christine-Stiftung“ – so der heutige Name – ist jedoch in den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts nicht nur als karitative Einrichtung gegründet worden, sondern diente gleichzeitig als fürstliche Residenz und katholisches Bollwerk der Jesuiten an der Grenze zur preussisch-protestantischen Grafschaft Mark. Der Einfluss der Societas Jesu zu jener Zeit ist kaum zu überschätzen. Doch es gab auch andere Zeiten.
Franziska Christine stammte aus einer verarmten Nebenlinie der Kurfürsten von der Pfalz. Ihr Vater, Theodor Pfalzgraf zu Sulzbach, war verheiratet mit Eleonore Landgräfin von Hessen-Rheinfels-Rotenburg; es handelte sich also sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits um hoch angesehene altfürstliche Adelsgeschlechter. Franziska Christine, geboren 1696, war die drittälteste von sechs Geschwistern (vier Mädchen, zwei Jungen). Bis auf die drei Jahre ältere Schwester Maria Anna, die 1714 Nonne bei den Karmeliterinnen in Köln wurde, haben alle anderen Geschwister geheiratet. Alle vier Mädchen waren zeitweise Stiftsdamen.

Bereits im Alter von fünf Jahren erhielt Franziska Christine eine Pfründe im Stift Thorn/Roermond, das im 18. Jahrhundert mit Essen in Personalunion regiert wurde. Als Zehnjährige wurde sie von der dortigen Äbtissin, einer Tante mütterlicherseits, als Universalerbin eingesetzt, was angesichts der klammen Kassen bei dem Vater möglicherweise die Idee einer Stiftskarriere für diese Tochter hat aufkommen lassen.

Dass die 21-Jährige 1717 in Thorn zur Äbtissin gewählt werden würde, hatte dort niemand erwartet. Doch dank bester Vorarbeit – sei es durch Geld, Geschenke oder Versprechungen – konnte Franziska Christine im ersten Wahlgang neun von 16 Stimmen auf sich vereinen, obwohl sie noch gar kein Mitglied des Kapitels war und obwohl vier andere Stiftsdamen, die dem Stift seit Jahrzehnten angehörten, ebenfalls für dieses Amt kandidiert hatten. Simonie – Ämterkauf nennt man ein solches Vorgehen. Am 17. Juli 1717 hielt sie ihren großen Einzug, ähnlich dem, der 1726 nach ihrer Wahl in der mit Girlanden geschmückten Stadt Essen mit berittenen Kavalieren und abendlichem großen Feuerwerk stattfand. In der Zwischenzeit (1717-1726) kamen allerdings verschiedene Heiratsprojekte auf. Dass letztendlich alle Verbindungen scheiterten, lag wohl weniger an den Wünschen und Präferenzen Franziska Christines oder der Bewerber, noch an Schönheit oder Hässlichkeit, sondern in ihrem Fall waren wohl die Finanzen ausschlaggebend.

Bereits Ende 1716 – also vor der Wahl in Thorn – muss eine Heirat ins Auge gefasst worden sein, wobei unklar ist, mit wem. Franziska Christine schreibt am 8. Januar 1717 nach Sulzbach, zunächst habe sie gedacht, es sei ihr unmöglich sich „zu bewouster mariage […] zu resolviren“, doch, da ihre Mutter diese wünsche und immer nur das beste für sie wolle, könne sie sich auch dazu entschließen, zumal ihr „die Person […] so unangenehm nicht sey“.

Es fällt auf, dass nicht einmal in der Privatkorrespondenz zwischen Mutter und Tochter Namen genannt werden, um niemanden ins Gerücht zu ziehen. Geheimhaltung! Sicherheitsstufe eins: Man musste immer damit rechnen, dass die Post abgefangen und unterwegs geöffnet wurde. Vermutlich handelte es sich um einen Prinzen von Ligne, der Franziska Christina noch im Herbst des folgenden Jahres seine „besondere affection bezeugen“ ließ. Für ihn sprach, dass seine Mutter dem Königshaus von Aragon entstammte, doch man zweifelte, ob seine „subsistentz mittel“ für eine glückliche Ehe ausreichen würden. Es sei nicht anzuraten, die gute Versorgung als Fürstäbtissin von Thorn gegen die angetragene Heirat zu tauschen. Hier hat der eigene Vater seine Tochter wohl kräftig hinters Licht geführt, denn nicht der Bräutigam, sondern das Haus Pfalz-Sulzbach konnte die notwendige Mitgift nicht aufbringen. Die Fürsten von Ligne waren reich: Maria Josepha, die Tochter dieses Fürsten, wurde später Stiftsdame in Essen mit einer jährlichen Apanage von 40.000 Talern.

1720 berichtet der Graf von Hatzfeld, der schon die Thorner Wahl gemanagt hatte, von weiteren höchst geheimen Unternehmungen, Heiratspläne zur Versorgung der Prinzessin Franziska Christine zu schmieden. In Augsburg hatte er mit dem König von Sardinien konferiert, der ihm versicherte, wie sehr er die Prinzessin „venerire“ (= bewundere). Hatzfeld berichtet auch von möglichen Allianzen mit dem jüngeren Prinzen von Orléans oder dem zweiten Bruder des Herzogs von Parma. Immer hat dabei der Aspekt der Geheimhaltung oberste Priorität, um im Fall des Nicht-Zustandekommens weder einzelne Personen noch die beteiligten Häuser bloßzustellen. Das Bekanntwerden solcher Verhandlungen im Falle des Scheiterns bedeutete einen Ehrverlust des Hauses; Heiratsprojekte zu schmieden war oft ein Vabanque-Spiel und erforderte höchste diplomatische Kunst.

Noch fünf Jahre nach Franziska Christines Wahl in Thorn heißt es, Prinz Antoine de Parma habe sein Absehen einzig und allein auf sie gerichtet. Obwohl für ihn eine andere Partie bestimmt sei, wolle er – so ein Bericht aus Florenz – nur sie heiraten. Wie Franziska Christine zu ihm stand, wissen wir nicht. Verloren gegangene Akten des Bayerischen Hauptstaatsarchivs in München, deren Inhalt nur vage aus den Findbüchern bekannt ist, verweisen auf weitere Heiratsanträge: 1723 bot sich ein Prinz zu Radziwill als Bräutigam an, 1724 der regierende Herzog von Bouillon. Offensichtlich waren diese europäischen Höfe, die Herzöge von Bouillon, von Orléans, von Parma oder auch von Radziwill sehr daran interessiert in den deutschen Hochadel einzuheiraten.
Angeblich sind alle ins Auge gefassten Heiratsverbindungen daran gescheitert, dass die Bewerber nicht genügend Vermögen vorweisen konnten; wahrscheinlicher ist die zweite Variante: die Sulzbacher hatten nicht genug Geld für eine ordentliche Mitgift, zumal für die Wahl in Thorn schon erhebliche Mittel hatten aufgebracht werden müssen.

Umso bitterer war das Erwachen, als man am Sulzbacher Hof Genaueres über die Finanzverwaltung der Thorner Abtei erfuhr. Die wirtschaftlichen Verhältnisse in Thorn waren schon beim Regierungsantritt der neuen Fürstäbtissin katastrophal. Ein pfälzischer Berater, den Franziska Christine um Hilfe gebeten hatte, stellte fest, dass für die fürstliche Haushaltung in Thorn mindestens knapp 6.000 Reichstaler pro Jahr benötigt würde, doch die Einnahmen betrügen nur gut die Hälfte. Als Franziska Christine ihren Vater bat, einige Wochen im Jahr in Sulzbach verbringen zu dürfen, um Kosten zu sparen, lehnte dieser das Ansinnen rundweg ab. Im Frühjahr 1722 konnte sie nicht einmal an den Hochzeitsfeierlichkeiten ihres Bruders in Bergen-op-Zoom – also ganz in der Nähe – teilnehmen, weil sie nicht in der Lage war, das Nötigste für eine solche Reise, nämlich eine kleine Reisekutsche, eine „Nachtzeug Khyste“ und verschiedene Spitzengarnituren anzuschaffen. Um die Misere insgesamt zu beheben, empfahl der Vater, Franziska Christine möge für einige Monate ins Kloster der Cellitinnen nach Düsseldorf gehen. Das geschah mehrere Jahre lang. Offiziell hieß es dann in Thorn auch in den folgenden Jahren, die Fürstin brauche Luftveränderung. Die finanzielle Misere änderte sich erst, als Franziska Christine 1726 auch Fürstäbtissin in Essen wurde und ihr die Einnahmen aus dieser größeren Abtei ebenfalls zuflossen.

Es handelte sich bei diesen dynastischen Eheanbahnungen immer um äußerst delikate Operationen, die bis zu einem positiven Abschluss höchste Geheimhaltung verlangten. Franziska Christines Eheprojekte scheiterten an den miserablen Finanzen ihres Vaters, die es nicht einmal zuließen, solche Projekte über vorsichtige Sondierungen im Vorfeld hinaus wachsen zu lassen. Nicht ihre eigenen Wünsche hatten Vorrang, sondern die des Hauses Pfalz-Sulzbach, dem sie als Fürstäbtissin von Essen und Thorn wohl besser dienen konnte denn als als Ehefrau..

Ute Küppers-Braun/ Essen

Orte:

Fürstin-Franziska-Christine-Stiftung, Steeler Straße 640-646, 45276 Essen
Schloss Borbeck, Schloßstraße 101-103, 45355 Essen

Literatur:

Küppers-Braun, Ute  (vertaling Marc Hulsbosch), Te lelijk om te trouwen? Maria Cunegunda van Saksen en Francisca Christina van Pfalz-Sulzbach, in: De Krotewès. Tijdschrift geschied- en heemkundige kring „Het Land van Thorn“ 17,3, 2009, S. 131-148.


Küppers-Braun, Ute, Fürstäbtissin Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach (1726-1776), in: Christen an der Ruhr Bd 1, hg. v. Alfred Pothmann und Reimund Haas. Essen 1998, S. 61-82.

Zitation: Küppers-Braun, Ute, Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/franziska-christine-von-pfalz-sulzbach/

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Maria Kunigunde von Sachsen

Bis heute hält sich hartnäckig das Urteil, Maria Kunigunde von Sachsen sei nur deshalb Fürstäbtissin von Essen geworden, weil sie zu hässlich für eine Heirat gewesen sei. Weder der Focus auf die politischen Dimensionen ihres Amtes, das sie von 1775/6 bis 1803 als letzte Fürstäbtissin von Essen ausübte, noch auf ihre wirtschaftlichen Unternehmungen während der beginnenden Industrialisierung konnten daran etwas ändern.

Eine Akte im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden zeigt jedoch, dass die Frage nach Hässlichkeit oder Schönheit ein äußerst geschickter Schachzug war, um von den politischen Optionen, die es im Heiratsgeschäft des Adels zu beachten galt, abzulenken. Die Akte handelt von dem Eheprojekt mit Josef II. von Österreich, dessen erste Frau Isabella von Parma an Pocken verstorben war. Seine Depression hoffte man durch eine neue Heirat zu kurieren. Schon während der Krankheit Isabellas, als sich abzeichnete, dass keine Rettung möglich war, kam als erste Brautkandidatin Maria Kunigunde von Sachsen ins Gespräch. Sie war 1740 in Warschau als 15. und jüngstes Kind des sächsischen Kurfürsten Friedrich August II. (+ 1763) – zugleich als August III. König von Polen – und seiner Gattin Maria Josefa Antonia, Erzherzogin von Österreich (+1757) geboren worden.

Schon kurz nachdem Isabella von Parma am 27. November 1763 gestorben war, meldeten auch andere Höfe Interesse an einer Ehe an: fünf Prinzessinnen konkurrierten um den Erzherzog.
Josef gab erst Ende August 1764 seine Zustimmung zu einer Wiederverheiratung. Bis dahin war jedoch einiges geschehen. Nicht nur die offizielle Politik war aktiv, sondern vor allem die immer rührigen Wiener Hofchargen, die sich durch ihr Wissen leicht ein gutes Zubrot erwerben konnten, immerhin ging es um die zukünftige Kaiserin. Als aktiv gegen Sachsen und für die kurbayerische Kandidatin Maria Josefa Handelnde werden in sächsischen und österreichischen Akten genannt: eine Gräfin von Sternberg, eine Fürstin von Fürstenberg, eine junge Fürstin von Auersberg und Fürst und Fürstin von Liechtenstein.

Die schlimmsten Fehler in der ganzen Angelegenheit beging wohl der sächsische Resident in Wien, Graf Petzold. Er ignorierte die konkurrierenden Prinzessinnen von Anfang an und gab ihnen keine Chance, obwohl schon im Januar beleidigende Gerüchte über Maria Kunigunde und über ihren Bruder Clemens Wenzeslaus in Umlauf waren. Petzold sah auch keinerlei Gefahr, als die Zustimmung des Erzherzogs zu einer zweiten Ehe mit einer brisanten Bedingung verknüpft war: Entgegen allen Gepflogenheiten an europäischen Höfen wollte Josef seine zukünftige Frau vorher persönlich in Augenschein nehmen.

Die Dresdener Akten erwähnen diese „delikatesse“ Ende August 1764 zum ersten Mal. Für Maria Kunigunde stand praktisch alles auf dem Spiel und Dresden gab erst grünes Licht, nachdem sie einem Treffen mit dem Erzherzog zugestimmt hatte. Ihre Einwilligung war äußerst mutig, auch wenn ihr kaum eine andere Möglichkeit blieb. Ein ‚Nein’ wäre als Feigheit, als Bestätigung der Gerüchte über ihre Hässlichkeit gedeutet worden. Ein ‚Ja’ gab sie – im Falle der Ablehnung – dem europäischen Hofklatsch preis. Ablehnung bedeutete nicht nur ihren persönlichen Ehrverlust, sondern den des ganzen kurfürstlichen Hauses Sachsen. Auf dem Heiratsmarkt wäre sie für alle Zukunft ‚verbrannt’ gewesen. Unabdingbare Voraussetzung für ein solches Treffen war deswegen – so die Forderung Dresdens – absolute Diskretion und die höchste Geheimhaltungsstufe. Beides sicherte Wien uneingeschränkt zu.

Dennoch wurde Graf Petzhold von den Dresdener Diplomaten mehrfach und eindringlich gewarnt, noch einmal zu überprüfen, ob es nicht möglich sei, dass dieses Treffen nur deswegen arrangiert werde, damit der Erzherzog, der wohl schon von anderen Hofchargen „gegen unsere Prinzessin […] praevenirt und eingenommen sey“ sich von dem Projekt „dispensiren“ könne, indem er versuche, „aus der selbst in Augenschein genommenen sich selbst exaggerirenden Gesichtsbildung, bey Ermangelung aller anderen Ausstellungen“ die Heirat abzulehnen.
Schließlich fand am 10. und 11. Oktober 1764 in dem kleinen Kurort Teplitz an der Südseite des Erzgebirges zwischen Dresden und Prag das arrangierte Treffen statt. Maria Kunigunde kam in Begleitung ihrer verwitweten Schwägerin Maria Antonia, einer geborenen Prinzessin von Bayern. Maria Kunigunde selbst schrieb ihrem Bruder kurz nach der Ankunft einen recht lebendigen Brief über viele Einzelheiten der Reise, schließend mit dem Wunsch, dass der Wille Gottes sich erfüllen möge; der Erzherzog wird mit keinem Wort erwähnt.

Wie die Sache ausging, ist schnell erzählt: Am. 2. November fand in Straubing ein ähnliches Treffen mit der bayrischen Prinzessin Maria Josefa statt, die Josef schließlich zur Frau nahm. Nach seinen sehr privaten Aufzeichnungen gefiel Josefa dem Erzherzog ebenso wenig wie Maria Kunigunde. Er hat seine Braut auch nicht nach dem Aussehen erwählt, sondern aufgrund von Kriterien, die bei dynastischen Allianzen immer eine Rolle spielten: Im März des Jahres 1764 hatte die Wahl des Erzherzogs zum Römischen König stattgefunden. Bayerns Stimme war dafür unbedingt notwendig, aber nicht sicher gewesen. Auch der erbländische Adel am Wiener Hof war pro-bayerisch eingestellt, fürchtete er doch um seine böhmischen Besitzungen, auf die der bayrische Kurfürst Anspruch erhob. Um es sich weder mit Bayern noch mit Sachsen zu verderben, musste man beiden Häusern entgegen kommen. Da es in Bayern aber keinen männlichen Nachfolger gab, bot sich folgende Regelung an: Erzherzog Josef heiratet die bayerische Prinzessin Maria Josefa; Erzherzogin Christine, eine Schwester Josefs, heiratet Albert von Sachsen. Das war die einzige Möglichkeit, mit beiden Häusern Allianzen zu schließen. Geopfert wurde dabei Maria Kunigunde. Sie war – wie wohl viele Prinzen und Prinzessinnen der Zeit – nur eine Figur auf dem Schlachtfeld der Politik.

In Dresden tat man so, als sei nichts geschehen, und ging erstaunlich schnell zur Tagesordnung über, zumal Kaiserin Maria Theresia sich alle Mühe gab, die Sache wieder gutzumachen. Sie bot Maria Kunigunde an, ihr das Damenstift auf dem Hradschin in Prag, in dem eine ihrer Töchter Äbtissin war, mit großzügigen Einkünften zu überlassen. Doch Dresden lehnte ab. Dort wandte man das in der Frühen Neuzeit so gern geübte Verfahren der Retorsion, also die Erwiderung einer Beleidigung, an, indem man die Habsburger ebenfalls demütigen, zumindest in eine schwierige Situation bringen wollte. Sechs Tage, nachdem man in Dresden erfahren hatte, dass die Ehe zwischen Maria Kunigunde und dem Erzherzog nicht zustande kommen würde, verlangte man dort als Entschädigung die höchste Würde „bei einer angesehenen immediaten Reichs-Fürstlichen Abtei eines teutschen Damenstiffts […], womöglich die von Essen.“ Wien brauchte fast ein Jahrzehnt, um die Essener Fürstäbtissin, die Stiftsdamen und die Kanoniker zu bewegen, diese Forderung zu erfüllen, indem sie gegen die verfassungsrechtlichen Bestimmungen des Stifts Maria Kunigunde zur Koadjutorin mit dem Recht der Nachfolge im Amt der Fürstäbtissin wählten. Darüber hinaus erhielt Maria Kunigundes Bruder, Clemens Wenzeslaus von Sachsen, der schon in Regensburg und Freising Bischof war, durch Wiener Einflussnahme zunächst das Bistum Augsburg, später auch das Kurfürstentum Trier, wo beide Geschwister bis zum Einmarsch der Franzosen 1795 in eheähnlicher Beziehung als „ma chère femme“ und „mon mari“ Hof hielten.

Ute Küppers-Braun / Essen

Orte:

Schloss Borbeck, Schloßstraße 101, 45355 Essen

Literatur:

Küppers-Braun, Ute (vertaling Marc Hulsbosch), Te lelijk om te trouwen? Maria Cunegunda van Saksen en Francisca Christina van Pfalz-Sulzbach, in: De Krotewès. Tijdschrift geschied- en heemkundige kring „Het Land van Thorn“ 17,3, 2009, S. 131-148.
Küppers-Braun, Ute, Frauen des hohen Adels im kaiserlich-freiweltlichen Damenstift Essen (1605-1803). Eine verfassungs- und sozialgeschichtliche Studie. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Stifte Thorn, Elten, Vreden und St. Ursula in Köln (Quellen und Studien. Veröffentlichungen des Instituts für kirchengeschichtliche Forschung des Bistums Essen 8), 1997.
Puppel, Pauline, "Mon mari“ –„ma chère femme“. Fürstäbtissin Maria Kunigunde von Essen und Erzbischof Clemens Wenzeslaus von Trier, in: Koblenzer Beiträge zur Geschichte und Kultur 15/16, 2005/2006, S. 43-66.

Zitation: Küppers-Braun, Ute, Maria Kunigunde von Sachsen, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/maria-kunigunde-von-sachsen/

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Gertrud Bäumer

Gertrud Bäumer, eine der zentralen Persönlichkeiten der Frauenbewegung, wurde in Hagen-Hohenlimburg geboren, ging zeitweise in Mülheim an der Ruhr zur Schule und trat ihre erste Stelle als Lehrerin im Kamen an. Der Lehrerinnenberuf war für Frauen ihrer Generation der einzige als standesgemäß geltende Erwerbsberuf. Am 1. Oktober 1892 übernahm Gertrud Bäumer als Volksschullehrerin der reformierten Gemeinde in Kamen eine Doppelklasse mit siebzig Schülerinnen und Schülern.

Prägende Jahre in Kamen

In ihren Erinnerungen widmete sie der Zeit in Kamen 16 Seiten und hielt die Lebensverhältnisse ihrer bäuerlichen, kleinbürgerlichen und proletarischen Schützlinge, aber auch ihre eigenen Strategien, der Schulwirklichkeit gerecht zu werden, detailliert fest. Die Kamener Zeit brachte der späteren Bildungspolitikerin und Pädagogin erste intensive Berührungen mit der schulischen und gesellschaftlichen Realität. Wie der Kamener Stadtarchivar Hans-Jürgen Kistner betont, erlebte sie diese eingebettet in einen bodenständigen, konservativen Protestantismus. Aber in Kamen erhielt sie auch erste Einblicke in die Frauenbewegung: An ihrer Schule unterrichten außer Bäumer noch drei weitere Lehrerinnen, von denen eine ältere Kollegin ihr in der ersten Berufszeit beistand. Von ihr erfuhr sie auch vom 1890 durch Helene Lange gegründeten Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein und der Zeitschrift  Die Lehrerin. In Kamen erhielt sie praktische wie theoretisch Anstöße für ihr weiteres Leben als eine der bekanntesten Frauen- und Bildungspolitikerin der Weimarer Republik.

Bund deutscher Frauenvereine

Die Bildungspolitikerin Bäumer hatte in der Kaiserzeit zusammen mit Helene Lange erfolgreich reformpädagogische Selbsthilfeprojekte der Frauenbewegung ins Leben gerufen. Anerkennung zollte man ihr dafür 1906 durch die Berufung in eine 45köpfige Kommission zur Reform des Höheren Mädchenschulwesens. In die Geschichte der Frauenbewegung ging Gertrud Bäumer durch ihre Vorstandsfunktionen im Bund deutscher Frauenvereine (BDF) ein, in die Geschichte des deutschen Liberalismus als Mitbegründerin der Deutschen Demokratischen Partei, in die Geschichte des Parlamentarismus als eine der ersten weiblichen Abgeordneten.

1920 wurde Gertrud Bäumer Ministerialrätin im Reichsinnenministerium und war für die Jugendfürsorge und das Schulwesen zuständig. Nach der Machtübernahme suspendierten sie die Nationalsozialisten und entließen sie mit einer Volksschullehrerinnenpension. Bis zu ihrer Absetzung im Jahre 1936 gab sie trotz Gleichschaltung weiterhin Die Frau, das Organ der bürgerlichen Frauenbewegung heraus. Nach 1936 trat sie als viel gelesene Schriftstellerin an die Öffentlichkeit.

Bäumer in der aktuellen Forschung

Von der aktuellen Forschung wird Gertrud Bäumer ambivalent beurteilt, was mit ihrer uneindeutigen Haltung dem Nationalsozialismus gegenüber zusammenhängt. Sie folgte den nationalsozialistischen Vorstellungen von einem großdeutschen Reich bis zuletzt. Die rassistische Verfolgung, Ausgrenzung und Ermordung nahm sie nicht oder nur begrenzt wahr. Bäumer kämpfte gegen den Antisemitismus, gleichzeitig zeigte sie sich unsensibel gegenüber Jüdinnen und Juden und pflegte antijüdisch gefärbte Vorurteile. 1919 verhinderte sie die Wahl von Alice Salomon als Vorsitzende des Bundes deutscher Frauenvereine (BDF). Offiziell unterband sie Salomons Kandidatur mit dem Hinweis auf die antisemitische Grundstimmung in der Öffentlichkeit. Bäumers Verhalten nach der Machtübernahme lässt sich am ehesten als „lavieren“ beschreiben: Sie überschätzte die eigenen publizistischen Wirkungsmöglichkeiten. Ihre Anpassungsstrategien und selektiven Wahrnehmungen führten bereits zu Lebzeiten zu Kritik.

Erfahrungen für das Leben

Der folgende Auszug aus Bäumers  Im Licht der Erinnerung vermittelt einen Eindruck in die Lebensverhältniss in Kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in die Schulwirklichkeit einer jungen Lehrerin:

Zum Herbst bot mir ein Schwager meiner Mutter, der Pfarrer in Kamen war, eine Lehrerinnenstelle in der Volksschule an, die mit seiner Kirchengemeinde verbunden war. Ich wurde gerade 19 Jahre alt, als ich – für 980 Mark im Jahr – die Stelle antrat.

Ein neues, kräftiges Stück Wirklichkeit tat sich auf als Umwelt und Arbeitsfeld. Die Stadt, zwischen Dortmund und Hamm gelegen, war damals noch in ihrer Struktur ackerbürgerlich. Aber eine große Zeche hatte schon einen Teil der Handwerker und Kleinlandwirte in Bergleute verwandelt und oberschlesische Arbeiter angezogen.
Ich wohnte im Pfarrhaus und damit im Mittelpunkt eines lebendigen, kirchlichen Gemeindelebens altwestfälischer Prägung … Für die Verbindung mit den Schulkindern war meine Zugehörigkeit zum Pfarrer unersetzlich wertvoll. Ich begleitete ihn auf den nachmittäglichen Gemeindebesuchen zu den Eltern – Bauern, Handwerker, Bergleute in der Stadt und auf den verstreuten Höfen und Kleinstellen im Lande; ich wurde mit zu den Kindtaufen und Hochzeiten eingeladen und in schwierige landwirtschaftliche Gespräche über Ferkelzucht verwickelt; ich ging mit hinaus ins Zechengelände, als Bergleute verschüttet waren und angstvolle Trupps von Frauen und Kindern auf den Erfolg der Bergungsarbeiten warteten. So verwuchs man rasch mit dem eigentümlichen Lande, in dem die Fördertürme und Schlackenhalden hinter den breiten Bauernsitzen der Schulze-Velmede oder Schulze-Asten in den Horizont ragten, und die Bergleute durch die eingehegten Vieweiden die weiten Wege von ihren Kleinstellen zur Schicht zogen …
Der Lehrer einer pädagogischen Akademie von heute wird den Vorbereitungszustand, in dem eine neunzehnjährige Lehrerin eine große Klasse mit zwei Jahrgängen des dritten und vierten Schuljahrs – etwa 70 Kinder – mit dem gesamten Unterricht, auch Gesang, Zeichnen und Handarbeit, übernahm, einfach frevelhaft finden. Für die technischen Fächer war ich weder vorbereitet noch geprüft, meine Ausbildung, wenn man sie so nennen will, und mein Examen bezog sich mit zwei Fremdsprachen auf die „höheren Schulen“ – sicher wäre die eines ordentlichen Volksschulseminars in jeder Beziehung solider gewesen…

Mit theoretischen Vorstellungen von den Herbartschen Formalstufen, einer gewissen autodidaktischen Praxis aus dem Kindergottesdienst und zwei faktisch abgehaltenen Lehrproben, stand ich vor der Schar, die zunächst mein Hochdeutsch so wenig verstand, wie ich ihren Dialekt. Gleich in meiner ersten Stunde erhoben eine Reihe Finger sich mit der Mitteilung: \ich bin durchgeregnet\. Es war ein nasser Herbsttag, und die Kinder kamen zum Teil vom Lande auf weiten Wegen. Was machte man mit ihnen? Diese äußeren praktischen Fragen waren viel entscheidender als die \Methode\. Man mußte zum Beispiel wissen, wie der Urlaub zu landwirtschaftlichen Hilfsarbeiten zu handhaben war. Da von der Regierung Entgegenkommen empfohlen war, beurlaubte ich zum Vergüngen meines Onkels die Kinder zum Rübenausziehen an einem Frosttag, an dem kein Mensch eine Rübe aus der Erde holte…

Merkwürdigerweise ging es auch in dieser Form. Die Erinnerung an diese Schule ist mir immer ein Beweis, wie wenig Vorbereitung, Regelung und Paragraphen eine lebendige Sache braucht, um zu gedeihen, und daß es eigentlich auf andere Dinge ankommt, als auf `Pädagogik`im Schulsinn. (Ich bin sehr ketzerisch geworden in bezug auf „Lehrerbildung“. Das wichtigste ist, daß man sofort anfängt, mit den Kindern zu leben. Kann man das am Beispiel lernen? Ich weiß nicht, was mir die beste Vorbereitung geholfen hätte in dem breiten, niedrigen Raum mit den über den Köpfen der Kinder liegenden Fenstern, der durch Rattenfraß etwas durchlässigen Tür, dem Ofenrohr, das quer durch den Raum zur Wand führte und auf dem manchmal Tauben saßen, und diese Schar von Kindern vor mir – wohlgeraten und verkümmert, aus Bürgerstuben, von Bauernhöfen und aus Zechenhäusern, in Schuhen und in Holzpantoffeln, verwahrlost und gepflegt, mit sauber geflochtenen Zöpfen und in verdächtiger stumpfer Struppigkeit. Diese Wirklichkeit hätte man sich ja vorher nicht ausdenken können. Sie mußte eben angepackt werden. Da waren zum Beispiel vier ältere stumpfe Mädchen, die einfach nicht lesen und schreiben konnten. Drei Jahre waren sie so mitgelaufen. Ich habe sie ganz naiv täglich eine Stunde dabehalten, damit sie diese schweren Künste noch lernten, obwohl die Kollegen sagten ,das ginge grundsätzlich nicht. Wegen eines dieser Kinder wurde ich als Zeugin nach Dortmund vorgeladen; der eigene Vater hatte ein Sittlichkeitsverbrechen an seiner Tochter begangen. Eine unbekannte Welt klaffte auf. Dem einzelnen Kinde gerecht zu werden, darin schien mir immer die Schwierigkeit meiner Aufgabe zu liegen; den Unterricht, die Behandlung des \Lehrstoffs\ fand ich sehr viel einfacher. Aber das lag gewiß daran, daß ich so wenig \Methodik\ gelernt hatte. Für mein Gefühl waren mir vor allem die Kinder, jedes einzelne, anvertraut, viel mehr als das Pensum oder das \Lehrgut\. Und dieses Gefühl, daß die Schicksale der Kinder mir zu einem guten Teil aufgegeben waren, wurde ja auch durch den persönlichen Zusammenhang in der Schulgemeinde verstärkt. Der Pfarrer kannte von vielen der Kinder die Familienverhältnisse genau. Der Schule selbst lag, da sie Gemeindeschöpfung war, an dem Menschen, nicht an dem \Bildungsziel\; sie war mehr Lebensgemeinschaft als `Lehranstalt\…

Wenn ich heute eine alte Photographie der Klasse ansehe, kenne ich noch alle Namen. Ich weiß, wie die kleine, kräftige Martha Vorwig die Stricknadeln packte, daß sie sich in der heißen Kinderhand verbogen, ich sehe die dunkelhaarige Martha Stahl mit den mich selbst einschüchternden, unbeschreiblich dreisten, schwarzen Augen ungebändigt auf der \Sünderbank\ neben dem Katheder sitzen, und ich fühle wieder die Not von Minnie Kämpfer, dem Bergmannskind, in ihrem fadenscheinigen, karmoisinroten Kleidchen mit der kirschroten Schürze. Ich hatte ihr einmal nachmittags nicht freigegeben, als sie, wie fast immer, behauptete, zuhause bleiben zu müssen, weil ihre Mutter Kohlen holte. Da klopfte es leise an die Klassentüre, als die Zeichenstunde schon angefangen hatte, und davor stand, schweißperlend, das achtjährige kleine Ding mit einem Säugling auf dem einen Arm, dem sie den Bleistift zum Halten in die Faust gesteckt hatte; das Heft hatte sie unter den anderen Arm geklemmt. Sie wurde mit ihrem Pflegling in der Klasse installiert (wir \verwahrten` trotz amtlichen Verbots öfters kleine Geschwister), und wir dachten, es sei nun gut. Das Kind aber fing bitterlich an zu weinen und schluchzte auf Befragen verzweifelt: “es sind noch welche draußen. Ja, da saßen noch drei aufsteigenden Alters auf den Stufen der Haustür; die waren alle sauber gemacht, in Marsch gesetzt und den weiten Weg von den Zechenhäusern herangeschleppt worden; kein Wunder, daß der kleinen Mutter die blonden Haare in Strähnen an der Stirn klebten und die feuchte, kleine Hand zitterte, als sie anfing, ihre Striche zu malen. Nun war sie aber auch unauslöschlich dankbar. Als die große Familie bald darauf zur Zeche Königsborn übersiedelte, hat sie alle Vierteljahre, wenn wir Lehrer zur Konferenz nach Unna mußten, an der Straße gewartet, um guten Tag zu sagen…

Dr. Uta C. Schmidt/ frauen/ruhr/geschichte

Literatur:

Bäumer, Gertrud, Im Lichte der Erinnerung, Tübingen 1953; Auszug aus dem 5. Kapitel, S.  102 – 118.
Kistner, Hans-Jürgen, Wegbereiterin der Frauenbewegung als Lehrerin in Kamen, in: Jahrbuch des Kreises Unna 1988, S. 132f.
Kistner, Hans-Jürgen,„Mehr Lebensgemeinschaft als Lehranstalt“. Gertrud Bäumers Erfahrungen als Lehrerin in Kamen, in: Jahrbuch des Kreises Unna 2004, S. 45-50.
Schaser, Angelika, Helene Lange und Gertrud Bäumer. Eine politische Lebensgemeinschaft, Köln, Weimar, Wien 2000.

Zitation: Schmidt, Uta, Gertrud Bäumer, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/gertrud-baeumer/

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Maria Weber

Rund 200 Frauen aus allen Teilen Deutschlands haben an den blumengeschmückten Tischreihen Platz genommen, als Maria Weber, im Kostüm und mit leicht toupierten Haaren, das Rednerpult auf der Bühne der Kasseler Stadthalle betritt. Im Saal ist die Atmosphäre des politischen Aufbruchs mit Händen zu greifen. Die Delegierten auf der DGB-Bundesfrauenkonferenz des Jahres 1971 sind voller Erwartungen.

Bereits am Eröffnungstag haben hochrangige Vertreter des sozialliberalen Bundeskabinetts in der ersten Stuhlreihe Platz genommen. Erstmals in der Geschichte der Bundesfrauenkonferenzen hat ein Bundeskanzler persönlich zu den Teilnehmerinnen gesprochen: Willy Brandt. Die umfangreichen Reformen, die der Kanzler versprochen hat, signalisieren einen möglichen Quantensprung in der Frauenpolitik.

Doch es gibt auch Sprengstoff. Als Justizminister Gerhard Jahn über die Reform des Abtreibungsparagrafen 218 referiert, entfacht er eine hitzige Diskussion. Die überwältigende Mehrheit der anwesenden Funktionärinnen fordert die Fristenlösung. In dieser Situation, es ist der 12. Juni, tritt Maria Weber an das Rednerpult und spricht die Worte, die bleischwer auf der Frauenkonferenz lasten: Ich halte die Abtötung der Leibesfrucht auch bis zu drei Monaten für unerlaubt. Es ist nach meiner Vorstellung Aufgabe der Gesellschaft, den Schwächeren, der sich nicht helfen und wehren kann, zu schützen und nicht Leben zu vernichten.

Da steht sie vor ihren Frauen, innerlich zerrissen zwischen ihnen, für die sie immer gekämpft hat, und ihrem Gewissen. Mancher jungen Besucherin muss Maria Weber in diesem Augenblick als Relikt aus einer vergangenen Zeit erscheinen: aus der „Trägerrockgeneration“, dazu noch katholisch und politisch schwarz. Was umgekehrt Maria Weber von der Frauenbewegung der jungen Generation hält, gibt sie später, 1982, der Zeitschrift Emma zu Papier: Manche von den Jüngeren denken heute, sie hätten die Frauenfrage entdeckt und als Erste dafür etwas getan – als ob wir uns nicht schon seit mehr als 30 Jahren dafür die Hacken abrennen.

Seit 1956 hat Maria Weber die Frauenpolitik im DGB-Vorstand verantwortet. Sie hat sich für die Abschaffung der „Zölibatsklausel“ eingesetzt, die Arbeitgebern erlaubte, Frauen, die eine Ehe eingingen, zu kündigen, und sie hat gegen den „Frauenabschlag“ auf Löhne gekämpft. In den 60er und 70er Jahren war eines ihrer wichtigsten Ziele der gleichberechtigte Rentenanspruch für Frauen. Unter Maria Webers Führung war aus den DGB-Frauen eine schlagkräftige, laute Gruppe geworden. Frauen müssen um ihre Rechte nicht bitten, sie leisten etwas, also fordern sie, lautete ihr Credo.

Noch viele Bastionen des Patriarchats mussten gestürmt werden – dazu gehörten auch die gewerkschaftlichen Organisationen selbst. Ein Hort der alten Rollenmuster waren vor allem die Schule und die Familie. Hier, beim bürgerlichen Familienmodell, setzte Maria Weber über die Sozialausschüsse der CDU den Hebel an – und dies ist bis heute ein Lehrstück, wie man Politik macht. Als Erstes erweckte sie die Arbeitsgemeinschaft berufstätiger Frauen, die in der CDA bis dahin ein Mauerblümchendasein fristete, zu neuem Leben. Als ihre Vorsitzende etablierte sie für die Gewerkschafterinnen der CDU damit ein Gremium, das antragsberechtigt war und auf die Programmatik der CDU Einfluss nehmen konnte.

Mit Hartnäckigkeit und Geschick gelang es Maria Webers Gruppe schließlich, folgenden Satz im Düsseldorfer Programm der CDU von 1971 zu verankern: „Leitbild der Familienpolitik ist die partnerschaftliche Familie.“ Das Postulat schien auf den ersten Blick harmlos. Für Maria Weber jedoch diente es fortan als programmatische Plattform, um das bürgerliche Familienideal der CDU zu torpedieren. „Partnerschaftliche Familie“ bedeutete ja, dass Mann und Frau in gleicher Weise für Erwerbsarbeit und Familienarbeit zuständig waren. Das musste durch eine entsprechende Familienpolitik unterstützt werden – durch Kinderkrippen, Kindertagesstätten und Ganztagsschulen.

Entsprechende Petitionen trugen die Gewerkschafterinnen der CDA unter Maria Webers Führung nun immer wieder in die Gremien der Partei. Hier war Maria Weber ihrer Zeit weit voraus. Erst gut 30 Jahre später sollte die CDU mit einer gewandelten Familienpolitik, die Ursula von der Leyen als Bundesfamilienministerin vertrat, jene Wende vollziehen, die Maria Weber mit ihren Kolleginnen angebahnt hatte. Eine familienpolitische Dimension hatte auch das Konzept des 6-Stunden-Tages, wie es Maria Weber entwickelte.

Vor allem für die ganztägige integrierte Gesamtschule, die in Maria Webers Augen beste Schulform, die mit der Benachteiligung von Arbeitnehmerkindern und Mädchen endlich Schluss machen sollte, setzte sie sich energisch ein. Ihr selbst war als hochbegabter Arbeitertochter eine vollendete Schulbildung und das erträumte Medizinstudium verweigert worden. Da Maria Weber seit 1972 im DGB-Vorstand auch für allgemeine Bildungsthemen zuständig war, agierte sie in der Gesamtschulfrage auf ihrem Terrain – und war auch hier aus heutiger Sicht, der Sicht des Pisa-Zeitalters, ihrer Zeit voraus.

Vor allem die CSU, die gegen die Gesamtschule polemisierte, nimmt Maria Weber ins Visier und wirft ihr vor: Das ist Klassenkampf von oben, der sich des dreigliedrigen Schulsystems bedient um auszulesen, um Eliten zu schaffen, um abzuschotten und damit traditionelle Machtstrukturen als mehr oder weniger geschlossene Gesellschaft zu erhalten. Ihr Angriff und die heftigen Reaktionen in der Presse sind wohlkalkuliert. Sie will auf das Thema, so wie es die Gewerkschaften sahen, aufmerksam machen.

Ein Jahr vor der Bundestagswahl reagieren der designierte Unionskandidat Franz Josef Strauß und sein Generalsekretär Edmund Stoiber überaus empfindlich auf diese Attacken. Der Bayernkurier fordert gar den Parteiausschluss Maria Webers. Ihre Gesamtschulkampagne beherrscht für einige Tage die deutsche Presse.

Ein eigener Kopf war es, der Maria Weber vor allem auszeichnete. Heute, in der Ära nach der Agenda 2010, wo der DGB keine politischen Exklusivbeziehungen mehr kennt, wirkt das geradezu vorausblickend. Unabhängigkeit bedeutete für sie nicht, unpolitisch zu werden, sondern im Gegenteil, mit allen politischen Mitteln für die Ziele der Gewerkschaften zu kämpfen und sich Gegnern, unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit, in den Weg zu stellen. So wie sich Maria Weber mit den Granden der CSU in der Gesamtschulfrage anlegte, bot sie bei der Reform der Berufsausbildung auch Bundeskanzler Helmut Schmidt die Stirn.

Den Geschäftsbereich der beruflichen Bildung hatte Maria Weber im DGB seit 1956 systematisch ausgebaut und als verantwortliches Vorstandsmitglied immer wieder den Reformbedarf angemahnt, der dringend ein Berufsbildungsgesetz erforderte. Wie wegweisend das war, registrierte man spätestens 1969, als nach den Schülern und Studenten auch die Lehrlinge auf die Straße gingen, um eine bessere Ausbildung in der Berufsschule und am Arbeitsplatz zu fordern. Häufig war Maria Weber selbst unter den protestierenden Jugendlichen, um mit ihnen zu diskutieren und sie zu unterstützen.

Das Berufsbildungsgesetz, das 1969 endlich Realität wurde, trug ihre Handschrift. Und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten weitere Veränderungen folgen müssen – mehr Mitbestimmung in der beruflichen Bildung etwa und eine solidarische Finanzierung durch eine Umlage. An dieser Stelle jedoch war der Widerstand der Arbeitgeber und des SPD-Kanzlers Schmidt ungebrochen. Auf einem von Bundesbildungsminister Helmut Rohde zu dieser Frage anberaumten Treffen zwischen Gewerkschaftern und dem Bundeskanzler kam es 1975 zum Schlagabtausch zwischen Weber und Schmidt.

Die Gewerkschafterin musste erkennen, dass ihr am Konferenztisch ein Alphatier gegenübersaß, das noch forscher segeln konnte als sie selbst. Während Helmut Schmidt über politische Notwendigkeiten referierte und der solidarischen Finanzierung den Todesstoß versetzte, strafte sie ihn durch demonstrative Nichtbeachtung. Sie packte einfach ihre Butterbrote aus, denn sie hatte keine Angst vor Arbeiterjungs, mit denen sie sich schon in ihrer Kindheit gerauft hatte.

Maria Weber stammte aus einer katholischen Bergarbeiterfamilie aus Gelsenkirchen, klassische Wähler der Zentrumspartei. Nach dem Krieg zog die Familie nach Altenessen um. Maria Weber war in dieser Zeit Betriebsrätin bei Gelsenberg und studierte schließlich von 1947 bis 1948 an der Akademie der Arbeit. Ihrer Altenessener Heimat ist sie stets treu geblieben. Dort besuchte sie gern die katholische Messe oder stand an der Hafenstraße bei Rot-Weiss Essen im Block. In Altenessen starb sie im Juni 2002 an den Folgen eines Schlaganfalls. Aus dem Revier hatte sie ihre direkte Art und Sprache, mit der auf dem politischen Parkett nicht jeder umzugehen wusste. Mit Helmut Kohl, in den 70er Jahren noch ein Hoffnungsträger der Christlich-Sozialen, hatte sie ihre Scharmützel, vor allem aber mit seinem Generalsekretär Kurt Biedenkopf. Der hatte im Bundestagswahlkampf 1976 mit seiner „Filzokratie-Kampagne“ gegen die politischen Verflechtungen der Gewerkschaften in einer Weise agitiert, die Maria Webers Pläne für die Festigung der Einheitsgewerkschaft gefährdete.

Seit 1972 war sie als stellvertretende DGB-Vorsitzende wichtigste Vertreterin der Christlich-Sozialen in den Gewerkschaften. Da es zwischen den SPD- und CDU-Kollegen häufig krachte und es einen Vertrag über leben und leben lassen in der Einheitsgewerkschaft nicht gab, verhandelte Maria Weber mit Heinz Oskar Vetter Verhaltensstandards. Ein Ergebnis war, ein Jahr vor ihrer Pensionierung, die Präambel des Düsseldorfer DGB-Grundsatzprogramms von 1981. Hier wurde die Einheitsgewerkschaft erstmals als weltanschauliche Gemeinschaft mit internen Regeln für eine Ethik der Verständigung definiert: „Die interne Vielfalt der Meinungen verpflichtet auf der Grundlage von Toleranz zu einer eigenständigen und unabhängigen Willensbildung, die die gemeinsamen Interessen aller Arbeitnehmer zum Ausdruck bringt.“

In dieser Formulierung wurde deutlich, warum Maria Weber gegen die Legalisierung der Abtreibung in den Gewerkschaften gekämpft hatte. In Gewissensfragen musste die Einheitsgewerkschaft Luft zum Atmen lassen, damit die Interessen aller abgebildet werden konnten. Dieser Erfolg gilt vielen bis heute als zweites Gründungsdatum der Einheitsgewerkschaft. Das war Maria Webers Erfolg.

Stefan Remeke/ Werther (Westf.)

Orte:

Maria-Weber-Weg, 45327 Essen. In Essen-Altenessen war Maria Weber stadtbekannt.

Literatur:

Mitbestimmung 12/2009 – siehe http://www.boeckler.de/107_102218.html.
Remeke, Stefan, Gerd Muhr und Maria Weber, Eine sozialpolitische Elite des DGB in den frühen Jahren der sozialliberalen Koalition (1969-1974), in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen, H. 35 (2006), S. 207-223.
Remeke, Stefan, Anders links sein. Auf den Spuren von Maria Weber und Gerd Muhr, Essen 2012.

Zitation: Remeke, Stefan, Maria Weber, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/maria-weber/

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Anna Spiekermann

Anna Spiekermann kam um das Jahr 1670 als uneheliche Tochter der Elßken Spiekermann auf dem elterlichen Kotten in Sutum zur Welt. Sie wurde als letztes Opfer einer fast zweihundertjährigen Geschichte der Hexenverfolgung im Vest (Gerichtsbezirk) Recklinghausen am 31. Juli 1706 hingerichtet.

Von ihrem Vater ist bekannt, dass er Soldat aus Buer war. Ihre Mutter war früh verstorben. Die Geschwister mütterlicherseits nahmen sich der Waise an. Anna Spiekermann heiratete Dirich Brockmann aus Sutum vom Brockmannshof. Nachdem ihr Mann im Jahre 1700 als Soldat gefallen war, musste sie ein oder zwei Jahre später mit ihrer kleinen Tochter den Hof und damit den Schutzraum der Schwiegerfamilie verlassen. Auch auf dem Kotten der eigenen Familie fand sie für sich und ihre Tochter keinen Platz. Sie ging zu ihrer Tante und Patin nach Westerholt. Hier arbeitete sie auf verschiedenen Höfen als Magd. Während dieser Zeit starb ihre kleine Tochter.

In Westerholt wurde Anna Spiekermann das Opfer eines Vergewaltigungsversuches. Als sie vor Ostern einen älteren Westerholter nach Hause begleitete, wurde dessen Sohn Johannes Krampe zudringlich und belästigte sie. Aus den Gerichtsakten ist zu rekonstruieren, dass er sie gegen ihren Willen küssen wollte, sie aufs Bett geworfen und gefragt habe, ob er nachts zu ihr kommen solle. Die bedrängte Frau hatte ihm, „über seine Buchsen gestrichen“, wie sie zu Protokoll gab. Was heißt, sie war gezwungen sich gegen seine Gewalttätigkeiten tatkräftig zu wehren. Der abgewiesene und beleidigte Krampe rächte sich und verbreitete das Gerücht, Anna Spiekermann hätte ihn durch Behexung impotent gemacht, ihn „seiner Manneskraft“ beraubt. Für seinen anschließenden Rachefeldzug fand er Unterstützung bei den „Junggesellen der Freiheit Westerholt“. Zwanzig Männer rotteten sich zusammen und jagten die Frau – für alle wahrnehmbar – durch das Dorf und schlugen sie am Ende derart zusammen, dass die Geschundene alles „gestand“, was die Schläger von ihr verlangten.

Anna Spiekermann wurde der Prozess gemacht. Das Gericht legte ihr die erpressten angeblichen Taten zur Last und klagten sie an wegen Hexerei und Zauberei. Immer wieder beteuerte die Angeklagte, dass sie alles aus „grosser Angst“ bekannt habe, weil die Männer sie „dergestalt mit Schlagen und Prügeln traktiert“ hätten, „dass an ihrem Leib nichts Heiles gewesen“ sei. Ganz offensichtlich gab es keine Fürsprecher für Anna Spiekermann. Die Dorfbewohner schwiegen aus Angst, in den Prozess verstrickt zu werden.

Unter den Qualen der Folter gab die Gepeinigte alle Taten zu, die man ihr zur Last legte. So „gestand“ sie am 23. April 1705, dass die Tante ihr das Hexen beigebracht haben soll. Nachdem die Folter unterbrochen wurde und die Gefolterte wieder zur Besinnung gekommen war, widerrief sie. Sie sei wie „verdummt“ gewesen, wisse nicht mehr, was sie tue oder sage, gesagt oder getan haben soll.

Nach Folter, Verhören und nach über fünfzehn Monate Kerkerhaft verurteilte das Gericht am 31. Juli des Jahres 1706 die sechsunddreißigjährige Anna Spiekermann, Witwe und Dienstmagd in Westerholt, „wegen teils gestandener, teils überzeugter Zauberei und dadurch an Menschen und Vieh verübten Schadens“ zum Tod durch das Schwert. Ihr „toter Körper“ sollte „zum abscheulichen Exempel durch den Scharfrichter öffentlich“ verbrannt werden.

Am Tag der Hinrichtung befand sich Westerholt in einem Belagerungszustand – Folge eines seit langem schwelenden Machtkampfes zwischen dem Grafen von Westerholt und den Dorfbewohnern.

Im Vest Recklinghausen waren für Zivil- und Kriminalsachen die Gerichte in Recklinghausen und Dorsten zuständig. Der Burg- und Schlossbezirk Westerholt nahm eine Ausnahmestellung ein, denn die Bewohner von Westerholt unterstanden der Gerichtsbarkeit des Burgherrn. Im Jahre 1675 war den Herren von Westerholt vom (Kölner) Kurfürsten die Zivil-, Polizei- und Kriminalgerichtsbarkeit übertragen worden. Es kam immer wieder zu Streitigkeiten wegen der Zuständigkeit der Gerichte, wobei nicht nur der Landesherr und die Städte um die Gerichtshoheit stritten, sondern hier auch der Graf von Westerholt und seine Einwohner, die  mehr Freiheiten forderten und die Ablösung der Feudallasten.

Der Prozess gegen Anna Spiekermann besaß damit politische Brisanz. Es ging um eine Kraftprobe zwischen dem Grafen von Westerholt und seinen Untertanen. Der Graf demonstrierte seine Macht, indem er zur Hinrichtungsstätte der Anna Spiekermann einen Platz bestimmte, an dem die Prozession der Westerholter traditionsgemäß vorbeizog. In seinem Bericht an den Kurfürsten äußerte der Graf sogar die Befürchtung, dass sich die „widerspenstigen Untertanen“ bewappnen und die Exekution zu boykottieren suchen würden und dieses auf jeden Fall verhindert werden müsse, nötigenfalls unter Androhung schwerer Bestrafung.

Die Westerholter fassten die Entscheidung des Burgherrn als die Provokation auf, die sie war, und reagierten mit Beschwerden beim kurfürstlichen Gericht in Recklinghausen. Die (kurkölnische) Landesbehörde ergriff jedoch Partei für den Burg- und Grundherrn und damit gegen die nach Freiheit und Ablösung verlangenden Westerholter Dorfbewohner.
Am Todestag von Anna Spiekermann belagerten siebenhundert Landschützen Westerholt. Ihre Anwesenheit sollte die Durchführung der Exekution ohne Störungen garantieren und damit die Jurisdiktionsgewalt (Gerichtsbarkeit, Rechtsprechung) des Grafen öffentlich demonstrieren.

Anna Spiekermann war das letzte Todesopfer der Hexenprozesse im Ruhr-Lippe-Raum. Der ungewöhnlich lange Prozessverlauf und somit ihr fünfzehn Monate lang dauerndes Martyrium war den politischen Konfrontationen der Zeit geschuldet und Ausdruck von Machtdemonstration und sozialer Disziplinierung auf lokaler wie regionaler Ebene. Der Glaube an die Notwendigkeit von Prozessen gegen Zauberei konnte so im Vest noch in einer Zeit aufflammen, als die meisten Obrigkeiten andernorts bereits von den schädlichen Auswirkungen der Prozesse überzeugt waren.

Marlies Mrotzek/ Gelsenkirchen

Orte:

Zur Baut, 45701 Herten

Literatur:

Gudrun Gersmann. "Toverie halber ..." Zur Geschichte der Hexenverfolgung im Vest Recklinghausen. Ein Überblick. In: Vestische Zeitschrift. Zeitschrift der Vereine für Orts- und Heimatkunde im Vest Recklinghausen. Bd. 92/93-1993/1994. S. 7-43.
Gudrun Gersmann. Auf den Spuren der Opfer - zur Rekonstruktion weiblichen Alltags unter dem Eindruck frühneuzeiticher Hexenverfolgung. In: Vergessene Frauen an der Ruhr. Von Herrscherinnen und Hörige, Hausfrauen und Hexen 800-1800. Hg. v. Bea Lundt. Köln, Weimar, Wien 1992, S. 243-272.
Gudrun Gersmann. Die Hexe als Heimatheldin. Die Hexenverfolgung der Frühen Neuzeit im Visier der Heimathistoriker. In: Westfälische Forschungen. 45/1995. S. 102-133.
Marlies Mrotzek. Anna Spiekermann (um 1670-1706) - das letzte Opfer der Hexenverfolgung im Vest Recklinghausen. In: Von Hexen, Engeln und anderen Kämpferinnen. Stadtrundgänge zur Frauengeschichte in Gelsenkirchen. Hrsg. vom Frauen- und Mädchenforum der Lokalen aGEnda 21 in Kooperation mit dem Frauenbüro der Stadt Gelsenkirchen und dem aGEnda 21-Büro (Stadt Gelsenkirchen und Evangelischer Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid). Gelsenkirchen 2001, S. 75-80.
Die Arbeit stützt sich in weiten Teilen auf die Arbeiten von Dr. Gudrun Gersmann, die den "Fall" Anna Spiekermann nach den Gerichtsakten im Graf Westerholtschen Archiv im Archiv Recklinghausen rekonstruiert hat.
1994 erstellte die Frauengeschichtswerkstatt und die Radiowerkstatt der VHS Gelsenkirchen die Tonkassette zum Fall Anna Spiekermann. Die Darstellung hinterfragt lokale Arbeiten aus den 20er Jahren kritisch und deckt sexistische Komponenten auf. Im Mittelpunkt der Kassettenaufnahme steht die Frage nach der Stellung der Frau in der Dorfgemeinschaft in der Frühen Neuzeit. "Annäherung an eine Legende". Das Konzept erstellte Ingrid Scheld und sie führte auch Regie. Sie war Leiterin der Radiowerkstatt. Sie starb im Jahre 2000.

Zitation: Mrotzel, Marlies, Anna Spiekermann, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/anna-spiekermann/

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Ianuarinia Ianuaria

Den Totengeistern und dem ewigen Andenken an Valerius Honoratus, den vortrefflichen jungen Mann, der 23 Jahre, 1 Monat und 16 Tage lebte und gebürtig aus Traiana war. Die Mutter Ianuarinia Ianuaria, durch seinen Tod beraubt, ließ für ihren über die Maßen liebevollen und teuren Sohn und für ihre Nachkommen [diesen Stein] aufstellen und weihte ihn unter der Ascia.
Viel wissen wir nicht von den Frauen aus der römischen Stadt Colonia Ulpia Traiana, beim heutigen Xanten. Einen kleinen Einblick in das Leben der Frauen am Niederrhein gibt der Grabstein des Valerius Honoratus.

Die Inschrift verrät, dass die Mutter des Verstorbenen, Ianuarinia Ianuaria, das Grabdenkmal hatte errichten lassen. Auf den ersten Blick erfahren wir von einer trauernden Mutter, die einen schmerzlichen Verlust beklagt. Aber wer war diese Frau?

Ianuarinia lebte im frühen 3. Jahrhundert n. Chr. Welchem gesellschaftlichen Stand sie angehörte, ob sie eine römische Bürgerin oder eine Freigelassene war, wissen wir nicht. Ausgeschlossen werden kann aber, dass Ianuarinia als Sklavin der untersten Gesellschaftsschicht angehörte.

Sie stammte aus dem Rheinland, wie der mit -inia endende Name verrät. Auch die Inschrift des Grabsteins nennt den Herkunftsort des verstorbenen Sohnes Valerius Honoratus:„NATIONE TROIANENSIS“ –„gebürtig aus Traiana“. Der Grabstein wurde aber nicht in Xanten, sondern in Lyon (Frankreich) gefunden. Die Familie stammte demnach ursprünglich aus der römischen Stadt Colonia Ulpia Traiana (Xanten) und siedelte später nach Lugdunum (Lyon) über. Die Gründe für den Umzug gibt die Inschrift nicht preis. Durch andere Funde und schriftliche Quellen ist jedoch überliefert, dass in Xanten stationierte Truppen der 30. Legion Ulpia Victrix ab 197 n. Chr. nach Lyon versetzt wurden. Es liegt also durchaus nahe, dass Ianuarinia mit einem Soldaten der 30. Legion verheiratet war, dieser in die Stadt an der Rhône versetzt wurde und seine kleine Familie dorthin mitnahm. Ianuarinia verließ die niederrheinische Heimat also wahrscheinlich wegen ihres Mannes. Ein Schicksal, dass sie mit vielen anderen Soldatenfrauen teilte, wie verschiedene Inschriften erschließen lassen.

Eine Heirat zwischen Soldaten und Zivilistinnen war nicht immer möglich gewesen. Ursprünglich wurden die eheähnlichen Verhältnisse der Legionäre mit ihren Lebensgefährtinnen erst nach Abschluss der 20-jährigen Dienstzeit anerkannt. Dies änderte sich durch eine neue Gesetzgebung unter Kaiser Septimius Severus (193-211 n. Chr.). Sein Sohn Caracalla (211-217 n. Chr.) beseitigte auch die juristischen Probleme bei der Heirat von römischen Bürgern und Nicht-Bürgern, indem er 212 n. Chr. allen freien Reichsangehörigen das römische Bürgerrecht verlieh (Constitutio Antoniniana). Zuvor war die Eheschließung nur zwischen römischen Bürgern möglich gewesen.

Ob und wann Ianuarinia den Bund der Ehe einging, bleibt leider spekulativ. Im Falle einer Eheschließung (matrimonium iustum) war sie jedoch sicher durch eine manus-freie Ehe mit ihrem Ehemann verbunden. Dies bedeutete, dass sie weiterhin unter der Vormundschaft ihres Vaters (patria potestas) stand und nicht unter die Obhut ihres Ehemannes gestellt wurde. Das Vermögen der Frau blieb in diesem Fall in der väterlichen Familie.

Aus juristischer Sicht waren die meisten Frauen in der römischen Kaiserzeit von Geburt an von einem Vormund abhängig: Dies konnte ihr Vater, ein Verwandter oder ein anderer Vormund sein. Bei der bis etwa in die Zeit um Christi Geburt verbreiteten manus-Ehe wurde die Frau mit ihrem gesamten Vermögen aus der potestas ihres Vaters in die des Ehemannes übergeben. Sie war dadurch nicht mehr Mitglied ihrer “alten“ Familie, sondern unterstand nun der Vormundschaft ihres Mannes oder dessen Vater. Diese Form der Eheschließung kam jedoch während der frühen Kaiserzeit außer Mode.

Von der Vormundschafts-Regelung ausgenommen waren die jungfräulichen Priesterinnen der Göttin Vesta in Rom. Eine Gruppe von sechs Frauen war dazu auserkoren, den 30 Jahre währenden Tempeldienst in Keuschheit zu verrichten; auf den Verlust der Jungfräulichkeit stand die Todesstrafe.

Eine Möglichkeit, die Vormundschafts-Regelung zu umgehen und als Frau eine Person „eigenen Rechts“ (sui iuris) zu werden, lieferte das sogenannte Dreikinderrecht der Ehegesetze des Augustus: Eine freie Frau musste drei, eine freigelassene Frau vier Kinder gebären.

Wie viele Kinder Ianuarinia letztendlich hatte und ob sie sui iuris war, bleibt unklar. Angesehenes Ziel einer Ehe war es gemeinhin, legitime Nachkommen zu zeugen. Die gebräuchliche Bezeichnung für Ehe lässt dies noch erkennen – matrimonium bedeutet „Mutterschaft“. Die Frau galt aber rechtlich nicht verwandt mit ihren Kindern, da diese der Vormundschaft des Vaters oder bei dessen Tod eines anderen männlichen Verwandten unterstanden. Eine Frau konnte niemals die patria potestas über jemanden haben.

Zum Zeitpunkt der Grabsteinsetzung war Ianuarinia offensichtlich bereits verwitwet. Ihr Mann scheint in Frankreich verstorben zu sein, da auf dem Grabstein keine Totenehrung in seinem Namen erfolgte. Sie war nach dem Tod des geliebten Sohnes also allein fernab der Heimat. Wie bestritt sie ihren Lebensunterhalt? Vermutlich konnte sie vom Erbe ihres verstorbenen Mannes gut leben: Soldaten galten in finanzieller Hinsicht gemeinhin als “gute Partie“ – vor allem in der Zeit des Kaisers Septimius Severus, der seine Soldaten vielfach durch Solderhöhungen förderte.
Frauen, die finanziell nicht durch die Familie versorgt wurden, mussten sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Überliefert ist eine Vielzahl von Tätigkeiten: Von der Amme bis zur Prostituierten.

Frauen war es jedoch untersagt, (offiziell) politisch tätig zu werden und ein Amt zu bekleiden. Sie hatten auch weder aktives noch passives Wahlrecht, noch durften sie als Zeugin vor Gericht aussagen. Trotz der juristischen Einschränkungen wurde die Frau, wenn sie einen eigenen Haushalt führte und Kinder auf die Welt gebracht hatte, von der Gesellschaft als matrona mit Ansehen belohnt. Zahlreiche Grabinschriften berichten von tugendhaften Frauen, zu deren angesehner Aufgabe es gehörte, Wolle zu spinnen. So sind auf Grabsteinen für Frauen immer wieder Spindel und Rocken wiedergegeben.

Ein Grabdenkmal für Ianuarinia wird vielleicht ähnlich gestaltet worden sein, wissen werden wir es aber wohl nie.

Romina Schiavone/ LVR-RömerMuseum im Archäologischen Park Xanten

Orte:

LVR-Römermuseum im Archäologischen Park Xanten, Siegfriedstraße. 39, 46509 Xanten

Literatur:

Brandl, Ulrich (Hrg.), Frauen und römisches Militär. Beiträge eines Rundes Tisches in Xanten vom 7.-9. Juli 2005, BAR International Series 1759, Oxford 2008.
Gardner, Jane F., Frauen im antiken Rom. Familie, Recht, Alltag, München 1995.
Späth, Thomas/ Wagner-Hasel, Beate (Hrg.), Frauenwelten in der Antike. Geschlechterordnung und weibliche Lebenspraxis, Stuttgart/Weimar 2006. Römische Frauen. Ausgewählte Texte, Lateinisch/Deutsch (übersetzt und herausgegeben von U. Blank-Sangmeister), Stuttgart 2008.

Zitation: Schiavone, Romina, Ianuarinia Ianuaria, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/ianuarinia-ianuaria/

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Antonie Jüngst

Die einzige Frau in der Riege der Werner Ehrenbürger ist bis heute Antonie Jüngst geblieben. Sie wurde am 13. Juni 1843 in Werne als elftes von insgesamt zwölf Kindern im Haus Nr. 158, heute Steinstraße 6, geboren. Ihr Vater, Wilhelm Jüngst, kam als preußischer Steuereinnehmer nach Werne und gehörte der evangelischen Konfession an. Er heiratete in Werne Franziska Waldeyer, die katholisch war und auch ihre gemeinsamen Kinder im katholischen Glauben erzog. Der Vater verstarb schon 1844 und so blieb die Mutter mit zwölf kleinen Kindern alleine. Wenige Jahre später verstarb auch sie im Alter von nur 44 Jahren. Die Kinder, nun Vollweisen, wurden auf Verwandte und Bekannte der Familie aufgeteilt. Antonie, gerade erst fünf Jahre alt, kam zum kinderlosen Ehepaar Justizrat Crone nach Rheine. Dort erkannte man ihre sprachliche Begabung. Sie vollendete ihre Schulausbildung in Aachen bei den Ursulinerinnen von St. Leonhard. Danach lebte sie bei ihren inzwischen nach Münster verzogenen Pflegeeltern. Mit ihnen, nach dem Tod des Pflegevaters mit der Mutter allein, machte sie größere Reisen in die Schweiz, nach Thüringen und Italien. Auf ihrer zweiten Romreise im Frühjahr 1899 durfte sie ihr Werk Roma aeterna in einer Privataudienz Papst Leo XIII. überreichen.

Nach dem Tod ihrer Pflegemutter im Jahr 1894 arbeitete Antonie Jüngst in leitender Stellung als katholische Fürsorgerin. Ihr frühes Engagement für den 1903 gegründeten Katholischen Frauenbund Deutschlands zeigt sich in der Herausgabe des Aufsatzbandes: Gezeichnet!: ein Büchlein von der Fürsorge; zum besten des Vincenz-Waisenhauses in Münster im Jahre 1905 mit Aufsätzen u.a. von Hedwig Dransfeld und Antonie Haupt.  Sie gab ebenfalls ein Gedenkbüchlein der Generalversammlung des katholischen Frauenbundes von Sonntag den 25. Oktober bis Mittwoch den 28. Oktober 1903 in Münster in Westfalen heraus.

Ihre Verbundenheit mit der katholischen Frauenvereinigung zeigt sich auch darin, dass Hedwig Dransfeld, von 1912 bis 1922 hauptberufliche Vorsitzende des Katholischen Frauenbundes und seine politisch einflussreichste Stimme, Erinnerungen an Antonie Jüngst verfasste:„Antonie Jüngst wirkte viel mehr durch ihre Persönlichkeit als durch ihre Dichtung. Aus unserer Literaturgeschichte wird sie möglicherweise bald verschwinden, wenn nicht doch vielleicht ihr Nachlaß uns bringt, was wir, die ihr nahestanden, von ihr erbaten und ersehnten: ihre Lebenserinnerungen. … Antonie Jüngst – eine unserer Edelsteine und Besten! Und zugleich eine von denen, die – wenn auch aus scheuer Seele heraus – die neue Zeit zu verstehen suchten und tatsächlich verstanden!“

In Münster trat Antonie Jüngst in näheren Kontakt zu Christoph Bernhard Schlüter, dem Freund und Mentor von Annette von Droste-Hülshoff. Er betreute ihre literarischen Versuche und übersetzte mit ihr zahlreiche Gedichte aus dem Englischen. Schöningh in Paderborn verlegte einige ihrer bedeutendsten Werke: Aus meiner Werkstatt, Der Tod Baldurs, Conradin der Staufer, Was die Lagune birgt. Bilder aus der Geschichte Venedigs, Unterm Krummstab. Eine künstlerisch hochstehende, tief religiöse Dichtung ist Maria Magdalena, von der sie am 24. September 1908 schrieb:„Ich habe die mir aus vollem Herzen quellende Dichtung glücklich beendet und hoffe, das Büchlein in nicht zu ferner Zeit meinen Freunden vorlegen zu können.“

Insgesamt umfasst das Werk der Antonie Jüngst neben zahlreichen Gedichtbänden, Novellen und epischen Erzählungen auch musikdramatische Dichtungen wie zum Beispiel Der Erdenpilger und sein Schutzgebiet, Quo vadis und St. Stephanus. Diese Oratorien wurden vertont und kamen in Amsterdam und anderen Städten zur Aufführung. Antonie Jüngst hielt in einem Text ein romantisches Bild der „Heimat Werne“ fest:  … Oft malt sich mir das Bild der alten Lippestadt Werne. Dann sehe ich seine stillen Straßen und Gassen, die Freundlichkeit seines Marktplatzes, dann höre ich das Rauschen seiner alten Bäume, lausche andächtig dem Klang der Vogelstimmen, gehe wie im Traum durch die weiten, gesegneten Kornfelder und über die grünen münsterländischen Kämpe. So mächtig ist das Bild der Heimat! So stark und fordernd! Wenn es mich erfüllt, wächst in mir ein hoher Mut …!

Im Dezember 1917 erlitt Antonie Jüngst einen Schlaganfall, der sie ans Bett fesselte. Einen weiteren Schlaganfall überlebt sie nicht.

Uta C. Schmidt/ FRAUEN.ruhr.GESCHICHTE.

Orte:

Geburtshaus mit Gedenktafel, Steinstraße 6, 59368 Werne
Jüngststraße, 59368 Werne
Sammlung ihrer Werke im Stadtmuseum Werne, Kirchhof  13, 59368 Werne
Grabstätte auf dem Zentralfriedhof in Münster, Robert-Koch-Straße 11,
48149 Münster

Literatur:

Fertig-Möller, Heidelore,„Oft malt sich mir das Bild der alten Lippestadt …“. Die Werner Dichterinnen Antonie Jüngst und Toni Schmedding-Elpers“, in: Kreis Unna (Hg.), Jahrbuch des Kreises Unna 2010. Kultur-Geschichten, Unna 2010, S. 49-52.
Dransfeld, Hedwig, Eine Erinnerung an Anotie Jüngst, in: Hedwig Dransfeld zum Gedächtnis. Zum 2. jahrestag ihres Todes, hg. v. Katholischen Deutschen Frauenbund, 1927, S. 47-49.
Artikel: Antonie Jüngst, in: Lexikon Westfälischer Autoren und Autorinnen 1750-1950, in: http://www.lwl.org/literaturkommission/alex/index.php?id=00000002

Zitation: Schmidt, Uta C., Antonie Jüngst, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/antonie-juengst/

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Adelheid Kramer

Der Genuss von Tabak ist am Niederrhein seit etwa 1629 bekannt, zunächst hauptsächlich in geschnupfter Form und durch Rauchen in der (Ton)Pfeife – übrigens auch von Frauen, wie aus Verboten für westfälische Frauen-Stifte geschlossen werden kann. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurde Rohtabak zu Rauchtabak verarbeitet und seit Mitte des 19. Jahrhunderts siedelten sich am Niederrhein Zigarrenfabriken an. In Orsoy wurde die Zigarrenproduktion für längere Zeit eine der wichtigsten Industrien. Der Standort war aus mehreren Gründen günstig: Der Rhein war eine gute Verkehrsanbindung und als die Textilindustrie in Folge von Konkurrenz um ca. 1815 niederging, gab es Arbeitskräfte und leer stehende Produktionsräume. Vor allem aber waren die Arbeitskräfte im ländlichen Raum billig, worauf die Zigarrenindustrie mit ihrem sehr arbeitsintensiven Handwerk angewiesen war. Die Abwanderung männlicher Arbeitskräfte in die Schwerindustrie Duisburgs begünstigte diese Entwicklung zusätzlich. Ehemalige Tuchfabrikanten wie Lüps wagten 1815 mit der Zigarrenherstellung einen Neubeginn. Bald folgten weitere Fabrikationsgründer wie Hagemann, Ketels, Kirking, Bierhaus und Kersken.

Um die Wende ins 20. Jahrhundert beschäftigte die Zigarrenindustrie in acht Betrieben 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, 1909 waren es 411. Mittlerweile arbeiteten 75 Prozent aller Erwerbstätigen in Orsoy in den Zigarrenfabriken. Für 1895 ist ein Frauenanteil in der Tabakindustrie von 59 Prozent nachgewiesen. Die Arbeit von Frauen, als Heim- und Fabrikarbeit steht dabei in einer langen Tradition. Sie fand in den Tuch- und Tabakfabriken statt. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Tabakfabriken in Orsoy schlossen, fanden Frauen in den Zwirnereien neue Arbeitsplätze.

Das Frauengeschichtsprojekt Rheinberg konnte vier Zeitzeuginnen der Jahrgänge 1920-1931 ausführlich interviewen, die in dem Zeitraum von 1935 bis 1956, teilweise mit Unterbrechungen, bei der Firma Bierhaus und deren Nachfolgern arbeiteten. Für sie, die im Alter von 14 bis 18 Jahren in den Betrieb kamen, stellte sich trotz des niedrigen Lohnes die Arbeit dennoch nicht als Ausbeutung dar: Sie hatten Arbeit. Sie konnten das nötige Zubrot für die Familie verdienen und sich selber etwas leisten. Und sie fühlten sich unter den Arbeitskolleginnen wohl. Die interviewten Frauen erinnerten sich durchweg positiv an die Geselligkeit und die gute Kameradschaft. Die Arbeit bot ihnen eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber den Eltern. Gespräche bei der Arbeit drehten sich ums Wochenende, Tanzen und Liebschaften. Tanzen am Wochenende war das beliebteste Freizeitvergnügen. Dabei durfte das junge Mädchen aus Walsum bei „Änne“ in Orsoy auch schon mal übernachten, sonst hätte sie sich dieses Vergnügen nicht erlauben können.

Später in Kriegs- und Nachkriegszeiten wurde bei der Arbeit ausgetauscht, wie sich der Alltag im Chaos des Zusammenbruchs am besten organisieren ließ.
In der Abteilung von Frau K. fand die Arbeit mit 40 bis 50 Frauen in einem großen Raum statt. Sie saßen an langen Tischen, die Zigarrenrollerinnen an den langen Seiten, die Wickelmacherin vor Kopf. Das Sprechen bei der Arbeit war „eigentlich“ verboten, wie Frau D. erzählte, wurde aber – mit einer Ausnahme – von allen Meistern geduldet: Einer liebte sogar den Gesang der Frauen bei der Arbeit. Der unbeliebte Meister hingegen kontrollierte nicht nur durch ein Loch in der Decke, ob gesprochen wurde, sondern maßregelte die Frauen auch bei seinen üblichen Kontrollgängen durch die Reihen. Wenn die „Wickel schlecht“ waren oder eine Zigarre zu schwer,„schmiss er sie raus“, wie sich Frau G. ausdrückte. Er warf auch Zigarren raus, die in Ordnung waren, um den Akkord zu brechen.

Als einzige der Interviewten absolvierte Frau D. eine Lehre bei der Firma Bierhaus. Später arbeitete sie als Deckblattrollerin. Sie stand damit in der Hierarchie der Tätigkeiten nur noch unter den Sortierern und wurde besser bezahlt als Entripper und Wickelmacherinnen. Ihre Bezahlung richtete sich nach der Tätigkeit und der produzierten Stückzahl. So verdiente sie 1947 in sechs Monaten 331,75 DM (Deutsche Mark), zusätzlich dazu 55 DM Akkordzulage.

Vor dem Zweiten Weltkrieg konnte man im Akkord 15 Reichs-Mark in der Woche verdienen. Nach dem Krieg erwirtschaftete eine Arbeiterin mit 3.000 Wickeln bei Zigarren einen Tageslohn von 9 DM. Obwohl durch die Staubentwicklung des Tabaks gesundheitlich und durch eine tägliche Arbeitszeit von neun Stunden kräftemäßig belastet – hinzu kam die Anreise mit dem Fahrrad oder der Fähre aus Walsum – erinnerten die Tabakarbeiterinnen ihre Zeit bei Bierhaus positiv. Herausgestellt wurde der zweiwöchige Betriebsurlaub und das Urlaubsgeld. Erinnert wurde auch der monatliche „Hausarbeitstag“, der gesetzlich gewährt wurde.

Die Interviewpartnerinnen betonten die soziale Seite der Arbeit. In ihren Erinnerungen kam dem privaten Lebensbereich der gleiche Stellenwert zu wie der Arbeit. Alle Frauen vereinbarten die außerhäusliche Erwerbsarbeit mit Familienpflichten, sie halfen in den elterlichen Familien und pflegten kranke Elternteile. Frau Kramer resümierte:„Gott sei Dank, alle, die wir gearbeitet haben, kriegen jetzt \ne Rente!“

Anne Drell und Hella Gilles/ Frauengeschichtsprojekt Rheinberg

Orte:

47493 Rheinberg

Literatur:

Streiflichter zur Rheinberger Frauengeschichte: Eine Dokumentation des Rheinberger Frauengeschichtsprojektes in Zusammenarbeit mit der Gleichstellungsstelle der Stadt Rheinberg, hg. v. d. Gleichstellungsstelle der Stadt Rheinberg in Verbindung mit dem Frauengeschichtsprojekt Rheinberg, Rheinberg 2003. 

Zitation: Frauengeschichtsprojekt Rheinberg, Adelheid Kramer, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/adelheid-kramer/

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Ida von Bodelschwingh

Ida von Bodelschwingh, am 15. April 1835 auf dem Wasserschloss Haus Heyde bei Unna geboren, war die Frau an der Seite des bekannten Wegbereiters der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, Friedrich von Bodelschwingh. Über sie war bislang wenig bekannt. Doch ihrer Nachwelt hat Ida von Bodelschwingh etwas Wichtiges hinterlassen: Mehr als 500 Briefe liegen im Hauptarchiv Bethel. Sie zeigen den arbeitsreichen Alltag einer Ehefrau, Hausfrau und Mutter im 19. Jahrhundert, aber auch ihre Gedanken und Gefühle, ihre Sorgen und Nöte.
Der Vater von Ida von Bodelschwingh war Carl von Bodelschwingh, der spätere preußische Finanzminister, und ihre Mutter Elise, geborene von Bodelschwingh-Plettenberg. Ida kannte Friedrich von Bodelschwingh schon seit ihrer frühesten Kindheit, denn die beiden waren Cousine und Cousin. Im Oktober 1860 verlobten sie sich, am 18. April 1861 fand die Hochzeit statt.

Für drei Jahre wurde nun Paris ihr Zuhause. Friedrich von Bodelschwingh war dort Pfarrer der deutschen Gemeinde. Hier kam auch der erste Sohn zur Welt. Doch Idas Heimweh nach Deutschland wurde immer stärker, so dass sich Friedrich von Bodelschwingh für eine Pfarrstelle in Dellwig bei Unna entschied. Gewachsene dörfliche Strukturen, ein ansehnliches Pfarrhaus mit Garten und nicht zuletzt die Nähe zu ihrer Familie auf Haus Heyde – hier fühlte sich Ida von Bodelschwingh ausgesprochen wohl. Bis das Paar im Januar 1869 eine private Tragödie erlebte: Eine Epidemie grassierte. Innerhalb von 14 Tagen starben alle vier Kinder an Keuchhusten und Lungenentzündung. Umso schwerer fiel es Ida von Bodelschwingh, wenige Jahre später nach Bethel zu gehen, und die Gräber ihrer Kinder in Dellwig zurückzulassen.

Doch im Januar 1872 siedelten Friedrich und Ida von Bodelschwingh – mittlerweile wieder Eltern eines Sohnes – nach Bielefeld um. Im darauffolgenden Jahr konnte das Paar mit dem vierjährigen Wilhelm und dem knapp einjährigen Gustav ein neu erbautes Pfarrhaus beziehen. Dort kam auch die Tochter Frieda und schließlich der jüngste Sohn Friedrich auf die Welt.

Zwanzig Jahre lebte Ida von Bodelschwingh in einer unaufhörlich wachsenden diakonischen Einrichtung. Auf rund 50 Häuser mit mehr als 1.700 Patientinnen und Patienten dehnte sich Bethel in dieser Zeit aus: Eine Herausforderung auch an sie, als Ehefrau des Anstaltsleiters. Ida von Bodelschwingh machte Krankenbesuche, sortierte und bearbeitete die Post und verfasste selbstständig die Dankesbriefe für die eingegangenen Spenden. Während der Abwesenheit ihres Mannes, der sich häufig auf Reisen befand, organisierte sie die Predigtdienste, ordnete seine Post nach Wichtigkeit und hielt ihn brieflich über den Werdegang verschiedener Patientinnen und Patienten auf dem Laufenden. Auch bei seinen zahlreichen Veröffentlichungen assistierte sie ihrem Mann, der bei der Fülle seiner Aufgaben auf ihre Mitarbeit dringend angewiesen war.

Aus dem Briefwechsel Ida von Bodelschwinghs wissen wir, wie turbulent es manchmal bei ihr im Pfarrhaus zuging. So schreibt sie ihrem Mann am 22. Mai 1876: Mitten in einem stürmisch bewegten Montag suche ich mir ein stilles Stündchen Dir zu schreiben – nebenan Kinderlärm, im Keller und Flur arbeitende Leute, bei denen es oft laut zugeht, dabei wie immer viel Anliegen – Frau Hannes und die Schwester, Frl. Charlotte auf dem Weg zur Stadt, 4 Epileptische – alle im Flur mit Anliegen mich bestürmend...

Die hohe Arbeitsbelastung forderte mit den Jahren ihren Tribut. Phasenweise litt Ida von Bodelschwingh – wie bereits in ihrer Jugend und nach der Geburt ihres ersten Sohnes – unter Depressionen. Sie fühlte sich oft einsam und vermisste ein geordnetes Familienleben mit ihrem Mann. In einem Brief vom Oktober 1885 führt sie ihm vor Augen, wie wenig er sich um seine Familie kümmert: Bei uns ists Sonntags meist so: zuerst Frühstück und Morgenandacht ohne den Papa – er kam den ganzen Sonnabend ja nicht zum Studieren; wenn keine Hauptpredigt, dann dringende Briefe zu erledigen – verspätetes eiligstes Mittagessen, wo man zu müde ist mit den Seinen zu sprechen – 10 Minuten Schlaf, im Trabe in die Brüderstunde! im Stürmen 1 Schluck Kaffee – Schwesterntag, Conferenz, Besuche und dergleichen – Abendpredigt, dringende andere Sachen zu erledigen – Frau und Kinder sind und bleiben allein.
1894 verschlimmerte sich ihr Leiden erheblich, so dass sie im Herbst in das Lindenhaus nach Lemgo gebracht werden musste, einer Heil- und Pflegeanstalt für psychisch Kranke. Dort starb sie am 5. Dezember 1894 im Alter von 59 Jahren.

Ida von Bodelschwingh führte das Leben einer bürgerlichen Frau, das sich ganz nach der zeitgenössischen Geschlechterordnung vor allem im privaten Bereich als Ehefrau, Hausfrau und Mutter abspielte. Die geschlechtsspezifische Aufgabenteilung hat sie nie auch nur ansatzweise in Frage gestellt. Doch bot ihr das „Amt“ ihres Mannes einen nahezu eigenen Arbeitsbereich, den auch sie „Beruf“ nannte. Wurde sie in Paris noch von ihrem Mann in verschiedene Arbeitsbereiche als Pfarrfrau eingewiesen, nahm sie diese in Dellwig und noch viel mehr in Bethel eigenständig wahr.
Doch während Ida sich an seinem beruflichen Leben aktiv beteiligte, zog Friedrich von Bodelschwingh sich aus dem häuslichen Leben immer mehr zurück. Ruhelos trieb er seine Arbeitsbereiche voran, während sie sich dringend nach mehr Ruhe sehnte. In Idas Briefen aus der späteren Zeit in Bethel spiegelt sich auch ihre Einsamkeit an der Seite ihres berühmten Mannes, den seine eigene Familie leider sehr wenig zu sehen bekam. Dennoch ist sich Ida von Bodelschwingh bis zuletzt der Liebe ihres Mannes sicher,„der mich den größten Theil meines Lebens auf Händen getragen hat.“ (Ida von Bodelschwingh an ihren Mann vom 16.10.1894)

Claudia Puschmann und Kerstin Stockhecke/ Hauptarchiv der von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel

Orte:

Haus Heyde wurde abgerissen, Spuren in Uelzen, 59425 Unna
Dellwig, 59427 Unna

Literatur:

Claudia Puschmann/ Kerstin Stockhecke, Ida von Bodelschwingh (1835-1894). Ein Lebensbild (Geschichte in Bethel, Bd. 3), Bielefeld 2007.

Zitation: Puschmann, Claudia; Stockhecke, Kerstin, Ida von Bodelschwingh, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/ida-von-bodelschwingh/

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Ingeborg Hübner

Wie sie zur Elektrotechnik gekommen ist? „Ich hatte Spaß an der Mathematik und wollte einen modernen Beruf ausüben“, berichtet Ingeborg Hübner, pensionierte Professorin der Hochschule Bochum. Mag die Berufswahl noch unkompliziert gewesen sein –  einfach war der Weg zur Hochschullehrerin in einem ausgesprochenen „Männerfach“ nicht.

Es war ihr profundes Interesse an den naturwissenschaftlichen Fächern, an Technik und Mathematik, das durch alle Schwierigkeiten half. Und: „Hindernisse fordern mich heraus“. Von denen gab es nicht wenige. Verlief die Schullaufbahn von der kleinen Dorfschule in Niedersachsen bis zum Abitur am Gymnasium in Hannover noch reibungslos, tauchte mit der Immatrikulation die erste Hürde auf. Voraussetzung für das Studium der Ingenieurwissenschaften war ein halbjährliches Praktikum in einem technischen Betrieb. Dieses zu ergattern scheiterte Anfang der 60er Jahre meist an mangelnden sanitären Anlagen für Frauen. Wenigstens stand es so in den Absagebriefen auf die vielen Bewerbungen, die die Abiturientin schreiben musste. Bis ein Landmaschinenhersteller, der Frauen bereits als technische Zeichnerinnen beschäftigte, grünes Licht gab. Jetzt galt es, sich z. B. in der Gießerei zu beweisen und nicht zuletzt auch vor den Herren Kollegen: „Ich als Frau und dann als Linkshänderin mit dem Hammer in der Hand! Da haben einige schon komisch geguckt“, erinnert sich Ingeborg Hübner.

An der Technischen Universität Hannover dann als eine von drei Frauen unter 250 männlichen Kommilitonen zu studieren war „nichts Besonderes. Ich habe mir einfach gedacht: Wenn die mit mir klarkommen, komme ich auch mit denen klar“. Von den drei Anfängerinnen blieb sie als einzige dabei.

Nach dem Examen standen Dank des damaligen Ingenieurmangels mehrere Stellen zur Auswahl. Die Wahl fiel wegen des Faibles für Forschung auf ein Bremer Institut für Materialforschung. Aber schon nach wenigen Monaten bot sich in Hannover die Gelegenheit, an einem neugegründeten „Institut für Werkstoffe der Elektrotechnik und Halbleitertechnologie“ zu forschen.„Das war was Modernes, das hat mich interessiert“. Die Doktorandin (Promotion zum Dr.-Ing. 1975) wirkte mit beim Aufbau des Instituts, lehrte als wissenschaftliche Assistentin an der Universität und entwickelte Werkstoffe für ein revolutionäres Produkt: die blaue Leuchtdiode, die heute für Anzeigen in technischen Instrumenten und Computern Verwendung findet. „Es gab keinen Vortritt für Damen. Ich habe mich voll eingegeben, mich weitergebildet, Leistung gezeigt und mich bewährt. Es wurde viel verlangt, wer sich mit Halbleitertechnik befasst, muss die gesamte Elektrotechnik kennen, außerdem Chemie, Physik und alles …“ Zum Job gehörte nicht zuletzt die Verantwortung für die Versuchsaufbauten mit hohen Anforderungen an das mechanisch-handwerkliche Können.

1977 bewarb sich Ingeborg Hübner an der Fachhochschule Bochum. Es gab dreizehn weitere – männliche –  Bewerber. Ihre Ausbildung sowohl in klassischer Elektrotechnik als auch in der neuen Halbleitertechnik gab den Ausschlag. Zudem hatte sie in Hannover Lehrkonzepte mit entwickelt, nach denen noch heute in ganz Deutschland Grundvorlesungen gehalten werden. Damit hatte die kleine Bochumer Fachhochschule vermutlich als erste Hochschule in NRW eine Professorin in der Elektrotechnik. Zu unterrichten waren und sind überwiegend männliche Studierende. „Ich wurde schon kritisch betrachtet, ob ich die Leistung bringe. Aber ich habe immer gern mit den Studierenden gearbeitet und Praktiker sowie praxisorientierte Forschungs- und Entwicklungsingenieure ausgebildet“.

In Bochum erfüllte sich nun der Wunsch nach einer Familie – zum Teil zumindest. Der Sohn blieb ein Einzelkind, da für eine größere Familie der organisatorische Aufwand kaum zu bewältigen ist. Bereits zwei Monate nach der Geburt ging die junge Mutter zurück an die Hochschule, bei einer Freistellung hätte das gesamte Lehrpensum später nachgeholt werden müssen. Die Kindergartenzeit sei ein „Affentheater“ gewesen. Der lange Arbeitstag passte nicht zu den kurzen Betreuungszeiten. Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, war mit hohem Zeitdruck und ständigem Koordinationsaufwand verbunden. „Man muss einer Frau die Möglichkeit geben, sich auch in der Familie zu verwirklichen. Wer sich intensiv in den Beruf gibt, braucht den Rücken frei“, fordert Ingeborg Hübner. Ohne die Unterstützung der eigenen Mutter wäre die Kinderbetreuung nicht zu schaffen gewesen. Die Mutter spielte schon früher eine wichtige Rolle für Ingeborg Hübners berufliche Entwicklung. Selbst ohne Ausbildung wegen Krieg und Nachkriegswirren, ermutigte sie ihre Kinder immer wieder, einen Beruf zu erlernen.

Zusätzlichen Einsatz für die Hochschule leistete Ingeborg Hübner im Laufe der Zeit als engagiertes Mitglied in allen Gremien und übernahm damit auch Verantwortung für die Weiterentwicklung der Institution. Von 1993 bis 1997 wirkte sie im Rektorat, fungierte vorher bereits als erste Frauenbeauftragte der Hochschule. Mit ihrer Teilnahme an den Berufungsverfahren wurden Auswahlkriterien kritischer überprüft und mancher Kandidatin der Weg zur Professur ermöglicht.

2007 ging Ingeborg Hübner in Pension. Ihren besonderen Berufsweg sieht sie als Selbstverständlichkeit: „Ich fühlte mich nicht besonders. Wenn ich was wollte, habe ich es durchgesetzt“, macht sie deutlich und rät: „Die jungen Frauen sollen zu ihren Wünschen stehen. Dann haben sie auch die Kraft, ihre Ziele zu erreichen“.

Dr. Andrea Kiendl 

Orte:

Hochschule Bochum | Bochum University of Applied Sciences, Lennershofstr. 140, 44801 Bochum

Literatur:

Hansch de Pfaffeneder, Ingeborg, Herstellung gezielt dotierter SiC-Schichten verschiedenen Polytyps durch Gasphasenepitaxie und ihre Untersuchung. Diss. Hannover 1975.

Mooraj, Margrit, Frauen, Männer und Technik: Ingenieurinnen in einem männlich besetzten Berufsfeld. Frankfurt 2002.

Wentzel, Wenka (Hg.), Ingenieurin statt Germanistin und Tischlerin statt Friseurin?: Evaluationsergebnisse zum Girls Day - Mädchen-Zukunftstag. Verlag Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit e.V., Bielefeld 2007.

Zitation: Kiendl, Andrea, Ingeborg Hübner, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/ingeborg-huebner/

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Li Fischer-Eckert

Die 1882 als Tochter von Luise und Carl Friedrich Eckert in St. Johann Saarbrücken geborene Lina Johanna soll in späteren Jahren mit Spitze geraucht und leicht maskulin gewirkt haben. Zu diesem modernen und selbstbewussten Frauenbild der 1920/30er Jahre passt, dass sie ihrem Examensabschluss „zur Befähigung als Lehrerin an höheren und mittleren Mädchenschulen“ ein Studium der Jurisprudenz und Staatswissenschaften in Göttingen und Tübingen folgen ließ. 1913 schloss sie es erfolgreich bei dem sozialistisch orientierten Nationalökonom Robert Wilbrandt mit einer Dissertation ab. Auch die Beibehaltung ihres Mädchennamens mit Ehelichung des Hagener Rechtanwaltes und Fabrikanten August Fischer 1905 – was in Deutschland bis zur Einführung des Gleichberechtigungsgesetzes 1957 de jure nicht statthaft, wenn auch nicht unüblich war – fügt sich in dieses Bild.

Bekannt wurde Li Fischer-Eckert im Ruhrgebiet aufgrund ihrer 1913 in einem Hagener Verlag veröffentlichten Doktorarbeit „Die wirtschaftliche und soziale Lage der Frauen in dem modernen Industrieort Hamborn im Rheinland“. In den 1980er Jahren wurde diese Arbeit von Elisabeth und Ludger Heid mit einem überaus lesenwerten Vorwort neu herausgeben.

„Das Verdienst der Fischerschen Arbeit ist es“, so die spätere Sozialpolitikerin Marie Baum in der Concordia. Zeitschrift der Centralstelle für Arbeiterwohlfahrtseinrichtungen 1914, „in das bisher noch so gut wie unerforschte Dunkel der nicht im Berufe stehenden Frauenleben der Bergarbeiterschaft hineingeleuchtet zu haben.“ Für die Soziologie entwickelte Li Fischer-Eckert damit nicht nur methodische Wege einer modernen empirischen Sozialforschung, sondern erschloss auch ein neues Forschungsfeld.

Für ihren Mann reiste sie in diesen Jahren geschäftlich nach „Frankreich, England, Schweiz, Italien, Spanien, Schweden, Norwegen, Nordafrika, zum Teil mit längerem Aufenthalt“. Sie wird daher nicht nur sprachgewandt und verhandlungsgeschickt gewesen sein, sondern wird auch Kenntnis von Kleineisen- und Papierfabrikation, den industriellen Standbeinen ihres Mannes, gehabt haben. Zudem – so ist ihrer im Düsseldorfer Stadtarchiv aufbewahrten Personalakte und dem von ihr verfassten Lebenslauf zu entnehmen – betätigte sie sich „in den Organisationen der Frauenbewegung, in der sozialen Arbeit, Verteidigung der Mädchenschulreform in Wort und Schrift, Rechtsschutzstelle, Jugendpflege und Jugendfürsorge.“ Außerdem war sie Mitglied der Schuldeputation in Hagen.

„Der Aufenthalt in England galt dem Studium sozialer Fragen. Siedlung und Gartenstadtbewegung und der Frauenstimmrechtsbewegung. Im Anschluss hieran gründete Unterzeichnete [L. F.-E.] 1908 den Frauenstimmrechtsverband für Westdeutschland und die Deutsche Vereinigung für Frauenstimmrecht, deren Vorsitzende sie bis zur Auflösung der Organisation 1919 blieb.“ Den Zweck dieses Verbandes führte sie gleich selbst an: „staatsbürgerliche Erziehung der Frau und Erweckung ihrer Verantwortlichkeit gegenüber dem Staatsleben.“ Dieser forderte allerdings nur das gleiche Wahlrecht wie die Männer und nicht das allgemeine Wahlrecht.


Arbeiterfrauen in Hamborn

Diese engagierte Frau des westfälischen Bürgertums begab sich also zu Forschungszwecken für drei Monate in die 1911 über 100.000 Einwohner zählende rheinische Arbeiterstadt Hamborn, um hier die „sozialen und kulturellen Wirkungen“ der industriell bedingten Binnenwanderung zu untersuchen. 1929 sollte Hamborn von Duisburg eingemeindet werden.
Ihre Analyse setzt mit der akribischen Beschreibung des Ortes ein, dem damals alles fehlte, „was man wohl mit dem Wort Tradition zusammenfasst“. Heute wirkt die Darstellungsweise emotional und moralisierend, ein Stil – so die Wissenschaftlerin Sabine Hering – der kein Geschlechtsspezifikum, sondern ein Phänomen der Zeit war. Li Fischer-Eckert beginnt mit der Beschreibung der ansässigen Montanindustrie, des Handwerks und des Handels – drei Dampf-Latrinen-Reinigungs-Unternehmen, ein Automatenrestaurant, immerhin zwölf Fourage(Pferdefutter)-Handlungen, jedoch nur vier Friseusen u. a. Sie geht auf den Straßenverkehr ebenso ein wie auf die Grundstücks- und Hauseigentumsverhältnisse. Die Wohnsituation in Privat- wie in Siedlungshäusern wird anschaulich dargestellt, die Frage nach dem Prozentsatz der ausländischen Bevölkerung beantwortet und Wanderungsbewegungen werden statistisch nachgezeichnet. Ab dem vierten Kapitel dann geht es ausschließlich um die von ihr befragten 495 Arbeiterfrauen, um deren Herkunft, Ausbildung und um die Berufe der Ehemänner, die vor allem als Bergmänner und Fabrikarbeiter tätig waren.

Man kann sich Hamborn einhundert Jahre später nicht unwirtlich genug vorstellen, denn Li Fischer-Eckert ist bei ihren Gesprächen auf keine Frau getroffen, die sich diesem Ort verbunden fühlte und dort gerne gelebt hätte. Der Weg zu Kirche oder Friedhof war die einzige Abwechslung „in der Eintönigkeit ihres Daseins“. Die von ihr vorgefundenen größtenteils erbärmlichen Verhältnisse führt sie auf die schlechten Verdienstmöglichkeiten der Männer zurück, jedoch auch auf die Unerfahrenheit und Unwissenheit vieler Frauen. Sie belegt für die meisten Haushalte ein unterhalb des Existenzminimums liegendes Einkommen und widerspricht dem damals formulieren Vorwurf der „unersättlichen Vergnügungssucht der arbeitenden Bevölkerung“. Fischer-Eckert informiert über die Lohn- und Preisentwicklung und rechnet vor, dass der durchschnittliche Wochenlohn von 22,88 Mark zwangsläufig zu Unterernährung aller Angehörigen einer mehrköpfigen Arbeiterfamilie führen muss. Sie plädiert für einen sechswöchigen Mutterschutz auch für nichtberufstätige Frauen sowie für eine Schulung junger Frauen, um die bei etwa 30 Prozent liegende, enorm hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit („Kräftevergeudung“/“Menschenwucher“) zu reduzieren.

Ihr Anliegen zielte langfristig darauf, einen „Boden“ zu schaffen, „der auch dem Fremdling rasch zur Heimat wird.“ Und das Heimatgefühl galt ihr als Voraussetzung für nationale Stärke, die „Kraft unseres Volkes“ als Bedingung für das „Aufwärts- und Abwärtsschreiten unserer Nation“. Erforderlich schien ihr dafür das Engagement von bürgerlicher, kommunaler und industrieller Seite: Das gebildete Bürgertum müsse Maßnahmen zur Förderung eines sozialen Verantwortungsgefühls ergreifen, um „das Bewusstsein der eigenen Kraft“ als Voraussetzung für „das Interesse für ernste Lebensfragen“ zu wecken. Von der Gemeinde und von der Industrie forderte sie eine andere Wohnungspolitik, die bezahlbaren Wohnraum für alle zur Verfügung stellen und Wohnungsgenossenschaften gründen sollte. Von den Unternehmern verlangte sie nicht weniger, als sowohl „die innere Festigkeit des Arbeiters“ als auch die Löhne anzuheben. Und die Einrichtung von sogenannten Volksheimen befürwortete sie zwecks „Annäherung der sozialen Klassen“.

Speziell für die Arbeiterfrauen hielt sie Mütter- und Haushaltungsabende für erforderlich, ausgeführt von eigens dafür geschulten Frauen, um deren Ausbildung sie sich alsbald persönlich kümmern sollte. Li Fischer-Eckert zielte darauf, Not und Elend in Arbeiterfamilien durch die praktische Unterweisung in häuslichen Wirtschaftsfragen und durch eine „geistige Fürsorge“ der Arbeiterfrauen zu lindern. Sie verknüpfte diese sozialpolitischen Aufgaben gleichzeitig mit der Entwicklung von Ausbildungs- und Arbeitsbereichen für bürgerliche Frauen.

Als sozialpolitische Folge ihrer Untersuchung führte sie Jahre später an, dass „der preussische Landtag seinerzeit eine größere Summe zur Linderung der Säuglings- und Mütternot in Hamborn bewilligt“ habe.

Düsseldorfer Kriegsamt während des Ersten Weltkrieges

Die promovierte Staatswissenschaftlerin wechselte einige Jahre später erneut aus Hagen ins Rheinland, in das Düsseldorfer Kriegsamt, wo sie vom 28. Dezember 1916 bis zum 31. August 1917 tätig war, als einzige Frau neben acht männlichen Abteilungsleitern, verantwortlich unter anderem dafür, Frauen für die Kriegswirtschaft und Rüstungswirtschaft zu mobilisieren. Li Fischer-Eckert hat dort den ersten Fabrikpflegerinnenkursus in Deutschland eingerichtet, „dessen Lehrplan“ – so Eckert selbst einige Jahre später nicht ohne Stolz –„vom Handelsministerium als mustergültig für die anderen Fabrikpflegerinnenkurse in Deutschland bezeichnet wurde.“ Verantwortlich waren die Fabrikpflegerinnen für die betriebliche Sozialarbeit und berieten bei beruflichen, persönlichen und gesundheitlichen Anliegen.

Noch während des Krieges, am 1. Januar 1918, wurde Li Fischer-Eckert Dozentin an der im Sommer 1917 eröffneten Niederrheinischen Frauen-Akademie in Düsseldorf. Diese Akademie war eine Einrichtung des Vereins für Säuglingsfürsorge und Wohlfahrtspflege im Regierungsbezirk Düsseldorf e.V., der zehn Jahre zuvor zur Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit gegründet worden war. Eckert hat die Aufgaben der Akademie später wie folgt beschrieben: „Das Ziel der Niederrheinischen Frauenakademie ist es, Frauen für die Betätigung in sozialer Berufsarbeit und allgemeiner Wohlfahrtspflege auszubilden, z.B. in der pflegerischen und verwaltenden Tätigkeit bei der Kreis- und Stadtfürsorge, der Säuglings-, Kinder- und Jugendfürsorge, der Wohnungs-, Armen- und Waisenpflege, bei den Arbeitsnachweisen und Berufsberatungsstellen, der Geschäftsführung gemeinnütziger und charitativer Organisationen und ähnlichem.“ Sie selbst hielt Vorlesungen unter anderem über Arbeiterschutzgesetzgebung, Sozialethik, über praktische und theoretische Volkswirtschaft.

1919 wurde die Ehe mit August Fischer geschieden, da der Krieg „eine Fortsetzung der Ehe aus Gründen fraulicher Selbstachtung unmöglich gemacht“ hatte. Sie legte den Namen ihres Mannes ab und zog kurz darauf ganz nach Düsseldorf.

Im Nationalsozialismus

Nachdem sie zwischenzeitlich die Dozentur aus finanziellen Gründen niederlegen musste, bewarb sie sich 1925 um die Leitungsposition an der Frauenakademie, die sie – trotz zweier ernsthafter Konkurrentinnen – am 1. April 1926 übernahm. 1933 wurde ihr dort gekündigt, da sie, so eine Mitteilung des Gauleiters der NSDAP Düsseldorf vom 6. Juli 1934 „der ehemaligen Staatspartei angehört und im marxistischen Sinne unterrichtet [hat]. Sie war deshalb als Leiterin oder Lehrkraft für die neu eingerichtete deutsche Frauenakademie, in welcher nach streng nationalsozialistischen Grundsätzen gearbeitet wird, nicht tragbar“.

Li Eckert war von 1918 bis 1920 Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei gewesen, eine linksliberale Partei, die vielen frauenpolitisch aktiven, bürgerlichen, nicht konfessionell gebundenen Frauen der Weimarer Republik eine Heimat bot, was ihr nun zum Nachteil geriet. Sie legte mehrmals gegen ihre Entlassung Widerspruch ein, doch es änderte nichts daran, dass sie fortan „nur noch“ als Lehrerin an einer Mittelschule beschäftigt wurde, mit der Hälfte ihres Einkommens als Akademie-Direktorin, und das, obgleich sie seit 1932 Mutter einer Adoptivtochter war.

Dr. Li Eckert trat 1935 dem Nationalsozialistischen Lehrerbund, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt sowie dem Reichsluftschutzbund bei und wurde 1938 Mitglied im Verein für das Deutschtum im Ausland. Auf Veranlassung ihres Schulleiters trat sie 1940 auch der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei bei.

Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte sie einen Unfall erlitten, der ihr linkes Bein vier Zentimeter verkürzte. Hinzu kamen die Folgen einer früheren Krebsoperation, so dass sie ab 1939/40 immer wieder krank geschrieben wurde. Am 7. Dezember 1942, gerade einmal sechzigjährig, verstarb Li Fischer.

Susanne Abeck / frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Duisburg-Hamborn

Literatur:

Li Fischer-Eckert, Die wirtschaftliche und soziale Lage der Frauen in dem modernen Industrieort Hamborn im Rheinland, neu herausgegeben und eingeleitet von Elisabeth und Ludger Heid, Duisburg 1986
Sabine Hering, „Frühe“ Frauenforschung. Die Anfänge von Untersuchung von Frauen über Frauen, in: Ruth Becker/ Beate Kortendiek (Hg.), Handbuch der Frauen- und Geschlechterforschung, Wiesbaden 2008, S. 323-331 
Dietlinde Linscheidt-Modersohn, Li (Fischer)-Eckert (1882-1942). Frauenrechtlerin und Pionierin der Sozialarbeit, in: Von Griet zu Emma. Beiträge zur Geschichte von Frauen in Duisburg vom Mittelalter bis heute, hrsg. v. Stadt Duisburg, Frauenbüro, Duisburg, 2000, S. 108-110
Elisabeth Meyer-Renschhausen, Frauen in den Anfängen der empirischen Sozialforschung, in: Elke Kleinau/ Claudia Opitz (Hg.), Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 2, Vom Vormärz bis zur Gegenwart, S. 354-372 
Quellen: Stadtarchiv Düsseldorf, Bestand 0-1-3, Registratur I B Schulamt + Personalakte

Zitation: Abeck, Susanne, Li Fischer-Eckert, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/li-fischer-eckert/

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Hedwig Kurig

Hedwig Kurig ist unter Frauen in einem katholischen Elternhaus groß geworden. Ihr Vater, Angestellter auf der Gelsenkirchener Zeche Nordstern, starb, als sie keine drei Jahre alt war. Die Großmutter war fortan für die Erziehung verantwortlich, die Mutter Katrina für das Einkommen, da die Rente in Höhe von 25 Mark mühevoll durch den Beruf der Briefträgerin aufgebessert werden musste. Hedwig Kurig besuchte nach sieben Jahre Volksschule eine in unmittelbarer Nachbarschaft der großmütterlichen Wohnung eröffnete Handelsschule, die sie 1927 erfolgreich abschließen konnte.

„Weil ich so schwache Lungen und Bronchien hatte“,  wurde sie bereits während ihrer Schulzeit in Gelsenkirchen zur Kur nach Mittelberg geschickt. Und ihrer schwachen Konstitution wegen konnte sie für lange Zeit auch keiner Arbeit nachgehen. Die Mutter erhielt eine Halbwaisenrente für Hedwig, die allerdings 1933 gestrichen wurde, so dass die junge Frau nun unbedingt etwas hinzuverdienen musste, was in dieser Zeit der hohen Arbeitslosigkeit fast unmöglich war. Sie beantragte daher bei der Stadt Gelsenkirchen eine Unterstützung. Da sie dank ihrer Ausbildung versiert im Maschineschreiben und Stenografieren war, wurde ihr eine Ferienvertretung in der Gelsenkirchener Stadtverwaltung angeboten. Endlich konnte sie ins eigene Berufsleben starten und erhielt 1936 sogar eine Festanstellung als Stenotypistin beim Arbeitsamt Gelsenkirchen. Hier wurde sie Vorzimmerdame und Telefonistin, unter anderem bei dem „Treuhänder der Arbeit“ Herrn Dr. Manach, der gemäß der NS-Vorstellungen sowohl über die Tarif- und Betriebsordnungen entscheiden als auch in Streitfällen zu schlichten hatte. Wenn Hedwig Kurig in ihren Erinnerungen schreibt: „Für eine geheime Abteilung wurde ich extra noch vereidigt“, fragt man sich beim Lesen, was genau damit gemeint sein mag. Alle Arbeitsämter im Nationalsozialismus waren organisatorisch am Einsatz der ZwangsarbeiterInnen beteiligt. Hatte auch sie damit zu tun? Da Kurig auf ihre Rolle beziehungsweise ihre Tätigkeit zwischen 1933 und 1945 nirgends näher eingeht, muss man es jedoch bei dieser Frage belassen. Sie hat noch in ihrem Rückblick 1990 die These der Kollektivschuld abgelehnt und etwas arg naiv die Frage formuliert „Was wusste ich, wer schuld hatte?“

In den 1940er Jahren hätte Hedwig Kurig gerne Volkswirtschaft und Wirtschaftswissenschaft studiert. Sie besuchte daher berufsbegleitend eine Abendschule in Essen. Aufgrund der kriegsbedingt zusammenbrechenden Infrastruktur und ihres durch Mangelernährung schlechter gewordenen Gesundheitszustandes konnte sie diese nicht zum Abschluss bringen. Unmittelbar nach dem Krieg wurde ihre Anfrage nach einem Studienplatz von der Universität zu Köln mit Verweis auf die rückkehrenden jungen Soldaten abschlägig beschieden: Der im Krieg in allen Fächern rasant gestiegene Anteil weiblicher Studenten wurde umgehend mit der Wiedereröffnung der Universitäten zugunsten der Männer rückgängig gemacht. Für die Historikerin Karin Hausen eine erstaunliche Tatsache, „dass seit 1945/46 die Universitäten ohne größere Konflikte als Männerdomäne wieder restauriert werden konnten. Man startete an den deutschen Universitäten mit altgewohnten Sprach- und Denkmustern in die Nachkriegs- und Nach-NS-Zeit.“ Almut Leh interviewte in den 1980er Jahren dreizehn Gewerkschafterinnen und kam kollektivbiografisch zu der Erkenntnis: Sie alle mussten aufgrund der geschlechterspezifischen Ordnung des Hochschulwesens „hinter ihren Wünschen und Fähigkeiten zurückbleiben“.

Die Gewerkschaft wurde dann für Hedwig Kurig und viele andere Frauen der Ort, Bildungsbedürfnisse zu stillen. Ihren ersten Kontakt dorthin bekam sie 1946 bei einem ÖTV-Vortrag im Arbeitsamt Gelsenkirchen. Kurz darauf wurde sie mangels genauer Kenntnis zuerst Frauenleiterin bei der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG), für die sie vom 21. bis zum 23. August 1946 an einem Gewerkschaftskongress der britischen Zone im Speisesaal der Bielefelder Oetker-Werke teilnahm. Wahrscheinlich dort wurde sie daraufhin angesprochen, dass sie doch kein Mitglied des „Stehkragenproletariats“ und ergo in der falschen Gewerkschaft sei. Sie wechselte daraufhin in die Gewerkschaft öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÄTV), für die sie innerhalb des Arbeitsamtes Mitglieder anwarb, anfänglich wohl in scharfer Konkurrenz mit den Kollegen von der DAG. In ihren Aufzeichnungen beschreibt sie, wie sie 1946 zuerst gemeinsam mit Alfred Schwarz, dem damaligen Geschäftsleiter der ÖTV Gelsenkirchen, in der Textilindustrie Haustarifverträge abschließen konnte. „Die Leute hatten einen Stundenlohn von 50 Pfennig im Akkord!“ Innerhalb kürzester Zeit initiierte Kurig bei den im DGB zusammengeschlossenen 16 Industriegewerkschaften Gelsenkirchens die Gründung von Frauenausschüssen und wurde bald Vorsitzende des DGB-Frauenausschusses in Gelsenkirchen, zudem Vorsitzende des ÖTV- Kreisfrauenausschusses für Gelsenkirchen, Buer, Gladbeck und Bottrop. Diese bereits in der organisatorischen Aufbauphase des DGB zwischen 1945 und 1949 gegründeten örtlichen Frauenausschüsse wurden mit Gründung des Deutschen Gewerkschaftsbundes 1949 offiziell anerkannt und mit der Schaffung von Frauensekretariaten und -ausschüssen auf allen Organisationsebenen sowie der Abteilung Frauen beim Bundesvorstand ergänzt. Kurig wurde zudem Mitglied des Beirats der ÖTV, des zwischen den Gewerkschaftstagen höchsten Legislaturorgans der Gewerkschaft, und vertrat für die ÖTV als erste Frau im Bezirkspersonalrat des Arbeitsamtsbezirks Nordrhein-Westfalens die Gruppe der Angestellten.

Die Gewerkschaft schlug Hedwig Kurig für ein Seminar in Wiltonpark vor. Im Herbst 1947 konnte sie dort sieben Wochen an einem Akademieprogramm teilnehmen. Diese Einrichtung, im Januar 1946 zunächst für deutsche Kriegsgefangene als demokratisches Umerziehungsprogramm eingerichtet, öffnete ab 1947 ihr Schulungsprogramm auch für deutsche Zivilisten aus der britischen Zone. So nahmen vor allem Männer, aber auch Frauen des öffentlichen Lebens, also Journalisten, Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre oder Pädagogen an den mehrwöchigen Kursen teil. Der bekannteste Seminarist ist vielleicht Ralf Dahrendorf. Die Einladung durfte als Auszeichnung angesehen werden.

Als Hedwig Kurig begann, in zahlreichen Betrieben zu den dort beschäftigten Frauen zu sprechen, blies ihr ein scharfer Wind entgegen, da sie selbst von den Betriebsräten nicht willkommen geheißen wurde, vielmehr haben diese „alles abgesperrt, auch das Licht …“. Zudem muss es zu Beginn des öfteren harte Auseinandersetzungen mit den Kommunisten gegeben haben und die „Diskussionen mit ihnen rissen nicht ab.“ Im Rückblick hat sie ihr gewerkschaftliches Engagement, das immer ehrenamtlich war, als Stoß ins kalte Wasser bezeichnet, da sie wenig Vorkenntnisse besaß und sich ihr Wissen über ArbeiternehmerInnenrechte in ihrer Freizeit eigenständig aneignen musste. Hans Böckler (1875-1951), den ersten Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), bezeichnete sie einmal als ihren Lehrmeister. Und er schien viel von ihr gehalten zu haben, war er es doch, der ihr vorschlug, sich als DGB-Vertreterin in den Wirtschaftsrat wählen zu lassen. Die Mitarbeit in diesem hochrangigen Nachkriegsgremium, das bis zu Konstituierung des Deutschen Bundestages am 7. September 1949 bestand und in dem PolitikerInnen wie Maria Niggemeyer und Ludwig Erhard saßen, lehnte sie ab. „Da fühlte ich mich überfordert.“ Außerdem wollte sie am Ort bleiben, weil sie für Mutter und Bruder zu sorgen hatte.

Bei ihrer Arbeit ging es ihr vor allem um Gleichberechtigung, darum, dass „die Frauen alle Berufe ergreifen“ konnten „und die gleiche Ausbildung bekommen.“ Sie rief die Frauen zur Mitarbeit in den Gewerkschaften auf, um das Ziel „gleiche Leistung und gleicher Lohn“ zu erreichen. Doch ihr war klar: “Ohne Kampf wird es nicht abgehen.“ Wobei sie die Mehrzahl der Frauen als allzu passiv empfand, bedingt durch deren jahrelange Rollenzuweisung im Nationalsozialismus und durch die restaurativen familienpolitischen Tendenzen der Adenauerära : „Ist die Frau sehr kritisch? Zum großen Teil ist sie es nicht mehr, sie ist apathisch.“ Später schienen ihr die Gewerkschafterinnen zum Kämpfen wohlstandbedingt schlichtweg zu faul zu sein. Zudem beklagte sie die mangelnde Solidarität der Männer gegenüber den Anliegen der Kolleginnen: “Wenn uns unsere Kollegen in den Betrieben und Verwaltungen doch etwas mithelfen würden.“ Doch die Interessen der Kolleginnen wurden in allen Gewerkschaften von den meisten Männern wenig ernst genommen. Karin Derichs-Kunstmann hat dies für die von ihr befragten DGB-Gewerkschafterinnen für den Zeitraum zwischen 1949 und 1960 wie folgt zusammen gefasst: „Den Widerspruch zwischen dem postulierten Gleichberechtigungsanspruch der gewerkschaftlichen Frauenpolitik und dem sich in der Ignoranz und der Herablassung der Männer niederschlagenden real existierenden Patriarchat musste von ihnen in ihrer täglichen Praxis ausgehalten werden.“

1950 trat Hedwig Kurig mit starken Vorbehalten in die SPD ein, die im katholischen Milieu noch lange als atheistisch und daher nicht wählbar galt. So erklärte der katholische Bischof von Münster, Michael Keller, 1957: „Es bleibt die Feststellung, dass zwischen dem gesellschaftlichen Ordnungsbild, wie es die SPD vertritt, und dem christlichen Ordnungsbild so wesentliche Unterschiede bestehen, dass wir Ersteres ablehnen müssen. … Es ist unmöglich, gleichzeitig ein guter Katholik und ein wirklicher Sozialist zu sein.“ Ihr inneres Ringen zwischen Religion und Partei teilte die im katholischen Milieu aufgewachsene Hedwig Kurig mit Helene Wessel, der aus Dortmund-Hörde stammenden „Mutter“ des Grundgesetzes, die schrieb: „Ich glaube auch, dass ich meinen Entschluß vor meinem Herrgott verantworten kann.“

Hedwig Kurig hatte die Bundestagsabgeordnete zwei Mal nach Gelsenkirchen eingeladen, wo sie bei den jährlichen „Frauen-Veranstaltungen“ über „Die Familie als Bestandteil des Volkes und ihre Gefährdung“ (1954) und über „Die Verantwortung der Frau und die Aufgaben der Zeit“ (1958) sprach. Zu den von Kurig mitorganisierten Tagungen gehörte immer auch ein kulturelles Rahmenprogramm, wobei diese Veranstaltungen vor allem der (Fort-)Bildung dienten, da es Kurig nicht lag, sich „um nebensächliche Dinge“ wie Kaffeekränzchen zu kümmern. So ging es zum Beispiel bei einer Tagung 1948 um „Die Mitarbeit der Frau in der Gewerkschaft“,„Bildungsfragen für die weibliche Jugend“ und „Allgemeiner Arbeitsschutz für Frauen“. Wenigstens der Abschluss wurde im Programm als „gemütlicher“ Teil in Aussicht gestellt. Ihre eigenen Vorträge verfasste sie abends Zuhause und schickte dafür dann auch schon mal ihre Mutter ins Bett, wenn sie deren Stricknadeln beim Denken störten.

Da zu dem klassischen Aufgabenrepertoire der Gewerkschafterinnen die Werbung neuer Mitglieder, Umsetzung der DGB-Forderungen für berufstätige Frauen, Bildung und Schulung der weiblichen Mitglieder und die Zusammenarbeit mit Frauenorganisationen gehörte, bot Hedwig Kurig neben Tagungen auch Betriebsbesichtigungen, Wochenendschulungen und Exkursionen an, wie zum Beispiel eine Fahrt zur Arbeiterhochschule nach Brüssel, die mit 40 Teilnehmerinnen großen Anklang fand. Dass der Anteil der weiblichen Mitglieder bei der ÖTV zwischen 1951 und 2000 von 15,1 auf 46,2 % angewachsen ist, ist genau einem solchen Engagement wie dem von Hedwig Kurig zu verdanken.

Männer haben sie „gar nicht“ interessiert, obgleich es genug Anwärter gegeben haben muss: „Ich hätte genügend Männer haben können.“ Der Grund? „Ich habe gesehen, was sie für Egoisten waren. Welche Machtprobleme sie hatten. Ich habe alle durchschaut.“ Bereits 1956 hatte sie geschrieben, dass der „echten Frau … der Egoismus fern[liegen]“ würde und sie aufgrund ihres Einfühlungsvermögens neben den wirtschaftlichen, anders als der Mann, auch andere, kulturelle Werte wahrzunehmen in der Lage sei. Doch auch die Frauen enttäuschten sie: 1962 wurde sie während einer schweren Augenerkrankung im DGB-Kreisfrauenausschuss in einer von ihr als unfair wahrgenommenen Art und Weise abgewählt. Den Vorsitz der ÖTV-Frauen behielt Hedwig Kurig allerdings noch bis 1972, als sie als Sachbearbeiterin für Maßnahmen zur Förderung der Arbeitsaufnahme in Rente ging. Insgesamt fühlte sie ihre Leistungen nicht ausreichend anerkannt, weder im Beruf noch in der Gewerkschaft und so fragte sie am Ende ihres Lebens ein wenig mädchenhaft : „Hätte mich nicht mal einer öffentlich bei einer Veranstaltung loben können?“ Umso mehr fühlte sie sich gewürdigt, als 1990 Mitwirkende der Frauengeschichtswerkstatt Gelsenkirchen, die selbst in der Frauenarbeit der ÖTV aktiv waren, sie porträtierten, ihren Nachlass sicherten und sie in den ÖTV–Kreisfrauenausschuss eingeladen wurde, um über ihren Lebensweg zu berichten.

Ihr Fazit lautete: „Ich war immer stolz darauf, Gewerkschafterin zu sein.“

Susanne Abeck / Marianne Kaiser / frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Saal des Hans-Sachs-Hauses, wo viele der von Hedwig Kurig organisierten Veranstaltungen stattgefunden haben.
Agentur für Arbeit, früher Arbeitsamt, Vattmannstr. 12, Gelsenkirchen, wo Hedwig Kurig bis 1972 ihren Arbeitsplatz hatte.

Literatur:

Die Zitate sind dem schriftlichen Nachlass von Hedwig Kurig entnommen, der sich im Privatarchiv von Dr. Marianne Kaiser, Gelsenkirchen, befindet. Viele Zitate finden sich in dem sechseinhalbseitigen „Lebensweg der Hedwig Kurig“, den sie selbst ohne genaue Datierung, wahrscheinlich Ende der 1980er Jahre, verfasst hat.
Blaschke, Sabine, Frauen in Gewerkschaften. Zur Situation in Österreich und Deutschland aus organisationssoziologischer Perspektive, München 2008.
Derichs-Kunstmann, Karin, Die Quote allein genügt nicht. Zu Geschichte und Perspektiven gewerkschaftlicher Frauenpolitik. In: Jahrbuch Arbeit, Bildung, Kultur Nr. 11, Hrsg. Forschungsinstitut für Arbeiterbildung, Recklinghausen 1993, S. 183-193.
Derichs-Kunstmann, Karin, Frauen in der Männergewerkschaft. Zur Geschichte der Gewerkschaften in der Nachkriegszeit unter dem Gesichtspunkt des Geschlechterverhältnisses. In: DGB (Hg.): "Da haben wir uns alle ganz schrecklich geirrt..." Die Geschichte der gewerkschaftlichen Frauenarbeit im Deutschen Gewerkschaftsbund von 1945 bis 1960, Pfaffenweiler 1993, S. 67-125.
Hausen, Karin, Strittige Gleichberechtigung. Studentinnen an deutschen Universitäten seit Herbst 1945. In: Themenportal Europäische Geschichte (2006), URL: http://www.europa.clio-online.de/2006/Article=117 [05.01.2012]
Kaiser, Marianne/ Pscherer, Elisabeth, Hedwig Kurig – Ein Porträt, in: Keine Geschichte ohne Frauen. Eine Auswahl von Materialien zur Geschichte von Frauen in Gelsenkirchen, Gelsenkirchen 1922, S. 131-134.
Leh, Almut, Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und seine Frauen. Gewerkschaftspolitisches Engagement von Frauen in der Nachkriegszeit, in: Barbian, Jan-Pieter und Ludger Heid (Hg.): Die Entdeckung des Ruhrgebiets. Das Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen 1946-1996, Essen 1997.
Zum Wiltonpark siehe unter http://de.wikipedia.org/wiki/Wilton_Park [05.01.2012]

Zitation: Abeck, Susanne; Kaiser, Marianne, Hedwig Kurig, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/hedwig-kurig/

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Güzin Güven

Güzin Güven kam 1970 von der nordosttürkischen Schwarzmeerküste aus der Großstadt Trabzon nach Deutschland, um hier mit ihrem Mann zusammen zu leben. Mitgenommen hatte sie bei ihrem Umzug neben zahlreichen Fotos ihre Nähmaschine. Über viele Jahre vermittelte das technische Gerät ihr ein Stück Heimat: „Wenn ich genäht habe, habe ich mich gut gefühlt.“ Bereits in der Türkei hatte sie eine Ausbildung zur Schneiderin abgeschlossen. Genäht hat sie über Jahre Kleider für ihre Kinder, Tischdecken, Kopfkissen und zudem für Bekannte und Nachbarn Kleidung geändert, um das Haushaltsgeld aufzubessern. Wegen einer Augenthrombose kann sie heute zu ihrem großen Bedauern nicht mehr an ihrer Maschine sitzen.

Ihr Mann war 1969 der Arbeit wegen nach Deutschland gegangen. 1970 holte er sie mit dem eigenen Auto nach. Drei Tage waren sie unterwegs. Die Anfangszeit in Deutschland empfand sie „als sehr schwer“, mehr noch: als eine ausgesprochene „Pleite“. Sie hatte sich alles ganz anders – vor allem besser – als in der Türkei vorgestellt. Die Hygienesituation mit dem fehlenden Badezimmer und einer Toilette auf dem Zwischenflur, die auch noch mit der Nachbarsfamilie zu teilen war, bezeichnet sie im Rückblick als „einzige Katastrophe“. Heute ist sie der festen Überzeugung, dass ihr Lebensstandard ein besserer wäre, wenn sie damals mit ihrem Mann in der Türkei geblieben wäre. Sie hätte ein Wohnzimmer in der Größe ihrer jetzigen 75 qm großen Wohnung, hätte sich nicht „kaputt gemacht“, ihr Mann hätte mehr verdient und sie hätte vor allem nicht unter Heimweh und Langeweile gelitten. Aber vor 40 Jahren hatte sie gedacht,„meine Freunde kommen hierhin, also möchte ich das auch.“

In der Anfangszeit in Bochum war die knapp zwanzigjährige junge Frau fast nur Zuhause und hat deutsches Fernsehen verfolgt, ohne ein Wort zu verstehen. Erst ab 1981 hatte sie Gelegenheit, in Deutschland den türkischen Fernsehsender TRT-INT zu empfangen. Außer dem jungen Ehepaar Güven lebten damals nur zwei weitere türkische Familien in dem Stadtteil Dahlhausen. Zu Beginn erledigte ihr Mann alle Einkäufe, kümmerte sich ums Heizen und um das Essen, bis er ihr nach einiger Zeit ihr diese Aufgaben übertrug. Sie erinnert diese Anfänge in Deutschland als Zeit der Lähmung und der Tränen. Das Heimweh wurde nur aufgehellt durch die wöchentliche Post ihrer Mutter. Ein Jahr nach ihrer Ankunft in Deutschland, 1971, bekam sie ihr erstes Kind, allerdings nicht in Deutschland, sondern bei ihrer Mutter in der Türkei. Sie traute sich in der ihr immer noch fremden Umgebung, deren Sprache sie weder verstand noch sprach, die Geburt eines Kindes einfach nicht zu. Und da sie überhaupt nichts über die Pflege eines Babys wusste, ließ sie ihren Sohn Güngör bei ihrer Mutter.

Aus den anfangs geplanten drei bis vier Monaten wurden lange zwölf Jahre, die der Sohn in der Türkei bei seiner Großmutter lebte. Im Rückblick würde sie so einer Trennung nie wieder zustimmen. Der Kontakt zu ihrem Sohn erfolgte ausschließlich über seitenlange Briefe und besprochene Tonbandkassetten. Mit dem ersten Telefonanschluß 1977 wurde der Austausch zwar etwas spontaner, doch als der Sohn 1983 ins Ruhrgebiet zog, waren sich Eltern und Kind fremd geworden.

Mehr um sich von der Sehnsucht nach ihrem Kind abzulenken, als um des Verdienstes wegen fing sie kurz nach ihrer Rückkehr nach Deutschland eine Beschäftigung bei den Bochumer Kabelwerken Reinshagen GmbH an, wo ihr mit 60 anderen Arbeiterinnen und Arbeitern wenigen Monaten gekündigt wurde. Frau Güven fand kurz darauf eine Stelle in einem Evangelischen Krankenhaus, zuerst als Putzkraft, dann in der Wäscherei, wo sie unter den 12 deutschen Frauen Deutsch lernte. Gerne hätte sie an einem Sprachkurs teilgenommen, doch gab es solche Angebote zu diesem Zeitpunkt einfach nicht. Einige Jahre später wechselte sie nach Sprockhövel zu einer Spielzeugfabrik. Bis 1980 arbeitete sie bei Dr. C. Otto in Bochum-Dahlhausen. Sie fertigte dort feuerfeste Steine unter anderem für Koksöfen, eine sehr staubige und körperlich anstrengende Arbeit. An ihrem ersten Arbeitstag dort dachte sie:„Oh je, wenn Du heute nicht stirbst, dann stirbst Du lange nicht.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte sie bereits drei Kinder: Zum Sohn kamen zwei Töchter, 1977 und 1979 geboren. Beide sprechen heute akzentfrei Deutsch, darauf ist Frau Güven sehr stolz.

Jahrelang arbeitete sie in Wechselschicht und versorgte alleine die Kinder, da ihr Mann lange Zeit nur an den Wochenenden zu Hause war. Die schwere körperliche Arbeit unter ständigem Druck hat ihrer Gesundheit sehr geschadet und sie wundert sich heute, wie sie alles geschafft hat.

„Heimat“ verbindet sie vor allem mit dem Ort, an dem sie groß geworden ist. Ihr „Zuhause“ ist hingegen zweigeteilt und meint zum einen das eigene Haus in Trabzon und zum anderen ihre Wohnung in Bochum-Dahlhausen. In der Türkei leben nur noch wenig Verwandte, während sie hier neben ihren drei Kindern und sechs Enkelkindern viele Bekannte hat. Güzin Güven liest regelmäßig neben der Hürriyet die türkischsprachige Tageszeitung, die anfangs per Post kam, doch seit 1969 in Mörfelden-Walldorf gedruckt wird. Sie liest auch eine deutsche Tageszeitung, am liebsten allerdings deutsche Frauenzeitschriften.

Zwei Mal die Woche besucht sie die Moschee, um dort unter Anleitung eines islamischen Religionsgelehrten, eines Hodschas, den Koran zu studieren. Religiös war sie zeitlebens, ein Kopftuch hat sie über 57 Jahre allerdings ausschließlich während der Fastenzeit getragen. Erst eine krebsbedingte Chemotherapie und eine Ärztin brachten sie 2009 dazu, in der Öffentlichkeit den Kopf zu bedecken. Heute trägt sie das Tuch nicht mehr krankheitsbedingt, sondern wegen einer Haddsch, der Pilgerfahrt nach Mekka, die der Frau das Tragen einer Kopfbedeckung vorschreibt. Früher sei sie mancherorts für eine Italienerin gehalten worden, doch „jetzt, mit dem Kopftuch, bin ich original“ – und meint mit dieser Formulierung wohl „augenscheinlich türkisch“.

Die Debatte um den EU-Beitritt der Türkei findet Frau Güven absurd angesichts der Tatsache, dass inzwischen Länder wie Bulgarien der Europäischen Union beitreten konnten. Auch die Visumpflicht für türkische Reisende, die seit 1980 gilt, als sich die Arbeitslosigkeit in Deutschland der Zwei-Millionen-Grenze näherte, findet sie absolut verzichtbar.„Es bleibt doch sowieso keiner hier.“

Sie selbst versteht sich heute mit ihrer Wanderungserfahrung als Teil der Ruhrgebietsgeschichte, so wenn sie beschreibt, wie sie auf ihren jeweiligen Arbeitsstellen Deutsch sprechen lernte, so dass sie das deutsche Fernsehen auch verstehen konnte. Ihre Favoriten waren – wie bei ihren deutschen NachbarInnen auch – Hans Rosenthal, Heinz Rühmann und Heidi Kabel – und „samstags war für mich immer Maria Hellwig“. Anlässlich des 50. Jahrestages des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei hat Güzin Güven im Jahre 2011 an nicht weniger als vier historischen Ausstellungen im Ruhrgebiet als Leihgeberin und Zeitzeugin teilgenommen. Mehr „Ankommen“ ist kaum denkbar.

Susanne Abeck/ frauen/ruhr/geschichte

Der Text basiert auf einem Gespräch mit Frau Güven Ende 2011 im Mehrgenerationenhaus Stadtteilzentrum Dahlhausen der IFAK e.V., das dank der Vermittlung von Frau Hafize Cakar zustande kommen konnte. Im Mehrgenerationenhaus war in 2011 die Ausstellung „Gurbet – Die Fremde“ zu sehen.

Orte:

P-D Refractories GmbH | Dr. C. Otto, Dr.-C.-Otto-Str. 222, 44879 Bochum
Mehrgenerationenhaus Bochum - Stadtteilzentrum-Dahlhausen, Am Ruhrort 14, 44879 Bochum

Literatur:

Mehrgenerationenhaus (Hg.):„Losgehen. Ankommen“ Lebensentwürfe. Lebensgeschichten, o.O., Juni 2009

Zitation: Abeck, Susanne, Güzin Güven, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/guezin-gueven/

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Rezan Akkus

Im Kultur- und Stadthistorischen Museum Duisburg stehen große, prall gefüllte Säcke mit Getreide. Sie verweisen auf die Bedeutung des Duisburger Hafens zur Versorgung der rasant wachsenden Bevölkerung des Ruhrgebiets während der Industrialisierung. Rezan Akkus erinnern die Säcke an die Vorratshaltung in ihrem kurdischen Geburtsort. Darin wurden Mehl und Zucker aufbewahrt. Alle zwei oder drei Monate fuhren die Erwachsenen in die Stadt, um neue Vorräte zu kaufen.

Rezan Akkus wurde  in Gunde Mira (türkisch: Beyköyü) in der Nähe der Stadt Erzîrom (türkisch: Erzurum) geboren. Sie lebte mit Mutter, Brüdern und Schwestern im Haus ihres Onkels. Sie besaßen Land, Vieh und konnten Milchprodukte auf dem Markt verkaufen. Rezan Akkus erinnert das Leben im traditionalen Familienverbund als beengt. Es ließ ihr kaum Platz zur individuellen Entfaltung. Mädchen wurden nicht zur Schule geschickt, sie sollten ihren Müttern im Haushalt helfen. Rezan ging heimlich zur Schule. Als der Lehrer sie wegen fehlender Hausaufgaben mit dem Stock auf die Fingernägel schlug, ging sie nicht mehr hin: „Wie sollte ich denn Hausaufgaben machen, wenn ich doch heimlich hinging? Ich lasse mich doch nicht foltern! Dann schon lieber Hausarbeit!“

Der Vater hatte als politisch verfolgter Kurde aus der Türkei fliehen müssen und landete schließlich in Gelsenkirchen. Als er die Familie nach Deutschland holen konnte, machten sich die Mutter, Rezan, zwei Brüder und zwei Schwestern 1997 auf einen 3.800 Kilometer weiten Weg. Mit der Kutsche ging es in das nächst größere Dorf, dann weiter mit einem Autotaxi nach Erzîrom-Zentrum, dann mit dem Bus nach Ankara, von dort mit dem Flieger quer durch Europa nach Düsseldorf. Sie kam nicht in eine gänzlich fremde Welt, in Gelsenkirchen-Ückendorf lebte sie in einer kurdischen Nachbarschaft.

Das achtjährige Mädchen wurde zuerst in einer Förderschule eingeschult. Sie freundete sich dort mit Mädchen aus Albanien und Bosnien an. Gemeinsam lernten sie Deutsch, das sollte von nun an die Sprache sein, die sie verband und in der sie sich austauschten. Nach einem Jahr besuchte sie die zweite Klasse einer regulären Grundschule. Dort kam sie zum ersten Mal mit deutschen Kindern zusammen, doch blieb sie unter der Mädchen-Clique isoliert. Da erinnert sie sich heute lieber an einen deutschen Mitschüler, mit dem sie  rumtollen konnte. Ihr Lehrer für Türkisch, Herr Citlak, erkannte früh das Potential, das in Rezan steckte. Er überzeugte die Klassenlehrerin, eine Empfehlung für die Gesamtschule auszusprechen.

„Ich war total zielstrebig als kleines Mädchen. Ich habe gelernt, bis ich Kopfschmerzen hatte. Ich habe meinen Lehrern ein Loch in den Bauch gefragt.“ Rezan Akkus startete durch zu einer beachtlichen Bildungskarriere. In der siebten und achten Klasse gehörte sie zu den Klassenbesten. Die Eltern unterstützten ihre Tochter. Als sie sich nach Klasse 9 mit ihren Notenvoraussetzungen für eine Fachoberschulreife empfahl, schenkten sie ihr ein Handy. Rezan Akkus erzählt noch immer begeistert von diesem im doppelten Sinne symbolträchtigen Ereignis. Alle anderen besaßen schon seit der sechsten Klasse ein Handy, nun gehörte sie auch dazu, und sie hatte es sich über ihre schulischen Leistungen erarbeitet.

Wieder war es ein Lehrer, Herr Mertmann, der sie für das nächste Ziel motivierte. Als er im berufsberatenden Unterricht über Schulabschlüsse sprach, war klar, was Rezan unbedingt wollte: das Abitur, mit dem man studieren konnte. Rezan Akkus macht im Gespräch sehr deutlich, dass Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten bei Zugewanderten durch eine komplizierte Mischung aus unzureichender Information, fehlenden Vorbildern in Familie und Nachbarschaft aber auch durch gesellschaftliche Repräsentationen des „Anderen“ behindert wird. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat sie sich für ein Porträt in frauen/ruhr/geschichte zur Verfügung gestellt.

Auf der Gesamtschule macht sie ihr Voll-Abitur. „Ich war so stolz, meine Eltern waren so stolz.“ Und sie begann an der Universität Duisburg-Essen, Bildungswissenschaften zu studieren – an einer „richtigen“ Universität, wie sie betont. Als späterer Beruf schwebt ihr Soziale Arbeit oder Bildungsberatung vor, doch das Studium ist für sie mehr als eine Berufsvorbereitung, es ist auch eine Persönlichkeitsschulung: „Das fängt dabei an, dass man alles selber organisieren muss. Niemand schreibt einem Dinge vor, wie in der Schule. Man muss seinen Studienplan erstellen, sich Lerngruppen suchen, zu Prüfungen anmelden. Aber durch meinen Charakter kann ich offen auf Jeden zugehen. Das hilft mir.“ Die Universität gleicht einem riesigen Wissensspeicher, in den sie eintaucht. Universität, das ist für sie in gutem aufklärerischen Sinne eine Institution der ganzheitlichen Bildung. Wenn sie von Studierenden mit deutscher Herkunftsfamilie gefragt wird, ob sie pädagogische Grundlagentexte aus dem 18. Jahrhundert versteht, dann bestärkt sie das nur: „Natürlich kann ich Kernaussagen der Texte herausarbeiten und verstehen. Es ist scheinbar auch für andere Studierende mühsam, zeitaufwändig und nicht leicht.“

Alle ihre Geschwister haben gute Schulabschlüsse und Berufe, die jüngste Schwester geht zum Gymnasium. „In der Familie muss eine den ersten Schritt machen, dann kommt der Rest nach“, davon ist Rezan Akkus überzeugt.  Für sie ist es klar, später der kleinen Schwester ebenso ideell und finanziell zu helfen, wie den Eltern, denen es nicht so gut geht. Da gibt sie, wie die Geschwister, selbstverständlich einen Teil ihres Einkommens aus dem Studentenjob ab. Der Familienzusammenhalt ist groß.

Rezan Akkus stört maßlos: „Die Leute hier denken, wenn jemand die Sprache nicht richtig beherrscht oder mit Akzent spricht, dann ist man auch gleich blöd.“ Immerhin spricht sie neben der deutschen Sprache auch noch Englisch, Spanisch, Türkisch und Kurmancî. Das Kurdische ist eine indogermanische Sprache und dem Persischen verwandt. Bis vor wenigen Jahren war es in der Türkei verboten, gilt doch eine eigene Sprache mehr noch als eigenes Land als Symbol für kulturelle Selbstbehauptung und Autonomie. An Privatschulen konnte Kurdisch gelernt werden, „Aber wer hat schon“, so fragt Rezan Akkus, „das Geld, seine Kinder in Kurdistan auf Privatschulen zu schicken?“

Per Gesetz ist es in der Türkei seit 1983 verboten, im Parlament  Kurdisch zu sprechen – im Wahlkampf 2011 wurde dies erstmals nicht politisch verfolgt. Es gibt im Internet einen Film, der die kurdische Politikerin Leyla Zana zeigt, wie sie 1991 in schwarzem Kostüm mit einem schmalen, dezent in den kurdischen Nationalfarben Gelb, Grün und Rot geflochtenen Haarband quer durch das türkische Parlament schreitet, um ihren Eid auf die Verfassung zu sprechen. Noch während sie spricht, stören Abgeordnete mit lauten Protesten. Als sie den Eid um den Zusatz in kurdischer Sprache erweitert „Es lebe die türkisch-kurdische Brüderschaft“ brechen Tumulte aus und das Fernsehbild zeigt hasserfüllte Gesichter von Politikern und herumwuselnde Medienarbeiter, die den Skandal in Bild und Ton festhalten. Die Staatsanwaltschaft forderte für Leyla Zana die Todesstrafe, Amnesty International machte den Fall bekannt, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte das Vorgehen aufs Schärfste. In den Verhandlungen zwischen Türkei und Europäischer Union spielte auch das Schicksal der kurdischen Politikerin eine Rolle, die schließlich zu langen Haftstrafen verurteilt wurde. 2011 zog sie erneut als gewählte Abgeordnete ins türkische Parlament ein.

Für Rezan Akkus ist Leyla Zana in doppelter Hinsicht ein Vorbild: einmal, weil sie so mutig für die Autonomie Kurdistans eintritt, dann aber, weil sie, mit 14 Jahren verheiratet, sich selbst Lesen, Schreiben, Türkisch beibrachte und die Arbeit ihres Mannes fortführte, der 1980 ins Gefängnis kam. Leyla Zana gründete eine Selbsthilfegruppe für Frauen inhaftierter Männer und wurde Journalistin. Rezan Akkus kritisiert, dass sich in Deutschland kaum ernsthaft mit der kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Situation in Kurdistan beschäftigt wird, weil alle beim Wort „Kurden“ sofort an die PKK (Partiya Karkerên Kurdistan) denken, und daran, dass sie in der EU und anderen Ländern als verfassungsfeindliche Partei  eingestuft wird. „Kurdistan“ wird hier entweder in Bildern fahnenschwenkender Demonstranten oder eines waffenklirrenden Krieges zwischen türkischem Militär und kurdischen Aufständischen kommuniziert. Noch im Dezember 2011 nahm die türkische Polizei nach Razzien in Redaktionen mindestens 25 Journalistinnen und Journalisten fest unter dem Vorwand, Propaganda für die kurdische Sache zu machen. Dabei geht es um eine großangelegte Einschüchterung von Medien. Informationen wie diese finden allenfalls Eingang in die Berichterstattung von „Funkhaus Europa“. Wissen wir, dass die Erdbeben in „Ostanatolien“ vorwiegend kurdisches Siedlungsgebiet verwüsteten?

Als sie in Gunde Mira lebte, war sie selbstverständlich Kurdin. Erst als sie ihre Papiere für die Ausreise beantragten und ihre Mutter sie ängstlich immer wieder zurechtwies, Türkisch zu sprechen, wurde sie zum ersten Mal mit der türkischen Politik der Zwangsassimilierung konfrontiert. Als sie im Vorlesungsverzeichnis der Universität Duisburg-Essen Kurse in Kurdisch fand, war sie total überrascht, dass man hier eine „verbotene Sprache“ lehrte. Begeistert hat sie freiwillig Kurdisch-Seminare belegt, um sich zu verbessern und mehr über Kurdische Kultur zu hören.

„Ich weiß, was die deutsche Gesellschaft von mir erwartet“, bringt Rezan Akkus unser Gespräch auf den Punkt. „Immer wenn es um Integration geht, dann reden die Anderen über uns, ohne unsere Erfahrungen wert zu schätzen. Ich lebe zwischen zwei Kulturen. Ich bin in der Lage, beide Welten miteinander zu verbinden. Und es entsteht etwas Neues daraus.“ Davon kann man ausgehen, denn „Rezan“ heißt im Kurdischen: „Die den Weg weiß“.

Mittlerweile hat Rezan Akkus ihr Masterstudium der Bildungswissenschaften  an der Universität Duisburg-Essen abgeschlossen, hat eine Familie gegründet und lebt im Hochsauerlandkreis.

Uta C. Schmidt / frauen/ruhr/geschichte

Zitation: Schmidt, Uta C., Rezan Akkus, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/rezan-akkus/

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Rezzan Durmaz

Ihre Kindheit beschreibt Rezzan Durmaz als ausgesprochen glücklich, auch wenn ihre Mutter sehr streng war. Aber sie war der Liebling ihres Vaters, der als Polier für amerikanische Firmen arbeitete, die in der Türkei an dem Bau zahlreicher Flughäfen beteiligt waren. „Meine Kindheit war happy, ich hatte eine ganz glückliche Kindheit.“ Sie sollte – im Gegensatz zu ihrer Mutter, die zeitlebens Analphabetin blieb – zur Schule gehen und studieren. Sie trug Lackschuhe, schicke Kleider und lernte in der Schule fleißig Englisch, da sie von einer Zukunft in den USA träumte, an der Seite eines smarten Amerikaners.

Rezzan hatte acht Halbgeschwister, was sie lange Zeit allerdings nicht wusste. Als Nesthäkchen kannte sie nur die vier Söhne ihrer Mutter aus deren erster Ehe mit einem bedeutend älteren Mann, die noch vor 1922 zur Zeit des Osmanischen Reiches arrangiert worden war. Da ihre Mutter bis zum Tode ihres Mannes keinerlei Kontakt zur Außenwelt hatte, war sie völlig hilflos, als sie mit 33 Jahren Witwe wurde. Mutter und Söhne müssen für drei Jahre in ärmlichsten Verhältnissen gelebt haben, denn der Verdienst aus einer mit Hilfe der Nachbarn gefundenen Arbeit in der Textilindustrie reichte kaum für das Lebensnotwendigste. Nachbarn waren es auch, die ein Treffen mit einem 41-jährigen Mann arrangierten, der sich als kinderloser Witwer vorstellte. 1941 heirateten die beiden und drei Jahre später wurde als einziges gemeinsames Kind Tochter Rezzan geboren.

Der besseren Verdienstmöglichkeiten wegen zog die Familie später aus Istanbul fort und lebte für mehrere Jahre jeweils dort, wo der Vater gut bezahlte Arbeit fand. Die älteren Halbbrüder wurden nach Istanbul zu Verwandten geschickt, da sie geregelt eine Schule besuchen sollten. Ihre Mutter, nun allein mit Tochter und Mann, wurde nicht selbständiger, was bei der rückblickenden Tochter auf keinerlei Verständnis stößt, vielmehr von ihr als „Horror“ bezeichnet wird. Als die Familie nach Istanbul zog, begann die Mutter ihre vier Söhne zu suchen, die die Verwandten wegen Geldschwierigkeiten hatten ins Heim geben müssen.

Rezzan Durmaz beschreibt diese Zeit aus der Perspektive einer Neunjährigen, die damals längst nicht alles mitbekam und von der Familiengeschichte erst durch spätere Erzählungen der Mutter erfuhr. An was sie sich jedoch aus eigenem Erleben noch gut erinnern kann, ist der Flair Istanbuls Anfang der 1950er Jahre: die Stadt war modern, viele Frauen waren elegant gekleidet, gut geschminkt, nur wenige Frauen trugen Kopftücher. Ihre Mutter hätte es gerne gesehen, wenn sie Kopftuch getragen hätte, doch ihr Vater fand, dass dies nicht zu den modernen Zeiten passen würde. „Deswegen habe ich meinen Vater geliebt, ach, vergöttert.“ Das für sie so schöne Leben hielt bis zu ihrem 15. Lebensjahr. Ihr Vater kehrte damals in sein Heimatdorf am Schwarzen Meer zurück. Damals wussten sie schon, dass er bereits verheiratet gewesen war und seine erste Frau mit vier gemeinsamen Kindern in dem Dorf der Arbeitssuche wegen zurückgelassen hatte. Frau Durmaz kann auch heute noch nicht nachvollziehen, wie ihr Vater seine Kinder aus dieser Ehe verschweigen und sie unter extrem ärmlichen Verhältnissen zurücklassen konnte.

Eigentlich wollte ihr Vater nur seinen Erbteil verkaufen, um mit dem Erlös eine Hotelanlage als Alterssitz und -absicherung für seine Gesamtfamilie in der Nähe von Istanbul zu bauen. Ihre Mutter und sie haben ihn daher für ein Jahr begleitet und sind schließlich wegen des anstehenden Schulwechsels von Rezzan wieder nach Istanbul zurückgekehrt. Rezzan, nun bereits ein Teenager, hatte das Dorfleben mit seiner Reduktion auf das Lebensnotwendigste ohnehin als Zumutung empfunden. Zurück in der Metropole musste sie jedoch bald die Schule abbrechen und eine Beschäftigung als Sekretärin in einer Baumwollfabrik annehmen, da ihr Vater die Zahlungen an sie und ihre Mutter eingestellt hatte. Ihr einziger Wunsch war der, den früheren Lebensstandard durch die eigene Arbeit wieder zu erlangen. Und so empfand sie das von ihrer Mutter arrangierte „zufällige Treffen“ mit einem Mann als Frechheit. Beim Abschied zischte sie ihrem späteren Mann noch zu: „Du siehst mich nie wieder.“ Die Mutter fürchtete jedoch, bald zu sterben und ihre Tochter unversorgt zurückzulassen, denn das für uns heute selbstverständliche Lebensmodell einer allein lebenden Frau galt Ende der 1950er Jahren in der Türkei ebenso wie in der Bundesrepublik als unseriös.

Was die Option „Heirat“ für Rezzan dann doch interessant machte, war der Umstand, dass der junge Mann in Deutschland arbeitete. Er hatte den Sprung aus der Türkei heraus geschafft. Und ihr Hauptwunsch war es nach wie vor zu emigrieren: „Hauptsache, hier raus“. Zudem fand sie ihn attraktiv, weil er kein „alter Bauer“ war, sondern urban, modern und stilvoll. Also hat sie im zarten Alter von 17 Jahren „Ja“ gesagt. Bereits zweieinhalb Monate nach der Hochzeit, im November 1964, begann sie mit Unterstützung ihres Mannes bei der Firma Blaupunkt in Hildesheim zu arbeiten. Mutter und Schwägerin begegneten diesem neuen Lebensentwurf mit absolutem Unverständnis, kannte die junge Rezzan doch weder die deutsche Sprache noch deutsche Gepflogenheiten.

Dreieinhalb Tage fuhr Rezzan Durmaz vom Bahnhof Istanbul Sirkeci bis ins niedersächsische Hildesheim. Was sie dort vorfand, war alles andere als erhofft: Es war kalt, der Arbeitsplatz unübersichtlich, laut, gesundheitsgefährdend. Zudem lag das Haus, in dem sie mit einigen anderen Frauen untergebracht war, äußerst ländlich in einem kleinen Ort namens Bad Salzdetfurth, wo sie sich als Großstädterin langweilte. Der Postbote stöhnte, dass er nur für sie unterwegs sei, da sie mit ihrem Mann mehrseitige Briefe austauschte ‒ täglich. Sie war unglücklich und fühlte sich allein. Als eine Schwangerschaft festgestellt wurde, bekam sie es mit der Angst zu tun, denn sie hatte bei der zweitägigen Eignungsuntersuchung in der Türkei mit ihrer Unterschrift bestätigt, voll arbeitsfähig zu sein. Diese Untersuchung der „gesundheitlichen Eignung“ gab es „zum „Schutz der [deutschen] Bevölkerung aus seuchenhygienischen Gründe“ übrigens nur in den Anwerbeabkommen mit der Türkei und mit Tunesien. Alle deutschen Arbeitgeber, die Arbeitskräfte aus den insgesamt acht Anwerbe-Ländern beschäftigten, hatten für die Anwerbe- und Reisekosten pro Person an die für die Organisation zuständige Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg eine Pauschale in Höhe von 150, später von 300 Deutsche Mark zu zahlen. Diese und weitere „Auslagen“ hätte die junge Arbeiterin nun der Firma Blaupunkt zurückerstatten müssen. Um sich dem zu entziehen, ließ sich Rezza Durman von ihrem Halbbruder, der damals in Mülheim an der Ruhr lebte, mit zwei anderen Frauen nach München zum Bahnhof fahren, so dass sie ohne Umstieg zurück nach Istanbul kamen. Aufgrund des Vertragsbruchs unterlag Rezzan Durmaz für die nächsten drei Jahre einem faktischen Beschäftigungsverbot in der BRD, da ihr Name auf einer Schwarzen Liste der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) stand.

Im August 1965 wurde in der Türkei Sohn Ercan Salih geboren, nach dreieinhalb Jahren kam Tochter Betül zur Welt. Da Rezzan Durmaz mit ihrem Mann bei ihrer Schwägerin lebte, war das Leben alles andere als einfach, denn sie hatte sich der älteren Frau unterzuordnen und die ihr so wichtige Selbständigkeit aufzugeben. Und so zog es sie und ihren Mann bald wieder ins Ausland, dieses Mal nach Österreich, wo es seit 1964 ein Anwerbeabkommen mit der Türkei gab. Da zu diesem Zeitpunkt nur Frauen als Arbeitskräfte erwünscht waren, ging zuerst Rezzan Durmaz als Textilarbeiterin nach Österreich. Wenige Monate später folgten ihr Mann und Kinder.

Weil der Verdienst zu gering blieb, zog die Familie nach etwas mehr als drei Jahren 1981 wieder nach Deutschland: Ihr Mann begann in Nürnberg zu arbeiten, Rezzan für einen Monatsverdienst von 950 DM bei einer Strumpffabrik in Gelsenkirchen-Resse. Da ihr anfänglich gemäss des seit 1965 geltenden deutschen Ausländergesetzes kein „ausreichender Wohnraum“ zur Verfügung stand, mussten die beiden Kinder die ersten vier Monate wieder bei der Schwägerin in Istanbul leben. Doch bald hatte sie eine größere Wohnung gefunden, und neben Familie und Arbeit schaffte sie es sogar, 1974 ihren Führerschein zu machen: „Autofahren macht mir Spaß. Das ist irgendwie Freiheit.“

1977 wechselte Rezzan Durmaz zu den Graetz-Fernsehwerken nach Bochum, die mit ihrer Ansiedlung 1956 als erstes Werk auch massenhaft Arbeitsplätze für Frauen im Revier geschaffen hatten. Die Familie lebte damals in einem Haus, in dem ihnen eine Nachbarin ausgesprochen ausländerfeindlich begegnete. Eine deutsche Kollegin versuchte der Nachbarin zwar Paroli zu bieten, doch traute sich Frau Durmaz nicht, verunsichert ob ihres Status und in Unkenntnis ihrer Rechte, in den eigenen vier Wänden soziale Kontakte zu pflegen und Freunde und Freundinnen ihrer Kinder nach Hause einzuladen.

Als sie wegen einer Hüftoperation mehrere Monate krankgeschrieben wurde, kündigte ihr die Firma Graetz nach dreijähriger Beschäftigung. Rückblickend schätzt sich Frau Durmaz als zu verunsichert und naiv ein, um sich gegen diese Kündigung zur Wehr zu setzen, notfalls vor dem Arbeitsgericht. Doch entspricht ihre duldsame Passivität dem zunehmend verhärteten gesamtgesellschaftlichen Klima, das z. B. durch einen Beschluss der Bundesregierung von 1981 zum Ausdruck kommt: „Es besteht Einigkeit, daß die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland ist und auch nicht werden soll.“

Ihr Mann stand zwar in einem festen Arbeitsverhältnis, dennoch fürchtete Rezzan Durmaz in dieser Situation ihre Ausweisung – obwohl der „Beschluss 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980“ eine umgehende Ausweisung türkischer ArbeitnehmerInnen im Falle von Arbeitslosigkeit untersagte. Frau Durmaz suchte sich daher schnellstens eine neue Arbeitsstelle, die sie in einer kleinen Wattenscheider Fabrik fand. Obschon sehr schlecht bezahlt und körperlich anstrengend, hielt sie es dort wegen des guten Betriebsklimas 17 Jahre lang aus. Zusätzlich hatte sie eine Putzstelle. Es verwundert nicht, dass sie sich heute – nach einer Bandscheibenoperation und mit einer 60-prozentigen Behinderung – als „kaputt“ bezeichnet.

Auch heute noch ist Frau Durmaz ihrem Vater für seine liberale Erziehung dankbar. Diese prägte in ihr früh den Wunsch nach Selbständigkeit und ermöglichte es ihr, sich in der österreichischen und deutschen Gesellschaft schnell zurecht zu finden. Im Jahre 1980 hatten mehr als 65 Prozent der türkischen Frauen keinerlei Kontakt zu Deutschen ‒ Rezzan Durmaz schlug einen anderen Weg ein und ließ z. B. ihre beiden Kinder ausschließlich mit deutschen Kindern groß werden. Beide haben die mütterliche Durchsetzungskraft mit auf den Weg bekommen: die Tochter Betül ist Lehrerin an einer Gelsenkirchener Förderschule und mit ihrem Buch „Döner, Machos und Migranten“ (2009) deutschlandweit bekannt geworden, der Sohn Ercan begegnet einem als Schauspieler regelmäßig im deutschen Fernsehen.

Was wünschte die Bundesregierung 1981? Deutschland sollte kein Einwanderungsland werden? Eine Rückkehr in die Türkei haben Rezzan Durmaz und ihr Mann spätestens mit der Einschulung der Tochter aufs Gymnasium aufgegeben. Heute fliegen sie fast nur noch zur Erholung nach Istanbul und an die Bosporusküste.

Susanne Abeck / frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Bochum-Riemke, Meesmannstraße: hier war früher der Sitz der Graetz-Fernsehwerke, die sich bereits 1961 nicht mehr im Besitz der Familie Graetz befanden, sondern von Standard Elektrik Lorenz AG, ab 1988 von Nokia.

Literatur:

Betül Durmaz: Döner, Machos und Migranten. Mein zartbitteres Lehrerleben, Freiburg 2009.
Mehrgenerationenhaus (Hg.): „Losgehen. Ankommen“ Lebensentwürfe. Lebensgeschichten, o.O., Juni 2009.
Aytaç Eriylmaz u. Mathilde Jamin (Hg.): Fremde Heimat. Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei, Essen 1998.




Zitation: Abeck, Susanne, Rezzan Durmaz, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/rezzan-durmaz/

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Tülay Koca

In ihrem großzügig geschnittenen Büro in Essen sitzt man als Besucherin unter einem Bild Mustafa Kemal Atatürks, dem Begründer der modernen Türkei: „Atatürk hat uns Frauen die Emanzipation gebracht“, so Frau Koca. Und den Männern die emanzipierte Frau, mag man ergänzen. Dass nicht alle dies zu schätzen wissen, erfuhr die taffe Geschäftsfrau Koca, die sich auf ihrer Internetseite selbst als „Hochzeitsplanerin“ bezeichnet und selbstbewusst im Kreis einiger ihrer 27 Angestellten zeigt, zu Beginn ihrer Selbständigkeit gleich mehrmals. Denn viele türkische Männer wollten mit einer Frau erst gar nicht verhandeln und beendeten bereits am Telefon das Gespräch. Mit ihr sprechen muss man allerdings, wenn man ihre Dienstleistungen in Anspruch nehmen möchte, da führt kein Weg dran vorbei. Denn sie ist die Königin des Prenses Palace, übersetzt Prinzessinnen Palast oder Palast der Prinzessin, einer Veranstaltungslocation, die sich vor allem an die türkische Community im Ruhrgebiet wendet.
Mittels eines „Nischenmodells“ erklären Soziologen die Selbstständigkeit von Migranten und Migrantinnen, wenn diese „durch die Erkennung eines spezifischen Nachfragepotenzials ihrer Landsleute Geschäfte in bestimmten Branchen gründen“. Und ein Veranstaltungsraum wie das Prenses Palace richtet sich vor allem an Türken und Türkinnen, die großzügig feiern möchten. Wie zum Beispiel ihre Hochzeit, für die nicht nur – wie bei Deutschen üblich – Familieangehörige und Bekannte, sondern auch Nachbarn und Arbeitskollegen eingeladen werden, die ihrerseits Gäste mitbringen. Da ein Hochzeitsfest in der türkischen Gesellschaft ein soziales Ereignis ist, das nicht privaten, sondern gesellschaftlichen Charakter hat, führt dies häufig zu 500 Gästen und mehr.
Und da diese nicht nur bewirtet und musikalisch unterhalten sowie die Kinder bespaßt sein wollen, sondern das Ehepaar auch gut gekleidet, frisiert und gestylt sein möchte, bietet Tülay Koca alles rund um das Thema „Hochzeit“ als Dienstleistung an. Dass sie dies sehr gut macht, davon zeugen die zahlreichen, individuell angefertigten Dankeskarten vor allem türkischer, aber auch deutscher Frischvermählter in ihrem Büro sowie die Tatsache, dass sie auf das nächste Jahr hin bereits ausgebucht ist. Inzwischen verhandeln nämlich auch die Männer mit ihr, denn es hat sich herumgesprochen, das die 44-jährige kompetent ist in dem, was sie macht.
Dabei war es für sie keineswegs leicht, ihre Idee überhaupt umzusetzen, wobei ihr Vorhaben weder am Geld noch am Konzept, das sie mit deutschen Freunden ausgearbeitet hatte, zu scheitern drohte, sondern an rassistischen Vorbehalten. „Nein, an Türken und an Ausländer vermieten wir generell nicht“. Das bekam sie gleich mehrmals zu hören. Es ist für eine Region, die sich im Kulturhauptstadt mit den über 140 hier lebenden Nationen und ergo für Offenheit und Toleranz förmlich gebrüstet hat, erschreckend und peinlich zugleich, dass erst das Engagement eines geschäftlich gut vernetzten (deutschen) Bekannten zum Erfolg und zu dem Mietvertrag des 1.200 Quadratmeter großen Objektes in Nähe der neuen Thyssen-Krupp-Verwaltung führte.
Bis zur Vertragsunterzeichnung hatte Tülay Koca ihrer Familie von ihrem Vorhaben allerdings überhaupt nichts gesagt und so war ihr Mann über ihr forsches Vorgehen verärgert. Doch inzwischen sind alle mit ihrem Vorpreschen d’accord. „Wenn ich an mich glaube, dann ziehe ich mein Ding durch“, meint Frau Koca im Gespräch und ihr Geschäftserfolg ist Beweis für ihre Zielstrebigkeit.
Auf diese Geschäftsidee ist sie gekommen, nachdem sie in Essen vergeblich einen geeigneten Veranstaltungsort für das Beschneidungsfest ihres 1997 geborenen Sohnes gesucht hatte. Einzig das Sheraton-Hotel schien vom Ambiente und von der Größe her in Betracht zu kommen, doch dafür reichten ihre finanziellen Möglichkeiten nicht aus. Und so suchte, organisierte und veranstaltete sie das Ganze in der Türkei. Da ihr dies großen Spaß gemacht hatte, ging sie fortan schwanger mit der Idee, eine passende Location in Essen aufzubauen. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete sie im 16. Jahr als Geschäftsführerin in dem Friseurgeschäft ihrer Schwester und als diese ihr eine familienfreundlichere Arbeitszeitregelung verweigerte, wurde aus dem vagen Wunsch ein fester Vorsatz.
Dabei gehört Frau Koca zu einer Minderheit in Nordrhein-Westfalen, denn nur etwa sechs Prozent (circa 40.000) aller erwerbstätigen Migrantinnen in NRW sind selbständig, unter ihnen circa 6.000 türkischstämmige Frauen. „[…] diese Frauen leisten einen ganz wichtigen Beitrag für unser Land, nicht nur für die Wirtschaft und als Arbeitgeberinnen, sondern auch als Vorbilder für die Integration. Wir müssen sie in ihrem Engagement darum nach Kräften unterstützen.“ So Armin Laschet 2009, damals Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen.
„Wir wollen als Vorbilder fungieren”, sagt eine Kollegin von Frau Koca, Birnur Öztürk aus Oberhausen. Birnur Öztürk ist Vorsitzende des PETEK Business-Netzwerkes Migrantinnen e.V., das Frau Koca 2005 mitgegründet hat. Nach wie vor findet sie die Idee, dass sich selbständige Frauen mit Migrationshintergrund durch Petek (türkisch für Wabe) vernetzen und gegenseitig unterstützen, „ganz toll“. Inzwischen gehören dem Netzwerk fast 70 Migrantinnen an. Wobei Tülay Koca, die im Alter von viereinhalb Jahren mit ihrem Vater und ihren drei Geschwistern aus einem Ort in der Nähe der anatolischen Stadt Konya nach Essen umgezogen war, generell eine Networking-Anhängerin ist: „Man kann nur hinzulernen und dazugewinnen.“ Und ihre Kompetenz sowie ihre offene und interessierte Art kommt nicht nur in Migranten- und Migrantinnenkreisen gut an. Davon zeugt ihre Wahl in den Vorstand der Essener Kreisgruppe des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes e.V. (DEHOGA), in das DEHOGA-Präsidium auf NRW-Ebene sowie ihre Berufung als kooptiertes Mitglied der IHK zu Essen.
An Sozialkapital hat sie von ihrem Vater, dem gelernten Friseur und späteren Oberinspektor einer deutschen Versicherung, der ausschließlich für die türkischen Versicherungsmitglieder zuständig war, einiges mit auf den Weg bekommen. Auch dieser vermochte nach Aussage seiner Tochter in der Öffentlichkeit eine gute Figur zu machen und liebte es, türkische Familienfeste zu organisieren, und zwar NRW-weit. An Bildungskapital hat sie indes wenig vermittelt bekommen und so verwundert es nicht, dass Tülay Koca für ihren Sohn das Abitur nicht nur als Option, sondern als „ein Muss“ bezeichnet. Frau Koca ist sich dessen bewusst, dass Integration und Chancengleichheit eng mit dem Thema Bildung verbunden sind.
Für sich selbst hat sie natürlich auch noch Pläne: So würde sie gerne einen zweiten, nobleren Veranstaltungsort anmieten, fern des jetzigen Gewerbegebietes. Zum Beispiel würde ihr Schloss Baldeneysee recht gut gefallen. „Standard“, Classic“ und „1000 & 1 Nacht“ hat sie bereits im Angebot, die „Märchenhafte Traumhochzeit“ käme dann noch hinzu.
Susanne Abeck/ faruen/ruhr/geschichte
Orte:

Prenses Palace, Westendhof 4, 45143 Essen, http://www.prenses-essen.de/

Literatur:

Andreia Tolciu, Ann-Julia Schaland: Selbstständige Migranten in Deutschland, 2008, http://www.wirtschaftsdienst.eu/downloads/getfile.php?id=2048&PHPSESSID [15.03.2012]

Selbständig integriert? Studie zum Gründungsverhalten von Frauen mit Zuwanderungsgeschichte in Nordrhein-Westfalen, erstellt vom Institut für Mittelstandsforschung der Universität Mannheim, 2009, http://www.institut-fuer-mittelstandsforschung.de/kos/WNetz [15.03.2012]
http://www.petekweb.de/ [15.03.2012]

Zitation: Abeck, Susanne, Tülay Koca, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/tuelay-koca/

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Beyhan Colak

Beyhan Güeney wurde 1949 in der Stadt Ordu an der östlichen Schwarzmeerküste geboren, von wo aus die Familie vier Jahre später nach Hopa zog, einem 350 Kilometer weiter östlich gelegenen Küstenort an der Grenze zu Georgien. In dieser fruchtbaren Region hatte ihr Vater ein Haus mit einem Grundstück geerbt, wo er mit seiner Frau nun Tee- und Gemüseanbau betrieb. Heute noch schlummert eine Sehnsucht nach dem Meer in ihr. „Eine Seite muss Meer sein“, so wäre es optimal.

Beyhan ging gerne zur Schule und war nach eigener Aussage „eine sehr, sehr gute Schülerin“. Nach der Grundschule besuchte sie mit zehn Jahren eine Haushaltsschule, um danach, auf Empfehlung einer ihrer Lehrer, eine staatliche Lehrerausbildung zu beginnen. Die Eltern hätten ihr eine solche Ausbildung nicht finanzieren können, doch die staatliche Förderung begabter Kinder bot Beyhan eine Chance auf eine qualifizierte Ausbildung. Sowohl sie selbst als auch die Eltern wussten diese zu nutzen. „Wir waren Privilegierte der Gesellschaft“, meint sie im Rückblick und versteht unter „wir“ begabte und lernwillige Kinder vor allem aus den ländlichen Regionen, für deren Unterricht, Unterkunft, Verpflegung, Kleidung inklusive Taschengeld der türkische Staat aufkam. Sie ist heute noch stolz auf sich, dass sie diesen Schritt gewagt und mit erst zwölf Jahren das staatliche Lehrerausbildungs-Internat in Trabzon, rund 170 Kilometer von ihrem Heimatort entfernt, besucht hat. Welch ein Mut und welche Zuversicht! Und sie ist heute noch begeistert von dem fortschrittlichen, auf Chancengleichheit bedachten Ausbildungssystem, das in den 1940er Jahren in der Türkei eingeführt und Anfang der 1970er Jahre abgeschafft wurde.

Nach fünf Jahren zog Beyhan von Trabzon nach Ankara, wo sie auf einer staatlichen Schule das Fachabitur machte, um dann, nochmals einige Kilometer weiter westlich, sowohl an der Pädagogischen Hochschule als auch an der Universität von Istanbul ihre Ausbildung fortzusetzen. Mit 20 Jahren studierte sie – nach wie vor finanziell getragen vom Staat – tagsüber an der Universität Physik, Biologie und Chemie auf Lehramt für die gymnasiale Oberstufe und erhielt abends, an drei Tagen in der Woche, pädagogischen und didaktischen Unterricht an der PH. 1973 schloss sie ihr Studium ab und hätte daran anschließend gerne in Istanbul promoviert, wenn die dortige technische Ausstattung nicht überaltert gewesen wäre. Nachdem sie bereits so häufig umgezogen war und ihren Aufenthaltsort gewechselt hatte, verwundert es nicht, dass sie dem Rat ihrer jüngeren Schwester folgte, die seit 1969 in Deutschland lebte, und sich an der Ruhr-Universität Bochum bewarb. Anfang 1974 wurde sie an der dortigen biologischen Fakultät als Doktorandin angenommen, in dem Jahr also, in dem das Audimax und die Universitätsbibliothek der RUB fertiggestellt wurde.

Behan hatte sich bereits in der Türkei für Politik interessiert, denn auch dort gab es eine aktive 68er-Studentenbewegung, doch erst durch ihre politisch aktiven RUB-Mitstudenten und -studentinnen aus Südamerika, den USA, Großbritannien, Indien und Pakistan wurde sie aktiv und gründet mit türkischen StudentInnen und DoktorandInnen einen Verein, um gemeinsam über die politische Situation in der Türkei zu diskutieren. Das Land war zu dieser Zeit geprägt von politischer Instabilität, ökonomischen und sozialen Problemen, Streiks und Terrorakten politisch extremer Gruppen ‒ und der Besetzung des Nordens von Zyperns.

Drei Jahre später wollte sie nicht länger bei ihrer Schwester und deren Mann wohnen und wechselte als inzwischen 28-Jährige ins Berufsleben, um – wie sie damals dachte – nur wenige Zeit später ihre Promotion abzuschließen. Doch es sollte anders kommen, denn nun entwickelte sie sich von einer wissenshungrigen und engagierten Studentin zu einer Frau, die mit ihrem Wissen anderen helfen wollte. Im Oktober 1977 trat sie am Ricarda Huch-Gymnasium in Gelsenkirchen eine Stelle als Lehrerin für Türkisch an. Dort wurde ihr in der Türkei gemachter Abschluss jedoch nicht anerkannt, so dass sie nur als Grundschullehrerin eingestuft und deshalb schlechter bezahlt wurde – worüber sie sich heute noch ärgert. Gemeinsam mit Kollegen und Kolleginnen klagte sie gegen den getrennten Unterricht von deutschen und türkischen Kindern, der damals zwar an den Grundschulen obligatorisch war, den sie jedoch für die weiterführende Schule als unangemessen empfand. Die Klage hatte Erfolg.

Ein Jahr darauf wechselte sie auf die Antoniusschule, eine Sonderschule für lernbehinderte Kinder, an der sie vor allem türkische Kinder unterrichtete: in deren Muttersprache, in türkischer Kultur und Geschichte. Das Unterrichten an sich habe ihr nie viel Spaß gemacht, sagt Beyhan Çolak heute, einige Zeit nach ihrer Pensionierung, wohl aber das Helfen. Für die türkischen Kinder sei sie als Türkin ein Anker gewesen. Denn viele der Kinder, deren Eltern aus den türkischen Bergbaugebieten ins Ruhrgebiet gekommen waren, hätten förmlich unter Kulturschock gestanden, seien überfordert und unkonzentriert, jedoch keineswegs dumm gewesen. Sie hätten nur einer besonderen Unterstützung bedurft.

Das Feld, auf dem sie ihrem Interesse an Politik nachging, war die Frauenbewegung. 1975, im Internationalen Jahr der Frau, gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern des Gelsenkirchener Türkischen Frauenvereins e. V. und übernahm dessen Vorsitz. Zweck des Vereins war laut Satzung „die Förderung der in Gelsenkirchen lebenden türkischen Frauen“. Auch hier war es ihr Wunsch, Hilfe anzubieten, konkret Orientierungshilfe für die aus der Türkei hinzugezogenen Frauen, zum Beispiel in Bezug auf deren Rechte am Arbeitsplatz oder in der Ehe. So begleitete sie türkische Frauen bei deren Besuch von „Pro Familia“ und leistete Übersetzungshilfe, wenn diese einen Schwangerschaftsabbruch wünschten. Sie nahm mit dem Frauenverein an Demonstrationen teil, wie der großen Friedensdemonstration in Bonn 1980, beteiligte sich an der alljährlichen Kulturveranstaltung auf Schloss Kemnade in Bochum und an den Veranstaltungen rund um den Internationalen Frauentag in Gelsenkirchen. An der Volkshochschule Gelsenkirchen leitete sie, gemeinsam mit der dortigen Fachbereichsleiterin Dr. Marianne Kaiser, zeitweise einen Gesprächskreis für türkische Frauen und bot einen Alphabetisierungskurs an. Integration, Ausländerfeindlichkeit, Arbeitslosigkeit sowie Frauen und Gewerkschaften waren die Themen, mit denen sich Beyhan und der Türkische Frauenverein befassten. Sie führten Veranstaltungen durch und wurden aktiver Teil der Gelsenkirchener Frauenbewegung.

25 Jahre später war diese Art von Hilfe jedoch kaum noch nachgefragt, so dass sich der Verein 2001 auflöste. Dabei wurde Beyhans Engagement und das ihrer Mitstreiterinnen über die Jahre von anderen türkischen Frauen und Männern keineswegs nur gutgeheißen. Denn diese Art der politisch-sozialen Arbeit war in den Augen vieler eine Männerangelegenheit, die sich für eine Frau nicht „schickte“.

Seit 2008 ist Beyhan in einem lasischen Kulturverein aktiv, da sie selbst der auf 5.000 bis 50.000 Menschen in Europa geschätzten ethnischen Minderheit der Lasen angehört. In diesem Kulturverein geht es darum, die lasische Kultur, vor allem die lasische Sprache, ein sehr komplexes Lautsystem mit vielen Konsonanten, aktiv zu pflegen und so vor dem Aussterben zu schützen. Ihr Mann und ihre Kinder sprechen kein Lasisch, auch wenn sie es ihren Kinder gelehrt hat und ihr Sohn fünf Sprachen spricht.

Ihren Mann Yasar Çolak, einen türkischen Dichter, hatte sie Anfang der 1980er Jahre bei einer Lesung in Gelsenkirchen kennen gelernt. Er wäre gerne mit ihr in die Türkei gezogen, doch standen in dem seit 1980 von Militärs geführten Land seine Bücher auf dem Index und Beyhan hatte öffentlich gegen die Militärregierung demonstriert, so dass an einen Umzug vorerst nicht zu denken war. Die Geburt der Kinder 1985 und 1986 schob den Wunsch ihres Mannes weiter in den Hintergrund. Da seine Sehnsucht nach einem Leben in der Metropole Istanbul über die Jahre aber nicht kleiner wurde, zog er nach seiner Pensionierung – auch er war in Gelsenkirchen als Lehrer tätig – zurück an den Bosporus, so dass die beiden seither einen Teil des Jahres getrennt voneinander leben. Denn Beyhan will Deutschland nicht ganz verlassen, solange ihre Tochter hier ihre künstlerische Entwicklung als Jazzmusikerin vorantreibt und ihr Sohn erfolgreich als Wirtschaftswissenschaftler in Dortmund arbeitet. „Man hat immer Sehnsucht, eine Seite ist immer dort“, meint Beyhan Çolak, wobei sie wohl gleichermaßen an ihren Mann und an die Türkei denkt. Dass diese zierliche Frau damit ein Problem hat, kommt einem allerdings nicht in den Sinn. Denn immerhin hat sie bereits in ihrem zwölften Lebensjahr ihre Eltern und die ihr vertraute Umgebung verlassen, um eigenständig ihre Ziele zu verfolgen. „Man ist sich selbst die Heimat“, sagt sie. Mit dieser Überzeugung hat sie sich zu einer Persönlichkeit entwickelt, die für andere ein Anker im Leben sein wollte ‒ und es wurde.

Susanne Abeck / frauen/ruhr/geschichte

Literatur:

Hürcan Aslı Aksoy: Die türkische Frauenrechtsbewegung, http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/184972/frauenrechte [Oktober 2014]

Zitation: Abeck, Susanne, Beyhan Colak, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/beyhan-colak/

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Maria Lucia von Nesselrode-Reichenstein

Am 3. November 1698 ging für die Schwestern Maria Lucia und Maria Victoria Gräfinnen von Nesselrode-Reichenstein ein Traum in Erfüllung: Kurfürst Joseph Clemens von Köln unterzeichnete an diesem Tag die Gründungsurkunde eines von ihrem Vater, Franz Graf von Nesselrode-Reichenstein, kaiserlicher Kammerherr und Statthalter im Vest Recklinghausen, fundierten Klosters in Dorsten. Dass sich daraus die heute größte und wichtigste Bildungseinrichtung der Stadt mit nahezu 2.000 Schülerinnen und Schülern entwickeln würde, war damals sicher nicht abzusehen.
Eigentlich hatte alles recht bescheiden angefangen in Köln. Als erste war Lucia Therese, Ordensname Maria Lucia, 1682 als ältestes von acht Geschwistern im Alter 18 Jahren in das 1639 gegründete Ursulinenkloster eingetreten. Nach zwei Jahren legte sie am 6. Februar 1684 ihre feierliche Profess ab. Ihre jüngere Schwester Anna Wilhelmina alias Maria Viktoria folgte ein Jahr später.

Die jungen Frauen müssen von den Idealen dieser Ordensgemeinschaft, die Angela Merici 1535 in Italien gegründet hatte, begeistert gewesen sein, lernten sie hier doch etwas ganz anderes kennen als man von den alten Orden bis dahin gewohnt war. Angela Merici hatte etwas völlig Neues gewagt. Parallel zu den Jesuiten plante sie kein weltabgewandtes, kontemplatives Kloster, sondern schuf eine Gemeinschaft religiös gebundener Frauen, die – wie Angela selbst – mitten „in der Welt“ wirkten. Ihr Lebensmittelpunkt war Brescia gewesen, doch ihre Reisen hatten sie auch nach Mailand, Cremona, Jerusalem, Venedig und Rom gebracht. Sie war eine Frau gewesen, die beriet, vermittelte, Streit schlichtete, die zurückgezogen lebte und doch immer eine Frau der Öffentlichkeit war, die man aufsuchte, die sich einmischte, die begleitete und half. Ihrem großen Vorbild wollten die beiden Schwestern folgen und in Westfalen ein Kloster gründen, dessen Bewohnerinnen sich ganz der Erziehung und Bildung junger Mädchen widmeten.

Die Korrespondenz Maria Lucias, die zweifellos die treibende Kraft war, belegt ihr Drängen und ihr Engagement auch gegen die ablehnende Haltung des zunächst zuständigen Bischofs von Münster. In einem Brief an Domprobst Ferdinand von Plettenberg erläutert ihr Vater das Vorhaben seiner Töchter, das er jederzeit ideell und vor allem finanziell voll unterstützte. Wie seine Töchter habe auch er „wahrgenommen, daß so wohl hohe Stands alß haabselige Personen im Stifft Münster, wan sie ihre Döchter in der Andacht, guten Sitten, auch frantzösischer Sprach, Music und anderen den Frawen Zimmer anstehenden Exercitijs erziehen und üben lassen wollen, dieselbe weith außer Lands, nacher Lüttig, Rurmond, Düßeldorf, Cöllen, Bonn und andere entlegene Örter darumb schicken müßen, das [= weil] im gantzen Stift Münster dergleichen dazu qualificirte Geistliche nit gefunden werden […].“

Nach mehreren gescheiterten Anläufen zu einer derartigen Neugründung in Alfeld bei Hildesheim, in der Stadt Münster und in Dülmen fand man schließlich in Dorsten, im Vest Recklinghausen an der Grenze zum Fürstbistum Münster gelegen, den geeigneten Ort. Als auch die Oberin des Kölner Ursulinenklosters ihre Zustimmung gegeben hatte, kaufte Franz Graf von Nesselrode-Reichenstein das „hohe Haus“, auf dessen Platz heute die Klosterkirche steht. Er ließ es nach den Wünschen seiner Töchter entsprechend den neuen Anforderungen herrichten.
Am 21. Januar 1699 kamen die Gründerinnen mit zwei weiteren Schwestern aus Köln, Maria Philippine von Zang und Maria Susanna von Erlenkamp, in Dorsten an. Das Weihnachtsfest hatten sie im Kreis der Familie auf Schloss Herten verbracht, wo die Mutter, Anna Maria Freiin von Wilich, sie ein letztes Mal standesgemäß bewirtet und umsorgt hatte, bevor sie in die Armut zogen.
Auf Karren folgte die kleine Aussteuer, die das Mutterhaus den Schwestern für den Neuanfang in Dorsten mitgegeben hatte. Das wichtigste Geschenk der Mutter Oberin in Köln, das Gnadenbild der „Mutter der Barmhertzigkeit“ wird noch heute im Kloster verehrt.

Noch in Köln hatten diese vier jungen Frauen, die von nun an einen eigenständigen Konvent bildeten, ihre zukünftige Oberin gewählt. Das Ergebnis verlangte Charaktergröße von beiden Schwestern. Denn entgegen allen Erwartungen wurde nicht die bis dahin engagierteste, Maria Lucia, sondern ihre eher stille jüngere Schwester Maria Viktoria zur ersten Oberin gewählt. Sie leitete das Institut knapp sechzig Jahre und starb „im Rufe der Heiligkeit“ am 18. Mai 1756, acht Jahre nach Maria Lucia.

Der Rat der Stadt Dorsten war anfangs keineswegs von der Errichtung eines neuen Klosters angetan, denn man befürchtete beträchtliche Einbußen, da geistliche Institutionen von Steuern befreit waren. Dass die adeligen Familien, die ihre Töchter ins Pensionat der Ursulinen schickten, viel Geld in die Stadt brachten und dass die städtische Wirtschaft dank der Ursulinen kräftig angekurbelt wurde, erkannte man erst viel später.

Bereits acht Tage nach Ankunft der Ursulinen begann man mit dem Unterricht in der Elementarschule, die von Mädchen aus der Stadt besucht wurde:„Und seindt die Kinder mit solcher Menge Uns zugeloffen, das wir alle 4 Uns bemühet denselben ein genügen zu geben“, heißt es in der Chronik.

Am 14. Februar 1699,„dem ersten Sambstag in der Fasten“, wurde das Pensionat, das vornehmlich adlige Mädchen aufnahm, eröffnet. Es hatte bereits im ersten Jahr 30 Schülerinnen. Der schnelle Erfolg zeigte, wie stark das Bedürfnis nach moderner Mädchenerziehung war. Denn das neue Erziehungsinstitut fand sowohl beim Adel der nahen und weiteren Umgebung als auch bei den Bürgerfamilien der größeren und kleineren Städte regen Zuspruch. Bald kamen sogar Zöglinge aus Potsdam, Mannheim, Bruchsal, und Mainz, aus Mecklenburg, Hamburg, Bremen und Altona. Wegen der vielen Mädchen aus den Niederlanden nannte man Dorsten bald das „Amsterdam an der Lippe“.

Zusätzliche Gebäude wurden dringend gebraucht: Für den Erweiterungsbau des Klosters, den östlichen Flügel, stellte der Vater der Stifterinnen die Mittel bereit. Der Erzbischof/Kurfürst von Köln unterstützte den Neubau der 1707 begonnenen Kirche, die 1739 geweiht wurde, finanziell. Seinen Abschluss erhielt der ganze Klosterbau durch die 1755 begonnene Anlage des dreistöckigen westlichen Flügels, des sogenannten Pensionats.

Die Erziehung war streng reglementiert: Die Mädchen wohnten mit den Nonnen im abgeschlossenen Bezirk der Klausur. Besuch empfingen sie wie die Ordensfrauen hinter dem Klostergitter im Sprechzimmer. Einmal im Jahr durften sie nach Hause fahren.

Doch bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts änderten sich unter dem Einfluss der Aufklärung die Vorstellungen von Bildung und Erziehung. Sowohl die Zahl der Nonnen als auch die der Pensionärinnen ging drastisch zurück. Als 1817 nur noch sieben Schwestern in Dorsten lebten, wurde das Pensionat geschlossen. Das Ende schien erreicht. Doch zwei Jahre später konnte man wieder einen Neubeginn wagen, als fünf Novizinnen kamen. Es ging wieder aufwärts – bis zum Kulturkampf: Am 5. Januar 1876 erhielt die Oberin den Auflösungsbescheid, der mit einer Ausweisung verbunden war. Die Dorstener Ursulinen – 26 Schwestern und fünf Novizinnen – fanden in dem kleinen Städtchen Weert nahe Roermond eine Bleibe, nachdem sie, um den Zugriff des Staates auf ihren Besitz zu verhindern, diesen auf die gräfliche Familie Nesselrode in Herten übertragen hatten.

Schneller als erwartet fand der Kulturkampf ein Ende, und die Dorstener wünschten sich „ihre“ Ursulinen zurück. Im April 1887 schrieb der Magistrat nach Weert:„Seit Jahren entbehren wir mit unseren Mitbürgern die wohltätigen Einflüsse, die durch das hiesige Ursulinenkloster namentlich unserer weiblichen Jugend zugeführt wurden. Aber auch in pekuniärer Beziehung hat eine große Anzahl Handwerker und Gewerbetreibende schmerzhaft die Aufhebung des Klosters empfunden. Wir geben uns der angenehmen Hoffnung hin, daß Ew. Hochwürden recht bald Anordnungen treffen mögen, die Überführung der Genossenschaft nach hier zu bewerkstelligen usw.“

Im Juni 1888 kehrten die Ursulinen zurück, Kloster, Pensionat und Schule nahmen einen rasanten Aufschwung. Seit 1904 gab es sogar ein Lehrerinnenseminar. Nun änderte sich auch die soziale Zusammensetzung, denn es kamen Kinder aus allen Ständen, und die Zahl der Schülerinnen wuchs unaufhörlich.

Obwohl die Dorstener Ursulinen den Nationalsozialisten trotzen konnten, folgte diesem Aufschwung ein baldiges Ende: Trotz der Markierung durch ein riesiges Rotes Kreuz auf dem Dach wurden Kloster und Pensionat am 22. März 1945 durch amerikanische Bomben in Schutt und Asche gelegt. Die Kirche wurde völlig zerstört. Zum dritten Mal in ihrer Geschichte standen die Dorstener Ursulinen vor dem Aus – doch abermals ließen sich die Nonnen nicht entmutigen: Schon 14 Tage später begann der Wiederaufbau.

Die neue Klosterkirche wurde am 14. September 1959 eingeweiht. 1971 erhielt die Realschule ein neues Gebäude auf dem klostereigenen Gelände „Nonnenkamp“ am Stadtrand. Ein Jahrzehnt später, 1982, konnte das Gymnasium ebenfalls einen Neubau beziehen. Die Schulen der Ursulinen in Dorsten sind heute gefragter denn je und haben weit über tausend Schülerinnen und Schüler.

Ute Küppers-Braun/ Essen

Orte:

Ursulastraße 12, 46282 Dorsten

Literatur:

Hopmann, M. Maria Victoria, O.S.U., Geschichte des Ursulinenklosters in Dorsten, Münster 1949.
Küppers-Braun, Ute, Frauen greifen ein. Alpen und Dorsten im Zeitalter der Konfessionalisierung, in: Harzenetter, Markus/ Hauser, Walter/ Mainzer, Udo/ Zache, Dirk (Hg.), Fremde Impulse – Baudenkmale im Ruhrgebiet, Aufsatzband, Münster 2010 (im Druck, mit weiterführender Literatur und Quellennachweisen).
Siehe auch die webside FREMDE IMPULSE unter http://www.lwl.org/LWL/Kultur/fremde_impulse/projekt/fremde_impulse/

Zitation: Küppers-Braun, Ute, Maria Lucia von Nesselrode-Reichenstein, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/maria-lucia-von-nesselrode-reichenstein/

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Herzlieb Herzig

Die spätmittelalterliche Stadtgesellschaft gründete auf Ehe und Familie. Dies gilt auch für das münsterländische Ackerbürgerstädtchen Werne. Seine günstige Lage an einer Lippefurt und an einer wichtigen Handelsstraße machte das Städtchen zum Ort eines Friedensbunds zwischen den Städten Dortmund, Soest, Münster und Lippstadt, dem Werner Bund von 1253. Wichtige Ämter konnte in Werne nur erlangen, wer ehelich und rechtlich geboren war. Frauen konnten das Bürgerrecht erwerben und ein Handwerk als Meisterin ausüben, wie aus dem “Bürgerzwang der Schneidermeister in Werne“, datiert um 1490, hervorgeht. Die Schneiderzunft bildete die Bruderschaft der Heiligen Katharina. Zum Fest ihrer Schutzpatronin sollten die Gildemitglieder “vigilie syngen laten und des andern dages seilemysse vor broder und syster, de ut der broderschop vorstorven synt“. Die verstorbenen Brüder und Schwestern wurden mit den Lebenden zu einer Gemeinschaft verbunden. Frauen galten selbstverständlich als Teil dieser Gemeinschaft.

Über ihr Erbrecht als Töchter oder Ehefrauen bewegten Frauen mit Käufen, Verkäufen und Schenkungen den Werner Immobilien- und Rentenmarkt. Das Erbrecht behandelte die Partner zumindest bei einer kinderlosen Ehe gleich. Eheleute, die ohne leibliche Erben verstarben, sollten ihr Gut in zwei Teile setzen. Ein Teil erbte der überlebende Ehegatte, den anderen Teil die Verwandten und Freunde des oder der Verstorbenen.

Angesichts des gesellschaftlichen Stellenwerts der Ehe galt eine Frau als entehrt, wenn sie jemand auf offener Straße als “Hure“ beschimpfte. Das erlebte Ende des 16. Jahrhunderts die Bürgerin Herzlieb Herzig. Wie das Bürgerbuch der Stadt 1585 vermeldete, kam sie aus Lünen in die Stadt. Sie klagte im Juli 1591 vor dem Ratsgericht: Sie habe sich Zeit ihres Lebens „aller Ehren und Ehrbarkeit beflissen“. Deswegen gezieme es niemanden, ihr etwas nachzusagen, ausgenommen, dass sie mit dem Propst von Cappenberg,   Wennemar von Hoethe, zwei Kinder natürlich gezeugt habe. Trotzdem habe der Rentmeister Johann Horstropf sie in der Kirche und auf dem Kirchplatz als „Kackshure“ und als „Schandhure“ bezeichnet.

Der Rentmeister provozierte weiter. Einige Zeit später trug er seiner Magd Maria auf, der Herzlieb vor ihrem Haus etwas „anzusagen“. Die Magd des Rentmeisters führte den Auftrag nicht aus. Der Rentmeister kam ihr nach und fragte die Magd, ob die „Mönchshure“ nicht zu Haus sei. 1593 kam Herzlieb Herzig aus ihrem Garten außerhalb der Stadtmauern durch das Neutor in die Stadt. Der Rentmeister sah sie und sagte zum Wächter am Neutor:„Werzu die wacht besteltt, solln haben die porten zugethan und die Kackshure daraußen gelassen.“

Über Jahre dauerten die Prozesse, in denen Herzig ihren guten Ruf verteidigte. Die Gesellschaft stellte besondere Anforderungen an das sexuelle Verhalten von Frauen, da außereheliche Schwangerschaften das Stadtrecht durcheinander brachten. Üble Nachrede und Gerüchte, die tugendhafte Beziehungen einer Frau zum männlichen Geschlecht in Frage stellten, verletzten die weibliche Ehre schwer. In Dortmund verlor ein Mann seinen Hals, wenn er fälschlicherweise einer braven Frau oder Jungfrau die heimliche Ehe nachsagte.

Erstaunlich am Fall der Herzlieb Herzig ist, dass sie Unterstützung fand, obwohl ihr Lebenswandel in einem wichtigen Punkt den Ansprüchen von Ehrbarkeit nicht genügte. Herzlieb räumte ihre „natürliche“ Beziehung zum Propst von Cappenberg ein. Trotzdem nahm sich der Rat ihrer Sache an. Er äußerte sich sogar empört darüber, dass eine Amtsperson am helllichten Tag im Friedensbereich der Stadt „solcher handel und schelden“ anzettelte. 1597 erschien der Propst vor dem Rat und forderte die Bestrafung eines Mitbürgers, der Herzlieb Herzig zu nachtschlafender Zeit beschimpft hatte. Der Rat erklärte, der Mitbürger sei wegen dieses Verstoßes wider die Ratsordnung bereits bestraft worden.

Zu Herzigs Gunsten sagten auch eine Reihe von Frauen und Männern aus. Dass katholische Priester mit ihren Konkubinen zusammen lebten, kam bis weit in die Zeit der Reformation vor. Das Volk akzeptierte diese Verhältnisse in der Regel. Für die meisten Gemeindemitglieder war entscheidend, dass die Beziehung diskret ablief und das Paar einen ordentlichen Haushalt führte. Herzlieb Herzig wohnte zu dieser Zeit zusammen mit dem Propst von Cappenberg im Bereich der Bonenstraße, wie ein überliefertes Visitationsprotokoll der Gemeindemitglieder aus dem Jahre 1588 vermerkt:„Wie es im Hern Probsts Haußße stehe, moge Hertleff wissen“. Daher betonte Herzig auch, dass ihr „ansonsten“ nichts nachgesagt werden könne.

Leider erfahren wir nichts über das private Glück und die gesellschaftliche Anerkennung Herzlieb Herzigs in der Werner Stadtgesellschaft. Die Ratsprotokolle geben uns nur Einblick in ihren zumindest teilweise erfolgreichen Rechtsstreit auf Achtung der Ehre.

Dr. Anke Schwarze/ Werne

Orte:

Bonenstraße, 59368 Werne

Literatur:

Bruns, Alfred, Werner Stadtrechte und Bürgerbuch, Münster 1988.
Flüchter, Antje, Der Zölibat zwischen Norm und Devianz. Kirchenpolitik und Gemeindealltag in Jülich und Berg im 16. und 17. Jahrhundert, Köln 2006.
Transskript der Ratsprotokolle über Herzlieb Herzig mit freundlicher Genehmigung von Martin Schiwy.
Burghartz, Susanna, Rechte Jungfrauen oder unverschämte Töchter? Zur weiblichen Ehre im 16. Jahrhunderrt, in: Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, hg. v. Karin Hausen, Heide Wunder, Frankfurt a. Main - New York 1992, S. 173-183.
Göttsch, Sabine, "... sie trüge ihre Kleider mit Ehren", in: Weiber, Menscher, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 1500-1800, hg. v. Heide Wunder, Christina Vanja, Göttingen 1996, S. 199-213.

Zitation: Schwarze, Anke, Herzlieb Herzig, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/herzlieb-herzig/

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Christa Bäcker

Christa Bäcker wurde 1936 in Berlin geboren. Sie wächst sie mit zwei jüngeren Schwestern in Dresden und ab 1950 in Bethel auf. 1952 stirbt der Vater mit 48 Jahren. Aus finanziellen Gründen studiert sie Lehramt für die Volksschule statt Germanistik und arbeitet während der Semesterferien mal in der Textilindustrie, mal im Weinberg, dann in der chemischen Industrie oder am Fließband.

1960 kommt sie als junge Volksschullehrerin nach Castrop-Rauxel. Sie nimmt am Projekt zur Erprobung des 9. Schuljahres teil, ihre schönste Zeit in der Volksschule, weil sie Lehrpläne selbst entwickeln, ausprobieren und mit anderen reflektieren kann. Im neuen Fach „Arbeitslehre“ kommen ihr die Erfahrungen in der Arbeitswelt zu gute.

Als sie ihren Mann kennen lernt, gewinnt er sie für die Heilpädagogik. Nach dem Zusatzstudium unterrichtet sie in Recklinghausen an der Jahnschule, einer Sonderschule für Lernbehinderte. Mit den Lernbehinderten lernt sie, ihre Anliegen einfach und klar zu formulieren, so dass auch Menschen mit anderen Erfahrungen sie verstehen können. Ihr Blick für Benachteiligte schärft sich.

Beim Schulreferat des Evangelischen Kirchenkreises, der sieben von zehn Städten des Landkreises Recklinghausen umfasst, findet sie Unterstützung und Material für ihren Schwerpunkt „Ev. Religion an der Sonderschule“. Sie lässt sich für den von Männern dominierten Schulausschuss gewinnen und übernimmt später als erste Frau die stellvertretende Leitung. Kommentar der Männer:„Eine Frau, das müssen wir doch mal versuchen.“

1983 wird sie als einzige Frau mit überwältigender Mehrheit in das achtköpfige Leitungsgremium des Kirchenkreises – in den Kreissynodalvorstand – gewählt. Wenn sie das Wort hat, unterhalten sich die Männer oder belächeln sie, denn man erwartet Ansehen durch eine Frau, nicht ihre Ansichten. Durch ihren Einsatz sitzen nach fünf Jahren drei Frauen im Kreissynodalvorstand, eine davon wird Stellvertreterin des Superintendenten. In vielen kleinen Schritten mit vielen Menschen strickt sie an vielen Orten am Netzwerk Frauen, für sie eine Grundlage für die gleichberechtigte Gemeinschaft von Männern und Frauen.

So initiiert sie Mitte der 80er Jahre in ihrem Stadtteil den Frauenkreis Kirche, 1991 folgt das Ökumenische Frauenfrühstück. Sie lässt nicht locker, bis Termine, Themen und Referentinnen für die monatlichen Treffen verabredet sind. Dann vertraut sie den jeweils Verantwortlichen.„Nach jedem Treffen fühle ich mich thematisch und persönlich bereichert – auch durch die Lieder und Gedichte, die Christa immer mitbringt“, blickt eine Mitwirkende auf über 20 Jahre zurück.

Für Christa Bäcker erschöpft sich die Ökumene nicht in der Zusammenarbeit mit katholischen Frauen. Sie öffnet den Blick für die weltweiten Zusammenhänge. Frauen des Ökumenischen Frühstücks gründen einen Eine-Welt-Kreis, der regelmäßig  fair gehandelte Produkte verkauft. Als eine Frauendelegation aus Tansania den Kirchenkreis besucht, nutzen sie die Chance zu intensiven Begegnungen und zum Austausch über die Lebensbedingungen in Tansania.

Da Leben Höhepunkte braucht, nehmen die Frauen die Idee, jährlichen einen Frauentag zu feiern, begeistert auf. Er wird zum Experimentierfeld für neue Formen der Spiritualität und des Feierns. Der Frauentag spricht auch Frauen an, die wenig Zeit haben. Christa Bäcker sorgt für die Zeit zur intensiven Vorbereitung: Inhalte und Formen werden gemeinsam ausprobiert und ausgewählt.

1987 beruft der Superintendent auf Betreiben von Christa Bäcker und zwei Pfarrerinnen die erste kreiskirchliche Frauenversammlung ein. Die 150 Frauen verabreden weitere Treffen. 25 Jahre lang lädt Christa Bäcker monatlich zum Arbeitskreis Frauen ein, um kirchenkreisweit Frauenthemen zu beraten und den Beschluss der Synode – das kirchliche Parlament – zum Frauenreferat vorzubereiten.

Sie vertritt die evangelischen Frauen im Recklinghäuser Frauenplenum und beim Neujahresempfang der Frauenberatung, wenn keine andere diese Aufgabe wahrnehmen kann.

Im Herbst 1991 nehmen die ersten beiden Frauenreferentinnen ihre Arbeit auf. Christa Bäcker übernimmt den Vorsitz des neuen Frauenbeirats und organisiert ergebnisorientierte Sitzungen. Wie eine mütterliche Freundin begleitet sie die beiden Frauen: sie fragt, berät und unterstützt. Sie teilt ihr Wissen und ihre Erfahrungen, wenn es gewünscht ist und der Aufgabe nutzt. Als das Frauenreferat vorübergehend nicht besetzt ist, übernimmt Christa Bäcker die Redaktion für den Frauenrundbrief im Evangelischen Kirchenkreis.

Zwischen dem Tod des beliebten Superintendenten 1994 und dem Antritt des Nachfolgers 1996 leitet zum ersten Mal eine Frau den Evangelischen Kirchenkreis. Ihr Leitungsstil entspricht nicht immer den Vorstellungen von Kirchenleitung und Gemeinden. In dieser Zeit der Trauer, Enttäuschungen, Kritik und Klärungen  steht besonders Christa Bäcker der Stellvertreterin freundschaftlich mit Rat und Tat zur Seite, hört zu und stärkt.

Christa Bäcker scheut keine Verantwortung. Als Synodale sitzt sie in der westfälischen Landessynode (1992-1998) und in deutschlandweiten Synoden (1984-1996). Sie bereitet sich mit anderen Frauen auf die überregionalen Synoden vor und regt solche Treffen auch für die Kreissynoden in Recklinghausen an. Sie erlebt die Wiedervereinigung als Synodale der Evangelischen Kirche von Deutschland (EKD) intensiv in Begegnungen und Gesprächen mit einigen ostdeutschen Frauen und in den Auseinandersetzungen um die Struktur der Evangelischen Kirche von Deutschland. Sie teilt ihre Erfahrungen mit, lädt eine der Frauen als Referentin nach Recklinghausen ein und organisiert Spurensuche-Reisen nach Ostdeutschland. Bei einer Reise entdeckt sie im Kloster Helfta den Stein des deutschlandweiten  ökumenischen Frauen-Projekts „Wer wird den Stein wegrollen?“ Dieser Stein rollte im April 2000 durch Recklinghausen. Viele haben ihn als ein Symbol für befreiende Erfahrungen erlebt.

In der EKD-Synode ergreift sie als Nicht-Theologin das Wort für die Gründung des Frauenstudien- und Bildungszentrums und für die Errichtung eines Lehrstuhls für Feministische Theologie, nachdem ein von ihr geschätzter Theologieprofessor den Lehrstuhl für überflüssig erklärt hatte. In der Landessynode fordert sie die Würdigung des Ehrenamtes durch bezahlte Fortbildung, Kostenerstattung und Anerkennung des Ehrenamtes bei der Rentenberechnung.

Als engagierte Christin möchte sie beitragen zur „Gemeinschaft der Gläubigen“,  die sie als Teil der weltweiten Gemeinschaft sieht.„Die besten Ideen entstehen erst in der Zusammenarbeit“ der unterschiedlichsten Menschen. Deshalb wirbt sie in Gremien, Arbeitskreisen und bei den Frauentagen um gemeinschaftliches Handeln in vielen kleinen Schritten: 1985 für das Streichen der Anrede „Fräulein“ in Anschreiben des Kirchenkreises, dann für den  gegenseitigen Segen am Ende eines Treffens zur Vertiefung der Gemeinschaft. Sie sucht die  einander stärkende Gemeinschaft von Frauen und Männern, die offen ist für die Fragen der Zeit wie den Dialog mit jüdischen und muslimischen Frauen. Sie besucht mit kirchlichen Frauen die Synagoge in Recklinghausen und eine Moschee und lädt jüdische und muslimische Frauen zu den Frauentagen am Quellberg und in den Kirchenkreis ein.

Christa Bäcker macht keine Alleingänge. Sie stellt sich in den Dienst der gewählten Aufgaben, wirbt für ihre Vorstellungen, bis sie zur gemeinsamen Idee werden. Bei persönlichem Klatsch macht sie die Ohren zu. Aber sie lässt sich begeistern von allen Einfällen, die die Gemeinschaft fördern.

Liesel Kohte / Arbeitskreis Recklinghäuser Frauengeschichte

Zitation: Kohte, Liesel, Christa Bäcker, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/christa-baecker/

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Aslı Sevindim

Noch immer kommt fast zwangsläufig die Frage, wenn man einen turksprachigen Namen trägt und perfekt Deutsch spricht: „Fühlen Sie sich mehr als Türkin oder mehr als Deutsche?“ Aslı Sevindim pariert sie mit charmantem Lächeln und in unüberhörbarem Ruhrdeutsch:„Mehr als Ruhri“. Sie bringt damit in eine Kultur des Entweder–Oder ein unvorhergesehenes Drittes. Indem sie sich dabei auf das Ruhrgebiet bezieht, ersetzt sie jedwede wesensmäßige Vorstellung von „Kultur“,„Nation“ und „Ethnie“ durch die historische Erfahrung einer Einwanderungsgesellschaft, deren Entwicklungspotentiale sich aus Begegnungen, Zusammenarbeit, Mischungsverhältnissen und Multitude speiste und speist.

Aslı Sevindim wurde 1973 in Duisburg geboren. Ihre Eltern stammen aus Nordwestanatolien. Die Mutter, Gülisan Sevindim, reiste als 18-jährige aus Eskisehir 1971 zuerst nach Deutschland. Sie wollte noch etwas Geld verdienen und Erfahrungen sammeln, bevor sie in der Türkei ein Pädagogikstudium aufnehmen wollte. Sie besorgte sich alle Papiere, die sie als Arbeitsmigrantin benötigte und wurde schon kurze Zeit später von der Firma Leifheit angeworben. Später holte ihr Bruder sie nach Duisburg, wo sie bei Phillips in Krefeld am Band Fernseher montierte. Als dann die Arbeitspapiere ihres Mannes vorlagen, reiste er ihr nach. Er begann zuerst als Maurer, dann als Näher und schließlich bei Thyssen in Duisburg als Kranführer zu arbeiten. Nach der Geburt der Tochter Asli zog die Familie aus der Wohngemeinschaft, zu der sich drei türkische Paare zusammengefunden hatten, von Meiderich nach Duisburg-Marxloh in eine eigene Wohnung.

Zu Aslı Sevindims Kindheitserinnerungen gehören die Kriegswitwen im Haus, die zu ihren Ersatzomas wurden, und bei denen sie zum ersten Mal Pellkartoffeln mit Butter und Salz aß. In Marxloh kam sie zusammen mit ihrer jüngeren Schwester Gaye in den katholischen Kindergarten, besuchte die Grundschule und das Gymnasium. Hier begann sie als Schülerin im Duisburger Bürgerfunk mitzuwirken, verfasste erste Beiträge für Radio Duisburg und besuchte ihre erste Demonstration gegen Rechts. Sie schloss die Schule mit dem Abitur ab und studierte Politikwissenschaften.

Ihre Moderations-Erfahrungen beim Radio Duisburg (Lokalradio) führten Aslı Sevindim ins Aufbauteam von Funkhaus Europa, das der WDR (Westdeutsche Rundfunk) seit dem 5. Mai 1999 zusammen mit anderen ARD–Sendeanstalten als ganztägiges, multikulturelles Programm für Alle auf eigener UKW–Frequenz sendet. „Die Besonderheit“, so Aslı Sevindim, „lag und liegt darin, dass wir Meldungen aus Deutschland in ihren internationalen Dimensionen, im Denkhorizont jenseits der Grenze, recherchieren und präsentieren. So entwickelt sich eine Multiperspektivität, die es kaum in anderen Nachrichten- und Kultursendungen gibt. Dies ist ein Informationsprinzip, das allen Hörerinnen und Hörern zugute kommt.“

Aslı Sevindim moderierte die Frühsendung Cosmo im Funkhaus Europa, ebenso Venus FM auf WDR 5, sie wechselte dann zu Cosmo TV, dem interkulturellen Fernseh-Magazin. Seit 2006 bildet sie zusammen mit Martin von Mauschwitz das Anchorteam der Aktuellen Stunde, damit wurde sie zur ersten Moderatorin mit türkischen Wurzeln in einer aktuellen Nachrichtensendung. Sie ist sich ihrer Vorbildfunktion bewusst: „Allein, dass jemand mit türkischem Nachnamen in vollständigen deutschen Sätzen Beiträge anmoderieren kann, bringt ja schon kulturelle Stereotype durcheinander und bietet natürlich Menschen mit türkischen oder anderen Wurzeln neue Rollenmodelle: das will ich/ das kann ich auch.“

Aslı Sevindims heimatlicher Stadtteil Marxloh, zweiseitig durch Thyssen-Krupp-Gelände begrenzt und heute zusätzlich durch die Duisburger Stadt–Autobahn durchtrennt, entwickelte sich mit der wachsenden Montanindustrie als Arbeiterwohnort mit kleinstädtischem Gepräge um eine Geschäftsstraße in gründerzeitlichem Baustil. Noch als Jugendliche, so erinnert sie sich, kaufte sie ihre Markenjeans in Marxloh. Durch den Strukturwandel im Montanbereich gingen allein in den 1990er Jahren mehr als 6.000 Arbeitsplätze verloren. Die zwangsläufige Abwanderung, die Verarmung der Verbliebenen, der Wandel in der Bevölkerungsstruktur, aber auch fehlende Investitionen und das geänderte Kaufverhalten der finanzstärkeren Bevölkerungsgruppen machten Marxloh zu einem sterbenden Stadtteil mit abnehmender Bedeutung als Einzelhandelsstandort.

Mehr als 30 Prozent der insgesamt 18.000 Bewohnerinnen und Bewohner des Stadtteils haben heute ausländische Wurzeln. Langsam begannen Stadt- und Entwicklungsplanung, Vereine und lokale Initiativen diese kulturelle Vielfalt als positives Zeichen wahrzunehmen und umzuwerten. In einem langjährigen Prozess entwickelten institutionelle und bürgerschaftliche AkteurInnen eine neue raumgreifende Politikkultur für den Stadtteil. Mittlerweile wirbt Marxloh als Modemekka für festliche Abend– und Hochzeitsmode und durch die Kreativen von Made in Marxloh über die Stadtgrenzen hinaus für die Internationalität des gesamten Ruhrgebiets.

So zeigte es sich als kluge Entscheidung, dass Aslı Sevindim mit dieser Herkunft, ihren interkulturellen Erfahrungen und ihrem historischen Bewusstsein zur künstlerischen Direktorin des Bereichs „Stadt der Kulturen“ der Kulturhauptstadt RUHR.2010 berufen wurden. Wer versucht, ihr das Etikett der „doppelten Quotenfrau“ in der ansonsten männlichen Direktorenriege anzuheften, verkennt ihr Engagement und ihre Visionen. Sie setzt sich mit ihren Positionen zu Integration und Bildung, zum Tragen des Kopftuchs oder zur doppelten Staatsbürgerschaft nachdrücklich ein für eine selbstverständliche Kultur der Stadt, in der verschiedene Herkünfte, kulturelle Vermischungen und Vielstimmigkeiten den anerkannten Normalfall darstellen.

Seit dem 1. Juli 2019 ist Aslı Sevindim Abteilungsleiterin der Abteilung „Integration“ im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen. Sie löste Aladin El-Mafaalani ab.

Es braucht ihrer Meinung nach Humor, gegenseitige Anerkennung und die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen. Aslı Sevidim hat diese Strategien als Tochter und ältere Schwester erfolgreich perfektioniert, als es um die Einführung des zukünftigen – deutschen – Schwiegersohns in ihre türkische Großfamilie ging. Sie hat diesen Annäherungsprozess in einem Buch beschrieben, in dem sie uns auf äußerst unterhaltsame Weise am langen Weg hin zu einer „deutsch-türkischen Weihnacht“ teilnehmen lässt.
Uta C. Schmidt / frauen/ruhr/geschichte
Orte:

Wilhelmstraße, 47169 Duisburg-Marxloh
Eiscafe Felleti

Literatur:

Sevindim, Aslı: Candellight Döner. Geschichten über meine deutsch–türkische Familie, Berlin 2005.
Stadt Dinslaken, Der Bürgermeister/ Gleichstellungsstelle (Hg.), Die vergessenen Frauen – Arbeitsmigrantinnen der ersten Zuwanderungsgeneration im Ruhrgebiet, von Margarete Spajic/ Yasemin Yadrigarolu (Bear.), Dinslaken 2010, S. 30-31.


Zitation: Schmidt, Uta C., Aslı Sevindim, Version 2.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/asli-sevindim/

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Brigitte Kraemer

Betritt man das Ruhr Museum auf dem Weltkulturerbe Zollverein, das auch als Gedächtnis des Ruhrgebiets bezeichnet wird, gelangt man als BesucherIn zuerst in die Abteilung „Gegenwart“, die stark mit dem Medium Fotografie arbeitet. Auffallend viele Fotografien stammen von der Herner Fotografin Brigitte Kraemer, und das ist kein Zufall. Denn ihr Themenrepertoire ist zum einen groß und reicht von A wie „Am Kanal“ bis T wie „Türkische Gärten“. Zum anderen hat sie die Fähigkeit, uns das Besondere selbst im Banalen entdecken zu lassen.

Ihre Aufnahmen zeichnen sich häufig dadurch aus, dass sie dem Witz im Alltag auf die Spur kommen, ohne die Fotografierten dabei bloß zu stellen. „Am Kanal“ ist so ein Beispiel: Die Serie zeigt Fotos, die Brigitte Kraemer am Rhein-Herne-Kanal, später auch anderen Kanälen des Ruhrgebiets gemacht hat. Zu sehen ist, wie sich die Menschen das Naherholungsgebiet auf ihre Weise zu eigen machen: die jugendlichen „Kanalkröpper“ mit ihrem waghalsigen und verbotenen Tun, die improvisationsgeschickten Rentner in ihren kleinen Refugien oder die sich in spiritueller Ekstase im Datteln-Hamm-Kanal abkühlenden Hinduisten. Brigitte Kraemer, die in Hamm/Westfalen geboren wurde, war wohl die erste, die auf die hinduistische Community in Hamm aufmerksam geworden ist und diese bei ihrer farbenfrohen und für Europäer exotischen Prozession zum Kanal für eine STERN-Reportage begleitet hat.

Dabei ist ihr die Kamera – bis heute fotografiert sie mit einer Leica M6 analog – keineswegs in die Wiege im westfälischen Hamm gelegt worden. 1954 als Tochter eines Baggerführers und der als Aushilfskellnerin arbeitenden Mutter geboren, verbrachte sie die ersten Lebensjahre auf einem Bauernhof im ländlich geprägten Stadtteil Bockum-Hövel. Bereits während der Grund- und Realschulzeit half sie gleichfalls in den Gaststätten aus, in denen ihre Mutter arbeitete, „also ich bin schon auch irgendwie ein Kneipenkind“. Nach der Schule absolvierte sie von 1971 bis 1975 zuerst eine Ausbildung zur Steuergehilfin, eher aus Orientierungslosigkeit denn aus Zielstrebigkeit heraus. Wichtig war ihr nur, dass sie Hosen anziehen durfte, da dies in der katholisch ausgerichteten Realschule damals noch untersagt war. Die Arbeit erscheint ihr auch im Rückblick sinnvoll, weil sie abwechslungsreich war und ihr den Umgang mit Steuern und Finanzamt vertraut gemacht hat. Solidität und Fleiß – da anzufassen, wo die Arbeit anfällt –  gehörten früh zu Brigitte Kraemers Eigenschaften.
Nach weiteren zweieinhalb Jahren in dem kleinen Familienbetrieb meinte sie, „die große weite Welt“ im nicht allzu fernen Münster finden zu können. Doch bei dem neuen Arbeitgeber, der „Westfälischen Central-Genossenschaft“, war sie nur noch ein kleines Rädchen im Getriebe und auf eine (von vordem zahlreichen) Aufgaben beschränkt. „Und das war eigentlich total langweilig.“ Außerdem waren dort nur „Bauernköppe“ anzutreffen und so kam der Hinweis einer Freundin auf die Fachoberschule für Gestaltung in Münster gerade recht. Nach bestandener Aufnahmeprüfung erwarb Brigitte Kraemer dort nach einem Jahr die Zugangsbefähigung für die Fachhochschule, wobei ihre Wahl auf die „Folkwangschule für Gestaltung“ in Essen-Werden fiel, Fachbereich Visuelle Kommunikation. Fleißig war sie auch hier – und an allem interessiert. Sie besuchte all das, was angeboten wurde: Bildhauerei, Malerei, Aktzeichnen, Siebdruck, Schrift …
Zur Fotografie kam sie allerdings spät, da sie den als Patriarch gefürchteten Fotolehrer Otto Steinert und dessen Seminare mied. Der eigentliche Durchbruch erfolgte erst, als 1980 die junge Angela Neuke (geb. 1943) den vakanten Lehrstuhl des 1978 verstorbenen Steinert besetzte, und Brigitte Kraemer ihre erste Examenskandidatin wurde. Das Thema ihrer Abschlussarbeit hält sie interessanterweise bis heute in seinen Bann: Frauen in einem Frauenhaus. Damals verbrachte sie viel Zeit in einem Duisburger Haus, um die dort lebenden Frauen nicht nur zu fotografieren, sondern auch deren Situation zu beschreiben, und um aus der gesamten Arbeit eine Publikation zu erstellen, die sie komplett selbst gestaltete. Ihr Engagement wurde mit einer „Eins mit Auszeichnung“ anerkannt. Mit dieser Arbeit ging sie zum STERN, zum ZEIT-Magazin, konkret und anderen und erhielt umgehend Aufträge, die bis heute nicht abgerissen sind.
Ihre erfolgreichste Arbeit, für die sie die meisten Preise und Auszeichnungen erhalten hat, ist „Friedensengel“ über das Friedensdorf in Oberhausen. Eine der ersten Arbeiten für den STERN war eine Reportage über Mädchen in Berlin, die „auf Trebe“, also von Zuhause weggelaufen waren. Neben Langzeitreportagen hat sie auch zeitlich eng gesetzte Auftragsarbeiten gemacht, wie für den SPIEGEL zum Thema „Frauen mit Kindern im Gefängnis“ oder für BRIGITTE über „Kinderprostituierte in Thailand“. Zuletzt hat sie für das Kulturhauptstadtjahr die umfangreiche Arbeit „Im guten Glauben“ fertig gestellt, eine Serie über die zahlreichen religiösen Gruppen im Ruhrgebiet.
Um an die Menschen heranzukommen und sie auch in privaten Situationen zeigen zu können, dafür setzt Brigitte Kraemer vor allem eines ein, nämlich Zeit: „Also ich bin irgendwie da, und da entwickelt sich vielleicht was.“ Schwierig ist es, die Balance zwischen Distanz und Nähe zu halten, um nicht den richtigen Moment zu verpassen. Denn je enger der Kontakt, „umso größer ist die Gefahr, dass du das eben gar nicht siehst, das Bild“. In diesen ihren Bildern sind fast immer Alltagsmenschen zu sehen; Veranstaltungs-, Politiker- oder Celebritiy-Fotografie ist nicht ihr Metier.
Den Unterschied zu männlichen Kollegen sieht Brigitte Kaemer darin, dass sie als fotografierende Frau wohl weniger als Bedrohung wahrgenommen wird, zumal sie mit ihrer technischen Ausstattung eher unscheinbar daherkommt. Sie findet ihre Kollegen keineswegs besser als sich selbst, von denen es viele auf einen Lehrstuhl geschafft haben. Das gesellschaftliche Renommee einer Professur fände Brigitte Kraemer auch für sich selbst kleidsam, nur hat sie während eines zweisemestrigen Lehrauftrages für Fotografie und Bildjournalismus an der Gesamthochschule Essen 1997/98 festgestellt, „dass meine Liebe zur Fotografie größer ist, als die Fotografie zu lehren. Ich gehöre auf die Straße und nicht auf die Uni.“
Die Fotografin erhielt unter anderen folgende renommierte Preise:
1988, Auszeichnung beim European Kodak Award für die Reportage „Die Droge der Armen“, Lösungsmittelschnüffler in Berlin-Kreuzberg
1993, Sonderpreis beim Emma Fotowettbewerb für die Reportage:„Frauen im Frauenhaus Herne“
1999, Dritter Preis beim Fotowettbewerb des Landes Niedersachsen:„Altern in der Migration“
2004, Erster Preis beim Wettbewerb „Eile und Weile. Wettbewerb zur Geschichte im Ruhrgebiet“
2004, Auszeichnung Hansel-Mieth-Preis für die Stern Reportage „Auf ein neues Leben“
2005, LeadAward Gold, Foto des Jahres für die Fotografie „Francesco“ aus der Stern Reportage „Auf ein neues Leben“
2005, LeadAward Solber, für die Stern Reportage „Auf ein neues Leben“
2005 nominiert für den Henri-Nannen-Preis in der Kategorie „Herausragende fotografische Leistung“
2005, Auszeichnung beim Art Directors Club für die Stern Reportage „Auf ein neues Leben“
2008, Sieger Deutscher Fotobuchpreis 2008 des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels für den Bildband „Mann und Auto“
Susanne Abeck/ frauen/ruhr/geschichte
Orte:

Rhein-Herne Kanal, Höhe Herne

Literatur:

Kraemer, Brigitte, Frauenhaus. Acht Frauen erzählen, Hamburg 1983
Kraemer, Brigitte, Friedensengel. Kriegsverletzte Kinder im Friedensdorf International, Essen 2004
Kraemer, Brigitte, Am Kanal, Essen 2005
Kraemer, Brigitte, Mann und Auto, Essen 2007 (mit Texten von Gerburg Jahnke und Jürgen Lodemann)
Kraemer, Brigitte, Im guten Glauben, Essen 2010
Eine kurze Geschichte von Brigitte Kraemer und dem Mond von Wanne-Eickel. Eine Produktion aus dem Jahre 2011 von Aishe Malekshahi für den WDR
http://www.wdr5.de/sendungen/eine-kurze-geschichte-von/s/d/09.04.2011-15.35.html

Zitation: Abeck, Susanne, Brigitte Kraemer, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/brigitte-kraemer/

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Else Gunter

Wie Ehe und Familie die spätmittelalterliche Stadtgesellschaft Dortmunds begründeten, zeigen uns Überlieferungen des Ehepaars Gunter.

Else Goldschmied, Tochter von Mette und Hermann Goldschmied, heiratete im Oktober 1426 den Hinrich Gunter. Das Paar regelte seine finanziellen Angelegenheiten in einem Ehevertrag. Zwei Jahre nach der Hochzeit kaufte Hinrich Gunter für seine Frau sowie für deren Mutter und Schwester Leibrenten. 1433 verkaufte das Paar einen Hof und ein Haus, das der Ehemann geerbt hatte. Obwohl Else Goldschmied nur diese wenigen Spuren hinterlassen hat, lässt sich daraus das Leben einer Frau aus der Dortmunder Oberschicht im Spätmittelalter rekonstruieren.

Else und Hinrich Gunter stammten beide aus dem städtischen Patriziat: Unter den Brautleuten und den Zeugen ihres Ehevertrags finden sich Mitglieder aus Ratsfamilien. Dieser Ehevertrag wurde am Morgen nach der Hochzeitsnacht geschlossen. Abgesandte der Hochzeitsgesellschaft marschierten in das Zimmer der frisch Vermählten und überzeugten sich davon,„do der eine von dem anderen upsteht“, bevor die Brautleute das Zimmer verließen. Die Hochzeitsnacht war in Dortmund keine intime Angelegenheit, sondern ein Vorgang von öffentlicher Bedeutung. Über den Stand der Ehe wurden wirtschaftliche und politische Angelegenheiten organisiert: Nur in der Ehe gezeugte und geborene Kinder konnten erben; nur ehelich geborene Männer wurden in den Rat aufgenommen.

Im Mittelalter gab es keinen Formalakt, der den Beginn einer Ehe eindeutig festlegte. Die Kirche erkannte eine Ehe als gültig an, wenn beide Partner freiwillig zugestimmt und die Ehe vollzogen hatten. In Dortmund und anderen Städten bestimmten die Ratsherren, dass Augenzeugen den ersten Beischlaf zwischen einer Bürgertochter und einem Bürgersohn bestätigen mussten. Der Ehevertrag von Else und Hinrich Gunter wurde deshalb von  Männern und von zwei Frauen bezeugt, darunter Bele Gunter, Schwester des Bräutigams. Bei einem Ehevertrag durften also auch Dortmunderinnen als Zeugen auftreten. Denn nur Frauen waren bei der Geburt eines Kindes anwesend. Gab es später einen Erbstreit mit einer Beglaubigung der ehelichen Geburt eines Beteiligten, dann waren eben diese Frauen aufgefordert, den ersten Beischlaf der Eltern zu benennen. Das Zeugnis der Frauen als auserwählte Brautleute in diesen sogenannten Morgensprachen – also den spätmittelalterlichen Eheverträgen, die am Morgen nach vollzogener Ehe geschlossen wurden – hatte also öffentliche Bedeutung. Es ersetzte amtliche Zeugnisse, da es bis zum Ausgang des Mittelalters kaum Tauf-, Ehe- und Sterberegister gab.

Das Stadtrecht erlaubte den Gunters eine besondere Testamentsklausel für den Fall, dass die Ehe kinderlos blieb. Diese Klausel reduzierte den Erbteil der Verwandten des verstorbenen Ehepartners auf einen geringen Teil des Vermögens, das die Brautleute in die Ehe gebracht hatten. Der überlebende Ehepartner wurde dadurch begünstigt und die eheliche Verbindung gewann an Bedeutung. Das Dortmunder Stadtrecht behandelte die Eheleute im Güter- und im Erbrecht gleich. Die Eheleute besaßen auch gemeinsam die Erziehungsgewalt. So verlor eine Tochter, die sich ohne Zustimmung beider Elternteile verheiratete, ihr Erbrecht. Die Stellung der Hausfrau und der Wert ihrer Arbeitsleistungen, ihrer Arbeit in der Hauswirtschaft sowie ihrer Mitarbeit im Familienbetrieb wurden ebenso geschätzt wie die Arbeit des Mannes. Aufgrund der ehelichen Gütergemeinschaft konnte Hinrich Gunter Haus und Hof, die er von seinem Vater geerbt hatte, nur mit Zustimmung seiner Frau verkaufen.

Personenrechtlich kam Else Gunter mit ihrer Heirat unter die Munt, die eheherrliche Vormundschaft ihres Mannes. Dies bedeutete: Ohne ihren Mann durfte sie nicht als Zeugin, Klägerin oder Angeklagte vor Gericht auftreten, sie durfte keine Grundstücke kaufen, verkaufen oder verschenken. Hinrich Gunter hatte als Hausvater eine starke Position innerhalb der Familie. Er war Vorsteher des Hauses. Seine Hausherrschaft erstreckte sich auf die Söhne – auch auf die volljährigen, solange sie im Haus lebten – sowie auf Mägde und Knechte. Das gemeinsame Vermögen beider Ehegatten musste er zum Nutzen der Familie vermehren. Das tat Hinrich Gunter, als er zwei Jahre nach seiner Heirat Renten von der Stadt kaufte, für seine Ehefrau, deren Mutter Mette und deren Schwester Bele von Werl. Damit sicherte Hinrich seine Frau und ihre verwitweten Angehörigen finanziell ab. Trotz der personenrechtlichen Vormundschaft des Ehemannes galten unter den Eheleuten der Dortmunder Führungsschicht zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Güter- und Vermögensrecht partnerschaftliche Grundsätze.

Dr. Anke Schwarze/ Werne

Orte:

Dortmund-Innenstadt, innerhalb des Walles. Hinrich Gunter wurde im Verwaltungsbezirk der Borgbauerschaft geführt, dies entspricht dem Dortmunder Kerngebiet innerhalb der heutigen Wallstraßen.

Literatur:

Schwarze, Anke, " De mans an ... der rechter siit und de vrouwen an .. der luchter ". Das Geschlechterverhältnis im spätmittelalterlichen Dortmund, Essen 2002.

Zitation: Schwarze, Anke, Else Gunter, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/else-gunter/

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Inka Grings

In Sachen „Damenfußball“, wie es lange Jahre etwas distinguiert hieß, war Deutschland hinten an. Während sich in Großbritannien und Frankreich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche Teams bildeten, die die Massen ins Stadion lockten, kickten sich hier die Frauen auf Vereinsebene noch lange nicht die Bälle zu. Zwar wurde 1930 in Frankfurt ein erster Frauen-Fußballclub gegründet, doch wurde dieser nach einem Jahr bereits wieder aufgelöst und fand in den Folgejahren und im Nationalsozilsimus natürlich nirgends Nachfolger.

Das in vielen Köpfen fest zementierte Rollenverständnis und die enggeführte Vorstellung über das öffentliche Erscheinungsbild von Mann und Frau verhinderten selbst nach 1949 einen Durchbruch des Frauenfussballs, obwohl Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes doch die Gleichberechtigung von Männern und Frauen festschrieb.

Der Deutsche Fußballbund (DFB) stellte am 30. Juli 1955 in Berlin vermeintlich fürsorglich fest: „Im Kampf um den Ball verschwindet die weibliche Anmut, Körper und Seele erleiden unweigerlich Schaden und das Zurschaustellen des Körpers verletzt Schicklichkeit und Anstand.“ Damit war Frauenfußball in allen DFB-Mannschaften verboten, was pseudo-wissenschaftlich mit Aussagen wie denen des holländischen Psychologen und Anthropologen Fred J. J. Buytendijk gestützt wurde: „Das Treten ist wohl spezifisch männlich, ob darum Getretenwerden weiblich ist, lasse ich dahingestellt. Jedenfalls ist das Nicht-Treten weiblich!“ Wettkampf, Konkurrenz, womöglich Schweiß und körperliche Anstrengung schienen nicht zu den geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen der damaligen Zeit zu passen. Das hinderte jedoch fußballbegeisterte Frauen nicht daran, am Ball und auf dem Platz zu bleiben, wie zum Beispiel in Dortmund, wo sich der Verein „Fortuna Dortmund“ regelmäßig zum Training traf (siehe hier die Biografie zu Christa Kleinhans). Frauen spielten in eigenen Vereinen oder in Abteilungen von Vereinen, die nicht dem DFB unterstanden. Im Ruhrgebiet traten die Dortmunderinnen gegen die Konkurrentinnen von „Grün-Weiß Dortmund“ und gegen Frauenteams aus Essen oder Oberhausen an, wobei die Spielzeit jeweils zwei mal dreißig Minuten betrug. In Essen kam es 1956 mit etwa 18.000 ZuschauerInnen zu einem ersten inoffiziellen Länderspiel zwischen einer deutschen und einer niederländischen Auswahl, dem bis 1965 etwa 150 weitere Länderspiele folgten.

Am 31. Oktober 1970 hob der DFB das Frauenfußballverbot zwar auf, behandelte die Frauen jedoch wegen ihrer „schwächeren Natur“ immer noch gesondert: So mussten die Frauenteams eine halbjährige Winterpause einlegen, durften keine Stollenschuhe tragen, hatten mit kleineren Bällen für nur siebzig Minuten das Spiel zu gestalten.

Das alles ist inzwischen Geschichte, auch wenn es nach wie vor zahlreiche Vorbehalte gegenüber dem Frauenfußball gibt und das Thema in den Medien eher ein Schattendasein führt. Es sei denn, es geht um die sexuelle Ausrichtung der Spielerinnen, über die im Boulevard, anders als bei den männlichen Kollegen, gerne ausführlich berichtet wird. Selbst im Ruhrgebiet, nach wie vor eine Hochburg weiblicher Ballspielfreude, aus dessen Mitte die Frauenmannschaft von DJK Eintracht Erle aus Gelsenkirchen immerhin am Finale der ersten deutschen Frauenfußball-Meisterschaft am 8. September 1974 teilnahm, wird das Thema „Frauenfußball“ stiefmütterlich behandelt. Beispiel dafür ist das Areal des in Dortmund entstehenden Fußballmuseums, dessen Bildplakate ausschließlich Fußballer zieren. Dabei stellt allein der Fußballclub Rumeln 2001 Duisburg e. V. derzeit vier Spielerinnen der erst 1982 aufgebauten Nationalmannschaft, die inzwischen (2010) siebenfacher Europameister, zweifacher Weltmeister und dreifacher Bronzeträger bei den Olympischen Spielen und damit ein Aushängeschild des DFB ist.

Eine der herausragenden Spielerinnen der Duisburger „Löwinnen“ ist deren Kapitän Inka Grings, mit 32 Jahren die älteste Fußballerin des seit 2001 bestehenden Vereins. Sie ist überaus erfolgreich und war bereits drei Mal Fußballerin des Jahres (1999, 2009, 2010) und sechs Mal Torschützenkönigin (1999, 2000, 2003, 2008, 2009, 2010). Sie war dabei, als das deutsche Team Europameisterin (1997, 2005, 2009) und UEFA-Pokalsiegerin (1998, 2009, 2010, 2009) wurde. Zuletzt erhielt die mit 330 erzielten Bundesligatoren (Stand: 28.10.2010) erfolgreichste Torjägerin Deutschlands, beim Felix Award, dem „Sport-Oscar“ für Nordrhein-Westfalen, den 2. Platz, „Sportlerin des Jahres 2010.

Grings wurde 1984 als Sechsjährige als erstes und einziges Mädchen in den Düsseldorfer Klub TSV Eller 04 aufgenommen, musste mit zwölf zu der Mädchenmannschaft des Garather Sportverein 1966 e.V. wechseln und landete mit sechzehn beim FCR 2001 Duisburg. Vorbilder, gleich ob männlich oder weiblich, hat sie keine, sondern bewundert jede Person, „die auf dem Platz immer einhundert Prozent gibt und mannschaftsdienlich ist“. Diskriminierende Erlebnisse auf oder am Fußballplatz hat es nach eigener Aussage nie gegeben. Ihr Vertrag läuft noch bis 2012. In ihren früheren Berufe als Versicherungsvermittlerin und Zeitsoldatin möchte sie nicht wieder einsteigen, sondern bereitet sich mit dem Studium „Sport- und Fitnesstrainer“ auf eine spätere Tätigkeit im Sportbereich vor.

Susanne Abeck / frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Die Heimspiele des FCR 2001 Duisburg werden seit 2003 im 3.000 Zuschauer fassenden PCC-Stadion im Duisburger Stadtteil Homberg ausgetragen.

Literatur:

http://www.frauennrw.de/gesellschaft_und_politik/frauen_gestern_und_heute/portraets/inka_grings/index.php
http://www.bpb.de/themen/5SR0BV,0,Der_Deutsche_Fu%DFballBund_hebt_das_Frauenfu%DFballverbot_auf.html
Hennies, Rainer; Mauren, Daniel (Hg.): Frauenfussball. Der lange Weg zur Anerkennung, Göttingen 2009.

Zitation: Abeck, Susanne, Inka Grings, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/inka-grings/

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Creative Commons Namensnennung

Copyright © 2022 frauen/ruhr/geschichte und Autor:innen.

Hulda Pankok

Hulda Droste kam in Bochum zur Welt, in einer belesenen, kulturell aufgeschlossenen und politisch liberalen Familie. Die Eltern schrieben beide für den Dortmunder Generalanzeiger. Huldas Bruder wurde Zeitungsverleger, gründete später den Droste-Verlag und das Pressehaus in Düsseldorf. Nach einem Studium der Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Jena wählte sie zunächst den Beruf der Bibliothekarin und damit ein Arbeitsfeld, das sich bürgerliche Frauen als eines der ersten zur außerhäuslichen Erwerbsarbeit angeeignet hatten. In Bochum richtete sie später die erste Kinderbibliothek ein.

Doch schon bald begann sie als Feuilletonredakteurin beim Düsseldorfer Stadt-Anzeiger, später Der Mittag, ihres Bruders. Sie erfand die Themenseite „Das geistige Leben“, gestaltete die Frauenbeilage und verfasste Theater-, Film-, Kabarett- und Buchbesprechungen. Sie wurde Teil des kulturellen Lebens der Stadt und berichtete darüber. 1923 half sie Ernst Friederich bei der Publikation seines Fotobuches gegen den Krieg. Bei der Düsseldorfer Galeristin Johanna Ey lernte sie den Maler Otto Pankok kennen. Sie heirateten 1921. Tochter Eva wurde 1925 geboren.

Mit Beginn des Westdeutschen Rundfunks im Jahre 1923 begann Hulda Pankok auch für dieses neue Medium zu arbeiten. So entstand an Originalschauplätzen eine Reportage über den spanischen Maler El Greco.

Hulda Pankok war eine selbstbewusste und mutige Frau. Als das junge Paar in der Zwischenkriegszeit keine Wohnung erhielt, machte sich Hulda jeden Tag unermüdlich auf den Weg ins Düsseldorfer Wohnungsamt, immer mit demselben grünen Kleid zur Steigerung des Wiedererkennungswertes. Durch ihre optisch verstärkte Hartnäckigkeit erhielt sie eine kleine Wohnung, allerdings wollte der Vermieter sie nicht einziehen lassen, weil das junge Paar einen Teppich mitbrachte: Es hieß, Leute mit Teppich wollten den Dreck unter den Teppich kehren!

Schon während der Weimarer Republik schrieb Hulda Pankok gegen zunehmende politische Intoleranz, rassistische Ausgrenzung und Kriegstreiberei an, hielt Vorträge in der jüdischen Gemeinde Düsseldorf, eröffnete eine Ausstellung von Käthe Kollwitz: klare Bekenntnisse in einer zunehmend antisemitischen und nationalistischen Zeit. Durch geistesgegenwärtiges, resolutes  Auftreten verhinderte sie nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten die Inhaftierung ihres Mannes. Die Familie entzog sich Berufsverboten und politischer Verfolgung, indem sie in der Provinz untertauchte. In der Eifel fand sie Unterschlupf in einem kleinen Bauernhaus, hier versteckten die Pankoks den Maler Matthias Barz und Hilde Stein, seine jüdische Frau. Hulda Pankok lavierte mit Zivilcourage die Familie immer wieder durch lebensgefährliche Situationen im nationalsozialistischen Terror. Sie lebte in ständiger Angst und war sich schmerzlich bewusst, dass Kind und Mann – ein durch und durch pazifistischer, humanistischer Künstler der sogenannten „Entarteten Kunst“ und ein kleines Mädchen – ohne ihre Fürsorge im Terror des Dritten Reiches wenig Überlebenschancen besaßen: „Nie werden wir uns trennen. So lange Hitler da ist, muss ich Euch beide jeden Abend ins Bett bringen.“

Die Befreiung durch die Amerikaner erlebte die Familie Pankok zusammen mit einem polnischen und einem russischen Zwangsarbeiter in der Eifel. Während in Berlin noch erbittert gekämpft wurde, begann die britische Militärregierung in Aachen bereits mit der Reorganisation des politischen Lebens und bat die politisch unbelastete Hulda Pankok um Mithilfe.
In der direkten Nachkriegszeit gründete Hulda Pankok den Drei Eulen-Verlag. Die drei Eulen standen für die drei Pankoks. Als Verlegerin wollte sie nach den Zeiten des Ungeistes gerettete Kunstwerke und Literaturen als Bezugspunkte einer neuen humanistischen Kultur bekannt machen. Das Programm des Verlages stand nach Auschwitz in der Tradition der Aufklärung für Bildung, Wissen, Schönheit.

Umso entsetzter reagierten die Pankoks 1950 auf die militärische Aufrüstung der jungen Bundesrepublik. Für Hulda Pankok war es undenkbar, dass Frauen und Mütter nach zwei Weltkriegen erneut ihre Männer in einen Krieg schicken sollten. Sie gründete deshalb die Frauenpartei mit dem Ziel, den Stimmen der Frauen in den Aufrüstungsdebatten Gehör zu verschaffen. Sie überführte diese Frauenstimmen später in die Gesamtdeutsche Volkspartei, mit der Gustav Heinemann als Präses der evangelischen Synode und Helene Wessel als ehemalige Vorsitzende der katholischen Zentrumspartei ab 1952 an die Öffentlichkeit traten. Sie argumentierten für das Prinzip der Verhandlung in einem Europa der Dritten Kraft. Zusammen mit Otto Pankok kämpfte Hulda in der Friedenbewegung gegen die Atombewaffnung, sie unterstützten die politischen Ziele von Heinemann und Wessel. Wie diese wurden sie dafür im Westdeutschland des Kalten Krieges als Handlanger der Kommunisten diffamiert.

1953 erhielt Hulda Pankok eine Einladung nach Jugoslawien. Sie besuchte Orte, die unter dem deutschen Faschismus gelitten hatten und vertrat dort ein Westdeutschland der Versöhnung und Verständigung. Über diese frühe Jugoslawienreise schrieb sie ein Buch: Jugoslawische Erlebnisse.

Nach Otto Pankoks Lehrtätigkeit an der Kunstakademie Düsseldorf erwarb die Familie das Haus Esselt in Hünxe-Drevenack. Hier pflegte Hulda Pankok ihren Mann bis zu seinem Tode 1966. Von nun an lebte sie für sein Werk. Zusammen mit Tochter Eva baute sie das Wirtschaftsgebäude des Herrenhauses zum Otto-Pankok-Museum um. Sie richteten ein Archiv ein, vermittelten die Bilderwelt Otto Pankoks, sicherten die Rechte an seinen Kunstwerken. Sie machten das Otto-Pankok-Museum weit über den Niederrhein hinaus bekannt. Am 8. Januar 1985 verstarb Hulda Pankok in Hünxe. Tochter Eva Pankok führt das Vermächtnis ihrer Eltern weiter.

Am 15. Dezember 2014 wurde Hulda Pankok zusammen mit ihrem Mann sowie dem Pastor Joseph Edmonds von Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet, weil sie 1944 den politisch verfehmten Maler Mathias Barz und seine jüdische Frau Hilda versteckten. Tochter Eva Pankok nahm im Berliner Kammergericht die Auszeichnung entgegen.

Dr. Uta C. Schmidt / frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Otto-Pankok-Museum Haus Esselt, Otto-Pankok-Weg 4, 46569 Hünxe

Literatur:

Pankok, Eva, Hulda Pankok – Ein erfülltes Leben, in: Neuhaus-Koch, Ariane (Hg.), Der eigene Blick. Frauen-Geschichte und –kultur in Düsseldorf, Neuss 1989, S. 203-218.
Aus meinem Leben mit Otto Pankok: Hulda Pankok erzählt im Gespräch, aufgezeichnet im Herbst 1976 im Otto-Pankok-Museum Haus Esselt, Düsseldorf 1983.
Pankok, Hulda, Jugoslawische Erlebnisse, Darmstadt 196.
Eva Pankok über ihre Mutter: http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/frauenarchiv/ddorf/wohnorte/pankok_03.html

Zitation: Schmidt, Uta C., Hulda Pankok, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/hulda-pankok/

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Anneliese Schröder

Anneliese Schröder hat das Kunst– und Museumsleben in Recklinghausen über Jahrzehnte geprägt. Von 1953 bis 1987 war sie in der Leitung der Kunsthalle bzw. aller drei Städtischer Museen tätig, zunächst als kommissarische Leitung, von 1954 bis 1979 als Stellvertreterin und ab 1979 als Direktorin. Auch nach ihrem Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben blieb sie der Kunst– und Kulturszene des Vest Recklinghausen eng verbunden.

Sie kam zusammen mit ihrem Ehemann, dem Restaurator Felix Schröder, nach Recklinghausen. In Ulm als Anneliese Erne geboren und in Ludwigshafen aufgewachsen, begann sie in München ein Studium der Kunstgeschichte und Archäologie. Sie erzählte schmunzelnd, dass sie in ihrem kunstbegeisterten Elternhaus unter dem Zwang des Modellsitzens für Zeichnungen, Bilder und Skulpturen gelitten und vor allem die Ferienreisen mit Besichtigungen von Kirchen und Kulturdenkmälern als sehr qualvoll empfunden habe. Zu sämtlichen Vernissagen und Vorträgen sei sie von ihren Eltern in die Kunsthalle Mannheim mitgeschleppt worden: Trotzdem habe sie dann Kunstgeschichte und Archäologie studiert. Sie beendete ihr Studium in Freiburg mit einer Dissertation über den griechischen Reiseschriftsteller Pausanias. Sie versuchte in ihrer archäologischen Forschung – während um sie herum der Krieg alles in Schutt und Asche legte – die von Pausanias in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts n.Chr. beschriebenen Bauten und Statuen in damals bekannten Überresten zu identifizieren. Ihre mündliche Prüfung, das Rigorosum, fand im Luftschutzkeller statt, kurz vor Einmarsch der Franzosen.

Der Krieg hatte ihre Berufsperspektive als klassische Archäologin zunichte gemacht, in Recklinghausen brachte sie sich als Kunsthistorikerin ab 1947 in die Neuausrichtung des Ausstellungs– und Museumslebens ein. Während der Künstler und Kulturpolitiker Thomas Grochowiak, von 1954 an mit der Leitung der städtischen Kunsthalle betraut, von Recklinghausen aus international beachtete Impulse für einen künstlerischen Aufbruch des „Jungen Westens“ setzte und im Auftrag des Auswärtigen Amtes Ausstellungen Deutscher Kunst im Ausland organisierte, erarbeitete sie als Wissenschaftlerin die kunsthistorischen Begleitpublikationen – weit über 300 Kataloge. Sie publizierte Monografien über den Maler Thomas Grochowiak und die in Dorsten lebende Künstlerin Tisa von der Schulenburg.

Mit der von ihr 1960/61 kuratierten Ausstellung Synagoga schrieb Anneliese Schröder Geschichte: Die Ausstellung zeigte zum ersten Mal nach der Zeit des nationalsozialistischen Progroms 1938 öffentlich jüdische Kunst und jüdisches Kultusgerät in einer für Fragen nach der Verantwortung für den Holocaust noch kaum bereiten Bundesrepublik. Die Schau verstand sich fünf Jahre vor der Aufnahme offizieller diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik als „Brückenschlag zur Versöhnung, Verständigung und gegenseitiger Achtung“. Konzipiert, um überhaupt einen Zugang zur jüdischen Kultur zu ermöglichen, sah sich die Ausstellung als ein Beitrag zur moralischen Wiedergutmachung, als Angebot der Versöhnung zwischen dem jüdischen Volk in aller Welt und den Deutschen und als Anstoß zum besseren Verständnis zwischen Christentum und Judentum. Im dreißigköpfigen Ehrenausschuss unter der Leitung von Bundeskanzler Adenauer saßen Vertreter aus Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik, den Kirchen, der jüdischen Gemeinde, aus Gewerkschaft und Wissenschaft, aus der Zivilgesellschaft, als einzige Frau unter ihnen Marie-Elisabeth Lüders als Mitglied des Bundestages. Auch im 18-köpfigen fachlich berufenen Arbeitsausschuss saß mit Anneliese Schröder nur eine Frau, während im Ausstellungssekretariat ausschließlich drei Frauen arbeiteten. Anneliese Schröder erinnert sich, dass sie sich Tag und Nacht in das fremde Thema einarbeitete. Sie hatte nicht nur mit ausstellungstechnischen Problemen zu kämpfen, sondern vor allem mit dem Wiedererstarken des Antisemitismus in der Bundesrepublik. Schmierereien an jüdischen Gotteshäusern in der Planungszeit verlangten von ihr ein besonderes Fingerspitzengefühl, um die Zurückhaltung von Leihgebern und Leihgeberinnen zu durchbrechen.

Drei „magische Orte“ in Recklinghausen sind mit der Arbeit von Anneliese Schröder verknüpft: Vor dem Festspielhaus steht Henry Moores Plastik Die große Liegende Nr. V, deren Ankauf sie mit verantwortete. Das bedeutendste Ereignis ihrer Dienstzeit ist nach eigenem Bekunden die Gründung des Ikonenmuseums in Recklinghausen. In den Aufbau einer der bedeutendsten Sammlungen für Naive Kunst hat sie in Recklinghausen ihr Herzblut gesteckt. Als letzte Amtshandlung in ihrer Dienstzeit organisierte sie ein Treffen von Laienmalern zur Vorbereitung einer Ausstellung zu den Ruhrfestspielen. 20 Jahre lang war Anneliese Schröder Mitglied der Jury für „Naive Kunst“ in Böblingen. Unter dem Titel Die drei Kunstexperten setzte der Bildhauer Erich Bödeker ihr zusammen mit Thomas Grochowiak und Helene Bernhofer ein künstlerisches Denkmal. Ihre besondere Liebe und Fürsorge galt dem Vestischen Museum, das heute die Sammlung Naiver Kunst zeigt. Um dessen Bestände wissenschaftlich zu bearbeiten, wandte sie manches Wochenende und manchen Resturlaub auf.

Für die Reihe „Heilige in Bild und Legende“ verfasste sie die Bände „Die heilige Dorothea“, „Der heilige Stephan“ und „Die heilige Katharina“ – Dorothea, Stephan, Katharina, das sind auch die Namen ihrer drei Kinder.

Als Anneliese Schröder im Dezember 1989 der Vestische Kunstpreis verliehen wurde, hielt die damalige Direktorin der Volkshochschule, Gunthild Bläsing, die Laudatio. In ungewohnter Art und Weise verknüpfte sie in ihrer Würdigung die Anerkennung der wissenschaftlichen Arbeit mit ihrer Familienarbeit:„Und wenn gerade ich darum gebeten wurde und auch mit Freuden zugesagt habe, dann aus dem Grunde, weil man von mir erwarten kann, daß ich zum einen Anneliese Schröders Arbeit in der Recklinghäuser und der Vestischen Kulturszene der letzten 30 Jahre kennen- und einschätzen lernen durfte und daß ich zum anderen als Frau auch die Frauenaspekte ihres Lebens berücksichtigen und würdigen würde. […] Denn Anneliese Schröder hat nicht nur im Beruf hervorragende Leistung vollbracht, sie ist auch Mutter. Vielleicht, meine Herren, finden sie es ungewöhnlich, diesen privaten Aspekt in eine Laudatio zu einem für berufliche Verdienste erteilten Preis zu bringen, zumal Frau Dr. Schröder in ihrer wissenschaftlich-kompetenten, sachlichen Art eigentlich nie zu öffentlichen Überlegungen dieser Seite ihres Lebens selbst Anlaß geboten hat. Aber es ist ein weiblicher Mensch, dessen Leistungen für das Vest wir hier heute ehren. Und damit unterliegt sie besonderen Bedingungen.

So wie ihre Neigungen und ihre Studienwahl sicherlich vom Elternhaus und dem Vorbild des Vaters gefördert und geprägt wurden – was bezeichnend für die Entwicklung intelligenter Mädchen ist – so ist auch ihre Berufsleistung erst unter den privaten Verhältnissen zu beurteilen.

Anneliese Schröder war während großer Teile ihres Arbeitslebens – ihr Mann erkrankte früh schwer und starb schon 1968 – alleinerziehende Mutter dreier Kinder, die alle drei früh selbständig und wohlgeraten sind. Diese Doppelleistung ihres Lebens, meine ich, darf nicht ungenannt bleiben. Vor allem weil Sie, Frau Schröder, einer Generation angehören, der direkten Nachkriegsgeneration berufstätiger Mütter, für die diese Situation auch ein doppeltes Arbeitsvolumen bedeutete. Meine, die Zwischengeneration, sah die Wahlmöglichkeit und zog es häufig vor, sich zwischen Erwerbstätigkeit und Mutterschaft zu entscheiden. Die folgende Frauengeneration, dazu zählen auch Ihre beiden Töchter und Ihre Schwiegertochter, versucht jetzt wieder beides zu verbinden, nicht ohne Forderungen nach gesellschaftlicher Veränderung zu stellen, und das gemeinsam mit Männern, die von Müttern wie Ihnen erzogen worden sind. Die drei jungen, wohlausgebildeten Mütter Ihrer Nachfolgegeneration und Ihre 3 1/2 Enkel und Enkelinnen zeugen von der Kraft, die Sie weitergegeben haben. Wenn Sie, meine Damen und Herren, meiner Sicht auf die Leistung Anneliese Schröders beistimmen können, denke ich, daß auch Sie zu meiner zweifachen Schlußfolgerung gelangen: Frau Dr. Anneliese Schröder hat sich um das Kunstleben im Vest Recklinghausen verdient gemacht und Anneliese Schröder ist eine bemerkenswerte Frau, ein Vorbild für alle die Frauen, die sie kennen lernen durften.“

Für Engagement und Verdienste um Kunst und Kultur wurde Anneliese Schröder im August 2012 das Bundesverdienstkreuz verliehen. Kurz vor ihrem 90sten Geburtstag ist Anneliese Schröder am 3. Dezember 2013 in Recklinghausen verstorben.

Arbeitskreis Recklinghäuser Frauengeschichte

Orte:

Kunsthalle der Stadt Recklinghausen, Grosse-Perdekamp-Str. 25–27, 45657 Recklinghausen
Ikonenmuseum, Kirchplatz 2A, 45657 Recklinghausen
Große Liegende, Skulptur von Henry Moore vor dem Festspielhaus,
Otto-Burrmeister-Allee 1, 45657 Recklinghausen 

Literatur:

Schröder, Anneliese/ Thomas Grochowiak: Monographien zur rheinisch-westfälischen Kunst der Gegenwart, Band 33, Recklinghausen 1967.
Schröder, Anneliese/ Ludwig Poullain: Tisa Schulenburg, Recklinghausen 1983.
Anneliese Schröder (Hg.): Drei Museen in Recklinghausen, Recklinghausen 1986.

Zitation: Arbeitskreis Recklinghäuser Frauengeschichte , Anneliese Schröder, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/anneliese-schroeder/

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Ingeborg Roel

„Visionen erden“, so beschrieb Ingeborg Roel ihr vielfältiges zeitliches und finanzielles Engagement für Frieden und Gerechtigkeit im „Gasthaus“, einem geistlichen Zentrum in Recklinghausen.

Geboren 1926 in Oberhausen, aufgewachsen in einem Geschäftshaushalt in Bochum – kam Ingeborg Roel 1953 als Assessorin mit den Fächern Deutsch, Geschichte und katholische Religion an das Mädchengymnasium nach Recklinghausen. Mit Leib und Seele engagierte sie sich in der Schule, wirkte bei der Reformierung der gymnasialen Oberstufe mit und kämpfte bei der Umwandlung des Mädchen-Gymnasiums in eine koedukative Schule für die Benennung nach der Physikerin Marie Curie.

Als konsequente Christin wirkte sie früh in der Eine-Welt-Arbeit und konnte etliche Jugendliche dafür begeistern. Fast 20 Jahre stand sie mit anderen jeden ersten Samstag im Monat bei Wind und Wetter auf dem Altstadtmarkt und verkaufte Gepa-Produkte (Gesellschaft für die Partnerschaft mit der Dritten Welt). Als am 15. November 1996 der Weltladen eröffnet wurde, freute sich Ingeborg Roel: „Endlich keine kalten Füße mehr, keine Schniefnase und keine Angst vor Windböen!“ Um Miete und Nebenkosten bezahlen zu können, wurde der Weltladen bald um Secondhand-Kleidung erweitert.

Mitte der 70er Jahre – zu einer Zeit, in der über neue Wege in der Seelsorge nachgedacht wurde und die Brüder von Taizé Jugendliche für ein geistliches Leben im Alltag des 20. Jahrhunderts begeisterten – begegnete Ingeborg Roel dem Jugendseelsorger Bernhard Lübbering. Ihre Vorstellungen von einem engagierten Leben als Christen trafen sich. Als dann die historischen Gebäude „Gasthaus“ und „Gastkirche“ auf eine neue Nutzung warten, wurden mit Unterstützung des Bistums und der Brüdergemeinschaft der Canisianer in Münster aus Ideen handfeste Pläne für ein geistliches Zentrum in Recklinghausen.

1978 wurde das „Gasthaus“ gegründet mit zwei Canisianer-Brüdern, zwei Schwestern von der Gemeinschaft der Missionsschwestern vom Heiligsten Herzen Jesu in Hiltrup und Pfarrer Lübbering als geistlichen Leiter. Ingeborg Roel gehörte nicht der Kommunität im „Gasthaus“ an, sie trug die Arbeit als Ehrenamtliche tatkräftig mit: So nahm sie an den täglichen Gebetszeiten und sonntäglichen Gottesdiensten teil, die sie zeitweise selbst mitgestaltet. Sie ging regelmäßig zum Montagskreis, einem offenen Gesprächskreis für Jugendliche und Erwachsene. Aus dem Freitagskreis, einem MitarbeiterInnenkreis, der nach biblischer Spiritualität suchte, entwickelten sich Familienfreizeiten im Sommer unter ihrer Mitverantwortung. Mit ihren Erfahrungen aus der Telefonseelsorge beteiligte sie sich am Gesprächsdienst in der Gastkirche, einem täglichen Angebot für alle, die offene Ohren für ihre Fragen und Probleme suchten. Sie beriet und unterstützte sogenannte „Kriegsdienstverweigerer“ in den 70er und 80er Jahren, die hohen Hürden zur Anerkennung als „Zivildienstleistende“ zu überwinden.

Die Arbeit in der Pax-Christi-Gruppe führte sie am 10. Oktober 1981 zur Teilnahme an der großen Demonstration in Bonn gegen die Nachrüstung, zur Beteiligung an dem ökumenischen Schweigen für den Frieden freitags auf dem Altstadtmarkt und zur Mitarbeit im Flüchtlingsrat Recklinghausen. Als Vertreterin der Basis ließ sie sich ins Präsidium und später in die Frauenkommission der deutschen Sektion von Pax Christi berufen. Dreimal fuhr sie auch zur Versöhnungsarbeit auf den jüdischen Friedhof in Miroslav in der tschechischen Republik.

Nach einem Besuch in Taizé ließ sie die Aufforderung, einfach zu leben, nicht mehr los. Sie zog aus ihrer großen Wohnung im ersten Stock in die kleinere Dachgeschosswohnung.

Im „Gasthaus“ begegnete Ingeborg Roel obdachlosen Menschen, erfuhr von ihren Schicksalen und ließ sich anstecken von der Haltung der Kommunitätsmitglieder, die jedem Menschen mit Würde begegnen – egal wie er oder sie aussieht oder riecht. Im „Gasthaus“ gibt es sechs Schlafplätze für obdachlose Männer. Als im Jahr 1984 erfolglos in Recklinghausen für eine obdachlose Frau eine Unterkunft gesucht wurde, beschloß Ingeborg Roel ihre Wohnung im guten Wohnviertel aufzugeben. 1985 eröffnete sie mit fast 60 Jahren in einer 8-Zimmer-Wohnung das Projekt „Frauen am Lohtor“: fünf Räume für Frauen in Not und ihre Kinder, Wohnzimmer, Küche und Bad gemeinsam, ein Arbeits- und Schlafraum für sie selber. Um das Projekt durchführen zu können, ließ sie sich von der Studiendirektorin zur Oberstudienrätin zurückstufen und reduzierte ihre Arbeitszeit. Als die Belastungen durch das Projekt stiegen, ließ sie sich beurlauben und lebte ein Jahr bis zur Pensionierung vom Ersparten. 15 Jahre nahm sie obdachlose Frauen, von Gewalt betroffene Frauen, Zwangsprostituierte aus Osteuropa und anderen Ländern auf. Sie unterstützte die Frauen, sich ihre eigene Existenz aufzubauen. 2001 gab sie das Projekt nach langen Überlegungen mit 75 Jahren auf. Den Kampf gegen die Zwangsprostitution und Frauenhandel führte sie mit anderen Frauenorganisationen weiter.

Ingeborg Roel passte in keine Schublade. Ihr Engagement kannte keine Rücksicht auf Parteien oder kirchliche Strukturen, sie handelte aus innerer Überzeugung bis hin zum zivilen Ungehorsam. Stets konnte sie andere für ihre Ideen gewinnen und neue Netzwerke ins Leben rufen.

Schwere Krankheiten und andere Schicksalsschläge kannte Ingeborg Roel aus ihrer Fürsorge, nicht aus eigener Erfahrung. Sie verpflichtete sich, ihre Kraft für die Benachteiligten und Beladenen einzusetzen. Trotz ihres Engagement und einfachen Lebens vergaß sie nicht, zu genießen: ein schmackhaftes Essen, ein kühles Bier, ein gutes Buch, Natur, Kunst und anderes Schöne. Entspannung fand sie beim Sticken und Stricken. Mit 80 Jahren verlieh ihr der Rat der Stadt Recklinghausen die große Stadtplakette. Sie fühlte sich als Bürgerin ihrer Wahlheimat bestätigt.

Am 4. August 2008 verstarb Ingeborg Roel mit 82 Jahren lebenssatt nach kurzer Krankheit.

Liesel Kohte / Arbeitskreis Recklinghäuser Frauengeschichte

Zitation: Kohte, Liesel, Ingeborg Roel, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/ingeborg-roel/

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Die Schnepfen

„Frauen sollten viel mehr Theater machen!“ Diese mehrdeutige Aufforderung aus ihrer ersten Produktion hatten 1984 zwölf Frauen aus Recklinghausen auch an sich selber gerichtet und bis 1991 insgesamt sechs Stücke auf die Bühne gebracht.

„Warum machen wir daraus nicht ein Theaterstück?“ Es lässt sich nicht mehr rekonstruieren, welche von den Frauen aus der Gewerkschaft ÖTV (Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr) in Recklinghausen im Herbst 1983 diese Idee zuerst äußerte. Sie sprachen mal wieder über die vielfältigen Probleme erwerbstätiger Frauen: Arbeitsstress, Teilzeitarbeit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Doppelbelastung, schlechte Bezahlung. Und sie überlegten, wie sie diese Themen am 8. März 1984, dem nächsten Internationalen Frauentag, thematisieren wollten. So ein Einfall besaß zu Beginn der 1980er Jahre einige Sprengkraft: Weder in der gewerkschaftlichen Kulturarbeit mit Laien, noch in der städtischen hatten sich bis dahin Frauen zu eigenen Gruppen mit eigenen Themen und eigenen kulturellen Ausdrucksvermögen organisiert.

In Recklinghausen kamen besonders günstige Ausgangslagen für dieses selbstbewusste Unterfangen zusammen: Die Frauenbewegung hatte sich seit 1968 immer auch als eine kulturelle Bewegung verstanden, die ihre Inhalte durch unverbrauchte Formen politischer Ansprache und spektakuläre Aktion zu vermitteln suchte. In Recklinghausen herrschte mit den Ruhrfestspielen seit 1946 ein kulturelles Klima, das nicht nur ArbeiterInnen und Angestellten eine Teilhabe am kulturellen Erbe ermöglichte, sondern sie auch zu eigenem künstlerischem Tun ermutigte. Hier, in Recklinghausen, konnte frau auf Theaterprofis zurückgreifen, Schauspielerinnen und Theaterpädagoginnen, die das nötige Know–How vermittelten.

Es folgten viele Gespräche und Telefonate mit Frauen bei den Ruhrfestspielen, Kolleginnen in den Betrieben, Freundinnen. Anfang 1984 hatte sich eine Gruppe gefunden: 10 Frauen zwischen 25 bis 55 Jahren mit unterschiedlichen Berufen wie Buchhalterin, Sozialarbeiterin, Gewerkschaftssekretärin, Pädagogin, Studentin, Verkäuferin etc. Ihnen zur Seite standen zwei Schauspielerinnen aus dem Ensemble der Ruhrfestspiele: Petra Afonin und Ingeborg Wolff. Musikalische Unterstützung leistete der einzige Mann im Team: der Musiker Georg Hahn.

Ein Spiel- und Probeort war bald gefunden. Das verlassene Straßenbahndepot in der Castroper Strasse diente den Ruhrfestspielen bereits als Spielort und die Frauen fanden, dass das Depot gut zu ihren Themen rund um die Erwerbsarbeit von Frauen passte. Schließlich hatte eine der aktiven ÖTV-Kolleginnen über viele Jahre im Depot Straßenbahnen geputzt. Ihre Lebensgeschichte sollte Teil des Stückes werden, das als Revue aus Geschichten, kleinen Szenen, Liedern und Sketchen entworfen wurde.

Keine konnte sich in den eher wirren Anfängen am Beginn des Jahres 1984 vorstellen, dass sie als Gruppe im März 1984 ein komplettes, spielfähiges Programm erarbeitet haben würden. Inszenieren – in „Szene setzen“ – das taten ja die beiden als Regiseurinnen tätigen Schauspielerinnen; aber was alles dazu gehörte, mussten die als Schauspielerinnen tätigen Laiinnen noch lernen. Szenenbild und Kostüme waren nur das Äußerliche. Damit alles klappte, gehörten das Aufeinander-Eingehen, der richtige Ablauf, die Hinwendung zu den ZuschauerInnen und vieles andere mehr dazu. Immer wieder verzweifelte eine der Laiendarstellerinnen und musste aufgefangen, neu motiviert werden. Was alle verband, war die Lust an der gemeinsamen Arbeit und die Inspiration, die durch die Zusammenarbeit mit den Schauspielerinnen und dem Musiker bewirkt wurde. In der Schlussphase kurz vor der „Uraufführung“ entwickelte sich der Begriff „Durchlaufprobe“ zum meistgehassten Stichwort. Wie wichtig ein funktionierender Ablauf war, wurde den „Schnepfen“ erst richtig bewusst, als sie ihre Produktion auf anderen Bühnen zur Aufführung brachten.

„Frauen – Stille Reserve?“ lautete das Motto für den Internationalen Frauentag 1984 in Recklinghausen. Das passte gut zu den Themen und Anliegen der Schnepfen rund um Erwerbstätigkeit und Doppelbelastung von Frauen. „Kinder, Küche, Kurzarbeit“ nannten sie ihr Programm. Am 10. März 1984 hatte es Premiere. Das Theater im Depot war ausverkauft, Szenenapplaus und nicht enden wollender Beifall am Schluss ließen alle Beteiligten strahlen. „Vorher war ich unheimlich aufgeregt, aber jetzt schwebe ich wie auf Wolken“, brachte bei der Premierenfeier eine „Schnepfe“ ein für alle vollkommen neues Gefühl auf den Punkt.

Der Publikumszuspruch beflügelte und begleitete Die Schnepfen in den kommenden Monaten bei der Aufführung ihres Stückes bei unterschiedlichsten Anlässen quer durch das Ruhrgebiet und darüber hinaus, Getragen vom Erfolg machten sie sich ab Herbst 1984 an die nächste Produktion. Zwänge sollten diesmal das Thema sein. „Mit 17 hat frau noch Träume. (Lieber außer sich als eingezwängt)“ wurde am 9. März 1985 im Theater im Depot uraufgeführt. In diesem Stück thematisierten Die Schnepfen auf gewohnt unterhaltsame, aber auch nachdenkliche Weise die gesellschaftlichen Normen und Zwänge, denen Frauen von der Kindheit an über die Jugend bis ins Alter ausgesetzt sind. Inzwischen waren Die Schnepfen nicht nur im Ruhrgebiet bekannt. So spielten sie auch bei der Eröffnung der Landesbezirksfrauenkonferenz des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).

Mit ihrer dritten Produktion „Tarzan ist nicht mehr da“, die am 9. März 1986 im Theater im Depot Premiere hatte, machten sich Die Schnepfen auf eine Reise rund um die Welt und quer durch die Geschichte. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits zwei Frauen wegen der arbeitsintensiven Probenarbeit aus der Gruppe ausgestiegen. Sie konnten die Mehrfachbelastung mit Erwerbs-, Familien- und Theaterarbeit nicht mehr unter einen Hut bringen.

Es sollten – mit einer kleineren Besetzung, zu der später andere Frauen hinzukamen – noch drei weitere Inszenierungen folgen. 1987 bei der Produktion „Alles, was ich liebe, ist Sand im Getriebe“ waren nur noch vier Schnepfen  übrig. Sie sagten dann auch selbstironisch zur Recklinghäuser Zeitung: „Der Brutbestand der Theaterschnepfe wird im Vestischen auf nicht mehr als fünf brütende Weibchen geschätzt.“ Es sah so aus, als wäre es das das letzte Mal, dass die Frauen zusammen „Theater machten“ – Doch sie hatten ihre eigene Lust am gemeinsamen Stücke Entwickeln und Spielen unterschätzt. Eine von den Ausgeschiedenen stieß 1989 wieder hinzu und die Recklinghäuser Zeitung jubelte am 4.März 1989: „Schnepfen singen wieder“. Am 11. März 1989 stimmte ein begeistertes Publikum bei der Premiere von „Jenseits auf Mallorca“ in den Jubel ein.

Noch einmal machten Die Schnepfen von sich reden, dieses Mal allerdings nicht in Recklinghausen, sondern in Bochum. Im Sommer 1991 fand der Evangelische Kirchentag im Ruhrgebiet statt. Die Schnepfen – verstärkt um einige neue Mitglieder – entwickelten noch einmal ein Stück, diesmal eines, das sich mit Frauen aus der Geschichte des Ruhrgebiets befasste: „Mein Gott, was war´n wir tüchtig“ wurde ab dem 30. Mai 1991 sechsmal in Bochum gespielt. Auch diese Aufführungen waren ausverkauft und wurden vom Publikum bejubelt.

Danach kam es zu keiner neuen Produktion. Die zusätzlichen Belastungen durch Theaterarbeit waren von den meisten „Schnepfen“ nicht mehr zu schaffen. Schade! Spricht man heute die ehemaligen Mitglieder der Truppe auf ihre Erfahrungen an, so erzählen sie alle von der Lust an der gemeinsamen Arbeit, aber auch von den Schwierigkeiten, diese mit den alltäglichen Belastungen als berufstätige Frau mit Familie unter einen Hut zu bringen.

Warum aber nannte sich diese legendäre Theatergruppe bloß Die Schnepfen? In einer Probensituation, in der mal wieder was nicht so lief, wie die Regisseurinnen vorgeschlagen hatten, machte Petra Afonin ihrem Frust Luft und sagte: „Ihr seid doch alles Schnepfen!“ Immer wieder benutzte ihn nun die eine oder andere der Frauen und irgendwann wurde er zum positiven Etikett. Das Recklinghäuser Frauentheater Die Schnepfen war geboren. Heute, im Rückblick, überwiegt bei den meisten von ihnen die Erinnerung an Lust und Spaß am gemeinsamen Tun. Frauen sollten viel mehr Theater machen!

Dr. Karin Derichs-Kunstmann / Arbeitskreis Recklinghäuser Frauengeschichte

Zitation: Derichs-Kunstmann, Karin, Die Schnepfen, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/die-schnepfen/

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Elisabeth Treskow

Es gibt eine Silberschmiedearbeit, die in der Bundesrepublik nahezu jeder und jede durch Bilder vermittelt kennt. Meistens sieht man sie hochgehalten, auf dem Rasen und auf den Tribünen. Menschen verbinden mit ihr magische Momente, Freud, Leid, höchste Erregung, tiefste Trauer, individuelle wie kollektive Erfahrungen. Sie stiftet Generationen übergreifende, lebenslange Zusammengehörigkeiten und Erinnerungsgemeinschaften.

Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) erteilte 1949 der in Bochum geborenen Goldschmiedin Elisabeth Treskow den Auftrag, einen Wanderpokal für den Gewinn der Deutschen Meisterschaft anzufertigen – eben jene „Meisterschale“, die Fußballdeutschland Jahr für Jahr in Taumel versetzt. Er beauftragte eine renommierte und stilbildende Goldschmiedemeisterin, die ihre ersten Professionalisierungsschritte im Kontext der Hagener Folkwang-Idee unternommen hatte. Als Leiterin der Gold- und Silberschmiedeklasse der Kölner Werkschulen hatte ihr das Erzbistum Köln 1948 sogar die Wiederherstellung des im Kriege aus dem Kölner Dom ausgelagerten Dreikönigenschreins anvertraut. Elisabeth Treskow besaß bereits Erfahrungen mit religiös und nationalgeschichtlich hoch aufgeladenen kultischen Gegenständen.

Zusammen mit ihren Studierenden entwarf sie eine Silberschale mit einem Durchmesser von 50 Zentimetern, in die zur Verzierung des DFB-Logos elf (!) kleine und zur Proportionierung der gesamten Arbeit fünf große Turmaline eingelassen wurden. Fünfeinhalb Kilogramm reinstes Sterling-Silber führten zusammen mit den Edelsteinen zu einem Gesamtgewicht von elf Kilogramm. Der Rand der Schale trägt die eingravierten Gewinner der vom DFB seit 1903 ausgetragenen deutschen Meisterschaft: Vereinsnamen verdichtet zu einer Spirale der Zeit, die Unsterblichkeit durch die Epochen hindurch zu sichern vermag. Mittlerweile musste die Originalschale um einen Silberring vergrößert werden – dies war beim Entwurf bereits mitgedacht -, so dass nun voraussichtlich erst einmal Platz für die Titelgewinner bis 2026 zur Verfügung steht.

Elisabeth Treskow wuchs in Bochum in einer Familie auf, die die künstlerischen Entwicklungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts aktiv mitvollzog. Der Vater betrieb eine Drogerie, handelte mit Malutensilien und fotografischen Bedarfsartikeln, die Mutter war als Malerin und Kunstgewerblerin tätig. Sie leitete um 1920 eine Malschule. Elisabeth besuchte ab 1914 die Silberschmiede in der Hagener Künstlerkolonie des Karl-Ernst Osthaus und begann dann ein Studium an der Essener Folkwang-Schule. Sie studierte weiter an der Königlichen Höheren Fachschule für Edelmetall in Schwäbisch-Gmünd und absolvierte in München eine Goldschmiedelehre. Mit ihrem Gesellenbrief kehrte sie 1919 nach Bochum zurück und richtete sich im elterlichen Haus eine Werkstatt ein.

1923 zog Elisabeth Treskow auf die Essener Margarethenhöhe. Die von Margarethe Krupp anlässlich der Heirat ihrer Tochter Bertha gestiftete und nach den modernsten städteplanerischen Konzepten umgesetzte Gartenstadt bot nicht nur licht- und luftdurchdrungenen Wohnraum für Angestellte der Firma Krupp und Beamte der Stadt Essen, sondern stellte auch Räumlichkeiten für Kunstschaffende zur Verfügung, um der Vision einer klassenübergreifenden Gemeinschaft in ästhetisch gestalteter Umgebung Ausdruck zu verleihen. So konnte sich auf der Margarethenhöhe ab 1917 eine KünstlerInnensiedlung von überregionaler Bedeutung etablieren. Dort experimentierte Elisabeth Treskow, mittlerweile Goldschmiedemeisterin, an der Wiederentdeckung der Granulation, einer antiken, äußerst schwierigen Goldschmiedetechnik. Sie erhielt Aufträge aus dem Essener Großbürgertum und von den Bistümern, 1938 fertigte sie für den Essener Oberbürgermeister die Amtskette an. Gertrud Hesse und Alfred Renger-Patzsch, ebenfalls Mitglieder der Essener Künstlerkolonie auf der Margarethenhöhe, überlieferten mit ihren Fotografien diese künstlerisch kreative Zeit.

Die zunehmende Bombardierung der Kruppschen Industrieanlagen durch die Alliierten mit ihren Auswirkungen auf die gesamte Essener Stadtbevölkerung im Zweiten Weltkrieg machte jedoch 1943 einen Umzug ins ruhigere Detmold unabwendbar. Dort restaurierte Elisabeth Treskow mangels öffentlicher Aufträge Silberarbeiten für den Fürsten zu Lippe-Detmold, ehe sie an die Kölner Werkschulen berufen wurde. 1956 erfolgte ihre Ernennung zur Professorin.

In ihren späten Jahren beschäftigte sich Elisabeth Treskow mit antiken Gemmen, also mit vertieft geschnittenen Edel- oder Halbedelsteinen, die als Schmuck oder als Siegel Verwendung fanden. Sie schrieb sich mit ihren Gestaltungen, Entwürfen, Rekonstruktionen und technischen Entwicklungen in die Geschichte der Goldschmiedekunst ein. Davon zeugt eine lange Liste mit Auszeichnungen, Ausstellungen und Publikationen. So widmete ihr das Kölner Museum für Angewandte Kunst 1990 eine große Retrospektive mit umfangreicher Publikation. Die Ruhrgebietsstädte Essen und Mülheim an der Ruhr repräsentieren ebenso wie die Stadt Köln auch heute noch mit Amtsketten aus der Werkstatt von Elisabeth Treskow.

1954 beschloss die Bochumer Maiabendgesellschaft, ihre im Kriege verlorene Königskette nach altem Vorbild wiederherzustellen und die wenigen wieder aufgefundenen Königsplaketten neu fassen zu lassen. Diese Arbeit vertraute sie Elisabeth Treskow an, die gleichzeitig im Auftrag der Gesellschaft ein Diadem für die Schützenkönigin anfertigte. Für die neufundierte und 1955 festlich eingeweihte Kirche St. Nikolaus von Flüe in Bochum-Marmelshausen schuf sie die kultische Ausstattung: ein Tabernakel, eine Monstranz, sechs Leuchter und ein Vortragekreuz – doch unsterblich ist Elisabeth Treskow mit der Meisterschale geworden.

Dr. Uta C. Schmidt / frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Siedlung Margarethenhöhe, Steile Straße (Hauptzugang)/ Kleiner Markt, 45149 Essen; Atelierhäuser: "Kleines Atelierhaus" - Sommerburgstraße 18; "Werkhaus"- Im Stillen Winkel 1; "Großes Atelierhaus" - Im Stillen Winkel 42-48
Katholische Kirchengemeinde St. Nikolaus von Flüe, Dorstener Str. 368, 44809 Dortmund
siehe auch: http://www.bochum.de/C125708500379A31/vwContentByKey/N26XQ6B8547HGILDE

Literatur:

Joppien, Rüdiger (Bearb.), Elisabeth Treskow. Goldschmiedekunst des 20. Jahrhunderts, Beleitpublikation zur Ausstellung, Köln 1990
Wilbertz, Gisela, Bochumer Frauen, hg. v. Evangelische Stadtakademie Bochum/ Stadt Bochum, der Oberstadtdirektor, Presse- und Informationsamt, Bochum 1991, S. 34f.

Zitation: Schmidt, Uta, Elisabeth Treskow, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/elisabeth-treskow/

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Uta Ranke-Heinemann

Zu Beginn eine Begriffsklärung, die Uta Ranke-Heinemann immer wieder vornehmen muss: „unbefleckte Empfängnis“ und „jungfräuliche Empfängnis“ beschreiben in der Theologie der katholischen Kirche unterschiedliche Vorgänge: „Unbefleckt“ bezieht sich auf die Empfängnis, mit der Maria von ihrer Mutter Anna empfangen wurde. Dies meint nicht die „Abwesenheit von Geschlechtsverkehr: sondern keine Befleckung durch die Erbsünde“. Der Zustand, den der Engel in seiner Begrüßung Marias laut Lukasevangelium aufgriff – „Sei gegrüßt, Du Begnadte“ – wird indes im Brief des Paulus an die Epheser mit dem gleichen griechischen Ausdruck „voll der Gnade“ – „gratia plena“ für alle Menschen ausgesagt. Dies bedeutet: „Liest man aus dem Engelsgruß an Maria eine unbefleckte Empfängnis heraus, kann man mit dem gleichen Recht aus Epheser 1,6 eine unbefleckte Empfängnis auch für uns herauslesen.“ (Nein und Amen, S. 73f.)

Die Rede von der „jungfräulichen Empfängnis“ hingegen meint, Maria habe den Gottessohn als Jungfrau geboren. Selbst der heutige Papst Benedikt hatte als Kardinal Ratzinger nicht an der Jungfrauengeburt als biologischer Vorraussetzung für die Gottessohnschaft festgehalten, und auch innerhalb der katholischen Dogmatik wird sie nicht nur wörtlich interpretiert, sondern auch als eine rhetorische Figur, um die Menschwerdung Gottes zu vermitteln: Dort, wo Christus in der Gottesnatur existiert, hat er Gott zum Vater, insofern er in der menschlichen Natur existiert, gestehen ihm Theologen durchaus einen menschlichen Vater zu.

Als die Theologin Uta Ranke-Heinemann, die weltweit erste Frau mit einem Lehrstuhl in Katholischer Theologie, am 15. April 1987 in der WDR-Sendung „Mittwochs in …“ aus dem Marien-Wallfahrtsort Kevelaer öffentlich ihre Zweifel an einer historisch-biologisch zu denkenden Jungfrauengeburt Christi geäußert hatte, entzog ihr der Bischof des Bistums Essen, Dr. Franz Hengsbach, am 15. Juni 1987 die Lehrerlaubnis. Vermittlungsversuche waren zuvor gescheitert. Der Bruch hatte sich langsam, aber stetig vorbereitet, je konsequenter sie die Dogmen der Kirche zu hinterfragen begonnen, ihre Kritik öffentlich formuliert und zur Grundlage eigenen politischen Handelns gemacht hatte. Nach dem Verlust ihrer Lehrbefugnis richtete die Landesregierung Nordrhein-Westfalen aufgrund einer bestehenden Vereinbarung zwischen Kirche und Staat für die verbeamtete Professorin einen kirchenunabhängigen Lehrstuhl für Religionsgeschichte an der damaligen Universität-Gesamthochschule Essen ein.

Uta Johanna Ingrid Heinemann – URH, wie sie selbst zeichnet – kam am 2. Oktober 1927 als erstes Kind von Gustav und Hilda Heinemann, geborene Ordemann, in Essen zur Welt. Der Vater hatte 1929 in Staatswissenschaft mit einer Untersuchung über das Sparverhalten der Essener Krupp-Familien promoviert. 1929 folgte ein zweiter Doktortitel in Jura. Er war Rechtsanwalt in Essen. Ihre Mutter begann – nach einem Abitur, das sie zusammen mit Else Bauernfeind als einzige Mädchen an einem Bremer Jungengymnasium abgelegt hatte – in München ein Lehramtsstudium der Germanistik und Geschichte. 1922 wechselte sie nach Marburg, um bei Rudolf Bultmann ihr theologisches Examen abzulegen. In Marburg lernte sie bei einer studentischen Adventsfeier Gustav Heinemann kennen, einen am Christentum nicht sonderlich interessierten Kommilitonen, der seine Zuneigung mit dem Versprechen verknüpfte, sie in der Ausübung ihres Glaubens nicht zu hindern. 1926 fand die Hochzeit statt. Hilda Heinemann konzentrierte ihre pädagogischen Kompetenzen, ihr Wissen und ihre Klugheit nun auf eine wachsende Kinderschar, während ihr Mann seine Karriere als Wirtschaftsjurist und Strafverteidiger aufbaute. Gustav Heinemann, der spätere Bundespräsident, fand über seine Frau und ihre aktiv gelebte Kirche zum evangelischen Glauben. Im „Dritten Reich“ kam ihm im Widerstand der Bekennenden Kirche und im „Kirchenkampf“ gegen die Deutschen Christen eine bedeutende Rolle zu. Die Familie half politisch und rassistisch Verfolgten.

Der Tochter Uta würde heute eine „Hochbegabung“ attestiert. Sie war wissensdurstig, besaß eine schnelle Auffassungsgabe, lernte seit Kindertagen freiwillig und mit wachsender Begeisterung Latein, Griechisch, neue Sprachen und interessierte sich früh für religiöse Fragen. 1947 legte sie mit Sondererlaubnis als einziges Mädchen am Essener Burggymnasium ihr Abitur „mit Auszeichnung“ ab, diese Note war zuletzt dreißig Jahre zuvor verliehen worden. Am Gymnasium lernte sie auch ihren späteren Mann, Edmund Ranke, kennen, einen durch den Krieg gezeichneten, mittellosen Mitschüler, der sie durch kunstvolle Griechisch-Übersetzungen in den Bann zog: „Frauen lieben ja mit den Ohren“, sollte URH später dazu schreiben. Edmund Ranke war katholisch. Eine interkonfessionelle Verbindung wurde in dem protestantischen Elternhaus nicht gern gesehen. Gustav Heinemann, mittlerweile Oberbürgermeister von Essen und 1949 zum Präses der evangelischen Kirche Deutschlands gewählt, versuchte die Liebenden durch räumliche Trennung und Streichung finanzieller Unterstützung auseinander zu bringen. URH studierte seit 1947 evangelische Theologie, während ihr Verlobter Edmund Ranke ein Studium der katholischen Theologie aufnahm. Nach 13 Semestern konvertierte URH während der Arbeit an ihrer Dissertation zum frühen Mönchtum zum katholischen Glauben – der Konflikt mit ihrem Elternhaus eskalierte. Noch auf der Hochzeitsfeier am 31. Dezember 1954 ließ Heinemann seine Tochter wissen: Das Tischtuch zwischen uns ist zerschnitten.

Für URH stellte sich der Konfessionswechsel weder als Bruch und schon gar nicht als Neuanfang dar. Sie liebte einen katholischen Mann und war sich bewusst, dass bei einer Ehe auch von ihr eine katholische Erziehung der Kinder gefordert wurde. Sie erinnert die Entscheidung als Schritt in eine größere Toleranz, eine Fehleinschätzung, wie sie später einräumte. Für ihren Vater, den gewählten Leiter der förderalistisch organisierten evangelischen Kirchen Deutschlands, bedeutete die Konversion einen Ansehensverlust: Wie sollte er die Gliederkirchen mit ihren unterschiedlichen Flügeln zusammenhalten, wenn er noch nicht einmal seine Tochter in Glaubensfragen disziplinieren konnte? Die katholische Fakultät der Universität München hingegen nahm die Tochter mit ihrer Arbeit an den Selbstzeugnissen des frühen Mönchtums mit offenen Armen auf.

1954 schloss URH ihr Theologiestudium mit der Note „magna cum laude“ ab. Die promovierte katholische Theologin übernahm eine Dozentur am Erzbischöflichen Katechetinnenseminar in Bonn, bildete also Religionslehrerinnen aus. 1965 erhielt sie eine Stelle an der Pädagogischen Hochschule in Neuss. Zu diesem Zeitpunkt galt sie in Kirche und Wissenschaft als theologische Autorität und erreichte durch ihre nicht minder theologisch feinsinnigen Erbauungsschriften auch das „normale“ Kirchenvolk. Im „Ruhrwort“, der Wochenzeitung des Ruhrbistums, beantwortete sie lange Zeit Fragen, die die Gläubigen im Alltag beschäftigten. Ihre Ratgebertätigkeit endete, als sie 1968 in der Frage der Geburtenregelung im Verweis auf den bekannten Jesuitenpater J. David und alle derzeit denkbaren Positionen zu Sünde und Geburtenkontrolle für eine Entscheidung mündiger Eheleute plädierte. Auch in ihrer Schrift „Christentum für Gläubige und Ungläubige“, 1968 publiziert, fand die Theologin klare, polemisch zugespitzte Worte: „Gott ist immer ein Gott mit uns, immer ein Gott unserer Anständigkeit. Und darum ist er auch ein Gott der Amerikaner, die für unsere Freiheit töten. Darum sind die Amerikaner nach Kardinal Spellmann ‚Soldaten Christi’, und kaum jemand registriert diese Verhöhnung Christi mit mehr als mit einem Achselzucken.“ Die radikale Pazifistin URH engagierte sich gegen den Vietnamkrieg, brachte 1979 Unterstützungsgüter nach Kambodscha, wurde Anfang der 1980er Jahre prominente Aktivistin der westdeutschen Friedensbewegung gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen und kandidierte 1999 als Kanditatin der Linken gegen ihren Neffen Johannes Rau, den die Sozialdemokratie nominiert hatte, für das Amt der Bundespräsidentin.

Der einflussreiche Theologe Professor Karl Rahner schlug ihr eine Habilitation vor, da ihre Veröffentlichungen dafür bereits ausreichten. Acht Männer mussten darüber positiv entscheiden und als das Verfahren erfolgreich beendet wurde, war URH 1969 die erste Frau der Welt mit einer Professur für katholische Theologie. Mit ihr endete die mit dem Paulusbrief an Thimotheus kodifizierte Tradition: „Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre …“.

Es stellt sich die Frage, wie es just zu diesem Zeitpunkt zu diesem Traditionsbruch kommen konnte? Ein Habilitationsverfahren prüft die wissenschaftliche Kompetenz, ist aber immer auch eine berufsständische Frage, oft auch eine politische. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) mit seiner erklärten Öffnung der Kirche hin zur modernen Welt bereitete den Rahmen, in dem die Protagonisten argumentieren und agieren konnten. Zeitgleich hatten erstmals Frauen in offizieller Form die Frage nach der Frauenordination gestellt. So reichte die Schweizer Juristin Gertrud Heinzelmann dazu eine Eingabe bei der vorbereitenden Kommission des Konzils ein. Ermutigt durch die Positionen Papst Johannes XXIII. zur Ungeteiltheit der Menschenwürde und zur Frauenfrage fühlte sich eine innerkirchliche Frauenbewegung ermutigt, an die Öffentlichkeit zu treten. Auch Karl Rahner stand der Frauenfrage positiv gegenüber. So hatte er bereits in den frühen 1960er Jahren Haye van der Meer SJ. mit einer Arbeit zum Priesteramt der Frau promoviert. Eine Veröffentlichung der Arbeit wollte er jedoch erst nach der Zeit des Konzils gestatten, um Repressalien seitens der kirchlichen Aufsichtsbehörde zu vermeiden. Es ist daher durchaus denkbar, dass die Erteilung einer wissenschaftlichen Lehrbefugnis an die Ausnahmefrau URH ein Zugeständnis der Kirchenvertreter an die frauenbewegten Forderungen nach Demokratie und Geschlechtergerechtigkeit in der Kirche darstellte. Der innerkirchliche Raum blieb dadurch in seiner patriarchalen Hierarchie unangetastet und die Forderung nach Frauenordination wurde durch das Entgegenkommen zunächst entschärft.

Bei einem Gespräch mit frauen/ruhr/geschichte im Mai 2011 erzählte Uta Ranke-Heinemann von zwei Erfahrungen, die den Zweifel an ihrer Gläubigkeit seit den 1960er Jahren nährten: Die erste musste sie während ihrer Lehrtätigkeit an der Bonner Ursulinenschule durchleben, als sie eine Fehlgeburt erlitt. Die Nonnen der Ursulinenschule beteten um das Kind, nicht aber für die Mutter. Die zweite Erfahrung betrifft ihre beiden Söhne, die zur Vorbereitung auf die Erste Heilige Kommunion zur Beichte hätten gehen sollen. Für sie barg diese Beichtsituation in einer sexualfeindlichen Männer-Kirche eine unerträgliche Einmischung in Kinderseelen seitens fremder Personen. Dabei hatte sie zu dem Zeitpunkt, ca. 1967, an Missbrauch nicht im geringsten gedacht, sondern war der Meinung, eine Mutter weiß, was sie ihre Kinder lehren muss, was sie fragen und wissen wollen. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts rückte die Frage „Kindes-Missbrauch“ ins allgemeine Bewusstsein. Ihren Söhnen ersparte das Ehepaar Ranke-Heinemann die Beichte, indem es sie in den Niederlanden zur Kommunion gehen ließ.

Diese Erfahrungen hat URH in der sie auszeichnenden philologisch-wissenschaftlichen Strenge pointiert und mit Sinn für Komik allgemein verständlich in ihrem Buch zu Katholischer Kirche und Sexualität verarbeitet, an dem sie nach ihrem Lehrverbot zu arbeiten begann. Die „jungfräuliche Empfängnis“ ist darin gleichsam der Aufhänger für eine kritische Sittengeschichte. „Eunuchen für das Himmelreich“ – von Auflage zu Auflage erweitert und inzwischen in der 25. Auflage 2008 mit einem neuen Kapitel zur Homosexualität bei Heyne als Taschenbuch erschienen –  ist in unzählige Sprachen übersetzt und avancierte zum weltweiten Standardwerk über katholische Kirche und Sexualität. Als frauen/ruhr/geschichte das Gespräch mit ihr führte, war URH noch tags zuvor, am 17. Mai 2011, prominente Rednerin auf einer Demonstration in Köln für einen bekennenden homosexuellen Theologen und Religionslehrer, dem die Erzdiözese Köln im Mai 2011 die Lehrbefugnis entzogen hatte.

URH ist eine Person der Medienöffentlichkeit, die für ihre markanten Aussagen bekannt ist. Sie ist eine politische Aktivistin, die sich für Frieden und gegen Unterdrückung und Unrecht engagiert. Sie ist eine scharfzüngige Theologin, die das Frauenbild der Kirche wie mit einem Seziermesser zerlegt. Sie soll hier auch als herausragende Philologin gewürdigt werden. In zwölf Sprachen beheimatet, weckt sie durch ihre Schriften Interesse selbst an komplexen Texten und die in ihnen verborgenen Sinnschichten. Sie ist eine Frau der Logik, lógos (griech.) im Sinne von Wort, Rede und Sinn. Wobei man anfügen kann: auch eine Frau des Eigen-Sinns.

Uta C. Schmidt / frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Bistumsverwaltung, Zwölfling 16, 45127 Essen
Burggymnasium, Burgplatz 4, 45127 Essen
Schinkelstraße 34, 45127 Essen: In diesem Haus wohnte seit dem 1. Oktober 1936 die Familie Heinemann.

Literatur:

Ranke-Heinemann, Uta, Widerworte, Friedensreden und Streitschriften, München 2. Auflage 1989 (Goldmann Taschenbuch)
Dies., Eunuchen für das Himmelreich. Katholische Kirche und Sexualität,  München 2008, 25. erheblich erweiterte Auflage (Heyne-Taschenbuch).
Dies., Nein und Amen. Mein Abschied vom traditionellen Christentum, München 2011, 9. erweiterte Auflage (Heyne-Taschenbuch)

Bücher zu Uta Ranke-Heinemann und zum innerkirchlichen Aufbruch von Frauen in den 1960er Jahren:
Alberts, Werner, Uta Ranke-Heinemann. Abschied von Christentum, Düsseldorf 2004.
Heinzelmann, Gertrud, Wir schweigen nicht länger, Zürich 1964.
www.we-are-church.org/de/fulda-hanau/Frauen_und_Kirche.htm
Meer, Haye van der, Priestertum der Frau? Eine Theologiegeschichte, Freiburg i.Br. u.a. 1969.
Müller, Iris/ Raming, Ida, Unser Leben im Einsatz für Menschenrechte der Frauen in der römisch-katholischen Kirche: Lebensberichte – Hintergründe – Dokumente – Ausblick, Berlin u.a. 2007.
Schütt, Hans-Dieter, Querköpfe – Uta Ranke-Heinemann, Berlin 1993.
Die Schülerinnen Katharina Pohl und Birte Weber von der B.M.V.-Schule in Essen, einem Gymnasium in Trägerschaft der Augustiner Chorfrauen, haben mit dem Titel:„Ratzinger zitieren kostet den Lehrstuhl" eine Forschungsarbeit zum „Skandal Uta Ranke-Heinemann“ beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten eingereicht. 2011 lautete das Thema des Geschichtswettbewerbs:„Ärgernis, Aufsehen, Empörung: Skandale in der Geschichte“.

Zitation: Schmidt, Uta C., Uta Ranke-Heinemann, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/uta-ranke-heinemann/

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Frau R. Frau Sch. Frau K.

Mit seinem Stammhaus in Neukirchen-Vluyn ist das mittelständische Familienunternehmen Paradies GmbH Gebr. Kremers einer der führenden Bettwarenhersteller Europas. 1848 begann der Gründer der Firma, Wilhelm Kremers, mit der Herstellung von Watte. Bereits 1848 verlegte er die Produktionsstätte auf das jetzige Betriebsgelände und nahm zusätzlich die Herstellung von Steppdecken auf. Eine kaufmännisch und technisch umsichtige Betriebsführung ließ das Unternehmen ständig expandieren. Seit 1870 bot die Steppdeckenfabrik Arbeitsplätze hauptsächlich für Frauen. Mit Übernahme der angesehenen Paradiesbettenfabrik M. Steiner und Sohn aus Frankenberg/ Sachsen im Jahre 1965 wurde das traditionsreiche Warenzeichen Paradies, das als eines der ältesten Warenzeichen gilt, übernommen.

Mitglieder der Frauengeschichtswerkstatt Neukirchen-Vluyn haben Arbeiterinnen dieser Firma befragt. Auf Tonbandmitschnitten, die heute im Stadtarchiv aufbewahrt werden, hielten sie Informationen über die Arbeitswelt und über das subjektive Erleben der Arbeitsverhältnisse in den dreißiger und fünfziger Jahren fest, die sonst keine Überlieferung gefunden hätten. Diese und weitere mündliche Geschichtsquellen bildeten die Grundlage für einen Stadtrundgang, den die Geschichtswerkstatt anlässlich des 100-jährigen Stadtjubiläums im Jahre 1997 erarbeitete.
Bei der Produktion von Steppdecken gibt es zahlreiche verschiedene Arbeitsgänge, die in den dreißiger Jahren streng in Aufgaben für Männer und Frauen unterteilt waren. Die Männer waren, außer an den Webstühlen, in den Bereichen Verpackung, Büro und der sogenannten „Kratzkammer“ beschäftigt, wo das Füllmaterial für die Steppdecken – Schafwolle, Krauswolle und Watte – in Ballen angeliefert und gelockert wurde. Zwischen 70 und 90 Frauen arbeiteten an den Nähmaschinen und an den Steppmaschinen. Sie waren zuständig für das Einspannen der Decken in die Rahmen als Vorarbeit für das Füllen und das Abzupfen der am Rand überstehenden Wolle. Sie kontrollierten, schrieben Etiketten und gaben Material aus.

Die Männer an den Webstühlen wurden nach Akkordleistung bezahlt, das ergab bei einem guten Weber einen Wochenlohn zwischen 60 und 70 RM (Reichs-Mark) Brutto. Die Frauen erhielten einen Stundenlohn: Frau R., geboren 1919, begann vierzehnjährig als ungelernte Kraft bei der Bettwaren-Firma Samanns in Vluyn zu arbeiten. Sie erhielt einen Stundenlohn von 14,9 Pfennige. Vier Jahre später hatte er sich bei einem zwölfstündigen Arbeitstag auf 18,9 Pfennige erhöht. Bessere Bezahlung, bessere Arbeitsbedingungen und die Zahlung von Weihnachtsgeld ließen Frau R. im April 1938 zur Firma Paradies wechseln. Die Arbeitszeit dauerte montags bis freitags von 7 Uhr bis 17 Uhr. Samstags von 7 Uhr bis 12 Uhr. Das Putzen der Büroräume in den Nachmittagsstunden des Samstags gehörte zur Aufgabe der Frauen.

1939 drängte die sogenannte Doppelverdiener-Kampagne, die bereits in der Weimarer Republik, verstärkt jedoch mit Machtübernahme der Nationalsozialisten geführt wurde, verheiratete Frauen auch bei den Gebr. Kremers aus der bezahlten Erwerbstätigkeit. Der Kampagne lag das Diktum zugrunde, verheiratete Frauen und ihre Kinder wären grundsätzlich durch einen erwerbsarbeitenden Mann „versorgt“. Männer übernahmen die freigezogenen Arbeitsplätze, die nationalsozialistische Propaganda sprach von „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen“. 1941 wurde die zivile Steppdeckenproduktion in der Firma Gebr. Kremers eingestellt, stattdessen fertigte man hier nun wattierte Wehrmachtshosen und -jacken. Der Stundenlohn betrug zu dieser Zeit 55 Pfennige. Im Dezember 1944 schloss die Firma vorübergehend: das Material war knapp, der Absatz stagnierte, die Männer waren im Krieg.

In den 1950er Jahren nahm die Firma die Produktion wieder auf. Es wurden Steppdecken, Tagesdecken und Schlafsäcke hergestellt. Viele vertriebene oder geflohene Frauen aus Thüringen, Ostpreußen und Schlesien fanden einen Arbeitsplatz. Sie waren meist ungelernte Kräfte, die angelernt und ihren Fähigkeiten entsprechend eingesetzt wurden:„Ungelernt war ich ja, ich hab ja praktisch in Schlesien im Büro gelernt und in Oberzelle war ich ja auch im Bürgermeisteramt. Für mich war ja nur wichtig, dass ich eine Arbeitsstelle hatte, dass ich etwas verdient habe,“ betonte Frau Sch.„Die Decken wurden aufgespannt, auf einen großen Rahmen, dann wurden sie ja mit der Watte gefüllt, mit der Wolle, dann die Oberdecke drauf, dann wurden sie erst einmal gesteppt. Und da war ja ein Rand immer noch so fransig und überstehende Wolle, die musste man abzupfen und dann kamen sie an die Maschine, dass der Rand genäht wurde.“ Die Frauen bedienten die Steppmaschinen, zupften Wolle, nähten und säuberten die Ränder. Sie kamen zu Fuß oder mit dem Fahrrad zum Betrieb, arbeiteten in zwei Schichten, eine vormittags, eine nachmittags, mit jeweils einer Vorarbeiterin.

Die Arbeit erforderte körperliche Kraft:„Doch, es war schwer, Man hatte die großen Decken, die mussten gedreht werden auf dem Putztisch und bei der Kontrolle dann wieder. Und dann hatte man die großen Maschinen. Dabei habe ich mir mal in den Finger genäht, beim Staffieren. Da musste ich zum Arzt. Die Nadel war ja abgebrochen und gesplittert, da hat der Beckmann [Heinz Alfred Beckmann, Arzt in Vluyn] mir ein ganzes Stück rausgeschnitten. Und auch bei den langen Nähten, irgendwie saß man immer schief. Das ging schon ins Kreuz“, erinnerte sich Frau K.

Der Stundenlohn betrug 57 Pfennige. Zu den Sozialleistungen gehörten ein Ausflug im Sommer, ein Weihnachtsfest und ein Hochzeitsgeschenk. Gewerkschaftlich organisiert waren die Arbeiterinnen Anfang der 1950er Jahre noch nicht. Von den geringen Stundenlöhnen hätten sie nach eigener Aussage auch keine Beiträge zahlen wollen. Ein Arbeitsplatzwechsel kam selten vor: Alle waren froh, eine Stelle bei Paradies zu haben. Die meisten Arbeiterinnen blieben dem Betrieb verbunden und einige sogar darüber hinaus.

Frauengeschichtswerkstatt Neukirchen-Vluyn

Orte:

Paradies, Rayener Straße 14, 47506 Neukirchen-Vluyn

Literatur:

Frauen(-)Leben in Neukirchen-Vluyn 1877-1997. 120 Jahre aus der Geschichte der Frauen, eine Dokumentation der Frauengeschichtswerkstatt Neukirchen-Vluyn, hg. v.d. Stadt Neukirchen-Vluyn (Schriftenreihe des Stadtarchivs, Bd. 1), Neukirchen-Vluyn 1997, hier bes. S. 15-26.

Zitation: Frauengeschichtswerkstatt Neukirchen-Vluyn, Frau R. Frau Sch. Frau K., Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/frau-r-frau-sch-frau-k/

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Hannelore Weihert

Sie war Mitglied der „Aktion 218“, die sich für die Abschaffung des Abtreibungsparagraphen einsetze. Im Jahr 1974 war sie Mitgründerin der Frauen-Aktion-Dortmund (FAD) und zuständig für die Suche und Organisation des Frauenzentrums in der Junggesellenstraße 16. Die FAD war vor allem in den 1970er Jahren Motor der lokalen Frauenbewegung. Bis zu ihrem Ausscheiden im Jahr 1980 war „Hannelore Weihert, Viktoriastr.38 und Hamburger Str.43“ Kontaktadresse der FAD. Sie stand mit Namen und Adresse für die Dortmunder Frauenbewegung.
Hannelore Weihert machte zunächst eine Ausbildung zur Dentistenassistentin. Das Berufsziel einer Dentistin konnte sie wegen fehlender Finanzierung nicht erreichen und daher begann sie 1952 eine Laufbahn im mittleren Dienst bei der Post und ging als Fernmeldebetriebsinspektorin in den Ruhestand. Da Anfang der 1970er Jahre die beruflichen Aufstiegschancen gering waren, suchte sie nach neuen Möglichkeiten, sich sozial und politisch zu engagieren.

Auf die Dortmunder Gruppe der „Aktion 218“ stieß Hannelore Weihert zum ersten Mal im Frühjahr 1971 vor der Dortmunder Reinoldikirche. Sie kam mit den Frauen ins Gespräch und unterschrieb die am Stand ausliegende Liste mit der Forderung nach Streichung des § 218. Sie stieg dann in die Gruppe ein, die sich in Privatwohnungen traf. Neu war das Thema für Hannelore Weihert nicht. Sie hatte sich zuvor bereits an der kirchlichen Morallehre gestoßen, die den Frauen das Selbstbestimmungsrecht in Fragen der Sexualität und Entscheidung für oder gegen Kinder absprach. Sie stieg dann in die Gruppe ein, die sich in Privatwohnungen traf. Hannelore Weihert beteiligte sich fortan an den Gruppendiskusssionen, verteilte Flugblätter in der Innenstadt und diskutierte mit Passantinnen und Passanten an Info-Ständen.

Ein spektakulärer Fall aus Dortmund schuf im Mai 1971 Öffentlichkeit für das Tabuthema: der „Stern“ berichtete über die Vergewaltigung eines 13-jährigen Schulmädchens. Die Dortmunder Ärztekammer befand das Kind kräftig genug zum Austragen des Kindes – trotz Selbstmordgefährdung. Hilfe fand sie erst in der Schweiz. Weitaus öffentlichkeitswirksamer wurde kurz darauf die von Alice Schwarzer in Deutschland lancierte „Selbstbezichtigungskampagne“. Im „Stern“ erklärten am 1.6.1971 Frauen, darunter auch viele Prominente, abgetrieben zu haben. Bis Juli 1971 waren 3.000 Selbstbezichtigungen gesammelt worden, aus Dortmund waren es 45. Für die ersatzlose Streichung des § 218 unterschrieben bundesweit schließlich 89.000 Menschen.
Als 1974 die Fristenlösung vom Bundestag gebilligt und 1975 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurde, hatten sich Hannelore Weihert und ihre Mitstreiterinnen bereits weiteren Fragen von Verhütung und, genereller, Emanzipation und Unterdrückung der Frau zugewandt. Diese Theoriearbeit mündete Ende 1974 in ein Grundsatzpapier mit sozialistisch-feministischer Richtung. Die Gruppe nannte sich nun Frauen-Aktion-Dortmund (FAD) und öffnete sich mit einer Podiumsdiskussison im Dortmunder Fritz-Henßler-Haus und einer Veranstaltung in der Evangelischen Studentengemeinde. Der Zustrom war gewaltig. Aus der Kerngruppe von acht Frauen im Jahr 1971 wurde eine „Frauen-Aktion-Dortmund“ von 91 Mitgliedern im März 1975 und 120 im Jahr 1976. Es entstand eine Vielzahl von Arbeitsgruppen, die sich an bundesweiten Frauenbewegungsthemen und den persönlichen Interessen und Lebenslagen der Frauen orientierten. Hannelore Weihert kümmerte sich in der AG „Frauenzeitung“ um das Layout. Dieses bundesweite Blatt wurde reihum von verschiedenen Frauenzentren gemacht. Im Jahr 1976 war Dortmund mit der Ausgabe Zwischen Kochtopf und Maloche an der Reihe. Das Thema der Frauenerwerbstätigkeit im Ruhrgebiet wurde hier zum ersten Mal in verschiedenen Artikeln aufgeworfen. Nicht nur vom Berliner Frauenzentrum wurde die Ausgabe aus Dortmund vor allem wegen des angeblich unausgegorenen marxistischen Standpunkts und „unfeministischer“ Bildgestaltung heftig kritisiert.

In der AG „Organisation“ war Hannelore Weihert zuständig für die Suche nach Räumen für ein Frauenzentrum, das im Jahr 1976 in der Junggesellenstraße 16 eröffnet wurde. Die Vermieterin, eine Witwe, wollte zunächst nicht dulden, dass im Hause Transparente hergestellt und von hier aus zu Demonstrationen aufgebrochen wurde. Sie ließ sich aber davonüberzeugen, dass gerade dies der Grund zur Anmietung eines Zentrums war. Anschließend war Hannelore Weihert zuständig für die Verwaltung des Zentrums. Es ging um die Raumverteilung an Gruppen, das Aushändigen von Schlüsseln, die Zuständigkeit für Post und Heizung. Diese Organisationsfragen waren jedoch mit den meist jüngeren neuen Frauen nur schwer zu regeln, die als Studentinnen die lockeren Gepflogenheiten der Universität gewohnt waren nicht wie Hannelore gestandene Berufstätige. Dieser Generationenkonflikt führte dazu, daß Hannelore Weihert schließlich im Jahr 1980 aus der FAD austrat.
Eine Aktivität neben der FAD war die Vorbereitung zum 1. Frauenforum im Revier. Diese fünftägige Sommeruniversität für Frauen, die 1979 an der Universität Dortmund stattfand, war einerseits Impulsgeberin für die Frauenbewegung im Ruhrgebiet, andererseits Wurzel von „Frauenstudien“ als wissenschaftliche Weiterbildung für Frauen ohne Hochschulzugangsberechtigung. Hannelore Weihert hatte selbst keine Möglichkeit zu einem Studium gehabt. Ihr Ziel war es nun, dass andere Frauen diese Möglichkeit erhalten sollten.
Hannelore Weiherts gesellschaftspolitisches Engagement konzentrierte sich nicht allein auf die Frauenbewegung. Sie nahm in den 1970er Jahren an den Ostermärschen und Anfang der 1980er Jahre an den großen Friedensdemonstrationen teil. Auch gewerkschaftlich wurde sie im Personalrat der Oberpostdirektion Dortmund tätig. Sie ist seit ihrer Pensionierung im Seniorenbeirat der ehemaligen Beschäftigten der Oberpostdirektionen Post und Telekom Dortmund aktiv.

Nach dem Weggang von der FAD behielt Hannelore Weihert bis heute die Frauenbewegung durch viele persönliche Freundschaften und Literatur im Auge. Positive Weiterentwicklungen sieht sie in den Einrichtungen der Frauenstudien an der Universität, in den Gleichstellungsbeauftragten der öffentlichen Verwaltung und der Wirtschaft, den Frauenhäusern, Frauenberatungsstellen und Frauenstiftungen. Was sie für bedenkenswert hält ist das Desinteresse der jungen Frauen an der Frauenbewegung.
Hannelore Weihert ist Trägerin des von Hanne Hieber gestifteten 1. Dortmunder Frauenpreises. Die Ehrenkette, gestaltet von der Künstlerin Eva Hieber, wurde ihr im Jahr 1995 anläßlich des zehnjährigen Bestehens des Dortmunder Frauenbüros im Rathaus überreicht.
Hannelore gehört seit 1992 dem Verein „Aufmüpfige Frauen“ und seit Gründung der Stiftung „Aufmüpfige Frauen“ durch die Dortmunder Professorin Dr. Sigrid Metz-Göckel 2004 auch dem Stiftungsvorstand an.

Hanne Hieber/ Dortmund

Orte:

Junggesellenstraße 16: ehemaliges Frauenzentrum der Frauen-Aktion-Dortmund FAD von 1976 bis 1980. Zu sehen ist lediglich ein Garagentor. Dahinter lag die 6-Zimmer-Wohnung, die als Frauenzentrum diente.
Viktoriastr. 38 und Hamburger Str. 43: Kontaktadresse der Aktion 218 Dortmund und Wohnung von Hannelore Weihert von 1971 bis 1980.
Universität Dortmund, Emil-Figge-Str. 50: ehemalige Pädagogische Hochschule, an der 1979 das 1. und 1982 das 2. Frauenforum im Revier stattfand. Heute befindet sich hier das Weiterbildende Frauenstudium.

Literatur:

Weihert, Hannelore, Die Anfänge der Aktion 218 in Dortmund, in: Rückblick nach Vorn. 25 Jahre Frauenbewegung in Dortmund (Hg.: Hanne Hieber), Dortmund 1995, S. 24-28.

Zitation: , Hannelore Weihert, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/hannelore-weihert/

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Irmtraud Ruder

Ideen liegen manchmal in der Luft, meint Irmtraud Ruder, eine der beiden Initiatorinnen des ersten Beginenhofes im Ruhrgebiet und in NRW. Es war die Idee eines generationenübergreifenden Wohnprojekts von Frauen für Frauen, die sich bewusst waren über veränderte Lebensweisen im Zusammenleben der Generationen. Im Jahr 2005 wurde das erste Haus in Schwerte-Ergste, Kiebitzweg 2 bezogen. 2006 hatte Schwerte schon den zweiten Beginenhof in der Schützenstraße 22b. Dortmund folgte im Jahr darauf. In Unna wurde 2006 ebenfalls ein Beginenhof gegründet, der Essener Hof im November 2007 bezogen. In Gelsenkirchen, Iserlohn, Münster und Bochum und Bocholt gibt es Planungen. Der Hof in Bielefeld wird z.Zt. bezogen.

Dass Irmtraud Ruder eine der beiden Initiatorinnen des ersten Beginenhofes im Ruhrgebiet wurde, kam nicht von ungefähr. Sie hatte bereits während ihrer Ehe, die 1986 geschieden wurde, eine neue Orientierung gesucht. 1980 wurde sie eine der ersten „Frauenstudienfrauen“ an der Dortmunder Universität. Diese wissenschaftliche Weiterbildung bot in der Montanregion Ruhrgebiet zum ersten Mal eine Möglichkeit für bildungshungrige Frauen ohne Hochschulabschluß, an der Universität zu studieren. Irmtraud Ruder beschäftigte sich während dieses Studiums u.a. mit dem kirchlichen Frauenbild, schrieb eine Studienarbeit über die mittelalterlichen Beginen und ihre Abschlussarbeit 1984 über die Verabschiedung von den tradierten Bildern der Eva und der Maria. Zu diesem Zeitpunkt schienen ihr die mittelalterlichen Beginen als Vorbilder für moderne Frauen zu streng und zu eingebunden in ein religiöses Leben. Näherliegend waren „Frauenstudien“-Diskussionen und Fragen um das Leben im Alter mit der Devise: nicht allein, nicht ins Heim, nicht bei den Kindern.

Nach Abschluss der „Frauenstudien“, die ihr Weltbild veränderten, wurde Irmtraud Ruder wieder berufstätig. Sie arbeitete als Angestellte und Referentin an der Volkshochschule Schwerte und führte Frauenstudienreisen durch. 1990/91 war sie als Verwaltungsleiterin des Projektes „Freiräume“ beim Kirchentag im Revier tätig. Anschließend wurde sie Geschäftsführerin des Deutschen Forums für Figurentheater in Bochum. Während einer Studienreise Ende der neunziger Jahre auf den Spuren der Malerin Paula Modersohn-Becker nach Worpswede fiel ihr im Bremer Schnoor ein Plakat in die Augen: „Beginenhof Bremen: Expo-Projekt 2000“. Sie hörte auch durch eine Freundin vom (nicht realisierten) Beginenhofprojekt in Mülheim/Ruhr und von der Gründung des Beginenhofs Tännich, wohin die Freundin dann zog.

Angeregt durch diese Beispiele war in ihr die Idee geboren, auch in Schwerte einen solchen Hof zu errichten. Dafür brauchte es jedoch Mitstreiterinnen. Irmtraud Ruder fand sie im Schwerter „Lila Salon“ in personam Lore Seifert, pensionierte Gleichstellungsbeauftragte der Vereinigten Kirchenkreise Dortmund und eine der Urmütter des generationenübergreifenden Wohnprojekts W.I.R. am Dortmunder Tremoniapark. Lore Seifert kannte die mittelalterlichen flandrischen Beginenhöfe, wohnte in Schwerte und war dort in verschiedenen Projekten aktiv. Es entwickelte sich eine fruchtbare und intensive Zusammenarbeit. Eine Jugendstilvilla mitten in der Stadt und doch im Grünen war der erste Traum, der aber mangels Geld nicht realisiert werden konnte. Auf der Suche nach Projektträgern und Finanziers wurden Irmtraud Ruder und Lore Seifert anfänglich als zwei ältere Damen mit exotischen Ideen belächelt und die Presse vermutete irgendeine neue Sekte. Das änderte sich jedoch bald, als sie im November 2001 den Förderverein Schwerter Beginenhof e.V. gründeten und den 1. und 2. Vorsitz übernahmen. Sie hatten sich kompetente Mit-Gründerinnen als Multiplikatorinnen gesucht und auch gefunden: die Schwerter Gleichstellungsbeauftragte, die Frauenpfarrerin, die ehemalige Bürgermeisterin und eine ehemalige Richterin. Eine intensive Öffentlichkeitsarbeit mit Vorträgen und einer stetigen Pressearbeit führte zum Bekanntwerden der Idee eines generationenübergreifenden Wohnprojekts von Frauen für Frauen.

Den Namen „Beginenhof“ wollte Irmtraud Ruder wegen der religiösen Anklänge zunächst nicht gerne benutzen. Sie ließ sich aber bei einem Besuch des Bremer Beginenhofes von dessen Initiatorin Dr. Erika Riemer-Noltenius eines Besseren belehren. Der Name, so Riemer-Noltenius, transportiere sehr viel Kraft und die historische Dimension sei nicht zu unterschätzen. Sie veranlasste Irmtraud Ruder zu dem Wunsch, gegen die in der Schule verordnete Daten- und Schlachtengeschichte eine andere Geschichte zu setzen. Seit 2008 arbeitet Ruder als Vorsitzende des Dachverbandes der Beginen Deutschlands an der Aufgabe, die Geschichte der mittelalterlichen Beginen sichtbar zu machen. Aktuell besuchte sie in Wismar die Leiterin des Museums, deren Büro im ehemaligen „Beguinenhof“ untergebracht ist, mit dem Anliegen, die Frauen in Wismar für die Beginengeschichte zu sensibilisieren und ehemalige Beginenkonvente durch Gedenktafeln sichtbar zu machen.

Auch möchte sie angesichts fernöstlicher Spiritualitätsimporte zeigen, dass es eine große religiöse Bewegung von Frauen im Abendland gab. Ganz pragmatisch ist der Name „Beginenhof“ auch für die Öffentlichkeitsarbeit gut, meint sie inzwischen, denn so gibt es immer einen Anknüpfungspunkt für Diskussionen. Für die Öffentlichkeitsarbeit hat sie sich auch eine Beginentracht nähen lassen – wobei sie sich nicht als „Begine“ versteht. Der Name könne hier und heute in schwerte inhaltlich nicht gefüllt werden, sagt sie, weil jede einzelne Mitbewohnerin oder Unterstützerin eine andere Vorstellung davon hat, was eine „moderne Begine“ sein könnte. Irmtraud Ruder selbst orientiert sich an der feministischen „Affidamento“-Philosophie, die die Wertschätzung von Frauen untereinander und das Wachsen am Mehr der Anderen als zentralen Wert einer feministischen Haltung postuliert.

Seit 2005 wohnt Irmtraud Ruder mit weiteren zwölf Frauen und sechs Kindern im Beginenhof Ergste im Kiebitzweg 2. Die Älteste ist 73 Jahre, die Jüngste ist 40. Fünf Frauen sind berufstätig. Vier sind alleinerziehend. Im Schwerter Beginenhof II wohnen zwölf Frauen, davon zwei Rollstuhlfahrerinnen. Weitere Ehrenämter füllt Irmtraud Ruder als ausgebildete Senior-Trainerin aus. Sie organisiert ein Nachbarschaftscafe in einem Familienzentrum der AWO in Schwerte mit alter türkischer und alter deutscher Nachbarschaft. Und sie bietet in der Gesellschaft für humanistische Völkerverständigung (Capek-Gesellschaft) in Hagen ein Exkursionsprogramm an. Zur Aufbesserung ihrer kleinen Rente ist sie seit 2000 an der VHS Schwerte als Kursleiterin tätig.

Am 13. November 2009 erhielten Irmtraud Ruder und Lore Seifert die Stadtmedaille von Schwerte für ihr hervorragendes ehrenamtliche Engagement für die Beginenhöfe Schwerte.

Hanne Hieber / Dortmund

Orte:

Beginenhof Schwerte-Ergste, Kiebitzweg 2, 58239 Schwerte (gelegen in einer Öko-Neubausiedlung am Elsebad)
Beginenhof Schwerte, Schützenstraße 22b, 58239 Schwerte

Literatur:

Vorstand des Vereins Schwerter Beginenhöfe e.V.: Beginenhof in der Öko-Siedlung im Förderverein Schwerter Beginenhöfe e.V., 58239 Schwerte, Kiebitzweg 2, Tel: 02304-72249, beginenschwerte@versanet.de, www.schwerte.de/schwertefuerschwerter-frauen-wohnprojekt

Zitation: Hieber, Hanne, Irmtraud Ruder, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/irmtraud-ruder/

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Elisabeth Wilms

Es begann mit (verbotenen) Filmaufnahmen der Bombardierung von Münster. Es ging weiter mit den Kurzfilmen Der Weihnachtsbäcker und Pumpernickel. Dann ihre eindrucksvollen Nachkriegsfilme Dortmund 1947 und Schaffende in Not, für die sie den Bundesfilmpreis und das Bundesverdienstkreuz erhielt. Es folgte der Wiederaufbau mit dem Film Dortmunds neue Westfalenhalle – Der Gigant unter den Sportpalästen.

Und es kam das Wirtschaftswunder in Gestalt des Werbefilms Flirt mit einer Maschine:
„Hier kommt die schmutz\ge Wäsche rein,
dann schalt ich die CONSTRUCTA ein …
CONSTRUCTA weicht die Wäsche ein,
CONSTRUCTA heizt und wäscht allein,
spült heiß, spült warm, spült zweimal kalt,
dann schleudert sie – dann macht sie Halt…
Sie können ruhig aus dem Haus,
CONSTRUCTA schaltet selbst sich aus!“

Zum Film kam Elisabeth Wilms durch Zufall: Sie sah 1941 – mitten im Krieg – bei einer Nachbarin einen 8mm-Film und war von Stund an begeistert. Filmmaterial und Kamera beschaffte sie sich durch ihre geschäftlichen Beziehungen. Sie eignete sich autodidaktisch das nötige Know-how an, lernte am Beispiel der Kollegen des Dortmunder Schmalfilmclubs, dem sie 1943 beitrat, und besaß vor allem ein begnadetes Talent. Ihre Aufnahme halten jedem professionellen Niveau stand. Dabei betrachtete sie sich selbst immer als Amateurin – als filmende Bäckersfrau. Als Tochter des Metzgermeisters und Wurstfabrikinhabers kam sie aus einem Handwerksbetrieb und führte als Ehefrau des Dortmund-Asselner Bäckermeisters Erich Wilms engagiert einen eigenen Geschäftshaushalt. Mit ihren Bäckerfilmen, aber auch mit Kindersonntag, Moselherbst und Münsterland – Heimatland dokumentierte sie ihre Liebe zum Handwerk, zur Familie und zur Heimat. Sie erhielt 1944 von der Filmprüfstelle in Berlin Ausgezeichnungen für diese Filme, da sie ins nationalsozialistische Konzept passten. Allerdings hatte sie ganz unbekümmert und ohne den Namen zu nennen den „Weihnachtsbäcker“ nicht mit ihrem im Krieg eingesetzten  Ehemann, sondern mit dem Kriegsgefangenen Pierre Lelong besetzt. Ihm verdankte sie die Rettung ihrer Movikon, die Pierre beim Einmarsch der Amerikaner unter den Fußbodendielen versteckt hatte.

Ihre bundesweit bekanntesten Filme zeigen das Nachkriegselend der Bevölkerung der Stadt Dortmund. Sie drehte sie für das Evangelische Hilfswerk, um im Ausland Spenden zu sammeln. Heute sind es eindrucksvolle historische Dokumente, die immer wieder in Dokumentationen über diese Zeit verwendet werden. Die folgenden Dortmund-Filme von Elisabeth Wilms waren Auftragsarbeiten der Stadtverwaltung, der Stadtwerke und der VEW. Sie drehte einen Wiederaufbaufilm, filmte den Bau der Westfalenhalle und die erste Bundesgartenschau in Dortmund. Im Auftrag Dortmunder Firmen entstanden Industriefilme über die Produktion der Westfalenhütte, die Wasserversorgung der Industriegroßstadt und über Kraftwerksbauten. Sie setzte Produkte der Wirtschaft wie Raupenbagger, umsetzbare Stahlhochstraßen, Stahlbrücken aus Dortmunder Fertigung ins Bild und filmte den Bau des 3. Abstiegs des Schiffshebewerks Henrichenburg in Waltrop und den Bau des Eiderstaudamms.

Der entzückendste Streifen ist der zehnminütige Werbefilm Flirt mit einer Maschine, in dem Wilms die Erleichterung der Hausfrauenarbeit durch den Kauf einer Constructa-Waschmachine zeigt.
Zu Elisabeth Wilms Naturell gehörte auch ein soziales Engagement, das sie filmisch zum Ausdruck brachte. Sie dokumentierte Einrichtungen der Evangelischen Kirche wie das Kinderheim Norderney, dessen Gründer Pastor Sigges die Idee hatte, Ruhrgebietskinder an die Nordsee zur Erholung zu schicken, oder dokumentierte den Neubau der Jugendbildungsstätte Haus Husen und die Arbeit der Max-Wittmann-Schule für Geistig Behinderte in Dortmund. Kirchlich verbunden waren Elisabeth und Erich Wilms mit der Asselner Gemeinde. Er war lange Jahre Pesbyter und Kirchmeister, sie sang im Kirchenchor. Ausflüge der Frauenhilfe, Gemeindefeste und -ereignisse sind in der Folge der Pastoren Fromm, Küper, Schmidt und Bahrenhof über 35 Jahre nachgezeichnet. Selbstverständlich hat Elisabeth Wilms auch alle möglichen familiären Feste wie Hochzeiten, Taufen, Geburtstage und Beerdigungen filmisch festgehalten, an denen Sozialgeschichte von 1941 bis 1980 abzulesen ist. Die Reisewelle der 50er Jahre hatte auch Elisabeth und Erich Wilms erfaßt. Mit dem eigenen Wohnwagen und der Kamera erkundeten sie die Mosel, das heimatliche Münsterland, das Sauerland: Sie waren Von der Etsch bis an den Belt unterwegs und hielten Schönheiten am Wege fest. Mitte der 50er Jahre bereisten sie das Sonnenland Italien Eine Traumreise von den Alpen über Bodensee und Schwarzwald führte bis zur Expo in Brüssel.

Elisabeth Wilms war vor allem eine Filmchronistin ihrer Stadt und ihrer Zeit. Sie war keine sozialkritische und schon gar keine politische Filmemacherin, wie sie im Zuge der Student/innen/bewegung auf den Plan treten würden. Auch hatte sie keinen frauenspezifischen oder gar feministischen Blick auf die gesellschaftliche Frauenrolle. Im Gegenteil füllte sie diese Rolle selbst sehr resolut und kreativ aus. Ihre Stärke beim Filmemachen lag in der Kameraführung. Das Schneiden des Materials erledigte sie im häuslichen Wohnzimmer am Wohnzimmertisch mit einem gewöhnlichen Umroller. Das Zimmer war ausgestattet mit einer langen Schrankwand, die Hunderte von Filmdosen enthielt. Vor dem Blumenfenster gab es eine in die Decke eingelassene Leinwand, die bei entsprechenden Gelegenheiten heruntergelassen, der Filmvorführung diente. Elisabeth Wilms hatte zwei Helfer im Hintergrund: ihren freundlichen und duldsamen Mann Erich und ihre Schwägerin und Haushälterin Grete. Erich wurde von Elisabeth als Stativträger und Chauffer angestellt, nachdem die Bäckerei 1964 verpachtet worden war.

Elisabeth Wilms erhielt am 22.9.1977 das Bundesverdienstkreuz und am 11.9.1979 die Ehrennadel der Stadt Dortmund. 1980 drehten die Regisseure Lentz und Klaus im Auftrag des WDR den Film „Brot und Filme“ über Arbeit und Leben von Frau Wilms.

Elisabeth Wilms starb am 25.8.1981.

Hanne Hieber / Dortmund

Orte:

Am Asselner Hellweg 129 befanden sich Bäckerei und Wohnhaus der Wilms, circa 200 m vom heutigen Elisabeth-Wilms-Weg entfernt.

Literatur:

Stark, Alexander, Die «filmende Bäckersfrau» Elisabeth Wilms. Amateurfilmpraktiken und Gebrauchsfilmkultur. Marburger Schriften zur Medienforschung [92], Marburg 2022.
Hieber, Hanne,„Euch, liebe Tante Lisbeth und lieber Onkel Erich zur Silberhochzeit alles Gute“. Ein Fotoalbum über die filmende Bäckersfrau Elisabeth Wilms, in: Heimat Dortmund 2/2003, S.37-39.
Hieber, Hanne, Wilms, Elisabeth, Die „filmende Bäckersfrau von Dortmund“, in: Biographien bedeutender Dortmunder. Menschen in, aus und für Dortmund, Band 3, Essen 2001, S. 214-217.
Springer, Ralf, Die filmende Bäckersfrau. Der Filmnachlass der Dokumentarfilmerin Elisabeth Wilms, in: LWL-Medienzentrum für Westfalen: Im Fokus 3/2009, S.18-19.
Winkelmann-Filmproduktion (Hg.), Die Filme der Elisabeth Wilms, bearbeitet von Ursula Grewsmühl und Hanne Hieber, Dortmund 1993.

Zitation: Hieber, Hanne, Elisabeth Wilms, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/elisabeth-wilms/

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Pietertje Hinze

Die Binnenwasserstraßen hatten einen entscheidenden Anteil an der wirtschaftlichen Entwicklung des Ruhrgebiets. Immer mehr Massengüter – Erze, Kohle, Baustoffe, Getreide – mussten preiswert transportiert werden. Als erster Westdeutscher Kanal nahm 1899 der Dortmund–Ems–Kanal seinen Betrieb auf. Er verband von nun an das östliche Ruhrgebiet mit den Nordseehäfen. Während 1999 sein 100-jähriges Jubiläum allerorten mit Hafenfesten gefeiert wurde, erinnerte die Frauengeschichtswerkstatt der Volkshochschule Datteln an das Leben und Arbeiten auf den Kanalschiffen. In Datteln, dem größten Kanalknotenpunkt der Welt, lag dieses Interesse auf der Hand. Literatur zum Thema gab es nicht. Und so begann die Frauengeschichtswerkstatt ihre kritische Revision mythendurchtränkter Bilder vom wild-romantischen Leben auf dem Wasser mit einer Befragung von Kanalschifferfrauen. Sie erzählten von ihren Lebensbedingungen und –gewohnheiten zu Wasser und zu Lande. Durch das Interesse an ihrer mobilen Lebensform angeregt, schrieben einige Schifferfrauen selbst Erinnerungen nieder, suchten nach Fotografien und belebten alte Kontakte.

Die meisten Frauen in der Binnenschifffahrt stammen aus Schifferfamilien, so auch Pietertje Hinze. Großvater, Onkel, Vater waren niederländische Binnenschiffer. Die Mutter, ausgebildete Hebamme, machte 1961 und 62 noch Patente und befuhr selber den Rhein und westdeutsche Kanäle. Ihre Kindheit verlebte Pietertje Hinze mit der älteren Schwester bei den Großeltern. Als die Eltern im Juni 1945 nach dem Krieg wieder aufs Schiff  gingen, nahmen sie die beiden Töchter mit an Bord. Nach Internat und Haushaltsschule wurde Pietertje 1954 „Schiffsjunge“ auf dem elterlichen Schiff. Der Vater war bei einer deutschen Reederei angestellt, so arbeitete auch sie als Angestellte mit Steuerkarte und Schifferdienstbuch, jedoch ohne Ausbildung. Als 1947 und 1948 noch zwei Geschwister geboren wurden, war sie Kindermädchen und Schiffsjunge gleichermaßen. Die Eltern fuhren in dieser Zeit Kohle vom Hafen Julia in Wanne-Eickel bis Salzgitter.

In Wanne-Eickel lernte Pietertje Hinze dann auch ihren Mann kennen – einen Schiffer. Gegen den Willen der Eltern heirateten sie in Duisburg: Der Vater wollte nach dem Krieg keinen Deutschen als Schwiegersohn. Zusammen mit ihrem Mann befuhr sie nun auf einem Reedereischiff den Rhein. Durch Zufall hörten sie im Radio von einer Bestimmung, dass niederländischen Frauen, die einen Deutschen heirateten, die niederländische Staatsbürgerschaft entzogen wurde. Um dem Status der Staatenlosigkeit zu entgehen, nahm sie rückwirkend mit ihrer Hochzeit am 6. März 1957 die deutsche Staatsbürgerschaft an.

Ihre Kinder wurden entlang der Wasserstraßen geboren: der erste Sohn kam in Mülheim zur Welt, der zweite in Duisburg und der dritte in Dordrecht. Wenn die Geburt bevorstand, ging sie an Land in eine Klinik. Das Kind wurde noch im Krankenhaus getauft, Vater holte den neuen Erdenbürger mit Mutter an Bord, und es ging weiter. Da Kinder nur unter Aufsicht auf dem Schiff mitfahren durften, konnte Pietertje Hinze nicht mehr als Angestellte auf dem Schiff arbeiten, sondern fuhr unter dem offiziellen Status „Hausfrau und Mutter“ mit, was nicht bedeutete, dass sich an ihrer Arbeit auf dem Schiff etwas änderte. Hatten sie im Hafen Kohle geladen, so drang der feine Kohlestaub durch alle Ritzen, besonders beim Be- und Endladen. Durchschnittlich einmal pro Monat wurde die komplette Wohnung abgewaschen, Wände, Decken, Möbel von innen und außen. Die Fußböden aus Linoleum wurden blank gebohnert. Und alle Knöpfe, Griffe, die Schiffsglocke und die Verkleidungen der Fenster aus Messing wurden auf Hochglanz poliert. Schifferfrauen, die noch auf Dampfschiffen fuhren, berichteten von dem ständigen Ruß und Dreck aus der Maschine, gegen die nicht anzukommen war.

Hinzes richteten sich ihr Leben mit drei Jungen an Bord so schön und abwechslungsreich ein wie möglich. Als der erste Sohn schulpflichtig wurde, fühlte er sich im Schifferkinderheim nicht wohl. Herr Hinze suchte eine Arbeit an Land, was mit erheblichen finanziellen Einbußen verbunden war, aber: Getrennt konnten sie sich auf Dauer ein Leben nicht vorstellen. 1966 wurde Herr Hinze Schiffsführer eines „Bunkerbootes“, das die Binnenschiffe mit Dieselkraftstoff, Schmierölen und Ausrüstungsartikeln versorgt. Später übernahm er als Leiter der Niederlassung Datteln den damit verbundenen Schiffausrüstungsbetrieb. Frau Hinze arbeitete dort als Büroangestellte, eine Position, die das Abrechnungswesen bis hin zu zollamtlichen Abwicklungen umfasste. Sie tätigte auch für die Schiffer Bankangelegenheiten, denn wenn diese anlegten, war es meist sehr spät, die Banken weit weg und geschlossen, es gab noch keine Bankautomaten. Bis zur Rente hatte sie diesen vertrauensvollen Posten inne. Die drei Söhne ergriffen Berufe, die nichts mit der Binnenschiffahrt zu tun haben.

Eine gut durchdachte Vorratswirtschaft war an Bord überlebenswichtig, denn Einkaufen stellte sich weit ab von den jeweiligen Stadtzentren bei begrenzten Ladenöffnungszeiten schwierig da. Es wurde viel eingekocht und konserviert, an fast allen Schleusen gab es Lebensmittelgeschäfte, in denen man sich für den täglichen Bedarf eindecken konnte. Frau Hinze besaß schon früh einen Kühlschrank, der mit Petroleum betrieben wurde. Das Radio lief auf Anodenbatterie, später mit 24 Volt-Batterie, in den 1960er Jahren kamen Radar und Funk an Bord. Die „große Wäsche“ wurde an Land erledigt, gleichwohl stand ständig Wäsche auf dem Herd, um schnell ausgewaschen zu werden.

Diskriminierung als Schifferfrau hat Pietertje Hinze nicht erlebt. Allerdings musste sie „Landratten“ immer wieder erklären, warum die Kinder an Bord in einem Käfig spielen mussten. Hinzes wählten eine andere Lösung: Sie gurteten ihre Jungen an einem Seil, das vom Bug zum Heck über das Schiff gespannt war, an. Neuigkeiten wurden von Schiff zu Schiff ausgetauscht, indem man auf beiden Schiffen entgegen der Fahrtrichtung mitlief, so hatte man ein paar Minuten länger für wichtige Informationen. Schifferfrauen hatten durch ihre internationalen, grenzüberschreitenden Kontakte den Sesshaften durchaus etwas voraus. Schon vor der Einführung der Pille in Deutschland hatte es sich 1961 bei ihnen herumgesprochen: Es gibt sie in Basel und sie heißt „Anoflar“.

Das Leben aller Schifferfamilien zeigt strukturelle Übereinstimmungen, so sind die Partner in ihrer Arbeit aufeinander verwiesen, der Arbeitsplatz ist gleichzeitig auch Ort der Versorgung und Erholung. Jede Familie steht vor der Entscheidung, wie sie ihr Leben mit schulpflichtigen Kindern organisiert. Es kann in dieser schwierigen Frage nur individuelle Lösungen geben, Hinzes entschieden sich für den Weg an Land. In der deutschen Binnenschifffahrt gehen die meisten Frauen an Land, sobald die Kinder in den Kindergarten kommen. Im Partikuliergeschäft übernehmen sie dann die Verwaltung des Betriebes. Viele Frauen, die mit einem Schiffer liiert sind, haben heute ebenfalls einen Beruf, den sie ausüben möchten. Mittlerweile gibt es jedoch immer weniger Partikulierunternehmen und viele Schiffe sind umgebaut worden für den Schichtbetrieb, da ist kein Platz mehr an Bord für Familien.

1994 schlossen sich „Frauen in der Binnenschifffahrt“ zu einem Verein zusammen, um in der Öffentlichkeit ihre Anliegen besser positionieren zu können:„Wir sind: mutig, stark, selbstbewusst, problemerfahren, unerschütterlich, kämpferisch, flexibel, stolz. Wir handeln in Verantwortung für das Schiff, die Familie, die Umwelt, das Personal, das Gewerbe“ heißt es in ihrer Selbstdarstellung. Es war ihr Druck, der für die Belange der Binnenschifffahrt sensibilisierte:„Wir klagen über politisches Unverständnis, wirtschaftliche Fehlentscheidungen, europäische Ungerechtigkeiten. Wir brauchen eine Zukunftsperspektive, gleichwertige Stellung in Europa, Unterstützung von Politikern, Verständnis in der Bevölkerung, Fairness in der Transportvergabe.“

Dr. Uta C. Schmidt/ frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Doppelschleuse Datteln-Natorp, ‚ÄûBistro am Hafen“
Museumsschiff LWL-Industriemuseum Schiffshebewerk Henrichenburg, Am Hebewerk 2, 45731 Waltrop
Museum der Deutschen Binnenschifffahrt, Apostelstr. 84, 47119 Duisburg

Literatur:

Der Bürgermeister der Stadt Datteln (Hg.), Frauengeschichtswerkstatt der VHS der Stadt Datteln:„Zu Wasser und zu Lande“. Frauenalltag in der Binnenschifffahrt, Datteln 1999.
Leise, Britta, Frauenalltag an Ford eines Binnenschiffes, in: Heimat Dortmund, 1999, 1, S. 9-11.
Wergen, Jutta, Frauen in Fahrberufen. Geschlechterstrukturen in Bewegung, Wiesbaden 2005.

Zitation: Schmidt, Uta C., Pietertje Hinze, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/pietertje-hinze/

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Mechthild von Virneburg

Mechthild, eine junge Frau aus adeliger Familie, wurde im frühen 14. Jahrhundert zu einer bedeutenden Frauengestalt im Raum Dinslaken. Sie verwaltete von 1310 bis 1338 das Land Dinslaken mit seinen umfangreichen Ländereien, Gerichten, Höfen, Gütern und Menschen. Unter ihr wurde das Land Dinslaken erstmals als eine Einheit gesehen und ging in die Urkunden ein.
Mechthild stammte aus dem bedeutenden Geschlecht derer von Virneburg. Das Dorf Virneburg und die namengebende Burg liegen in der Eifel zwischen der Stadt Mayen und dem Nürburgring an der B 258 im Tal des Nitzbachs. Die Grafen von Virneburg gehörten als Lehnsträger des Kölner Erzstifts zu den hochrangigen Vertretern des Adels und waren bedeutende sie sind bedeutende Parteigänger des Kölner Erzbischofs.

Am 1. August 1308 heiratete Mechthild von Virneburg den Grafen Otto von Kleve. Mechthild dürfte zu diesem Zeitpunkt zwischen 12 und 17 Jahren alt gewesen sein. Die Ehe wurde von Heinrich von Virneburg, dem Kölner Erzbischof, arrangiert, um seinen Einfluss entlang des Rheinstromes auszuweiten. Otto, geboren 1287, war der elfte in der Reihe der Grafen von Kleve und gehörte zu Heinrichs treuesten Anhängern und Verbündeten. Otto regierte die Grafschaft seit 1305. Die Ehe dauerte nur knapp zwei Jahre, Otto starb im September 1310 und Mechtild wurde im Alter von nicht einmal zwanzig Jahren Witwe.

Obwohl sehr jung verwitwet, heiratete Mechthild nicht wieder. Aus der Ehe zwischen Mechthild und Otto ging ein Kind hervor: Die Tochter Irmgard wurde 1311 geboren. Mechtild von Virneburg erhielt als Wittum, als Witwenversorgung, Stadt und Burg Dinslaken mit etlichen Gerichten und Höfen in der Umgebung als Leibzucht.
Als Witwe verfügte Mechthild über die Möglichkeit, eigenverantwortlich in dem ihr zugewiesenen Bereich zu wirken; sie war rechtsfähig. In den Urkunden nannte sie sich „vrouwe van Dynslaken“, lateinisch „domina de Dinslaken“ oder „Altgräfin“. Mechtild verwaltete das ihr als Witwe übereignete Gebiet, vergrößerte es und verfügte über die Erträge. Sie sorgte für ihre Tochter und deren angemessene Verheiratung. Bei alledem stützte sie sich auf die Familie Virneburg.

Unmittelbar nach Ottos Tod handelte Mechthilds Onke Heinrich von Virneburg, der Erzbischof von Köln. Er suchte seinen Besitz am Niederrhein unbedingt zu einem größeren Territorium zusammenzufügen und die Grafschaft Kleve in den Besitz der Kirche bringen. So erklärte er das Lehen Kleve für verfallen und versuchte, es an sich zu ziehen. Erzbischof Heinrich konnte unter anderem Friedrich den Schönen von Österreich als Verbündeten für seine Politik gewinnen. Friedrich sollte im Gegenzug bei der bevorstehenden Königswahl deutscher König werden.

Doch für den Kölner Erzbischof kam die Königswahl von 1314 einer Katastrophe gleich, denn Friedrich der Schöne verlor und Ludwig von Bayern wurde zum König gewählt. Die Pläne des Erzbischofs, die auch Mechtilds Zukunft betrafen, konnten nun nicht mehr verwirklicht werden: Kleve blieb eine eigene Grafschaft und Dinslaken fiel wieder an Kleve.

Im Jahr 1325 wurde Irmgard, Mechtilds Tochter, standesgemäß mit Johann von Arkel, einem jungen Mann aus einem angesehenen Geschlecht bei Utrecht, verheiratet. Nach der Eheschließung der Tochter musste sich Mechtild einschränken, große Teile ihres Besitzes und ihrer Einnahmen abgeben.

Im Alter zwischen 40 und 50 Jahren gab sie es auf, ihren Besitz selbst zu verwalten. Für eine jährliche Rente trat Mechtild von Virneburg Dinslaken mit allen Rechten und Pflichten an Johann von Kleve ab. Mechthild starb, nachdem sie etwa 22 Jahre im Klosters Oberndorf bei Wesel verbracht hat, als hochbetagte Frau. Durch das Totenverzeichnis des Klosters kennen wir ihren Todestag: Es ist der 25. April 1360.

Gisela Marzin/ Stadtarchiv Dinslaken

Orte:

Burg Dinslaken, Platz d Agen, 46535 DInslaken

Literatur:

Marzin, Gisela, Mechthild von Virneburg, Herrin von Dinslaken 1310 bis 1338, in: Frauengeschichtskreis DInslaken (Hg.), Der andere Blick. Frauenleben in Dinslaken, Essen 2001, S. 21-32.

Zitation: Marzin, Gisela, Mechthild von Virneburg, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/mechthild-von-virneburg/

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Gerti Jung

Die Gewerkschafterin Gerti Jung war nahezu ihr ganzes Arbeitsleben in der Bekleidungsindustrie tätig. Ihr berufliche Tätigkeit sowie ihr gewerkschaftliches Engagement waren eng verknüpft mit den Wandlungen der Branche.

Gerti Jung, geborene Meise, fing schon in jungen Jahren in der Textilindustrie in Ahaus an. Hier machte sie bei der Firma Van Delden eine Ausbildung als Spinnerin. Eigentlich wollte sie Jura studieren, trotz eines in Aussicht gestellten Stipendiums musste sie aber als älteste Tochter das Familieneinkommen mit sichern und fing so wie der Vater in einer großen Spinnerei an. Sie zog dazu mit ihrem Vater nach Ahaus und musste dann – stellvertretend für ihre Mutter – die Haushaltspflichten im gemeinsamen Haushalt übernehmen. Durch ihre Heirat kam sie nach Gelsenkirchen. Sie bekam zwischen 1955 und 1958 drei Töchter. Nach der Scheidung musste Gerti Jung für sich und ihre Töchter den Unterhalt verdienen und nahm daher 1970 eine Stelle als Büglerin in der für sie fachfremden Bekleidungsindustrie in Gelsenkirchen an. Die Bekleidungsindustrie – häufig mit der Textilindustrie in einem Atemzug genannt oder gar verwechselt – greift auf die Materialien der Textilindustrie zurück und verarbeitet diese „Zutaten“ (Garne, Gewebe und Stoffe) zu Oberbekleidung, Wäsche, Arbeits-, Sport- und Freizeitkleidung, Pelz und Lederbekleidung sowie Heimtextilien.

Gerti Jung begann in der Bekleidungsindustrie zu einem Zeitpunkt, als die Branche sich schon stark veränderte. Die industrielle Fertigung von Damen- und Herrenoberbekleidung gab es im Ruhrgebiet erst seit der Nachkriegszeit. Aus dem Osten geflüchtete Bekleidungsunternehmer fanden hier einen riesigen Absatzmarkt und billige Arbeitskräfte. Bochum, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Herne, Recklinghausen und im geringerem Umfang auch die anderen Ruhrgebietsstädte wurden zu Standorten der Bekleidungsindustrie. Gerade Gelsenkirchen entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einer Hochburg der DOB-Herstellung. Die Anwerbung von geflüchteten Bekleidungsunternehmer wurde von der Stadt systematisch betrieben, einerseits vor dem Hintergrund des großen Bekleidungsmangels, andererseits um Frauen und Kriegsversehrten eine Erwerbsmöglichkeit zu bieten. Nach dem Willen der Stadtväter sollte die Bekleidungsindustrie die fünfte Säule der städtischen Wirtschaft werden.

In den folgenden Jahrzehnten fanden in Gelsenkirchen bis zu 7.400 Beschäftigte, überwiegend Frauen, einen Arbeitsplatz in der Branche; auf dem Gebiet des Siedlungsverbandes Ruhrgebiet zählte die Bekleidungsindustrie 1970 rund 24.000 Beschäftigte. Die Bekleidungsindustrie kam spätestens in den 1970er Jahren in Schwierigkeiten, als Handelsunternehmen verstärkt dazu übergingen, preiswerte Bekleidungsimporte aus sogenannten Dritt-Welt-Ländern auf den Markt zubringen. Die Folge waren Betriebsschließungen, Auslagerungen der Produktion und eine starke Konzentrationswelle innerhalb der Branche.

Gerti Jung arbeitete zwischen 1970 und 1972 bei der Firma Riegel als Büglerin. 1972 wechselte sie zur Firma Nienhaus und Luig, einem Tochterbetrieb des Steilmann Konzerns, wo sie viele Jahre als Büglerin beschäftigt war. Durch die harte Arbeit und die schlechte Bezahlung – die Bekleidungsindustrie stand immer an zweitletzter Stelle der Entlohnung bei den Industriebranchen – fand Gerti Jung den Weg in die Gewerkschaft Textil und Bekleidung (GTB) und wurde Betriebsrätin. Zwischen 1975 und 1996 war sie in ihrem Betrieb Vorsitzende des Betriebsrats. Gerade um die Akkordlöhne der gewerblichen Arbeiterinnen gab es täglich Schwierigkeiten, die Einführung neuer Maschinen, neue Materialien oder geänderte Lieferfristen führten immer wieder zu chaotischen Zuständen. Unterstützung für ihr Engagement boten die von ihr besuchten Schulungen der Gewerkschaft. In der Gewerkschaft wirkte sie bald in vielen ehrenamtlichen Funktionen auf Orts-, Bezirks- und Bundesebene. Für hauptamtliche Tätigkeiten berief man jedoch auch bei der GTB trotz überwiegend weiblicher Klientel in Gelsenkirchen nur Männer.

1987 wurde sie Abteilungsleiterin bei Nienhaus und Luig. Inzwischen führten seit den 1980er Jahren die Internationalisierung der Produktion und die Globalisierung des Bekleidungshandels zu einem tiefgreifenden Strukturwandel in der Bekleidungsindustrie. Nahezu unbemerkt im Schatten des Niedergangs der Montanindustrie mussten viele Bekleidungsbetriebe schließen, die noch überlebten, verlagerten ihre Produktion ins Ausland. Gerti Jung musste vielfach in die Türkei reisen, um bei Subunternehmern Qualität und Standards zu kontrollieren, während nicht nur in ihrem eigenen Betrieb die Arbeitsplätze wegfielen. Auch diesen Spagat galt es als Betriebsrätin auszuhalten. Gerti Jung engagierte sich in der Folgezeit mit ihren Kolleg/innen in der Kampagne für „Saubere Kleidung“, um soziale Mindeststandards weltweit in der Bekleidungsindustrie durchzusetzen.

Nach 50 Jahren verschwand die Bekleidungsindustrie fast vollständig aus dem Ruhrgebiet. Die restlichen „industriell orientierten“ Firmen bestehen heute aus den Verwaltungs-, Kreativ- und Musterabteilungen. Gelsenkirchen zählte Ende 2008 noch vier Bekleidungsbetriebe mit knapp 600 Beschäftigten. Gerti Jung und viele ihre Kolleginnen gingen in Ruhestand. Ihr Engagement und ihre gewerkschaftlichen Ämter auf lokaler Ebene behielt sie noch lange bei. Gerti Jung starb im Sommer 2008.

Brigitte Schneider/ VHS-Gelsenkirchen

Orte:

Ehemaliges Bahnhofsfenster an einem Gebäude des Bahnhofsvorplatzes.
Ehemaliges Bekleidungsviertel Dickampstraße; von den Kleiderfabriken gibt es heute noch die Firma Marcona, die hier einen Outlet-Store betreibt.

Literatur:

Beese, Birgit/ Schneider, Brigitte, Arbeit an der Mode. Zur Geschichte der Bekleidungsindustrie im Ruhrgebiet, Essen 2001.
Eine gleichnamige Wanderausstellung ist verfügbar, siehe www.Arbeit-an-der-Mode.de

Zitation: Schneider, Brigitte, Gerti Jung, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/gerti-jung/

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Grete Prill

Am 1. Mai 1979 stand die Betriebsrätin Grete Prill mit Kolleginnen, die bei der Firma Foto-Gruppe Heinze in Gelsenkirchen arbeiteten, unter dem Transparent mit der Aufschrift FRAUEN – MÄNNER / GLEICHE ARBEIT – GLEICHER LOHN. Es sollte sie fast drei Jahre lang begleiten.

Ende 1978 hatten sich 29 Frauen entschieden, gemeinsam gegen ihren Arbeitgeber zu klagen, nachdem sie zufällig herausgefunden hatten, dass der bei identischer Arbeit zwar allen den gleichen Tariflohn, den Männern aber durchweg außertarifliche Zulagen von ca. 1,50 DM (Deutsche Mark) zahlte, während viele Frauen keine oder deutlich geringere erhielten. Ihr Entschluss zur Klage wurde unterstützt vom Betriebsrat und der Gewerkschaft Druck und Papier, die seit 1974 bundesweit in den Betrieben eine „Aktion gerechte Eingruppierung“ angestoßen hatte.
Offene Abwertung und entsprechend mindere Entlohnung von Frauenarbeit gegenüber Männerarbeit war seit 1949 mit dem Art. 3 des Grundgesetzes nicht vereinbar. Die verdeckte Lohndiskriminierung blieb aber dadurch erhalten, dass in der tariflichen Bewertung seit den 50er Jahren Leichtlohngruppen eingeführt wurden, in denen sich die Frauen mit geringeren Stundenlöhnen wiederfanden. Der Protest hiergegen, der seither nie abgerissen war, gewann an Kraft, als im Betriebsverfassungsgesetz 1972 im § 75 das Gebot der Gleichbehandlung verankert wurde und als die Frauenbewegung Anfang der 70er Jahre auch in den Gewerkschaften mit dem „Jahr der Arbeitnehmerin“ (1972) und dem „Internationalen Jahr der Frau“ (1975) wuchs. Die Bundestagspräsidentin Annemarie Renger rief in dieser Zeit nach einer Frau, die den Gang vor Gericht wagte.

Ein solcher Schritt einer Einzelperson erschien den Frauen zu riskant. Als Betriebsrätin trug Grete Prill dazu bei, dass in Gelsenkirchen eine Gruppenklage zustande kam, in der die 29 Frauen eine dreimonatige Nachzahlung von außertariflichen Zulagen in gleicher Höhe wie die der Kollegen für sich forderten. Der Streitwert lag um 20.000 DM.  Auf dem langen Weg vom Prozess beim Arbeitsgericht Gelsenkirchen im Mai 1979 über den Termin beim Landesarbeitsgericht in Hamm im September 1979 bis zur Entscheidung vor dem Bundesarbeitsgericht in Kassel im September 1981 war Grete Prills Einsatz von besonderer Bedeutung.

Die Frauen sahen es von Anfang an als notwendig an, mithilfe ihrer Gewerkschaft in der Öffentlichkeit Unterstützung für ihr Anliegen zu finden. Das geschah zunächst im kommunalen Rahmen in Gelsenkirchen. Dort wurden sie von über 200 Personen demonstrativ zum Arbeitsgericht begleitet. Als der Arbeitgeber dort zur Nachzahlung verurteilt wurde, war der Jubel unbeschreiblich. Die Firma ging jedoch in Berufung zum Landesarbeitsgericht Hamm. Das Verfahren wurde nun überregional in Gewerkschaften, Parteien und in Frauengruppen durch Unterschriftenlisten bekannt gemacht, die zur Solidarität aufriefen. Nach Hamm wurden die „Heinze-Frauen“, wie sie inzwischen genannt wurden, schon von mehreren hundert Personen begleitet. Dort wurde gegen sie entschieden.

Trotz dieser Niederlage beschlossen sie, nicht aufzugeben und in die Revision zum Bundesarbeitsgericht in Kassel zu gehen, denn sie trauten sich zu, das absehbar lange Verfahren durchzustehen. Unterstützt wurden sie dabei durch Seminare der AG „Arbeit und Leben (DGB/VHS)“ Gelsenkirchen, bei denen sie sich austauschen und Mut machen konnten. Grete Prill war dabei eine wichtige Gesprächspartnerin. Ausgehend von den Tonbandmitschnitten dieser Gespräche entstand 1980 eine Dokumentation über den Prozess. Die wiederum regte die Ruhrfestspiele an, die Erfahrungen der Frauen zu einem 1980/81 mehrfach aufgeführten volkstümlichen Theaterstück mit dem Titel „Frauen sind keine Heinzelmänner“ zu verarbeiten. Die Zeitschrift „Brigitte“ ernannte sie 1980 zu den „Frauen des Jahres“. Im Sommer 1981 wurden Grete Prill zusammen mit anderen in einem feierlichem Rahmen von der Gewerkschaft mehr als 45.000 Unterschriften überreicht.

In Kassel organisierte die Gewerkschaft drei Tage vor dem Prozesstermin eine Solidaritätskundgebung, zu der über 6.000 Menschen kamen. Grete Prill und Angela Czybulski berichteten dort von dem Prozess und der erfahrenen Solidarität. Am 9. September 1981 bekamen die „Heinze-Frauen“ ihr Recht zugesprochen. Über dies Ergebnis berichteten alle großen Zeitungen, die Tagesschau und sogar die New York Times.

Danach reichten Grete Prill und weitere zwölf Frauen in Gelsenkirchen eine Folgeklage ein, in der sie die Nachzahlung der außertariflichen Zulage auch für die Jahre 1979-1982 forderten. Die Firma erklärte sich in einem Vergleich bereit, die geforderten rund 100.000 DM zu zahlen. Hierzu kam es aber nicht mehr, weil Foto–Heinze 1983 in Konkurs ging.
Im Rückblick schätzte Grete Prill die Jahre des Kampfes dennoch als Erfolg ein, weil er im Bewusstsein aller Klägerinnen und unzähliger Frauen den Anspruch auf Gleichberechtigung verankert hatte. In anderen Unternehmen, z.B. bei Schickedanz, Langnese, Horten, Karstadt, Adler, Belari und Roth, fühlten sich Frauen danach ermutigt, ebenfalls ihre Rechte auf dem Klageweg einzufordern.

Die große öffentliche Resonanz hat den Prozeß der „Heinze-Frauen“ gegen Lohndiskriminierung zu dem bekanntesten seiner Art gemacht.

Dr. Marianne Kaiser / Gelsenkirchen

Orte
Das Arbeitsgericht im Heinzefrauen-Prozeß 1979 war untergebracht im Hamburg-Mannheimer-Hochhaus in der Ahstraße. Am 8. März 2023 wurde gegenüber des Justizzentrums in Gelsenkirchen der „Platz der Heinze-Frauen“ eingeweiht.

Literatur:

Etablierung der Frauenbildungsarbeit in den achtziger Jahren – am Beispiel Gelsenkirchen, in: Orientieren und Gestalten in einer Welt der Umbrüche. Beiträge zur politischen und sozialen Bildung von Arbeit und Leben Nordrhein-Westfalen, hg. v. Franz-Josef Jelich/ Günter Schneider, Essen 1999, S. 161f.
Druck und Papier. Zentralorgan der Industriegewerkschaft Druck und Papier,Nr.15, Jg. 1981, S. 8.
Grete Prill, ehemalige Betriebsrätin bei Heinze, Gelsenkirchen, in: Zeitgenossinnen. Frauengeschichte(n) aus Nordrhein-Westfalen, hg. v. Ministerium für die Gleichstellung von Frau und Mann des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1996, S. 86-89.
"Wir wollen gleiche Löhne! Dokumente zum Kampf der 29 Heinze-Frauen", hg. v. Marianne Kaiser, Hamburg 1980.
"Wir wollen gleiche Löhne – keiner schiebt uns weg!" Schriftenreihe der IG Druck und Papier, Heft 34, hg. Industriegewerkschaft Druck und Papier. Hauptvorstand,  Stuttgart [o.J.], Schallplattenbooklett. 
Kaiser, Marianne,  Der Kampf der Heinze-Frauen um Lohngleichheit, in: Von Hexen, Engeln und anderen Kämpferinnen. Stadtrundgänge zur Frauengeschichte in Gelsenkirchen, Gelsenkirchen 2001, S. 55-59.

Zitation: Kaiser, Marianne, Grete Prill, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/grete-prill/

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Ilse Kibgis

Arbeit als Thema der Literatur verbinden viele Leser mit „Arbeiterliteratur“ oder „Arbeiterdichtung“ aus der Welt der Industrie-, Montan- und Bergarbeit, überwiegend geschrieben von männlichen Autoren. Die industrielle Arbeit bestimmte den Alltag der Frauen aber nicht minder. Die Sichtweise auf Frauenlyrik liest sich im Nachwort Josef Büschers (1918-1983) zu Wo Menschen wohnen 1977 so: „… gute Frauenlyrik besitzt nach wie vor Seltenheitswert. … Immer da, wo Ilse Kibgis … ruhrgebietsspezifisches Lebensgefühl darstellt und ausdeutet, erreicht sie in ihrer Aussagekraft ihre größte Präsenz und Bildhaftigkeit.“
So setzte sich trotz geringer Bildungsmöglichkeiten Ilse Kibgis auf ihre Weise literarisch mit der Arbeitswelt auseinander. Die Überlieferung aus ihrem Leben wird im Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt aufbewahrt. Sie gibt davon Zeugnis, wie die von der Autorin geschaffene Literatur zu deren eigener Emanzipation beitrug und gleichzeitig jenen eine Stimme verlieh, die aus eigener Kraft nur schwer Gehör fanden.

Ihr ganzes Leben verbrachte Ilse Kibgis in Gelsenkirchen. Sie wuchs mit zwei Brüdern in einer Arbeitersiedlung im Stadtteil Horst auf. Die Eltern, der Vater stammte aus Posen und arbeitete als Bergmann, pflegten trotz der beengten Verhältnisse kulturelle Interessen und erzogen ihre Kinder liberal. Die Mutter vermittelte den Kindern Märchen und Balladen, der Vater war als Sozialdemokrat politisch engagiert und liebte die klassische Musik, die er an einem selbstgebastelten Radio hören konnte.
Für die älteste Tochter bot sich nach der kriegsverpflichteten Arbeit nicht einmal die Chance, einen Lehrberuf zu ergreifen. Ihr Leben lang arbeitete sie in Anlernberufen oder als Putzfrau, wenn das Geld nicht für die eigene kleine Familie reichte. Ihre Leidenschaft gehörte aber schon als junges Mädchen dem Lesen, systematisch eignete sie sich die klassische Literatur an. Neben dem Lesen gestaltete sich bald auch das Schreiben zu einem Fluchtpunkt aus dem eintönigem Alltag, der ausschließlich Mühe und Pflichterfüllung bedeutete. Ihre Gedichte entstanden am Küchentisch und verschwanden lange in der Schublade, begleitet von einem schlechten Gewissen:  Und dann denk ich oft: Was könntste in der Zeit alles putzen.
Für mich war das, was ich geschrieben habe, Emanzipation. Man wurde ja immer kleingehalten, besonders wenn man Frau war. Und im Nationalsozialismus wurde man zum Jasager erzogen. Schreiben, das ist freiwerden von Zwängen. Da kann man etwas sagen mit Worten. Man weiß, man hat etwas aus seinem Leben gemacht. Ich habe mich oft als Mensch zweiter Klasse gefühlt, bis zu der Zeit, als ich anfing zu schreiben. Morgens habe ich ein Büro geputzt…keiner hat mich …beachtet. Am Abend… zur  einer Dichterlesung…die Herren, die morgens an mir vorbeigingen, empfingen mich als Dichterin. Jetzt fragen mich manche Freundinnen: Warum erzählst du das noch, dass du Putzfrau warst? …Aber warum sollte ich das verheimlichen? Es gehört beides zu mir, das Putzen und das Dichten.
Erst mit 47 Jahren wagte sie es, mit ihren Texten hervorzutreten. In dem Leiter der Literaturwerkstatt Gelsenkirchen, Josef Büscher, fand sie einen Mentor, der sie unterstützte und ihren Gedichten ein Publikum verschaffte.
1977 erschien der Gedichtband Wo Menschen wohnen, 1984 folgte Meine Stadt ist kein Knüller in Reisekatalogen, in zahlreiche Anthologien wurden ihre Gedichte aufgenommen. Sie erhielt das Literaturstipendium der Stadt Gelsenkirchen (1978), den Josef-Dietzgen-Literaturpreis (1983), das Arbeitstipendium des Landes NRW (1985), den Autorenpreis Forum Kohlenpott (1988).
Bis zu ihrem Tod im Dezember 2015 lebte Ilse Kibgis zurückgezogen in Gelsenkirchen-Horst.

Hanneliese Palm/ Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt

Ilse Kibgis, Näherin
Näherin
sie näht Reißverschlüsse
in Röcke
acht Stunden am Tag
schon acht Jahre lang

aneinandergereiht
ergäbe das
einen Reißverschluß
der die Welt
auf- und zuschlitzt

oder einen
der den Himmel öffnet

aber ihre Welt
sind die Häuser auf der
anderen Straßenseite
hundert Reißverschlüsse weit

und ihr Himmel
ist die weißgetünchte Decke
über ihrem Kopf

bis zur Altersrente
muß sie noch
zehn Jahre lang
Zehn-Zentimeter-Welten
aneinanderreihen

Danach steht ihr dann
die Welt offen

Orte:

Gelsenkirchen-Horst
Fritz-Hüser-Institut für deutsche und ausländische Arbeiterliteratur, Grubenweg 5, 44388 Dortmund

Literatur:

Büscher, Josef  (Hg.), Ilse Kibgis: Wo Menschen wohnen. 143 S., Wickenburg Verlag, Essen 1977.
Meine Stadt ist kein Knüller in Reisekatalogen: Gedichte / Ilse Kibgis. Ausw. u. Nachw. Walter Köpping, 176 S., Asso Verlag, Oberhausen 1984.
Der Vorlass im Fritz-Hüser-Institut umfasst Korrespondenzen, Veröffentlichungen und Rezensionen sowie die Mitschnitte von Lesungen. Es ist nur eine kleine Überlieferung, wie es nicht anders zu erwarten ist angesichts der von Ilse Kibgis gewählten literarischen Form und der wenigen Zeit, die der anstrengende Alltag ihr zum Schreiben übrig ließ.
Mitteilungen der Fritz-Hüser-Gesellschaft, 2016/1, S. 3.

Zitation: , Ilse Kibgis, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/ilse-kibgis/

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Anna von Palandt

Obwohl Anna von Palandt vor über 450 Jahren lebte, können wir uns auch heute noch einen sehr lebendigen Eindruck vom Aussehen dieser niederadligen Frau der Renaissance verschaffen. Ermöglicht wird das durch ein Porträt des 16. Jahrhunderts, das sie uns in nahezu fotografischer Präzision als Gattin ihres Ehemanns Rutger von der Horst darstellt. Das Gemälde ist Teil eines Eheporträts, das aus zwei einzelnen, gleich großen Bildern besteht, die in der Bildgestaltung und im Bildaufbau aufeinander bezogen sind. Bemerkenswert ist die detaillierte Wiedergabe der individuellen Gesichtszüge und der Hände, die durch den dunklen Hintergrund deutlich hervorgehoben werden. Diese Art der Persönlichkeitsdarstellung weist das Ehepaar als Menschen der Renaissance aus. Ohne Frage handelt es sich dabei um eine inszenierte Selbstdarstellung, die Rückschlüsse auf die Erbauer des Schlosses Horst zulassen.
Schon auf den ersten Blick ist die gleichberechtigte Darstellung beider Personen augenfällig. Hier begegnen sich zwei Individuen, die aber doch in ihrer ganzen (Körper-)Haltung und Erscheinung miteinander verbunden sind. Kleidung und Schmuck weisen bei beiden gleichermaßen auf einen gediegenen Wohlstand hin. Bei Anna von Palandt lassen ein schwarzes Oberkleid aus Goldbrokat mit Spitzenbesätzen sowie wertvoller Schmuck auf eine selbstbewusste adlige Haltung schließen. Es tritt uns eine Frau entgegen, die sich ihrer Wirkung und ihrem Anspruch sehr sicher ist und die nicht nur auf dem Eheporträt, sondern auch im Leben, ihrem Mann zur Seite gestanden haben dürfte. Dieser Eindruck wird durch die Bildinschrift unterstützt, die sie als „(…)Fraw zur Horst / Marschalckin (…)“ ausweist.
Anna von Palandt zu Zelm und Issum entstammte einem niederrheinischen landsässigen Adelsgeschlecht. Annas Vater, Elbert von Palandt, war seit 1533 Erbmarschall, die Mutter, Elisabeth von der Horst, war die Tochter und Erbin des klevischen Erbmarschalls Wilhelm von der Horst und Belia von der Loe. Dass zumindest die Mutter vermögend war, geht unter anderem aus dem Testament hervor, das sie verfügte. Ihr Schwiegersohn erhielt 500 Goldgulden und weitere 500 Goldgulden sollten an den Enkelsohn Johan aus der zweiten Ehe Annas gegeben werden. Der eigenen Tochter hinterließ sie Kleider und Kleinodien. Besonders erwähnt wurden ein Bändchen mit Perlen und Steinen und ein Engelchen mit Steinen. Das waren anscheinend Gegenstände mit hohem (Erinnerungs-)Wert. Anna von Palandt kam also aus einer Familie von hohen Amtsträgern, die sich ihrer Stellung durchaus bewusst waren.
Das genaue Geburtsdatum Anna von Palandts ist uns nicht überliefert und kann nur durch die Eheschließung der Eltern und ihrer eigenen ersten Eheschließung gefolgert werden. Damit scheint sie in den Jahren zwischen 1508 und 1516 geboren zu sein. Auch ist über ihre Kindheit und Jugend nichts bekannt. Es darf aber angenommen werden, dass sie eine frühe Ausbildung in Lesen und Schreiben erhielt. Das war für adlige Frauen durchaus selbstverständlich. Vermutlich wird sie zunächst zusammen mit ihren beiden Brüdern bei einem Hauslehrer unterrichtet worden sein. Für die Jungen war es anschließend üblich, eine Lateinschule und später eine Universität zu besuchen. Für die Mädchen war ein Aufenthalt bei Verwandten üblich, um dort auf ihre zukünftigen Aufgaben vorbereitet zu werden. Dazu gehörten alle Bereiche, um ein herrschaftliches Haus zu führen: etwa Verwaltungsaufgaben wie die Erstellung eines Inventars zur Überprüfung des Besitzstandes oder die Kontrolle der Haushaltsgelder. Auch die Kontrolle des Haushaltes gehörte dazu. Neben den haushalttypischen Aufgaben musste auch die Aufsicht über das weibliche Hofpersonal gewährleistet werden. Zu all diesen Aufgaben gehörten selbstverständlich auch die der Repräsentation dazu.
Erst der Heiratsvertrag mit Heinrich von Wylich vom 4. März 1532 lässt Anna von Palandt aus dem Dunkel der Geschichte treten. In diesem Vertrag wurde zum einen die Höhe ihrer Mitgift auf 4.500 rheinische Goldgulden festgeschrieben und zum anderen die Zahlungsmodalitäten geregelt. Am gleichen Tag wurde ein Zusatzvertrag zwischen dem Ehemann Heinrich von Wylich und dem Vater der Braut, Elbert von Palandt, aufgesetzt. In diesem verzichtete Anna von Palandt sowohl auf den väterlichen und mütterlichen Erbteil als auch auf den zu erwartenden Erbteil der Großmutter Belia von der Loe. Am 16. März 1534 wurde die Leibzucht (Witwenunterhalt) Anna von Palandts vertraglich geregelt, falls sie ihren Ehemann Henrich von Wylich kinderlos überleben würde. Durch ihre Ehe mit Henrich von Wylich besaß sie Güter zu Rossau, Aspel und Ostendorf bei Haldern bei Rees. Aus dieser zehn Jahre dauernden Ehe gingen insgesamt fünf Kinder hervor: Johann, Wilhelm, Gertrud, Sybilla und Hendrina/Henrica. Sie sind zwischen 1533 und 1542 geboren. Ihr Mann Henrich von Wylich verstarb vermutlich vor dem Jahr 1543. Wo Anna von Palandt anschließend ihre Witwenzeit verbrachte, ist ebenfalls nicht überliefert.
In den Jahren zwischen 1547 und 1549 hat vermutlich ihre zweite Ehe mit Rütger von der Horst ihren Anfang genommen. Es ist nicht bekannt, wie es zur Heirat kam und wann diese stattfand. Auch ein Ehevertrag mit Rutger von der Horst und die Regelung einer Leibzucht ist nicht überliefert. Zwei gemeinsame Kinder, Johan und Margarethe, stammten aus dieser Ehe. Der Junge muss zwischen 1547/49 und 1554 geboren sein und seine Schwester Margarethe vor 1555. Zumindest eines der Stiefkinder wuchs auf Schloss Horst auf.

Dass diese zweite Ehe auch im Einverständnis mit der elterlichen Familie Anna von Palandts geschlossen worden sein muss, zeigt das bereits schon erwähnte Testament von Annas Mutter, Elisabeth von der Horst. Der Teil des mütterlichen Erbes, den sie ihrem Schwiegersohn zuerkannt hatte, scheint Rütger von der Horst zumindest in Teilen für Wiederherstellungsarbeiten an der Horster Burg verwandt zu haben. Auch dass sie dem gemeinsamen Sohn von Anna und Rütger das weitere Erbteil zusprach, spricht für eine Zustimmung zur zweiten Eheschließung.
Aus dieser zweiten Ehe stammt das wichtigste Erbe Anna von Palandts: das heute nur noch in Teilen erhaltene Renaissanceschloss Horst. Man kann davon ausgehen, dass sie dem Bau des Hauses nicht nur zugestimmt, sondern auch tatkräftig mit finanziellen Mitteln und eigener Initiative unterstützt hat. Dies geht aus den so genannten Bautagebüchern hervor, die Rütger von der Horst als Vertrags- und Abrechnungsbücher in den Jahren zwischen 1553 und 1573 führte. Hier ist immer wieder dokumentiert, dass Anna von Palandt auf der Horster Schlossbaustelle kontinuierlich Handwerker, Lieferanten oder Taglöhner bezahlte. „Hyrup myn Husfrowe ynen gegeven j. gl. rh.“ Mit immer ähnlichem Wortlaut vermerkte Rütger die Zahlungen. Seine Frau nennt er stets„myne husfrawe“. Ganz offensichtlich handelte Anna von Palandt selbständig und befugt. Gelder auszahlen und auch Leistungen auf dem„Kerffstock“ – dem Kerbholz – zu quittieren, lassen auf ein aktives Handeln an der Schlossbaustelle schließen. Weiterhin hat sie zusammen mit ihrem Ehemann dem Kaufmann Alff von Devesse einen Kredit in Höhe von 150 Talern gewährt. An dieser Stelle wird ihre finanzielle Unterstützung kenntlich.
Anna von Palandt war am Bau des neuen Schlosses unmittelbar beteiligt. Dass dies für eine Frau in ihrer Stellung nicht so ungewöhnlich war, zeigt vielleicht auch die Haltung ihrer Mutter, die bereits das„Haus zu Huessen unter großen Kosten hat herrichten lassen“.
Drei Jahre nach dem Tod ihres zweiten Mannes verstarb Anna von Palandt im Jahre 1585.
Trotz der vergleichsweise dünnen Überlieferung vermittelt das Leben Anna von Palandts einen Eindruck von den Aufgaben und Handlungshorizonten einer Adeligen zur Zeit der Renaissance. Zwei Ehen und die Geburt zahlreicher Kinder sprechen von einem bewegten Leben. Gemeinsam mit ihrem zweiten Ehemann verwirklichte sie mit dem Bau des Schlosses Horst den Repräsentationswunsch einer aufstrebenden Adelsfamilie der Renaissancezeit.

Dörte Rotthauwe/ Schloss Horst

Orte:

Schloss Horst, Turfstraße 21, 45899 Gelsenkirchen

Literatur:

Gonska, Klaus: Dat Hueß zor Horst: die Adelsfamilie von der Horst im Emscherbruch und ihre Erben im 16. und 17. Jahrhundert (Materialien zur Kunst- und Kulturgeschichte in Nord- und Westdeutschland, Bd. 10), Marburg 1994, hier vor allem S. 46-60.
Kollbach, Claudia: Aufwachsen bei Hof: Aufklärung und fürstliche Erziehung in Hessen und Baden (Campus Historische Studien, Bd. 48), Frankfurt/Main, New York 2009.
Alshut, Elmar/Peine, Hans-Werner: Schloß Horst in Gelsenkirchen (Burgen, Schlösser und Wehrbauten in Mitteleuropa, Bd. 15), Regensburg 2006,
Peine, Hans-Werner/Kneppe, Cornelia: Haus Horst im Emscherbruch, Stadt Gelsenkirchen (Frühe Burgen in Westfalen, Heft 21), Münster 2004.
Klapheck, Richard: Die Meister von Schloß Horst im Broiche: das Schlusskapitel zur Geschichte der Schule von Calcar (Westfälische Kommission für Heimatschutz, Bd. 2), Berlin 1915.
Wunder, Heide: Herrschaft und öffentliches Handeln von Frauen in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Ute Gerhard (Hrsg.): Frauen in der Geschichte des Rechts: von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 27-54.

Zitation: , Anna von Palandt, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/anna-von-palandt/

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Maria Niggemeyer

Kurt Georg Kiesinger fuhr im repräsentativen Fahrzeug vor, Maria Niggemeyer kam mit Ehemann und Sekretärin im Volkswagen in die Villa Hammerschmidt. In Anwesenheit des Bundeskanzlers und des Bundestagspräsidenten verlieh Bundespräsident Heuss am 7. September 1956 zum 7. Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik Deutschland das Große Verdienstkreuz mit Stern an verdiente Politiker. Der Hellweger Anzeiger schickte einen Spezialkorrespondenten nach Bonn, um direkt von der Zeremonie zu berichten, in der mit Maria Niggemeyer aus Bönen eine renommierte Kommunal-, Kreistags- und Bundestagspolitikerin geehrt wurde.

Maria Niggemeyer, in Münster als Maria Keuper geboren, ging 1907 nach ihrem Examen am Katholischen Lehrerinnenseminar als Volksschullehrerin nach Gronau. Hier kandidierte sie 1919 bei der ersten für Frauen zugänglichen Wahl für das Gronauer Stadtparlament und zog als erste weibliche Abgeordnete für das Zentrum in den Rat der Stadt ein. Zusammen mit ihrem Mann Heinrich Niggemeyer kam sie 1920 nach Werne. 1928 zog das Ehepaar nach Bönen um, wo Heinrich Niggemeyer in der chemischen Abteilung eines Bergwerks in leitender Postition tätig war. Maria Niggemeyer setzte ihr kommunalpolitisches Engagement in der Gemeindevertretung von Altenbögge-Bönen, in der Amtsvertretung Pelkum und im Kreistag zu Unna fort. Maria Niggemeier, seit 1934 auch Vorsitzende des Katholischen Fürsorgevereins für Mädchen, Frauen und Kinder im Landkreis Unna, entwickelte sich zu einer Sozialexpertin, die das als „weich“ abgewertete Sozialressort in Zeiten von Krieg, Zusammenbruch und Wiederaufbau als hartes Politikfeld gestaltete.

Trotz Behinderungen durch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt und die Nationalsozialistische Arbeiterpartei führte Maria Niggemeyer ihre christlich motivierte karitative Arbeit während des „Dritten Reiches“ weiter. Sie war fassungslos, als der sozialdemokratische Ortsbürgermeister 1946 ihre Arbeit als Vertreterin der Caritas im Flüchtlingslager Altenbögge zu verhindern suchte, zu sehr erinnerten sie das politische Machtgebaren, die persönlichen Angriffe, perfiden Verleumdungen und Verbote an Methoden aus der Zeit des Nationalsozialismus. Sie setzte sich unter Vermittlung des Landrates sowie mit politischer Unterstützung der katholischen Kirche und der CDU, die sie im Kreis Unna mitbegründet hatte, durch.

Am 29. Mai 1947 gehörte Maria Niggemeyer zusammen mit Elisabeth Zillken, Victoria Steinbiss und Dr. Luise Rehling  zu den Gründerinnen des Frauenausschusses der CDU in der Provinz Westfalen, dem Vorläufer der heutigen Frauen Union. Zentrales Anliegen des Ausschusses war in der direkten Nachkriegszeit die Sicherung der Ernährungslage, die verstärkte Einbindung von Frauen in Partei und Politik sowie die Beendigung der Demontage-Politik. Als Sozialpolitikerin war Niggemeyer auch 1948/49 Mitglied des 2. Wirtschaftsrates, dessen Vertreter und Vertreterinnen von den Länderparlamenten gewählt, im Spannungsverhältnis von außerpolitischen Interessen der West-Alliierten und Kaltem Krieg die Aufgabe zu bewältigen hatten, in der Bi-Zone ein „Gleichgewicht des Mangels“ zu organisieren, um den völligen Zusammenbruch zu verhindern. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen die Lebensmittelversorgung, die Kohleförderung und der Aufbau eines funktionierenden Transportsystems, Politikfelder, in die Maria Niggemeyer ihre eigenen Erfahrungen mit den Zechenstandorten im Kreis Unna einbringen konnte.

1949, 1953 und 1957 in den Bundestag gewählt und seit 1953 Mitglied, später Vorsitzende des Ausschusses für öffentliche Fürsorge, war sie an der Sozialgesetzgebung der Bundesrepublik maßgeblich beteiligt. 1950 brachte sie einen Antrag in den Bundestag ein, sich bei den Hohen Kommissaren für eine Produktionserlaubnis des Chemischen Werkes in Bergkamen einzusetzen. Während des Nationalsozialismus als kriegswichtige Anlage zur Kraftstoffgewinnung aus Kohle ausgebaut, von den Alliierten zerstört und nach 1945 mit werkseigenen Mitteln und Geldern der Militärregierung wieder aufgebaut, stand nun eine Demontage des Betriebes zur Diskussion, obwohl das Werk auf Grundlage eines eigens entwickelten Gasentgiftungsverfahren eine Betriebsgenehmigung beantragt hatte, die den alliierten Bestimmungen entsprach. Während die Redner in der Debatte auf die Bedeutung Bergkamens für die Ferngasversorgung des Ruhrgebiets und den wirtschaftspolitischen Stellenwert einer nationalen Gas-, Parafin- und Lösungsmittelproduktion abhoben, erinnerte Maria Niggemeyer daran, dass das Werk auch mehreren hundert Frauen Arbeitsplätze bot, die durch den Krieg und durch das Grubenunglück von 1946 zu Witwen und Alleinversorgerinnen ihrer Restfamilie geworden waren. 1944 waren bei einer Schlagwetterexplosion auf Schacht Grimberg III/IV 107 Bergleute, darunter viele russische Zwangsarbeiter, ums Leben gekommen. 1946 ereignete sich unter dem wirtschaftspolitischen Druck einer Steigerung der Kohleförderung kurz nach Beendigung des Krieges ein noch gewaltigeres Grubenunglück: 405 Bergleute verloren auf Grimberg ihr Leben. Unter dem Einruck der realen Lebensverhältnisse stellte Maria Niggemeyer im Hohen Hause einen Zusammenhang her zwischen getrennten politischen Sachbereichen – dem Politischen und dem Privaten: dem Wiederaufbau der Bundesrepublik, den Möglichkeiten des Gemeinwesens Bergkamen und der Notsituation vieler Frauen.

Dass sich hier eine Politikerin der CDU für außerhäusliche Frauenerwerbsarbeit aussprach, während die Partei gleichzeitig Frauen massiv auf die Familie zurückzuverweisen suchte, erscheint nur auf den ersten Blick widersprüchlich. 1950 bestimmte noch die Zusammenbruchgesellschaft, der durchlittene Hungerwinter 1946/47 und die konkreten Alltagsprobleme der Menschen die Realpolitik. Die Frauen in der Union, viele von ihnen als Fürsorgerin und Lehrerin berufstätig und zum Teil selber Alleinverdienerin ihrer Restfamilie, entwickelten mit der Figur des zeitlich begrenzten „Notmotivs“ für außerhäusliche Erwerbsarbeit von Frauen eine politische Argumentationsstrategie, die an den Lebensrealitäten der Frauen ansetzte, ohne mit der familienpolitischen Parteilinie der Frau als „Herz der Familie“ zu kollidieren.

Dr. Uta C. Schmidt / frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Bis zum Umzug nach Unna im Jahre 1957 lebte Maria Niggemeyer in Altenbögge-Bönen in der alten "Rexeschule", im Volksmund auch "Haus Niggemeyer" genannt, früher Bismarckstraße 33, heute Bahnhofstraße 78.
Kreishaus Unna, Friedrich-Ebert-Straße 17, 59435 Unna

Literatur:

Börste, Josef/ Schmidt, Uta C., "Sie ist eine stattliche Erscheinung ...". Maria Niggemeyer - eine große alte Dame der Politik, in: Kreis Unna/ der Landrat (Hg.), Jahrbuch des Kreises Unna 2011, S. 73-88.
Dreßel, Klaus-Peter: Denkanstöße durch "Weiberröcke", hg. v. Stadt Bergkamen/ Der Stadtdirektor/ VHS-Geschichtswerkstatt, [Bergkamen], [o.J.], S. 29f.

Zitation: Schmidt, Uta C., Maria Niggemeyer, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/maria-niggemeyer/

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Anna Schornfeld

Das Vest Recklinghausen gilt im Ruhr-Lippe Raum als Hochburg der Hexenverfolgungen. Die aktuelle Forschung erklärt diesen Befund in regionalgeschichtlich vergleichender Perspektive mit spezifischen politischen Konstellationen im Kontext von religiösen, mentalen und klimatischen Krisenerfahrungen.
Nach der nachweislichen Verbrennung von drei „Wetterhexen“ im Jahre 1529 setzte in den Jahren 1580/81 eine Prozesswelle größeren Umfangs ein, bei der wenigstens 54 Frauen und Männer in ein Untersuchungsverfahren involviert waren. Für 44 von ihnen ist die Verbrennung auf dem Scheiterhaufen belegt. Das Jahr 1543 brachte einen einzelnen Prozess, bei dem ein nicht namentlich genanntes „megdeken“ auf den Scheiterhaufen geschickt wurde. Eine zweite Verfolgungswelle verzeichnen die Stadtrechnungen in den Jahren 1588 bis 1595: Mindestens 45 Personen wurden der „toverie“ – der Hexerei – beschuldigt. 21 von ihnen erlitten den Henkerstod, zwei starben in der Haft und eine „zaubersche“ durch Selbstmord; das Schicksal der übrigen Angeklagten blieb undokumentiert. Am 15. Juli 1628 gestand die achtzigjährige Anna Koppers den Umgang mit dem Teufel in verschiedener Gestalt, das Feiern von wilden Festen, den Besitz von Hexensalbe sowie die Verleugnung Gottes und der Heiligen. Am 21. Juli wurde sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Im Jahre 1650 ereilte Anna Schornfeld, genannt Plumpe, aus Hochlar auf dem Scheiterhaufen das gleiche Schicksal. Zuvor hatte sie ihre Tochter Trine Plumpe als Hexe denunziert. Diese jedoch widerstand in beeindruckender Weise mehrfacher Folterung und gestand die ihr zu Last gelegten Verbrechen nicht, so dass sie nicht zum Tode verurteilt werden konnte. Sie wurde an den Pranger gestellt.  Ein Prozess im Jahre 1652 gegen Grete Rumps aus Waltrop endete mit einer Verurteilung zur Ausstreichung mit Ruten und anschließender Verbannung.

Die Hexenprozesse verliefen nach einem stereotypen Muster: Die meisten Opfer gerieten durch Denunziation oder durch „Besagung“ in die Mühlen der Justiz. In den häufig von Nachbarn oder Familienangehörigen vorgebrachten Anzeigen spiegelten sich individuelle und lokale Konflikte, zugleich zeugen die Denunziationen von einer tiefen Verwurzelung des Hexenglaubens in der Lebenswelt aller sozialer Schichten. Die Denunziation führte zur Gefangennahme, wenn zusätzliche Indizien den Verdacht auf Zauberei erhärteten. Der Verhaftung folgte gewöhnlich die Wasserprobe: Mit gefesselten Händen und Füssen warf der Scharfrichter die Angeklagten auf das Wasser,„flossen“ die Beschuldigten „wie eine Gans“, galten sie als schuldig, gingen sie unter als unschuldig. Wie Hinrichtungen wurden diese Wasserproben als öffentliche Spektakel inszeniert. Da jedoch niemand ohne Geständnis verurteilt werden durfte, schritt die Obrigkeit anschließend zur Folter, die nach einem Regelwerk ablief. Sie brachte unvorstellbare körperliche Qualen mit sich. Spätestens beim „Aufziehen“, oft schon beim Zeigen der Folterwerkzeuge schwand der Widerstand der Angeklagten dahin und sie bekundeten in immer gleichen Geschichten, wie sie Hexentanzplätze aufgesucht, eine Buhlschaft mit dem Teufel eingegangen und ihren Schadenszauber angebracht hatten. Die protokollierten stereotypen, gleichwohl detailreichen Beschreibungen zeigen, wie tief sich die Hexenmuster der gelehrten Literatur im mentalen Haushalt der gesamten Bevölkerung eingeschrieben hatten. Als Medium dieses Formierungsprozesses fungierte dabei die Geistlichkeit, die von den Kanzeln offensiv zum Kampf gegen die Hexerei aufrief.
Nicht alle Verurteilungen endeten mit einer Hinrichtung durch den Strang und anschließender Verbrennung „zu Pulver“ wie bei Anna Schornfeld im Jahre 1650. Auspeitschung, Pranger und Verbannung waren, wie bei ihrer Tochter Trine Plumpe, weitere vorgesehene Bestrafungspraxen: Doch sie bedeuteten den sozialen Tod.
In den Jahren um 1580 sind für den Ruhr-Lippe-Raum Pestwellen bezeugt. Es gibt Hinweise auf große Getreideknappheit. Für die frühneuzeitliche Gesellschaft bildeten diese Unglücke typische Anlässe für die Suche nach „Urhebern“ und für Forderungen nach Bestrafung. Die Obrigkeit im Vest suchte angesichts zunehmender Zaubereianschuldigungen den Austausch mit dem Rat der Stadt Essen in Verfahrensfragen.

Ab 1588 ist eine große Prozesswelle belegt. Das Vest Recklinghausen gehörte zum kurkölnischen Territorienverband und litt unter dem niederländisch-spanischen sowie unter dem Kölnischen Krieg. Recht deutlich lässt sich nachvollziehen, dass der in Dorsten amtierende Stadtrichter Vinzenz Rensing sich in dieser Zeit als entschiedener Parteigänger des kölnischen Kurfürsten gegen reformatorische Einflüsse zu empfehlen versuchte. Es liegt zumindest sehr nahe, dass seiner harten politischen Hand nicht nur Überzeugungsmotive, sondern auch nicht ganz uneigennützige Gesichtspunke zugrunde lagen. Die Abhaltung von Hexenprozessen bot dem noch relativ jungen, 33-jährigen Richter eine besondere Chance: In einer Zeit, in der sich politische Loyalität über konfessionelle Parteinahme äußerte, reagierte er mit äußerster Härte auf eine vermeintliche Infragestellung der öffentlichen Ordnung durch gottlose Zauberer und Hexen. Er setzte die Verfahren in Gang und leitete sie an, er entschied, um welchen Preis weitere Ausforschungen betrieben werden sollten. So bestimmte er definitiv mit, wie weit die Prozesse um sich griffen. Durch die öffentliche Vernichtung von vermeintlichen Störelementen in seinem Herrschaftsbereich disziplinierte er die regionalen Obrigkeiten und die Bevölkerung insgesamt und versuchte, landesherrliche Macht durch seinen Einfluss auf städtische Gerichtsbarkeiten auszudehnen. Er arbeitete über die Hexenprozesse auf seinen späteren Aufstieg zum ersten nichtadeligen Statthalter des Vests hin.

Nach diesen beiden Prozesswellen des späten 16. Jahrhunderts lassen sich nur noch einzelne Prozesse, wie der gegen Anna Schorfeld, nachweisen. Zwar forderte die Bevölkerung immer wieder vehement die Verfolgung von Zauberern und Hexen, doch die obrigkeitliche Bereitschaft, ihnen nachzugehen, war zur Zeit des Kurfürsten Ferdinand von Wittelsbach und seinem Nachfolger eher schwach, obwohl im rheinischen Kurfürstentum Köln gerade im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts die größte Prozesswelle mit etwa 1.000 Toten belegt ist. Dies macht deutlich, dass die Hexenverfolgungen in einer komplizierten Gemengelage von territorialen und lokalen Interessen abliefen. Hohe Landes- wie kleinere adelige oder bürgerliche Obrigkeiten entwickelten Strategien der Justiznutzung, um eigene politischen Interessen durchzusetzen. Auch die lokalen Kräfte waren nicht homogen, der Verfolgungswille von unten musste mit einer Verfolgungsbereitschaft von oben zusammentreffen.„Hexenverfolgungen“ erfordern deshalb eine mikrohistorische Analyse als Konfliktfeld innerhalb lokaler Machtgefüge und Netzwerke.

Uta C. Schmidt / FRAUEN.ruhr.GESCHICHTE.

Orte:

Einkerkerung im „Quadenturm“, an der Stelle des heutigen Feuerwehrdepots
und im „Bischoff“, Ecke Schaumburgerstraße/ Kaiserwall
Wasserprobe auf dem Bredendyck zwischen dem Loh- und Martinitor

Literatur:

Gersmann, Gudrun,„Toverie halber …“. Zur Geschichte der Hexenverfolgungen im Vest Recklinghausen. Ein Überblick, in: Vestische Zeitschrift 92/93 (1993/94), S. 7-43.
Gersmann, Gudrun, Auf den Spuren der Opfer – Zur Rekonstruktion weiblichen Alltags unter dem Eindruck frühneuzeitlicher Hexenverfolgung, in: Lundt, Bea (Hg.). Vergessene Frauen an der Ruhr. Von Herrscherinnen und Hörigen, Hausfrauen und Hexen, Köln/ Weimar/ Wien 1992, S. 243-272.
Fuchs, Ralf-Peter, Hexenverfolgungen an Ruhr und Lippe. Die Nutzung der Justiz durch Herren und Untertanen, Münster 2004.
Labouvie, Eva, Zauberei und Hexenwerk. Ländlicher Hexenglaube in der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1991.
http://www.historicum.net/themen/hexenforschung/

Zitation: , Anna Schornfeld, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/anna-schornfeld/

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Mathilde Franziska Anneke

Geboren in der westfälischen Landgemeinde Hiddinghausen, heute ein Ortsteil der Stadt Sprockhövel, wuchs Mathilde Franziska Anneke in einem toleranten, aufgeklärten preußisch-westfälischen Elternhaus in Hattingen auf. Ihre erste Ehe scheiterte nach kurzer Zeit. Um den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter zu bestreiten, veröffentlichte sie als Schriftstellerin zunächst religiöse Erbauungsliteratur. Doch persönliche Erfahrungen und die politische wie soziale Situation im deutschen Vormärz ließen sie zunehmend zu einer radikalen Kritikerin der Kirche, der Monarchie und des preußischen Staates werden. Sie schloss sich dem Demokratischen Verein in Münster um Friedrich Hammacher und Fritz Anneke an. In ihrem Salon traf sich regelmäßig ein Kreis politischer Aktivisten und Aktivistinnen, was ihr seitens der Verfolgungsbehörden den Beinamen „Communistenmutter“ einbrachte.

Auf ihre Initiative erschien ab dem 10. September 1848 die für die demokratische Öffentlichkeit bedeutsame Neue Kölnische Zeitung. Gerade von einem Sohn entbunden betreute sie die Zeitung in der Anfangsphase auch redaktionell und verlegerisch, da Fritz Anneke, mit dem sie mittlerweile verheiratet war, von Juli bis Dezember 1848 inhaftiert war. Als mit der Verhängung des Belagerungszustandes über Köln die Neue Kölnische Zeitung verboten wurde, führte Mathilde Franziska Anneke das Blatt unter dem Namen Frauen-Zeitung fort: die dritte Ausgabe wurde bereits vor der Auslieferung verboten. Auch scheint sie die treibende Kraft zur Gründung des Kölner Arbeitervereins gewesen zu sein, einem der Kristallisationspunkte der 1848er Revolution im Rheinland. Als Frau durfte sie ihm jedoch nicht als Mitglied angehören.

Sie folgte ihrem Mann in den badisch-pfälzischen Aufstand, an dem sie sich auch aktiv beteiligte. Die Niederwerfung des Aufstandes durch preußische Truppen machte eine Rückkehr nach Köln unmöglich. Die Annekes konnten nach Straßburg fliehen. Über die Schweiz emigrierten sie in die USA und ließen sich in Wisconsin nieder, dem Staat, in dem die meisten deutschen Auswanderer lebten und auch die sogenannten „Forty-eighters“ ein Netzwerk bildeten. Sie hielt Vorträge über die Ereignisse der 1848er Revolution und nahm bald Kontakt zur amerikanischen Frauenbewegung auf. Bereits im März 1852 erschien die erste Ausgabe der von ihr gegründeten Deutschen Frauen-Zeitung. Dies ist die erste feministische Zeitung, die von einer Frau in eigener Regie auf amerikanischen Boden publiziert und vertrieben wurde. 1869 wurde sie Vizepräsidentin der National Women`s Suffrage Association. Im Juni 1880 nahm sie noch am großen Kongress dieser Frauen-Wahlrechts-Bewegung teil.

Der Start in den USA verlief für die politischen Emigranten zunächst vielversprechend: Fünf Kinder wurden geboren, zwei starben früh. Im Frühjahr 1858 raffte eine Pockenepidemie zwei weitere Kinder hinweg, ein Schicksalsschlag, von dem sich Mathilde Franziska Anneke nicht wieder erholen konnte. Auch die Ehe litt unter diesem Schmerz, zumal sich ein familiäres Leben durch die Persönlichkeitsstruktur Fritz Annekes insgesamt schwierig gestaltete. Mathilde Franziska Anneke hielt die Familie mit politischem Journalismus mehr recht als schlecht über Wasser. Noch einmal kehrte sie mit ihrem Mann und den Kindern in die Alte Welt zurück, entschied sich dann jedoch für eine endgültige Rückkehr in die USA – Allein zum besten der Kinder, die nicht wie die Mutter den Fluch der Heimatlosigkeit tragen sollen…

Mit der Pädagogin Cäcilie Knapp gründete Mathilde Franziska Anneke in Milwaukee eine deutsche Mädchenschule im erfahrungsgesättigten Bewusstsein darum, dass Frauen als Persönlichkeit gestärkt und für eine Berufsausübung ausgebildet werden müssen. Ihre existentiellen Sorgen blieben weiterhin bestehen. Erst im letzten Lebensjahrzehnt sicherte der mittlerweile erstklassige Ruf der Schule auch finanziell ihr Auskommen. Selbst aus entlegenen Gegenden der USA wurden Mädchen in ihre Schule geschickt.

1872 verunglückte Fritz Anneke in Chicago tödlich. Obwohl sich das Ehepaar getrennt hatte, war der Kontakt stets aufrechterhalten worden. 1876 verlor Mathilde Franziska Anneke durch eine Blutvergiftung den Gebrauch ihrer rechten Hand, die Tochter Herta wurde nun zu ihrer unentbehrlichen Hilfe. 1877 starb Mathildes älteste Tochter Fanny 40jährig an Brustkrebs. Alleinerziehend hinterließ sie vier kleine Kinder. Am 25. November 1884 starb auch Mathilde Franziska Anneke.

Eine große Zahl an Nachrufen in der deutsch- und englischsprachigen Presse bezeugen die Wertschätzung, die sie erfuhr. Die amerikanische Frauenbewegung zählt Anneke zu ihren frühesten und aktivsten Kämpferinnen.„Ich glaube, ich habe auf dieser Erde schon viele Leben ausgelebt“, schrieb sie einmal: Tochter aus gutem Hause, hungernde Poetin, revolutionäre Journalistin, politisch verfolgte Asylantin, eine Ehefrau, die einem unsteten Mann folgte und an ihm litt, eine Mutter, die sieben Kinder gebar und fünf von ihnen begraben musste, Pädagogin, frühe Feministin und Sozialistin, Pionierin der deutschen und amerikanischen Frauenbewegung. Annekes Freundin, Cäcilie Knapp, fasste dies in einem Geburtstagsbrief so zusammen:„ … alle Leiden und Freuden eines Frauenlebens – alle Begeisterung, allen seligen Taumel und Jubel eines Freiheitshelden – die gewöhnliche Neigung von Sterblichen und höchst ungewöhnliche – Alles, alles hast Du genossen.“

Karin Hockamp / Stadtarchiv Sprockhövel

Orte:

Geburtshaus Annekes, Wittener Straße 245, 45549 Sprockhövel 
Wohnhaus Annekes von 1821-1836, Blankenstein, Burgwall 12, 45527 Hattingen

Literatur:

Hockamp, Karin, Von vielem Geist und großer Herzensgüte. Mathilde Franziska Anneke (1817-1884), hg. v. d. Volkshochschule Hattingen und dem Stadtarchiv Sprockhövel, Hattingen 1999.
Schnelling-Reinicke, Ingeborg, Mathilde Franziska Anneke (1817-1884), in: Dascher, Ottfried/ Kleinertz, Everhard (Hg.), Petitionen und Barrikaden. Rheinische Revolutionen 1848/49, Münster 1998, S. 299-302.
Schnelling- Reinicke, Ingeborg, Frauen in der Revolution – Revolution der Frauen –, in: Dascher, Ottfried/ Kleinertz, Everhard (Hg.), Petitionen und Barrikaden. Rheinische Revolutionen 1848/49, Münster 1998, S.296-299.
Wagner, Maria, Mathilde Franziska Anneke in Selbstzeugnissen und Dokumenten, Frankfurt 1980.
Ruben, Regina, Mathilde Franziska Anneke, die erste große Verfechterin des Frauenstimmrechts, Hamburg [ca. 1905].

Zitation: Hockamp, Karin, Mathilde Franziska Anneke, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/mathilde-franziska-anneke/

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Herrin von Asseln

Aus Funden und Befunden eines merowingerzeitlichen Friedhofs konnte die Stadtarchäologie von Dortmund mit detektivischem Spürsinn und naturwissenschaftlichen Untersuchungen das Leben und die Kontakte einer am Hellweg lebenden, führenden Familie samt Gefolgschaft wieder erstehen lassen: Der zwischen 40 und 50 Jahren verstorbene Mann wurde mit seinem zweischneidigen Langschwert, der Spatha, bestattet. Die gleichaltrige Gattin trug an ihrem Gewand eine große Almandinscheibenfibel und eine radförmige, fünfspeichige Zierscheibe mit Elfenbeinring. Zwischen ihnen waren drei Kleinstkinder, zwei Mädchen und ein Junge beigesetzt.
Diese „Herrin von Asseln“ war im böhmisch-mährischen Bereich kurz vor Mitte des 6. Jahrhunderts geboren worden. Mit der Abwanderung der Langobarden aus dem norddanubischen Bereich im Jahre 548 und der langobardischen Invasion 568 dürfte sie nach Italien gekommen sein, wo sie als junge Frau ihre außergewöhnlichen, mediterranen Schmuckstücke erhalten haben könnte. Etwa 25-jährig, noch in der ersten Hälfte der 570er Jahre, kam sie nach Asseln an den Hellweg. Denkbar ist, dass sie ihren Mann in Italien kennen lernte, als dieser dort Gefolgschaftsdienste leistete, und ihm in seine Heimat folgte. Bei einem Todesjahr um 585 blieb ihr, einen Abstand von zweieinhalb Jahren zwischen den Geburten vorausgesetzt, noch genügend Zeit, um die drei Kleinstkinder, die zwischen dem Paar bestattet wurden, und eventuell ein weiteres Kind, das das Erwachsenenalter erreichte, zur Welt zu bringen.
Nur in der ersten Generation verweisen die Grabbeilagen auf ein kriegerisches Gefolgschaftswesen. Die wirtschaftliche Grundlage der Gemeinschaft lag in Grundbesitz und landwirtschaftlichen Abgaben Abhängiger. Diese Wirtschaftsweise ermöglichte der Führungsschicht ein Leben mit Zeit für Übungen mit Waffen und Pferd, für den Unterhalt einer Gefolgschaft, die Pflege weit reichender Kontakte und den Erwerb von Prestigegütern, wie sie sich in den Grabbeilagen erhalten haben.
Im Asselner Grab Nummer 190 fand man im Schoßbereich der Verstorbenen, vielleicht einer Tochter der zugewanderten Langobardin, eine sorgfältig in Textilien eingeschlagene Pflugschar. Der Verstorbenen hatte man die Schuhe ausgezogen und vor den Füßen abgestellt, eine unübliche Praxis, denn die Toten gingen eigentlich beschuht auf ihre letzte Reise! Aus dem frühen Mittelalter ist nicht überliefert, dass Frauen Pflugarbeiten ausgeführt haben. So ist diese Grabbeigabe weniger als ein Hinweis auf die tatsächliche Arbeit, denn als eine symbolische Praxis zu deuten.
Die schon um 1200 aufgezeichnete Lebensgeschichte der Heiligen Kunigunde (ca. 980 – 1033), Ehefrau Heinrich II, gibt eine mögliche Interpretation: Der Untreue bezichtigt, soll sie sich freiwillig der Pflugscharprobe unterworfen haben, einer Form des Gottesurteils. Dabei hat die oder der Beschuldigte über eine rot glühende Pflugschar zu gehen – bleiben die Füße unverletzt, bzw. heilen ab, gilt die Probe als bestanden. Der früheste Hinweis auf dieses Verfahren findet sich in dem um 802 kodifizierten Recht der Thüringer: Ehefrauen, die in Verdacht kamen, ihren Ehemann umgebracht zu haben, sollten sich der Pflugscharprobe unterziehen. Bis in den heutigen Sprachgebrauch hat dieses Verfahren seine Spuren hinterlassen:„ein heißes Eisen anfassen“. Mädchen, die den Moralvorstellungen der Gesellschaft nicht entsprachen, wollte Luther wie „ein Eisen fallen lassen“.
In Dortmund Asseln legte man der Toten eine sorgfältige in Stoff eingewickelte Pflugschar in den Schoß: Sie verließ die Welt mit reinem Herzen.

Uta C. Schmidt/ FRAUEN.ruhr.GESCHICHTE.

Orte:

Dortmund Asseln, Kahle Hege, 44319 Dortmund

Literatur:

Brink-Kloke, Henriette/ Deutmann, Karl Heinrich (Hg.), Die Herrschaften von Asseln. Ein frühmittelalterliches Gräberfeld am Dortmunder Hellweg, München/ Berlin 2007.
Henning, Joachim:„Heiße Eisen“ der frühen Rechtsgeschichte. Pflugschare als Grabbeigaben in der Merowinger- und Karolingerzeit, in: a.a.O., S. 109-114.

Zitation: , Herrin von Asseln, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/herrin-von-asseln/

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Amalia von der Pfalz

Als Amalia von der Pfalz im Jahre 1539 in Alpen geboren wurde, umfasste die Herrschaft Alpen um die 800 Personen.
An der Seite ihres ersten Ehemannes, Heinrich von Brederode, betrat sie in der Oppositionsbewegung gegen die Habsburger in den Niederlanden die Bühne der Weltpolitik, die ihr Leben von nun an bestimmte. Heinrich von Brederode organisierte 1565 den niederländischen Aufstand gegen die habsburgische Zentralisierungs-, Steuer- und Inquisitionspolitik unter der Generalstatthalterin Margarete von Parma. Amalia unterstützte ihn darin. Nach einer ersten Niederschlagung der Oppositionsbewegung durch Herzog Alba floh sie an seiner Seite, als Bäuerin verkleidet, aus dem niederländischen Vianen. Von der Horneburg im Vest Recklinghausen aus knüpften sie Verbindungen zu Emigranten, sicherten Loyalitäten, und versuchten, Amalias Brautschatz für ein erneutes militärisches Vorgehen der Freiheitsbewegung nutzbar zu machen. Auf der Horneburg verstarb Heinrich von Brederode im Jahre 1568 eines natürlichen Todes. Ein Zeitgenosse berichtete über die Ehe: „Heinrich liebte Amalia so sehr, dass er jeden ihrer Wünsche erfüllt hätte, wenn er dazu nur die Macht gehabt hätte.“ Heinrich kaufte Amalia deutschsprachiger Bücher, baute ihr ein Sommerschloss und in seinen drei Testamenten sicherte er sie weitsichtig finanziell für den Witwenstand ab.
Aus freiem Willen ging Amalia bereits 1569 die konfessionspolitisch angebahnte Ehe mit dem 24 Jahre älteren, verwitweten Kurfürsten Friedrich III von der Pfalz, einem der sieben Reichsfürsten, ein. Amalia stieg mit dem Ehebündnis zur ranghöchsten Fürstin nach der Kaiserin auf. In dieser Verbindung blieb ihr reformierter Glauben unangetastet. Die kurfürstliche Unterstützung der Niederlande und Oranien-Nassaus sowie die Aufnahme zahlreicher Glaubensflüchtlinge aus Flandern und den wallonischen Sprachgebieten der Rheinpfalz führten ihre politischen Ziele weiter. Die Ehe war reichspolitisch eine deutliche politische Demonstration, die die Hinwendung der Pfalz zu den Protestanten Westeuropas signalisierte und später in die antihabsburgische Unionspolitik münden sollte.

Amalias zweite Ehe mit dem Kurfürsten Friedrich als Typus des patriarchalen christlichen Führers der Frühen Neuzeit war von gegenseitiger Anerkennung und großen Übereinstimmungen in politischen, gesellschaftlichen und religiösen Bereichen getragen, wie aus Briefwechseln der Ehepartner hervorgeht. Auch sie blieb kinderlos. Nach sieben Ehejahren verstarb 1576 Friedrich.
Für Amalia begann ein neuer Lebensabschnitt, der ihr als Witwe eine gewisse Unabhängigkeit brachte. Ihr Lebensweg blieb eng mit der konfessionellen Bündnispolitik, den kriegführenden Parteien in den Auseinandersetzungen um die Niederlande und der Reichspolitik verbunden. Von 1592 an korrespondierte Amalia über viele Jahre mit Christian I. von Anhalt, einem der bedeutendsten Staatsmänner jener Zeit. In diesem Briefwechsel zeigte sie sich als kenntnisreiche Analytikerin der politisch-militärischen Lage am Niederrhein und im Reich.
Finanzielle Möglichkeiten ermöglichten ihr eine standesgemäße Hofhaltung. Als sich die Gelegenheit bot, übernahm sie von Oranien gestützt als souveräne Fürstin 1582 die Herrschaft über Vianen, die ihr aus der Ehe mit Heinrich von Brenderode zustand. Nach der Ermordung Wilhelms von Oranien entschied sie sich 1588 auch wegen erbrechtlicher Auseinandersetzungen jedoch zum Verzicht auf die Herrschaft. 1589 kehrte sie nach Lohrbach auf ihren Witwensitz zurück. Hier wirkte sie als geschätzte Erzieherin von anvertrauten Fürstenkindern.
Als es Moritz von Oranien 1597 gelang, das Gebiet von Lingen bis Moers zurück zu erobern, handelte Amalia „fryheit für schloss und stetgen und frieden zu Alpen“ aus, ein Neutralitätsabkommen, das der Herrschaft Alpen eine Zeit der Konsolidierung brachte. Am 16. Juni 1600 trat sie als souveräne Landesherrin die Regierung in Alpen an. Ihr Leitspruch lautete: „Das gantze wolfaren der gemeinten [ist] princieplich am Haupte gelegen“, eine Selbstverpflichtung, der sie sich umsichtig unterwarf:  Sie erließ eine landesherrliche Ordnung, die für das 16. Jahrhundert im Grundtenor von einer freiheitlichen Gesinnung getragen wurde. Sie sorgte für die Wiederaufnahme des Schulunterrichts und machte die Gegenreformation rückgängig. Vor allem plante sie die Errichtung einer reformierten Pfarrkirche in Alpen.

Nur kurz währte ihre Regentschaft. Am 20. April 1602 verstarb Kurfürstin Amalia eines natürlichen Todes in Alpen. Ihr Schwager erfüllte ihren letzten Willen und verpflichtete den fürstlichen Baumeister von Kleve-Jülich-Berg, Johann von Pasqualini, mit dem Bau einer Kirche und der Errichtung eines Marmorepitaphs, der ihre Leistungen würdigt.
Zeitgenossen lobten nicht nur die Schönheit der Kurfürstin, sondern auch ihre Charaktereigenschaften: tugendhaft, redlich, von edlem Charakter und beherztem Auftreten, vernünftig, schicklich, aufrichtig sei sie gewesen und sie habe sich fürsorglich um ihre Untertanen bemüht. Vor allem ihre religiöse Haltung – „ein gahr from gottforchtig stattlich weyb“ – wurde gerühmt. Frauen galten in den emblematischen Darstellungen der Zeit grundsätzlich entweder von Grund auf verdorben oder durch und durch gut. Aber angesichts Amalias Position in den konfessionspolitischen Netzwerken verwundert dieses Lob nicht. Sie selber interpretierte sich und die Welt im Rahmen eines calvinistischen Weltbildes, in dem Gott die Geschicke der Menschen lenkt. So hoffte sie auch, dass der almechtlich got sich in die Friedensbemühungen für die Region einmischen würde. Politische Gestaltungsmöglichkeiten wuchsen ihr aus Beziehungen zwischen Herkunftsfamilie und Eheverbindungen zu. Als Witwe, der beweglichsten weiblichen Lebensform im 16. Jahrhundert, konnte Amalia von der Pfalz als souveräne Fürstin Politik gestalten.

Uta C. Schmidt/ FRAUEN.ruhr.GESCHICHTE.

Orte:

Burgstraße 43a, 46519 Alpen

Literatur:

Daebel, Joachim, Kurfürstin Amalia von der Pfalz und ihre Kirche zu Alpen 1604-2004, Regensburg 2004.

Zitation: , Amalia von der Pfalz, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/amalia-von-der-pfalz/

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Emmy Olschewski

Emmy Olschweski versorgte die Nachbarschaft nicht nur mit Süßigkeiten, Bier und Tabak, sie war auch Kreditgeberin, Lebens- und Eheberaterin. Nicht einmal zu Weihnachten mochte sie ihre Kunden vernachlässigen. Pünktlich verließ sie die Familienfeier, um den Kiosk zu öffnen. Ihren eigenen Geburtstag feierte sie zwischen Wohnung und Kiosk mit Verwandten und Kunden. Einen längeren Urlaub machte sie nur einmal in ihrem Leben: 1968 fuhr sie zusammen mit ihrer Großnichte für zwei Wochen nach Italien. Aber ohne ihre Bude fühlte sie sich nicht so richtig wohl. Mehr als einen Tag mochte sie nicht abwesend sein. Lange Arbeitszeiten waren kein Thema und auch nicht die Vermischung von Geschäftlichem und Privatem. Wenn jemand ein Glas Kirschen oder Pralinen brauchte, die es in der Bude nicht gab, dann wurden die Dinge aus der Wohnung nebenan geholt. Die Kunden waren eben auch Nachbarn und Freunde, die Grenzen fließend. Die Bude war nicht nur Verkaufsstelle, sondern auch Treffpunkt, Teil des sozialen Netzwerkes. Dort wurden Nachrichten ausgetauscht, ein offenes Wort in so mancher Sache gesprochen, gefeiert bis in die Nacht. An der Bank hinter ihrer Bude trafen sich zum Beispiel der Kaninchen- und der Taubenzüchterverein. Da wurde dann bei einem Bier „gestrunzt“: Da kamen dann die ganz großen Stories. Emmy Olschewski war resolut und hatte alles im Griff. Ein Kunde erinnert sich: „Wenn da einer lauter wurde, hat sie den Finger gehoben – das reichte. Oder sie sagte: „Jungs, das wird mal bisschen laut hier.“ Und dann war wieder Ruhe. Sie war das, was man ein Original nennt, Kioskbesitzerin mit Leib und Seele.

Ihre Eltern, Anna Gaffron und Josef Hoffmann, stammten aus Schlesien und zogen 1904 der Arbeit wegen ins Ruhrgebiet nach Castrop-Rauxel. Dort in der Schweriner Straße 10, wo sie ihr Leben lang zu Hause blieb, kam Emmy am 10. Oktober 1904 als siebtes Kind zur Welt – zehn Tage nach der Ankunft der Familie in der neuen Heimat. Früh verlor sie ihren Vater, der als Bergmann auf der Zeche Graf Schwerin arbeitete. Er starb 1908 an einer Lungenentzündung. Früh starb auch ihr Stiefvater, der aus dem Elsass stammende Bergmann Alois Jaeger. Die Frauen waren nach diesen Schicksalsschlägen auf sich gestellt. Von der kargen Witwenrente allein konnten sie nicht leben, ein Broterwerb musste gefunden werden.

Mit Bravour hatte Emmy acht Jahre Volksschule absolviert, eine Berufsausbildung strebte sie jedoch nicht an. Sie half stattdessen ihrer Mutter, Gemüse auf dem Castroper Markt zu verkaufen. 1921 erhielten sie dann die Erlaubnis, neben dem Wohnhaus in der Schweriner Straße eine Gemüseverkaufsbude zu errichten. Wenig später durfte auch Selterswasser in das Sortiment aufgenommen werden. Die Geschäftsidee erwies sich als erfolgreich, denn das Haus lag strategisch günstig mitten in einer Bergarbeitersiedlung vor der Zeche Graf Schwerin. Die Kundschaft nahm das Angebot dankend an.

Ihre Heirat mit dem aus Westpreußen stammenden Bergmann Erich Olschweski 1925 und die Geburt ihrer Tochter Ursula ein Jahr später schmälerten Emmys Engagement für die Bude nicht. Und als ihre Mutter 1942 starb, übernahm sie das Geschäft. Zum einen aus finanziellen Gründen. Materielle Unabhängigkeit war wichtig, das wusste sie aus den Erfahrungen, die ihre zweimal verwitwete Mutter machen musste. Zum anderen aber war ihr das Büdchen zweifelsohne auch Herzensanliegen und Lebenselixier.

Während der Kriegsjahre blieb der Kiosk geöffnet, auch wenn das Sortiment bescheiden war. Dank der fortbestehenden Kontakte, so erinnert sich Emmys Tochter Ursula, kam die Familie gelegentlich an begehrte Waren wie Kaffee oder Tabak, die gegen andere Dinge getauscht werden konnten. Außerdem brachten der Garten, Pachtland und Kleinviehhaltung hinreichend gute Erträge, so dass die Familie über die Runden kam. Dafür hatte Emmy, die den Ersten Weltkrieg hungernd überstanden hatte, gesorgt. Auch Strickarbeiten im Tausch gegen Butter gehörten zu ihrem strategischen Repertoire, und im Zweifelsfalle mussten alle Frauen der Familie dabei mithelfen.

Das Wirtschaftswunder der 1950er Jahre erreichte auch den Kiosk, Warenangebote und Umsatz stiegen. Das Büdchen wurde umgebaut, das Fenster für Auslagen und Verkauf größer. Eine Stufe aus Stein machte es den Kindern leichter, die verlockenden Süßigkeiten in Augenschein zu nehmen. Einen Kühlschrank gab es noch nicht, Getränke wurden mit Eis gekühlt, das der Eismann regelmäßig in Blöcken anlieferte.

Die Schließung der Zeche Graf Schwerin 1961 bedeutete eine Zäsur. Die Bude lag plötzlich nicht mehr auf einer Hauptzugangsstraße, sondern in einem ruhigen Wohngebiet. Der Umsatz ging zurück. Emmy nutzte den allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung, um eine andere Geschäftsidee zu realisieren. Sie betrieb mehr als zehn Jahre lang eine Heißmangel mit bis zu vier Angestellten. Die Bude verpachtete sie in der Zeit – durchaus schweren Herzens – an ihre Großnichte. Ein Verwandter erinnert sich, wie sehr Emmy ihren Kiosk vermisste. „Die Bude war ja auch ein Treffpunkt. Da waren immer Leute, alle kamen da hin. Emmy wusste praktisch alles von allen. Das war so wie Fernsehen heute.“

Als ihr Mann Erich 1967 starb, übernahm Emmy den Kiosk wieder selbst. Sie blieb ihm treu bis ans Ende ihres Lebens. Noch mit 91 Jahren stand sie hinter der Theke, dann forderten Alter und Gesundheit ihren Tribut. Bis zu ihrem Tod am 5. Mai 1998 führte ein Nachbar den Kiosk weiter, dann wurde er demontiert und vom LWL-Industriemuseum übernommen. Aus den Berichten der Verwandten und ehemaligen Kunden ist ein Portrait der Bude und ihrer Besitzerin entstanden, das ein Stück Frauen- und Sozialgeschichte des Reviers erzählt.

Vera Steinborn / LWL-Industriemuseum

Orte:

Schweriner Straße 10, 44572 Castrop-Rauxel

Literatur:

Overbeck, Anne, Rat und Tat und bunte Tüten. Die Trinkhalle von Emmy Olscheski in Castrop-Rauxel, in: Die Bude. Trinkhallen im Ruhrgebiet. Fotografien von Brigitte Kraemer, hg. von Dietmar Osses, Essen 2009, S.128-131.

Zitation: , Emmy Olschewski, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/emmy-olschewski/

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Liebetraut Rothert

Liebetraut Rothert wurde am 27. Oktober 1909 in Marienwerder/Westpreußen geboren. Aufgewachsen ist sie im niedersächsischen Bersenbrück, wohin die Familie 1911 umzog, weil ihr Vater, der unter anderem als Historiker bekannt gewordene Hermann Rothert, zum Landrat ernannt worden war. Ihr Abitur machte sie 1930 in Münster am Oberlyzeum. Anschließend studierte sie in Breslau, Wien und Tübingen Germanische Ur- und Frühgeschichte, Geologie und Kunstgeschichte mit dem Ziel, in der Museumsbranche tätig zu werden. 1935 promovierte sie über „Die mittlere Steinzeit in Schlesien. Die Feuersteingeräte und ihre Einordnung.“ Kurzzeitig arbeitete sie in Berlin unter dem bekannten Archäologen Hans Reinerth, dessen Rolle im Dritten Reich höchst umstritten ist. 1938 gelang ihr der Absprung in das neu gegründete Landesamt für brandenburgische Bodendenkmalpflege, wo sie nach Einberufung der männlichen Mitarbeiter in den Krieg die gesamte Arbeit allein erledigte. Nach der Heirat zog sie zu ihrem Mann Erich Gahrau nach Cottbus, wo sie von 1942 bis 1945 das Niederlausitzische Landesmuseum für Vor- und Frühgeschichte leitete. „Nebenbei“ brachte sie zwei Kinder zur Welt, einen Sohn und eine Tochter.

Als Dresden 1945 bombardiert wurde, machte sie sich mit den Kindern auf den Weg nach Lippstadt zu Verwandten. Ende August kehrte ihr Mann heim, im Jahr darauf erblickte ihr drittes Kind, ein Sohn, das Licht der Welt. Ende 1948, als die Ehe scheiterte, zog Rothert nach Münster ins elterliche Haus. Sie übernahm Schreibdienste, „dachte mit“, tippte mit drei Fingern Doktorarbeiten und erwirtschaftete so ein karges Einkommen. Zudem übernahm sie vermehrt Stadtführungen.
Durch diese Tätigkeit bekam sie rein zufällig Verbindung zum Bergbau: Eine Gruppe von Berglehrlingen der Krupp-Zechen Hannover und Hannibal machte einen Sonntagsausflug nach Münster und wurde von ihr durch die Stadt geführt. Sie kam mit dem Begleiter der Gruppe ins Gespräch und erfuhr von der Werkszeitschrift Die Grubenlampe und davon, dass der Schriftleiter Dr. Schrage sein Amt aufgab. „So, sag ich, dann können Sie ja mich dafür nehmen.“ Sie wurde beim Wort genommen. 1953 erschien im Impressum der Mai/Juni-Ausgabe der Werkszeitschrift erstmals der Name Liebetraut Rothert.
Der Zeche verdankte sie nicht nur einen festen Arbeitsplatz mit regelmäßigem Einkommen, sondern auch bald eine geräumige Wohnung auf der Magdeburger Straße in Eickel. 1953 zog sie dort mit ihren drei Kindern ein. „Ich wusste von Kohle nur, das sie unter der Erde liegt,“ so Rothert. Sie machte sehr viele Grubenfahrten mit, um den Betrieb und die Betriebsabläufe zu studieren. Schon bald stand sie in dem Ruf, „den gesamten Heise-Herbst auswendig zu können“, ein Buch der Bergbaukunde. Bis Ende 1959 war sie als Schriftleiterin für die Werkszeitschrift „Die Grubenlampe“ tätig, deren Erscheinen mit der Umstrukturierung des Krupp-Konzerns 1960 eingestellt wurde. Sie lernte unter anderem den bekannten Fotografen Albert Renger-Patzsch kennen und die Industriefotografin Ruth Hallensleben. Beide arbeiteten für sie. Rothert warb Autoren an, überarbeitete Aufsätze, übersetzte und verfasste selbst zahlreiche Beiträge.
Zu Rotherts Aufgaben gehörte auch die Leitung der Werksbücherei, in der die Belegschaft Fachliteratur und Unterhaltsames ausleihen konnte. Sie richtete zunächst 1954 auf der Zeche Hannover, später auch auf anderen Krupp-Zechen entsprechende Räumlichkeiten ein. Hinzu kam die Leitung der Werksfürsorgestelle, die sich um die Nöte der Bergleute und ihrer Familien kümmerte. Sie sprach mit den Leuten, hörte zu, lernte ihre Probleme kennen. „Das war ein Schatz“, sagte sie, „den ich bei den Arbeiten über die Belegschaften mit unter gestrickt habe.“
Inspiriert durch Wilhelm Brepohl, den sie persönlich kannte, begann sie „nebenbei“ mit ihren Detailstudien über die Herkunft, die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Belegschaften der miteinander markscheidernden Schachtanlagen Hannover, Hannibal und Königsgrube. Für die Zeche Königsgrube wies Rothert 1955 erstmals auf gesicherter Grundlage nach, woher die Bergarbeiter stammten.

Als die Zeche Hannover 1973 stillgelegt wurde, war Liebetraut Rothert bereits im „Ruhestand“ und arbeitete intensiv an ihrer Monographie über „Umwelt und Arbeitsverhältnisse von Ruhrbergleuten in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, dargestellt an den Zechen Hannover und Hannibal in Bochum.“ Sie erschien 1976 in der Schriftenreihe des heutigen LWL-Instituts für Regionalgeschichte. Alfried Hartlieb von Walthor, ehemaliger Leiter des Instituts, benennt in seinem Vorwort die Qualitäten Rotherts: „Ihre die Heimat- und Volkskunde, die Betriebs-, Kultur- und Familiengeschichte ausschöpfende Forschungs- und Redaktionsarbeit vermittelt ihr eine eingehende Kenntnis des Milieus. Kritische Wertung der Quellen, einfühlende Charakterisierung der Menschen, Engagement und Farbigkeit der lebendig geschriebenen Darstellung resultieren daraus.“ Systematisch wertete Rothert die überlieferten Aktenbestände der Zechen Hannover und Hannibal aus. Heute befinden sich diese Unterlagen sowie auch persönliche Manuskripte im Bergbau-Archiv Bochum, ein Teil ihres privaten Nachlasses im Westfälischen Wirtschaftsarchiv in Dortmund.
„Wiederentdeckt“ wurden inzwischen auch die archäologischen Arbeiten Rotherts. Henny Piezonka hat die Forschungsgeschichte der Archäologie in Brandenburg aufgezeichnet und ist dabei auf die fast vergessenen Spuren Rotherts gestoßen. „Nach ihren frühen, fundierten Forschungen zum Mesolithikum hat Rothert die brandenburgische Bodendenkmalpflege in den Jahren von 1938 bis 1945 entscheidend gestaltet und dabei die Arbeitsgrundlagen für die heute wirkenden Institutionen maßgeblich mitgeschaffen.“
Ihren Lebensabend verbrachte Liebetraut Rothert in Münster. Sie starb am 23. Juli 2005.

Vera Steinborn/ LWL-Industriemuseum

Orte:

LWL-Industriemuseum Zeche Hannover, Günnigfelder Straße 251, 44793 Bochum

Literatur:

Pienzonka, Henny,  Liebetraut Rothert, in: Kümper, Hiram (Hg.), Historikerinnen. Eine biobibliographische Spurensuche im deutschen Sprachraum. Schriften des Archivs der deutschen Frauenbewegung, Band 14, Kassel 2009, S. 183-187.

Zitation: , Liebetraut Rothert, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/liebetraut-rothert/

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Blanka Pollak

Im Herbst 1999 sprach der Landesrabbiner von Nordrhein-Westfalen, Dr. Henry Brandt, auf dem jüdischen Friedhof in Bottrop das jüdische Totengebet, den Kaddisch, für Blanka Pollak, gestorben am 18. März 1945.
Zu der Zeremonie waren Blanka Pollaks Schwester Peri Hirsch und deren Familie aus den USA angereist. Für die Familie endeten damit 55 Jahre qualvoller Ungewissheit über das Schicksal der Schwester. Blanka (geb.1925), Peri (geb. 1930) und Olga (geb. 1928) Pollak lebten mit weiteren sechs Geschwistern und ihren Eltern in Ruscova in den Karpaten, die während des Zweiten Weltkriegs zu Ungarn gehörten.

Ungarn war seit 1941 Bündnispartner des NS-Staats im Krieg gegen Russland und wurde im März 1944 zur Sicherung der Bündnistreue von deutschen Truppen besetzt. Unmittelbar danach setzte dort die systematische Deportation der jüdischen Bevölkerung ein, von der insgesamt etwa 520.000 Menschen betroffen waren. Unter ihnen war die Familie Pollak. Etwa 320.000 Menschen wurden in Auschwitz sofort ermordet, etwa 110.000 Personen zwischen Mai und Juli 1944 von Auschwitz zur Zwangsarbeit deportiert.
Bei der Ankunft der Pollaks im KZ wurden die Mutter mit den drei jüngsten Kindern und der Vater sofort von den anderen getrennt, „…and we saw them never again“, so Peri Hirsch. Zwei der älteren Brüder gelang es zu überleben. Auch die drei Schwestern und  ihre gleichaltrigen Cousinen entgingen zunächst der Vernichtung, weil sie als „brauchbar“ für die Zwangsarbeit erachtet wurden.
Schon seit 1940 hatten die Nationalsozialisten aus den eroberten Ländern Millionen von Kriegsgefangenen und Zivilpersonen zur Zwangsarbeit verschleppt, die als „Ost- und Westarbeiter“ in der deutschen Wirtschaft, auch im Ruhrgebiet, etwa ein Drittel der Belegschaften ausmachten. Zugleich war es das politische Ziel des NS-Staats, durch Vertreibung und Vernichtung die Wirtschaft „judenfrei“ zu machen. Im April 1944 wurde der Arbeitskräftemangel in den Rüstungsbetrieben jedoch so groß, dass Hitler auch die „Bereitstellung von Judenkontingenten“ aus Ungarn zur Zwangsarbeit angeordnet hatte. Dabei sollten auch Mädchen und junge Frauen für schwerste Arbeiten eingesetzt werden.
Blanka und die anderen Mädchen gehörten deshalb zu den 1.500 ungarischen Jüdinnen, die als SS-Arbeitskommando Ende Juni 1944 von der Organisation Todt aus dem KZ Auschwitz-Birkenau für das Hydrierwerk Gelsenberg Benzin AG in Gelsenkirchen angefordert wurden und dort Anfang Juli in einem nahe gelegenen Außenlager des KZ Buchenwald eintrafen. Durch einen britischen Luftangriff waren die Produktionsanlagen für das kriegswichtige Kerosin weitgehend zerstört worden und sollten schleunigst wieder repariert werden. Die Zwangsarbeiterinnen mussten ohne Hilfsmittel Trümmer beseitigen und waren in Zelten unter erbärmlichen Bedingungen in der Nähe des Werks untergebracht. Ungarische jüdische Zwangsarbeiterinnen gab es im Ruhrgebiet auch in Essen, Bochum und Dortmund.
Als am 11. September 1944 erneut ein vernichtender Luftangriff auf das Werk Gelsenberg erfolgte, durften die Jüdinnen nicht in den Werksbunker. Blankas Schwester Olga und ihre Cousinen zählten zu den 138 Toten, sie selbst wurde wie 22 andere schwer, ihre Schwester Peri leicht verletzt. Zusammen mit einigen anderen Verletzten wurde Blanka in das nahe gelegene katholische Hospital in Gelsenkirchen-Horst gebracht. Dessen Leiter Dr. Rudolf Bertram entschied sich aus Glaubensgründen, unterstützt von der Krankenhausfürsorgerin und einer Oberschwester, auch ihnen zu helfen. Damit brachten sie sich durchaus in Gefahr.
Blanka blieb im Krankenhaus zurück, als das Werk kurz darauf aufgegeben und das Lager aufgelöst wurde. Die Zwangsarbeiterinnen, Peri eingeschlossen, wurden in ein Werk der Rheinmetall in Sömmerda (Thüringen) verlegt und von dort aus im März 1945 auf einen Todesmarsch geschickt, den Peri überlebte. 1946 ging sie in die USA, wo sie noch heute mit ihrer Familie lebt. Über oder von Blanka hatte sie nie wieder etwas gehört.

Als Peri Hirsch im September 1994 auf Einladung der Stadt Gelsenkirchen zusammen mit weiteren überlebenden Frauen anlässlich des 50. Jahrestags des Luftangriffs auf das Werk Gelsenberg zum ersten Mal wieder nach Deutschland kam, sprach sie im kleinen Kreis von ihrer Trauer um die verschollene Schwester Blanka.
Eine der Zuhörerinnen war die VHS-Fachbereichsleiterin Marianne Kaiser. Sie erzählte von dieser Begegnung in einer Gelsenkirchener Frauengeschichtswerkstatt, in der Wiltrud Apfeld, Marlies Mrotzek, Margret Nyenhuis und Ingrid Scheld das Schicksal der Zwangsarbeiterinnen erforschten. Deren intensive Recherche nach den Spuren Blanka Pollaks blieb zunächst ohne Erfolg, bis Marlies Mrotzek bei Archivarbeiten auf eine Verwaltungsnotiz über deren Aufenthalt als Patientin im Marienhospital Bottrop vom 27. November 1944 bis zum 18. März 1945 stieß. Unterstützt von der Bottroper 8. Mai-Initiative um Henner Maas fanden die Frauen danach heraus, dass Blanka Pollaks  Beisetzung auf dem jüdischen Friedhof am 21. März 1945 stattgefunden hatte und dass es einen für die Alliierten erstellten Lageplan des jüdischen Friedhofs von 1948 gab, auf dem auch ihr Grab verzeichnet war. Marianne Kaiser informierte Peri Hirsch und sorgte auf deren Bitte für die Aufstellung eines Grabsteins.

Im September 1999 kam die Familie, begleitet von Bottroper und Gelsenkirchener Bürgerinnen und Bürgern, zur Totenehrung für Blanka Pollak, von deren Grabstein der Landesrabbiner sagte, er solle „ein Trost für all diejenigen sein, deren Schwestern anonym in Massengräbern verscharrt wurden“.
Der Bottroper Runde Tisch gegen das Vergessen ließ 2001 mit Spendenmitteln drei weitere Grabsteine setzen für die ungarischen Zwangsarbeiterinnen Julia Lantemann und Schari Widder, die Blankas Schicksal teilten, und für das Kind der Überlebenden Blanka Berkowitsch, Nikolaus, der 35 Tage alt wurde. Die Bottroper Stadtarchivarin Heike Biskup erarbeitete eine Begleitausstellung. Angehörige konnten nicht mehr gefunden werden.

Marianne Kaiser/ Gelsenkirchen

Orte:

Westfriedhof am Westring, 46242 Bottrop
Marienhospital, Josef-Albers-Str. 70, 46236 Bottrop
Hospital St. Josef, Rudolf-Bertram-Platz 1
VEBA Oel, Johannastr. 2, 45899 Gelsenkirchen
Grabstätte der ungarischen Jüdinnen auf dem Friedhof Horst-Süd in Gelsenkirchen

Literatur:

Mrotzek, Marlies, Das KZ-Außenlager der Gelsenberg Benzin AG. Germinal Verlag, Fernwald (Annerod) 2002. 
Goch, Stefan, Das Außenlager des KZ Buchenwald in Gelsenkirchen-Horst. In: Jan-Erik Schulte: Konzentrationslager in Rheinland und Westfalen 1933-45. Zentrale Steuerung und regionale Initiative, Paderborn u.a. 2005,  S.271-78.
Herholz, Heike/ Wiebringhaus, Sabine, KZ Außenlager Buchenwald in Gelsenkirchen-Horst. Eine Dokumentation, in: Beiträge zur Stadtgeschichte, hg. vom Verein für Orts- und Heimatkunde, Band XI, Gelsenkirchen 1983, S. 121–142, und als: Heft 1 der Reihe „Jüdisches Leben in Gelsenkirchen“, Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit (Hg.), Gelsenkirchen 1994.
Bergmann, Martina/ Stratmann, Hartmut, "Meine lieben 17 ungarischen Kinder..." Von der Rettung jüdischer Frauen in Gelsenkirchener Krankenhäusern. Heft 3 der Reihe: Jüdisches Leben in Gelsenkirchen. Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit (Hg.), Gelsenkirchen 1996.
Gelsenkirchen 1933-45. Beispiele der Verfolgung und des Widerstandes. Hrsg. Schul- und Kulturdezernat der Stadt Gelsenkirchen, o.J. [1982].
 

Zitation: , Blanka Pollak, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/blanka-pollak/

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Maria Seifert

Als sich die stellvertretende Bürgermeisterin und Vorsitzende der Landschaftsversammlung Westfalen-Lippe im September 2009 vom Rat der Stadt Gladbeck verabschiedete, konnte Maria Seifert auf eine eindrucksvolle, mehr als 33jährige Tätigkeit auf den verschiedensten Feldern der Kommunal-, Kreis- und Regionalpolitik zurückblicken.
Wenngleich sie sich, so erinnert sich Seifert, bereits als Jugendliche nicht mit einfachen Antworten abspeisen ließ, sich über Ignoranz und Ungerechtigkeit empörte und kritisch (kommunal-)politische Entscheidungen verfolgte, fasste die Industriekauffrau erst mit 35 Jahren den Entschluss, parteipolitisch aktiv zu werden. Bis dahin war es in meiner Familie nicht üblich, in eine Partei einzutreten. Schließlich habe ich es getan, weil ich einfach gedacht habe, du musst dir von deinen beiden Söhnen nachher nicht sagen lassen, dass du nichts getan hast außer an der Zeitung gesessen und gemeckert.

Als Maria Seifert 1972 in ihrem Wohnort Gladbeck in die CDU (Christliche Demokratische Union Deutschlands) eintrat, schien die Zeit für Frauen günstig zu sein: Die Welle der Emanzipation hatte die Frauen erreicht, und im Gefolge der Neuen Frauenbewegung sahen sich nun die Parteien einem wachsenden Druck ausgesetzt, ihr äußeres Profil und ihre innere Struktur zu verändern. Frauen wurden nun umworben, in die Parteien einzutreten, wodurch zumindest die Frauenanteile in den Parteien deutlich anstiegen. Allerdings, in eine Gaststätte zu gehen und so richtig Politik zu machen mit den Männern an der Theke, war für Frauen eher ungewöhnlich. Zudem waren jüngere Frauen, zumal mit kleinen Kindern, in der damaligen CDU noch die Ausnahme. Doch was bis dahin noch als Hindernis galt, wurde in Gladbeck nun als strategische Chance begriffen und Maria Seifert wurde als jüngste Frau und zweifache Mutter von ihrer Partei 1976 für den Rat ihrer Stadt aufgestellt. Damit gehörte Maria Seifert zu den kommunalpolitischen Pionierinnen, denn mit einem durchschnittlichen Anteil von nur acht Prozent waren Frauen in den 1970er Jahren in den Kommunalparlamenten noch weithin unterrepräsentiert. Erst in den 1980er Jahren sollte sich bei den Mandaten für Frauen der eigentliche Durchbruch zeigen. Lag der durchschnittliche Frauenanteil 1983 bereits bei rund 13 Prozent, betrug er 1990 schon knapp 21 Prozent. Fünf Jahre später konnten die Mandatsanteile von Frauen nochmals auf 25 Prozent gesteigert werden – seit dieser Zeit allerdings stagnieren die Sitze für Frauen in den Räten der Kommunen.

Auch die konkreten Arbeitsfelder und Ausschüsse, in denen Frauen sich engagieren, waren und sind bis heute noch vornehmlich die traditionell als „weiblich“ konnotierten Bereiche wie Soziales und Kultur, nicht zuletzt, da deren – eigentlich elementarer – Stellenwert im städtischen Gesamtgefügte als eher marginal eingestuft wird. Maria Seifert hat sich deshalb auch zunächst gegen diese geschlechtstypisierende Zuordnung gewehrt, bevor sie schließlich den Spieß umdrehte und ihre Kompetenzen zum Anlass nahm, sich selbstbewusst den Herausforderungen in diesen Politikfeldern zu stellen. Der Erfolg ihrer Arbeit zeigte sich nicht zuletzt darin, dass sie seit 1984 bis zu ihrem Ausscheiden aus der Politik im Jahre 2009 durchgängig die Leitung des Sozialausschusses ausübte. Ähnlich agierte sie, wenn es darauf ankam, Themen der Gleichberechtigung und sozialen Chancengleichheit aufzugreifen und politisch umzusetzen. Gemeinsam mit anderen Frauen – auch über Parteigrenzen hinweg – versuchte sie, verkrustete Strukturen zu lösen und „Frauen nach vorne zu bringen“. Stolz ist sie noch heute darüber, dass sie mithelfen konnte, eine Frauenberatungsstelle in Gladbeck aufzubauen und die Stelle einer städtischen Gleichstellungsbeauftragte einzurichten.
Demgegenüber galt es parteiintern vor allem Sitzfleisch zu entwickeln, hocken zu bleiben und zu warten, auch um den Preis, erst mal mit den Männern einen Schnaps zu trinken, um an die nötigen Informationen und gegebenenfalls auch Mehrheiten für die nächste Ratssitzung zu gelangen. Eine Strategie, von der viele Frauen in der heute auch immer noch stark männerbündisch verfassten Politik ein Lied singen können. Solche Strategien und das Quäntchen Glück sind es, die Frauen in der Politik trotz aller Hindernisse dann doch den notwendigen Karrieresprung verschaffen, um den erhofften Einfluss zu erhalten und Veränderungen mitgestalten zu können. So erging es auch Maria Seifert, als sie 1983 zunächst in den Kreistag des Kreises Recklinghausen und per Zufall unmittelbar danach als Nachfolge für einen in den Bundestag nachgerückten Parteikollegen in die Landschaftsversammlung Westfalen-Lippe einzog.
Da traf ich dann, als ich das erste Mal dorthin in die Fraktion kam, lediglich eine weitere Frau an. Obgleich sich der Frauenanteil in den überregionalen Parlamenten Anfang der 1980er – nicht zuletzt durch den Einzug der GRÜNEN, der damals einzigen bereits quotierten Partei erhöht hatte, betrug der Anteil von Frauen im „Westfalenparlament“ in Münster nur sechs Prozent. Lediglich sieben von 108 Parlamentariern waren Frauen. Erst seit dem Jahre 1989 erreichten die Frauen in der Landschaftsversammlung Westfalen-Lippe eine zweistellige Mandatsgröße.
Während in den meisten Parlamenten zu dieser Zeit Frauen zunächst um Mandate ringen mussten, wurde in Gladbeck 1989 Maria Seifert zur stellvertretenden Bürgermeisterin gewählt. Allerdings war man es in Gladbeck bereits gewohnt, Bürgermeisterinnen zu haben: „Wir hatten auch schon vorher eine stellvertretende Bürgermeisterin. Das war eigentlich kein großes Problem. Zugute kam uns auch die Umbruchszeit, in der nun auch in den Kommunen von den Partein erkannt wurde: Wir müssen Frauen nach vorne bringen.“

Letztlich war es ein Mix aus Courage und Neugierde, wie Maria Seifert rückblickend betont, der sie in die Politik führte und von dem aus sie Politik gestalten wollte.
Sicherlich war es auch ihre Kompetenz, die sie sich über Jahre in politischen Fachausschüssen erworben hatte und wegen derer sie 1995 zunächst zur stellvertretenden Vorsitzenden der Landschaftsversammlung, 2000 zur Vorsitzenden des Landesjugendhilfeausschusses und seit 2002 zur Vorsitzenden der Landschaftsversammlung gewählt wurde.

Julia Paulus/ LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster

Orte:

Neues Rathaus, Willy-Brandt-Platz 2, 45964 Gladbeck

Kreisverwaltung Recklinghausen, Kreishaus, Kurt-Schumacher-Allee 1, 45655 Recklinghausen

Literatur:

Wie wir wurden, was wir nicht werden sollten. Frauen im Aufbruch zu Amt und Würden, hg. v. Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Essen 2009.

Zitation: , Maria Seifert, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/maria-seifert/

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Aletta Noot

Aletta Noot hatte einen entscheidenden Anteil am Erfolg der Kaufmannsfamilie Haniel. Jahrzehntelang leitete sie selbstständig die Geschäfte der Firma, expandierte und schuf damit die Grundlage für den Aufstieg ihres Sohnes Franz, den späteren „Industriepionier“.
Als Tochter des Duisburger Kaufmanns Jan Willem Noot und seiner Frau Catharina, geborene Erckenswick, erhielt sie eine gute Erziehung. Sie wurde 1742 als zweites von neun Kindern geboren. Ihr Vater war zunächst Zollbeseher in Orsoy am Niederrhein gewesen, bevor er nach Ruhrort (heute: Duisburg) zog und dort das Amt des „Zoll- und Lizentbesehers“ ausübte. Als Erbauer des dortigen Packhauses betrieb der Vater auch Lagerhaltung für Kolonialwaren. In Ruhrort wuchs Aletta Noot auf. Einige Schuljahre verbrachte sie in einem Pensionat in den Niederlanden und erlernte dort u.a. die französische Sprache. Schon früh zeigte sie Selbstbewusstsein und Verhandlungsgeschick: Während des Siebenjährigen Krieges erreichte sie die freie Rückkehr für ihren Vater, der vor französischer Gefangenschaft geflohen war. Der Verhandlungspartner des erst sechzehnjährigen Mädchens war in dieser Sache kein Geringerer als der Oberbefehlshaber der französischen Rheinarmee, Marschall Marquis de Contades.

Im Alter von 19 Jahren heiratete sie Jacob Wilhelm Haniel, einen Duisburger Kaufmann. Aus der Ehe gingen 11 Kinder hervor, von denen nur vier überlebten. Die Familie wohnte zunächst in Duisburg, wo Jacob Haniel einen Weinhandel und eine Spedition betrieb. Später zog man auf Betreiben Aletta Haniels nach Ruhrort. Hier übernahm Ehemann Jacob das Packhaus seines Schwiegervaters Noot. Nach dem frühen Tod ihres Mannes 1782 führte Aletta Haniel nun den Betrieb unter dem Namen Jb. Wm. Haniel seel. Wittib weiter. Zur damaligen Zeit konnte sie als Frau nicht unter ihrem eigenen Namen firmieren. Dennoch agierte sie als selbstständige und tatkräftige Geschäftsfrau.
Aus der Erbmasse der Noots erwarb sie für 4.500 Reichstaler das Packhaus als Wohnhaus und Lager. Den ursprünglichen Handelsgütern Kaffee, Wein und Zucker fügte sie neue hinzu, die später für die Laufbahn ihres Sohnes Franz bedeutungsvoll werden: 1792 übernahm die tüchtige Geschäftsfrau die Spedition von Eisenwaren. Seit 1792 besorgte sie die Spedition für die Hütten „St. Antony“ und „Gute Hoffnung“ bei Sterkrade und Osterfeld (Munition) und seit 1793 auch für die Hütte „Neu-Essen“. 1796 wurde sie Teilhaberin an einer Kohlenhandelsgesellschaft. Durch Eingabe beim preußischen König erreichte sie gegen den Widerstand der Ruhrorter Kohlenhändler, dass sie am Ruhrorter Hafen eine eigene Niederlage für ihre Kohlenhandlung erhielt, die sie als erste in der Haniel-Familie eröffnet hatte. Darauf aufbauend eröffneten die Söhne ebenfalls Kohlenhandlungen. Namhafte Unternehmen zählten zu den Kunden.
Seit 1790 arbeiteten zunächst ihr Sohn Wilhelm und ab 1796 die Söhne Gerhard und Franz im mütterlichen Geschäft. Sie bildete ihre Söhne selbst aus und machte sie ab 1802 zu Teilhabern. Erst im Alter von 65 Jahren überschrieb sie ihnen vollständig den Betrieb. Damit erlosch ihre Firma und wurde unter Gerhard und Franz Haniel aufgeteilt. Aletta Haniel starb 1815, mit 73 Jahren, in Ruhrort. Das Unternehmen, dessen Aufstieg sie mit begründete, ehrt ihr Andenken und benannte später eines seiner Schiffe nach der bedeutenden Vorfahrin.

Andrea Kiendl/ Dortmund

Orte:

Haniel Museum, Franz-Haniel-Platz 3, 47119 Duisburg-Ruhrort

Literatur:

Franz Haniel & Cie. GmbH (Hg.),Haniel 1756-2006. Eine Chronik in Daten und Fakten, Duisburg 2006.
Frauengeschichtsprojekt Rheinberg, Starke Frauen in der Geschichte Orsoys – eine kleine Orsoyer Frauengeschichte, in: Stadt Rheinberg/ Der Bürgermeister (Hg.), 775 Jahre Stadt Rechte. 150 Jahre Rheinische Städteordnung. Aspekte der Rheinberger Stadtgeschichte. Aufsätze zur stadt- und regionalhistorischen Vortragsreihe der Volkshochschule und des Stadtarchivs. Schriften der Stadt Rheinberg zur Geschichteund Heimatkunde, Bd. 15, Rheinberg 2008, S. 55-73.
Spethmann, Hans, Franz Haniel. Sein Leben und seine Werke, Duisburg 1956.

Zitation: , Aletta Noot, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/aletta-noot/

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Friederike von Bodelschwingh

Während der antinapoleonischen Befreiungskriege in den Jahren 1813 bis 1815 organisierten sich Frauen erstmals in patriotischen Vereinen, um „im Kampf für Deutschlands Ehre“ nicht nur „müßige Zuschauerinnen [zu] sein und [zu] bleiben“, sondern das ihnen Mögliche und Erlaubte zu diesen Kriegen beizutragen. Diese mehrere hundert „patriotischen Frauenvereine“ waren demokratisch organisiert, bestanden dem Anspruch nach aus Frauen aller Schichten und Konfessionen und arbeiteten überregional eng zusammen. Sie nutzen die mediale Öffentlichkeit und ihre gesellschaftlichen Kontakte, um Geld und Material zu sammeln, sie stickten Fahnen, stellten Verbandsmaterial her, gründeten und finanzierten Lazarette, arbeiteten als Krankenpflegerinnen, Verwalterinnen und Köchinnen, kümmerten sich um die Familien der Soldaten, unterstützten nach dem Kriege die Invaliden und die Witwen und Waisen der Gefallenen. Auch in Hamm fanden sich 19 Frauen der gehobenen Gesellschaft zusammen. Motor der Vereinsaktivitäten war Friederike von Bodelschwingh.

Die meisten Vereinsfrauen in Hamm waren mit höheren Beamten verheiratet. Bemerkenswert ist, dass mit Henriette Marcks eine Frau jüdischer Konfession zum Verein gehörte. Ihr Ehemann, der vermögende Elias Marcks, besaß schon seit geraumer Zeit Sonderrechte, die die Familie mit christlichen gleichstellte. Dass Friederike von Bodelschwingh und Wilhelmine von Rappard zu Vorsteherinnen des Vereins erklärt wurden, reflektiert den Führungsanspruch des Adels in einer Gesellschaft, in der sich gerade die ständischen Normen auflösten. Sie boten sich aber auch für den Posten durch ihre Netzwerke und persönlichen Kompetenzen an: Wilhelmine von Rappard verfügte als Gattin des Tribunalrichters über einflussreiche Kontakte, Friederike von Bodelschwingh besaß jahrelange Erfahrung in der Verwaltung von Kapital und Vermögen – und nicht zuletzt eine ausgeprägte Durchsetzungsfähigkeit.

Am 24. Dezember 1813 veröffentlichte Der Frauenverein zur Beförderung des Wohls Vaterländischer Krieger einen Aufruf an die Frauen und Jungfrauen des jetzigen Ruhr-Departements mit dem Ziel, seine personelle Basis auszudehnen und ihre Verbundenheit mit der Sache zum Ausdruck zu bringen:„Muthiger gehen unsere Männer, Söhne und Brüder den Gefahren des Krieges entgegen, wenn sie es wissen, dass Mütter, Schwestern und Verwandte in der Heimath sich für sie beschäftigen, und schon im voraus daran arbeiten, ihnen die Schmerzen, die etwa Krankheit oder Wunden verursachen können, zu erleichtern.“ Der Aufruf blieb nicht ohne Resonanz. In Hamm trafen sich mehr als hundert Frauen von 16 bis 60 Jahren einmal wöchentlich, um für die Verwundeten zu arbeiten. Gesammelte Hilfsgüter wurden nebst Namen der Spender und Spenderinnen minutiös aufgelistet und veröffentlicht. Transparenz war entscheidend: um die ordnungsgemäße Abwicklung zu dokumentieren, die eigene Kompetenz zu beweisen und um für die eigene Vereinsarbeit zu werben. Alle Rechnungen über die Ausgaben „können aber täglich bei der Freifrau von Bodelschwingh in Ansehung der Gelder, und bei der Präsidentin von Rappard in Ansehung der übrigen Beiträge eingesehen werden, worin man nicht nur, wie wir uns schmeicheln dürfen, die größte Ordnung und Pünktlichkeit, sondern auch die gewissenhafteste Verwendung aller, selbst der kleinsten uns anvertrauten Gaben finden wird,“ verlautbarte der Frauenverein.

Die Frauen des Hammschen Vereins, die inzwischen unter dem Titel Frauenverein in Westfalen firmierten, konnten im dritten Jahr des Bestehens eine beeindruckende Bilanz ziehen. Sie leiteten daraus einen Anspruch auf Zentralität ab, der keineswegs von anderen Vereinen anerkannt wurde. Mit Statuten des Frauen-Vereins in Westfalen vom 19. Januar 1915, die dem Zivilgouverneur von Vincke in Münster und über die Prinzessin Marianne von Preußen auch dem preußischen König zukamen, suchte der Vorstand des Vereins seine Zentralstellung in Westfalen amtlich absichern zu lassen. Marianne von Preußen sagte als Schirmherrin zu. Nach anfänglicher Ablehnung und einer umfangreichen Korrespondenz, gab von Vincke schließlich nach – vielleicht weil seine Frau Eleonore, geborene von Sieberg zum Busch, als Mitglied des Hagener Frauenvereins positiven Einfluss ausübte. Schließlich empfahl von Vincke der Schirmherrin Marianne von Preußen,„die Benennung Frauenverein in Westfalen“ beizubehalten. Der Frauenverein machte seine Sache gut, denn als Vincke am 31. März 1815 die Westfalen erneut zum Kampf gegen Napoleon aufrief, forderte er ausdrücklich „die Verbindung der Frauen-Vereine“ der ganzen Provinz.

Auch nach den Befreiungskriegen traten die Frauen des Frauenvereins Hamm immer wieder in sozial schwierigen Zeiten an die Öffentlichkeit. Noch 1842 hatte der Verein Bestand und vier Frauen, die zur Gründungsgeneration gehört hatten, erinnerten nicht ganz ohne Stolz an die Ursprünge ihrer Vereinsaktivitäten in den nationalen Aufbrüchen der Befreiungskriege.
Der Geschichtsschreiber der Stadt Hamm, Moritz Esselen, weiß noch 1851 von der Existenz des Vereines zu berichten, der seine Aufgaben nun in der sozialen Betreuung von ehemaligen Soldaten, Witwen und Waisen sah.
Die gesellschaftliche Ausnahmesituation des Krieges erlaubte es den Frauen in Hamm, sich in Vereinen zu organisieren und Teil der bürgerlichen Öffentlichkeit zu werden. In der westfälischen Region des heutigen Ruhrgebiets sind Vereine in Ahlen, Bochum, Bockum, Boehle, Bommern, Bottrop, Breckefeld, Elsey, Dortmund, Ennepe, Essen, Hagen, Hamm, Heeren, Herne, Hoerde, Kamen, Kettwig, Ruhrtal, Schwerte, Sprockhövel, Unna, Voerde, Volmarstein, Wattenscheid, Wengern, Werden, Werne, Wetter, Witten belegt.
Ihre sozialkaritative Vereinsarbeit verblieb allerdings in den gesellschaftlichen Rahmen der Geschlechterordnung. Ihre mütterliche Fürsorge richtete sich häufig ganz konkret auf die eigenen Männer, Brüder, Söhne, gerade so, wie es auch der überkommenen Rolle in der Familie entsprach. Sie schrieben dieses Geschlechtermodell gewissermaßen in die nationale Frage ein. Gleichzeitig traten sie aus dem „stillen weiblichen Wirkungskreis“ heraus und organisierten selbstbewusst Veranstaltungen, korrespondierten mit Amtsträgern, sorgten für mediale Aufmerksamkeit, entwickelten Satzungen und Geschäftsordnungen, richteten die Vereine an demokratischen, transparenten und betriebswirtschaftlichen Zielen aus, begründeten eine eigene Vereinskultur, überwachten die Transporte der Spenden. Nach Kriegsende und mit Beginn der Konsolidierung des Staates schlossen sich diese Handlungsspielräume. Die „Mütter der Nation“ wurden in die biedermeierliche Binnenwelt des Hauses gewiesen. Der Versuch der Frauen, die Vereine auf Dauer zu stellen, und sich in der Armenfürsorge zu etablieren, war unterschiedlich erfolgreich und nicht unumstritten. Auf jeden Fall fiel die hohe Medienpräsenz und gesellschaftliche Anerkennung fort, sobald das Engagement nicht mehr dem Krieg, dem König, dem Vaterland galt.

Maria Perrefort/ Gustav-Lübke-Museum Hamm

Orte:

Treffen des Hammer Frauenvereins im Ressourcengebäude, Nordenwall 10, 59065 Hamm

Literatur:

Perrefort, Maria,„Vereinigen Sie sich, teutsche Schwestern zu einem frommen Bunde …“. Der Hammer Frauenverein in der Zeit der Befreiungskriege, in: Kreis Unna (Hg.), Jahrbuch des Kreises Unna 2010: Kulturgeschichten, Unna 2009, S. 143-157.
Reder, Dirk Alexander, Frauenbewegung und Nation.Pariotische Frauenvereine in Deutschland im frühen 19. Jahrhundert (1813-1830), Köln 1998.

Zitation: , Friederike von Bodelschwingh, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/friederike-von-bodelschwingh/

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Marga Wende

Marga Wende stand am 18. Dezember 1987 am Hochofen III der Henrichshütte in Hattingen. Kein typischer Platz für eine Frau. Doch an diesem Morgen stehen viele Frauen und Männer hier, um den Schmelzern der letzten Schicht beizustehen. Es ist ein trauriger Morgen, denn in Hattingen wird an diesem Tag ein letztes Mal Eisen produziert. Ein letztes Mal drängen feuerflüssige Massen lavagleich aus dem Loch im Hochofen. Die Menschen schweigen, vielen stehen die Tränen in den Augen. Am Ende überreicht Marga den Männern der letzten Schicht rote Nelken.
In den letzten Monaten hatte eine Stadt gekämpft. Gekämpft für die Hochöfen, die den Menschen Arbeit gab.

Marga Wende, Betriebsrätin und aktiv in der Fraueninitiative, wollte sich nie vordrängeln und doch stand sie bei Demonstrationen und Kundgebungen in den ersten Reihen. Sie tat, was sie für richtig hielt, unterstützte Kollegen, setzte sich für Kolleginnen ein.

1987 hat Marge Wende bereits 29 Jahre ihres Arbeitslebens auf der Henrichshütte verbracht. Die Henrichshütte prägte ihr Leben von Anfang an. Im Laufe der Zeit hat aber auch sie das Miteinander auf der Henrichshütte, ja das Miteinander der ganzen Stadt Hattingen geprägt.

Geboren am 20. Juni 1941, als drittes Kind eines Hüttenarbeiters, verbringt sie ihre ersten Lebensjahre in der Unionstaße am Rande der Henrichshütte. Es herrscht Krieg in Deutschland und das Leben in der Nähe eines Rüstungsbetriebes wird der Familie zum Verhängnis. Im Oktober 1944 versuchen die Alliierten mit ihren Bomben, den Rüstungsbetrieb zu zerstören. Doch sie treffen das angrenzende Wohngebiet. Mutter und Tante werden im Bombenhagel unter Trümmern begraben.

Dieses tragische Ereignis reisst die Familie auseinander. Der Vater muss seinen Lebensunterhalt verdienen und kann sich nicht selbst um die kleinen Töchter kümmern. Die dreijährige Marga wird von Verwandten liebevoll aufgenommen. Trotzdem wird sie den Verlust ihrer Familie immer bedauern.

Marga besucht die Volksschule. Ist sie eine gute Schülerin? Ihre neue Familie zieht von Hattingen nach Welper. Dann geht sie zur Handelsschule. Später denkt sie darüber nach, ob dies bei ihren Eltern möglich gewesen wäre. Es musste Schulgeld gezahlt werden und bei drei Kindern wäre der Familie das nicht leicht gefallen. So ist sie aber das einzige Kind ihrer Pflegeeltern, die ihr diesen Schulbesuch gerne ermöglichen.

Dann beginnt ihr Arbeitsleben, natürlich auf der Henrichshütte. Dort ist schon der Vater beschäftigt und die Hütte gibt vielen Hattingern Arbeit und Brot. 1958 beginnt das junge Mädchen in den kaufmännischen Abteilungen. Im gleichen Jahr schreibt die Werkszeitung, dass nur die Hälfte aller Frauen länger als drei Jahre im Betrieb sind, dass sie aber in den Büros schon die Mehrheit stellen.

35 Jahre später erhält Marga eine Uhr, sie ist der Hütte treu geblieben. Auch ihre männlichen Kollegen bekommen nach 35 Jahren eine Uhr, doch ist die Herrenuhr ist um einiges teurer. Habgierig möchte sie nicht erscheinen, aber eine ungleiche Behandlung der Frauen duldet sie nicht, also beschwert sie sich.

Sie selbst behauptet, in den ersten Berufsjahren recht bescheiden gewesen zu sein. Schüchtern war sie nie, doch die aktive Rolle in Hattingen der 1980er Jahre war ihr nicht in die Wiege gelegt. Zunehmend engagiert sie sich. 1984 wird sie Betriebsrätin. Erst 1975, im „Jahr der Frau“, wurde die allererste Frau in den Hüttenbetriebsrat gewählt. 1984 war Marga also nicht die erste, für einige Jahre aber die einzige Frau in dieser Männerrunde. 1984 erreichen auch die ersten Schreckensmeldungen den Betrieb. Die 2,8m Straße wird demontiert und nach China gebracht. Ein erster Widerstand gegen den Abbau der Arbeitsplätze formiert sich, ist aber erfolglos.

Als die Werksleitung 1987 die Stilllegung der Hochöfen verkündet, wird Marga Mitgründerin der Fraueninitiative und eine der Sprecherinnen. Sie lernt, in der Öffentlichkeit aufzutreten und setzt sich für Frauen ein – aber auch für jeden Kollegen. Im Sommer 1987 beginnen zwölf Frauen einen Hungerstreik – Marga ist unter ihnen. Diese Frauen wollen nicht mehr bescheiden sein, sie wollen auf die schwierige Situation aufmerksam machen. Was geschieht wenn die Hochöfen in Hattingen ausgeblasen werden? Marga Wende, eine ganz normale Frau! Eine Frau die demonstrierte, die den Widerstand organisierte und häufig im Mittelpunkt stand! Eine Frau und gute Köchin, die Sekt mochte und über Witze herzlich lachte. Erzählen konnte sie Witze nicht, auch dann lachte sie, meist lange vor der Pointe.

Die Bescheidenheit hat Marga Wende in der Zeit des Hüttenkampfes abgelegt. Sie vertrat ihre Meinung auch in der Öffentlichkeit. Sie ließ sich nicht an die Seite schieben. Die Fraueninitiative – von den Männern zunächst belächelt – machte in dem Jahr 1987 klar, dass Frauen kämpfen können. Marga hätte sich gewehrt, hätte man sie als Anführerin bezeichnet. Die Fraueninitiative wurde durch viele getragen, doch Marga war eine ihrer großen Stützen.

Am 20. November 1999 starb Marga Wende an einem Krebsleiden. Kränze wollte sie nicht, die Trauergäste sollten für die Krebsforschung spenden.  Auch das war Marga Wende!

Ute Senger / LWL-Industriemuseum Henrichshütte Hattingen

Orte:

LWL-Industriemuseum Henrichshütte Hattingen, Werksstraße 31-33, 45527 Hattingen

Literatur:

Zeitgenossinnen, Frauengeschichte(n) aus Nordrhein-Westfalen von 1946 bis 1996, hg. v. Ministerium für die Gleichstellung von Mann und Frau des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1996, S. 114-117.
König, Otto/ Laube, Robert/ Stratmann, Egon (Hg.), Das Ende der Stahlzeit – Die Stilllegung der Hattinger Henrichshütte, Klartext Verlag Essen 1997.

Zitation: Senger, Ute, Marga Wende, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/marga-wende/

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Helena von Hoevel

Äbtissinnen, Konvent und Geistlichkeit schufen ab Ende des 16. Jahrhunderts in Fröndenberg einen Schulunterricht – für alle Kinder, unabhängig vom Einkommen der Eltern und der Konfession. Neben religiöser Unterweisung vermittelte er wenigstens ansatzweise die Grundtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens. Ohne die finanziellen Mittel des Konvents, bzw. der adeligen Damen aus ihren Präbenden oder ihrem Privatvermögen wäre dieser, wenn auch bescheidene Bildungserfolg nicht möglich gewesen. In zahlreichen erhalten gebliebenen Testamenten der Konventsangehörigen finden sich eher Schenkungen und Stiftungen für die zukünftige wirtschaftliche Absicherung der Schulen und der Lehrerstellen als an ferne Familienangehörige.
Als in Fröndenberg 1590 in deutscher Sprache flächendeckend für Mädchen und Jungen keineswegs vermögender oder adeliger Eltern Schule gehalten wurde, ohne erklärtes Ziel der Heranbildung von Verwaltungsbeamten und Offizieren, lag das Gesetz der allgemeinen Schulpflicht von 1717 in noch weiter Ferne. Dass dies ein Unterricht auf denkbar niedrigstem Niveau war und Anfang des 19. Jahrhunderts wichtige personelle und sachliche Reformen umgesetzt werden mussten, ging das 1812 aufgelöste Stift nichts mehr an. Rechtsnachfolger des Stifts, seines Vermögens und damit auch Träger des Schulwesens wurde für kurze Zeit der napoleonische und wenig später der preußische Staat.

Der Raum Fröndenberg war zum Zeitpunkt der Aufnahme eines Schulbetriebs ein sehr komplexes Gebilde an der Nahtstelle zweier höchst unterschiedlicher staatlicher Territorien und zudem konfessionell gespalten. Die Komplexität rührte daher, dass territorial der Ort zur Grafschaft Mark gehörte, diese wiederum seit 1609 und endgültig seit den 1660er Jahren zusammen mit dem Herzogtum Kleve zum Kurstaat Brandenburg. Kirchlicherseits jedoch gehörten die Fröndenberger Untertanen bis zur allmählichen Herausbildung eigenständiger Gemeinden eindeutig zur katholischen Gemeinde in Menden, jenseits der Ruhr im Territorium des Kölner Kurstaates gelegen. Mit dem freiweltlich-adeligen Damenstift mitten in Fröndenberg gab es überdies eine geistlich-kirchliche Enklave, auf die die Mendener Kirche, bedingt durch die Stiftsimmunität, keinen Zugriff hatte: Ein Fleisch im Stachel der Mutterkirche und zudem ein zwar funktionierendes, aber fragiles Gebilde gelebter Dreikonfessionalität, denn der Stiftskonvent bestand seit der Durchdringung vieler Adelsfamilien mit dem Gedankengut der Reformation aus katholischen, reformierten und lutherischen Konventualinnen. Dass es nur in seltenen Fällen zu handfest ausgetragenen Konfliktsituationen kam, dürfte daran gelegen haben, dass in Fröndenberg adelsstolz-autoritär erzogene, aber auch kluge, gebildete und auf Ausgleich bedachte Damen das Regiment führten. Hier mag auch Rivalität, Konkurrenzdenken und Familienstolz eine Rolle gespielt haben, denn wenn auch die von lutherischen Äbtissinnen geförderte Schule eine etwas längere Geschichte hatte, so ließen es sich die katholischen Damen nicht nehmen, auch ihrerseits nach Kräften das Schulwesen in Gang zu bringen.

Ab Ende des 16. Jahrhunderts ist erstmals der (nicht explizit evangelisch bezeichnete) Schulunterricht durch zwei namentlich genannte und in einem Anstellungsverhältnis zum Konvent stehende Stiftsvikare für Fröndenberg überliefert. Er fällt in die Amtszeit der lutherischen Äbtissinnen Helena von Hoevel (-1596) und ihrer Nachfolgerin Jodoca von der Recke (-1626). Typisch für die vor Ort praktizierte Koexistenz der Konfessionen war es, dass nach einer Aussage des lutherischen Pfarrers aus dem Jahr 1722 nach seinem Wissen auch bis 1683 die katholischen und bis 1709 die reformierten Schulkinder eben diese Schule besucht hätten und somit faktisch eine frühe Form der Gemeinschaftsgrundschule unterhalten wurde, deren Unterricht (außer dem Religionsunterricht) von einem angestellten Lehrer gehalten wurde.

Ab 1683 unterrichtete die katholischen Kinder dann der jeweilige katholische Pfarrer. Es wurden große Anstrengungen unternommen, einen Lehrer anzustellen und ein eigenes Schulhaus zu errichten, was dann aber erst 1720 endgültig gelang. Hierbei gingen die katholischen Stiftsdamen taktisch vor und versprachen der 1717 neu gewählten reformierten Äbtissin Dorothea von Wylich nur dann ihre Stimme zu geben, wenn sie dafür einen Bauplatz für die Schule aus dem Stiftsvermögen erhalten würden. So geschah es.

Als 1709 der bereits erwähnte Lehrer der ab 1683 nur noch von evangelischen Kindern besuchten „Gemeinschaftsgrundschule“ verstarb, wurde die Stelle vom Konvent und der reformierten Äbtissin Katharina von der Heyden mit einem Calvinisten neu besetzt, was dazu führte, dass die lutherischen Stiftsdamen eine eigene Schule begründeten. Die Einstellung des Calvinisten hatte handfeste wirtschaftliche Gründe, da die Familie der Äbtissin bereits 1694 vorausschauend ein zu verzinsendes Kapital zur Verfügung stellte, aus dessen Ertrag teilweise die Schule unterhalten werden sollte. Somit wurde also die eigenständige Schule der Reformierten nicht neu begründet, sondern es kam durch den Wechsel des Lehrers zu einer Paradigmenverschiebung der bestehenden Schule, während sich die lutherischen Damen etwas neues überlegen mussten. Noch im selben Jahr 1709 stellten sie einen lutherischen Lehrer an, der fast 35 Jahre vor Ort unterrichtete.

Die bis 1918 durchgängige Praxis der Schulaufsicht auf dem Lande durch die Pfarrer macht deutlich, wie eng die Verzahnung zwischen Schule und Kirche einst gewesen ist. Vornehmlich den evangelisch-lutherischen und den evangelisch-reformierten Gemeinden war es aus ihrem Selbstverständnis heraus eine Pflicht, Kenntnisse des Lesens und Schreibens der „hochdeutschen Sprache“ zu vermitteln, auch als notwendige Basis für das Singen deutschsprachiger Kirchenlieder und das Lesen der Heiligen Schrift. Bereits auf der ersten evangelisch-lutherischen Gesamtsynode der Grafschaft Mark in Unna 1612 war die Frage, ob in den Gemeinden „auch Schuel gehalten werde und der Catechismus Lutheri fleissigh darein getrieben“ Gegenstand der Erörterungen. Die Notwendigkeit der Vermittlung dieser Elementarkenntnisse wurde wenige Jahrzehnte später auch katholischerseits anerkannt und entsprechende Forderungen an die Geistlichkeit herangetragen, Schule in ihren Kirchspielgemeinden abzuhalten.

Jochen Engelhard v. Nathusius/ Stadtarchiv Fröndenberg

Orte:

Stiftsbezirk, 58730 Fröndenberg

Literatur:

Basner, Klaus, Geschichte der Schulen im Raum Fröndenberg, Fröndenberg 1991, (Beiträge zur Ortsgeschichte), hg. v.d. Stadt Fröndenberg/Ruhr, Bd. 7. 
Reißer, Jürgen/ Rinke, Andreas/ Schramm, Helmut, Die Stiftskirche in Fröndenberg, Fröndenberg 2005, (Beiträge zur Ortsgeschichte), hg. v. d. Stadt Fröndenberg/ Ruhr, Bd. 17. 
Krone und Schleier. Kunst aus Mittelalterlichen Frauenklöstern, hg. v. d. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn und dem Ruhrlandmuseum Essen, München 2005, S. 351-353.
Vauseweh, Arno/ Vauseweh, Ramona, Roter Ring auf silbernem Grund. Segele von Hamme, der Fröndenberger Marienaltar und die "Wandernde Madonna", in: Vestischer Kalender 2010, S. 201-222.

Zitation: , Helena von Hoevel, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/helena-von-hoevel/

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Anna Schmidt

Befragt nach den wichtigsten gewerkschaftlichen Errungenschaften kam Anna Schmidt zeitlebens zu dem Schluss: dass die Arbeitskleidung von der Zeche gewaschen wird. Darauf musste sie lange warten, denn diese Vereinbarung schlossen Industriegewerkschaft Bergbau und Energie sowie Unternehmensverband Ruhrbergbau erst mit der Gründung der Ruhrkohle AG im Jahre 1970.

Anna Kruse, geborene Süllentrup, verlor ihren ersten Mann durch eine Gasvergiftung auf der Zeche Constantin. Die Witwe mit zwei Töchtern heiratete kurze Zeit später Gustav Schmidt, auch er Bergmann. Als gelernter Schmied war er aus Ostpreußen ins Ruhrgebiet gekommen. Das Ehepaar schickte bald vier Kinder aus Überzeugung auf die Freie Schule Herne. Obwohl alle Kinder aufgrund guter Leistungen Empfehlungen erhielten, konnte sich die Familie weiterführende Schulen nicht leisten: Schulgeld, Büchergeld, Mehraufwendungen für Kleidung, Schuhwerk und Schulausflüge waren noch nicht einmal für ein Kind im monatlichen Budget. Anna und Gustav Schmidt handelten ein Mal schweren Herzens gegen ihre kommunistische und gewerkschaftliche Überzeugung: Als ihr Sohn eine Lehrstelle beim angesehenen Maschinenbauunternehmen Flottmann antreten konnte, kauften sie dem Vierzehnjährigen ein Hemd der Hitler-Jugend. So blieb ihm die Zeche erspart.

Während Gustav untertage als Hauer vor Kohle stand, leistete Anna Schmidt übertage Schwerstarbeit. Jede Minute des Tages war angefüllt mit Arbeit, das Arbeits“zeugs“ bestimmte dabei das Wochenende. Aufstehen um halb fünf in der Frühe, für den Mann bei Frühschicht Frühstück, Kaffee, Schichtbrot vorbereiten, später auch für die Kinder. Sie sorgte dafür, dass die Kinder pünktlich in die Schule, später dann zur Arbeit kamen. Die älteste Tochter lernte Verkäuferin in einem Schuhgeschäft, die zweite ging nach Berlin in Anstellung, die dritte machte eine Ausbildung in der Arbeitsverwaltung. Bis zur Gründung eigener Familien besserten sie mit ihrem Kostgeld die Haushaltskasse auf. Alle kamen unterschiedlich zum Essen nach Hause, es gab den ganzen Tag ein Kommen und Gehen, ein Kochen, Auftischen, Abräumen und Spülen. Zwischendurch arbeitete Anna Schmidt auf dem Pachtland, säte, jätete Unkraut und erntete. Je nach Jahreszeit wurde eingekocht, Kraut gestampft, geschlachtet. Und abends wurde gebügelt, geflickt, gestopft und gestrickt.

Tagtäglich kochte sie für ihre Familie und für die Schweine, die sie im Stall hinter dem Haus hielt. Außerdem hatte die Familie noch Hühner. Jeden Morgen lag dicker Ruß auf den Fensterbrettern, vor allem freitags, wenn die Filter gereinigt wurden, dann klebte der Ruß nicht nur flockenweise, sondern auch noch schmierig und setzte sich in den kleinsten Ritzen fest. Der grobe Dreck wurde ab-, dann der feinere mit einem feuchten Lappen weggewischt. Anna Schmidt putze jede Woche die Fenster – der Dreck an den braun gestrichenen Fensterrahmen fiel nicht so sehr auf, aber umso mehr der Schmierfilm auf den Scheiben, den wusch sie mit Seifenlauge gründlich ab: Den Lappen, den konnte man hinterher wegschmeißen. Am Samstag bohnerte sie den Fußboden, auch diese Tätigkeit war Schwerstarbeit. Der Küchenfußboden war mit Stragula ausgelegt, eine Art Linoleum-Ersatz, mit bunt lackierter Oberfläche. Anna Schmidt wischte zuerst das Stragula, dann verteilte sie mit einem Lappen gleichmäßig Bohnerwachs aus der Dose und bohnerte den Boden blank – mit einem Wolllappen über dem Schrubber. Bohnern – das war Samstagsnachmittagsarbeit, wenn die Kinder gebadet waren, wurde mit dem bereits mehrfach verwendeten Wasser anschließend die Küche gewischt. Und dann wurde eingebohnert.

Am Wochenende war auch Waschtag vom Grubenzeug, zumindest bis zum Tarifvertrag von 1970, der dessen Gestellung des Grubenzeugs regelte. Das Zeugs war schwarz wie die Kohle und dazu noch ölverschmiert. In der Kaue wuschen die Männer den gröbsten Dreck schon aus und brachten den „Püngel“, die Arbeitskleidung, ins Grubenhandtuch eingewickelt unterm Arm nach Hause. Das Badewasser, das vom Wischen noch übrig war, wurde nun zum Einweichen der Grubenbekleidung mit IMI gebraucht, anschließend wusch Anna Schmidt es, wie alle Bergarbeiterfrauen, mit der Hand auf dem Waschbrett sauber, spülte es mit kaltem Wasser mehrmals „klar“ nach und hing es anschließend über dem Kohlenherd in der Küche zum Trocknen auf. Am Sonntag schließlich setzte sich Anna Schmidt hin und flickte, stopfte, besserte es aus. Montag früh nahm der Mann das Grubenzeugs wieder mit zur Arbeit. Die meisten Männer besaßen nur einen Grubenanzug, mit zwei Hosen waren sie „reich“.

Die große Wäsche, die hatte Anna Schmidt wie andere Bergarbeiterfrauen auch, immer montags. Dazu benötigte sie einen ganzen Tag am Stück. Am Abend zuvor weichte sie die Wäsche ein. Am anderen Morgen um fünf Uhr heizte sie den Kessel. Bis sie einen eingemauerten Kessel im Keller benutzen konnte, quollen die Dampfschwaden aus dem Waschkessel auf dem Herd im zweiten Stock des Mietshauses auf der Mülhauser Straße. War die Wäsche ausreichend gekocht, schöpfte Anna Schmidt das heiße Wasser in eine am Boden stehende Zinkwanne und füllte auch die Wäsche um, damit alles abkühlte, denn sie konnte ja nicht zum Waschen in das heiße Wasser packen. In Familien mit kleinen Kindern war dies ein besonders gefährlicher Moment. Die Frauen mussten aufpassen, dass keines der Kinder in einem unbeaufsichtigten Moment in die Lauge fiel – sie hatten dann Verbrennungen dritten Grades am ganzen Körper! Als nächstes bearbeitete Anna Schmidt die Wäsche auf dem Waschbrett, spülte sie, wrang sie, spülte sie mit SIL, wrang sie wieder aus – diese Prozedur umfasste insgesamt fünf Arbeitsgänge.

Im Laufe der Zeit kamen Maschinen zur Hilfe: die Schaukel, der Wassermotor, dann der Elektromotor mit Wringer und schließlich der Waschvollautomat. Anna Schmidt sparte, um sich die jeweils neueste Technik anzuschaffen. Die Maschinen zahlte sie mit monatlich fünf Mark ab, wie sich der Sohn erinnert. Einen Kühlschrank brauchte Anna Schmidt lange Zeit nicht, sie hatte eine durchlüftete Speisekammer und ging jeden Tag in den Konsum einkaufen. Aber als ein Waschvollautomat für Arbeiterfamilien halbwegs erschwinglich wurde, kaufte sie sich sofort eine Waschmaschine mit separater Schleuder – eine Constructa –, denn das Grubenzeugs wurde weiterhin bis 1970 mit der Hand gewaschen: um den Waschautomat nicht zu sehr zu belasten. Sie wurde dann aber geschleudert.

Uta C. Schmidt/ FRAUEN.ruhr.GESCHICHTE.

Orte:

Mülhauser Str. 18, 44627 Herne und umliegende Arbeitersiedlung Constantin (Kronenstraße, Dorastraße, Pieperstraße bis hin zum Landwehrweg) 

Literatur:

Die große Wäsche. Ausstellungskatalog hg. vom Landschaftsverband Rheinland und Rheinisches Museumsamt, Köln 1988.
Dommer, Olge,  Alles potentief sauber! Zum Wandel des Wäschewaschens im Industriezeitalter, in: Forum. Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur, 2/ 2004, S. 51-52.
Hochlarmarker Lesebuch. Kohle war nicht alles. Bergarbeiter und ihre Frauen aus Recklinghausen-Hochlarmark haben in Zusammenarbeit mit dem kommunalen Stadtteilkulturreferat ihre Geschichte aufgeschrieben, hg. v. der Stadt Recklinghausen, Oberhausen 1981.
Jong, Jutta de (Hg.), "... und die Wäsche, die war schwarz, ja, wie die Kohle!" Erzählungen von der Großen Wäsche der Bergarbeiterfrauen, zusammengetragen vom Gesprächskreis "Lebenserfahrung von Frauen in Bergarbeiterfamilien", Herten 1988 (2. Aufl.).
Jong, Jutta de, "Wir müssen ja auch hungern, wenn ihr arbeitet!" Zur Rolle der Bergarbeiterfrauen in den großen Streiks zwischen 1889 und 1912, in: Ditt, Karl und Dagmar Kift (Hg.): 1889. Bergarbeiterstreik und wilhelminische Gesellschaft, Hagen 1989, S. 68-87.
Jong, Jutta de, Kinder - Küche - Kohle und viel mehr. Bergarbeiterfrauen aus drei Generationen erinnern sich, Essen 1991.
Schmidt, Uta C., Schwerstarbeit. Das Leben der Bergarbeiterfrau Anna Schmidt, in: Piorr, Ralf, Vor Ort. Geschichte und Bedeutung des Bergbaus in Herne und Wanne-Eickel, Herne 2010, S. 200-205.

Zitation: , Anna Schmidt, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/anna-schmidt/

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Charlotte Zinke

Die junge Charlotte Emilie Ernestine Maetschke machte sich von Zielenzig (in der Nähe von Frankfurt/ Oder, heute Sulęcin in Polen) auf, um im Ruhrgebiet Arbeit und Zukunft zu finden. Sie kam nach Mülheim an der Ruhr und lernte dort den Mauerergesellen Willy Zinke kennen. Beide heirateten  am 17. Dezember 1910, da war Charlotte „Lotte“ 19 Jahre alt.

Das Ehepaar zog nach Essen-Frohnhausen. Lotte Zinke wurde Mitglied der Sozialdemokratischen Partei (SPD). Sie engagierte sich ab 1919 aktiv in der Kommunistischen Partei (KPD) und bekleidete von 1927 bis 1930 das Amt der Bezirksfrauenleiterin der KPD Ruhrgebiet. In dieser Funktion hatte sie Frauen für die Parteiorganisation zu gewinnen, mehr aber noch bei den Ehefrauen der organisierten Arbeiter für die politische Arbeit ihrer Männer zu werben. Von Lotte Zinke ist überliefert, dass sie aufbrausend und resolut werden konnte, wenn Frauen nicht zu politischen Treffen erschienen mit der Entschuldigung, sie müssten zu Hause kochen.

1929 zog Lotte Zinke in das Essener Stadtparlament ein und 1930 ging sie als Reichstagsabgeordnete nach Berlin. Die KPD wurde bei der Reichstagswahl mit knapp über 13 Prozent hinter SPD und Nationalsozialistischer Partei Deutschlands (NSDAP) drittstärkste Partei. Zur Freude über den politischen Erfolg gesellte sich die Angst vor einem weiteren Erstarken der NDSAP, die bereits bei dieser Wahl einen Zuwachs von 15,7 Prozent gegenüber 1928 verzeichnen konnte. Im fünften Reichstag befanden sich unter den insgesamt 565 Abgeordneten 38 Frauen. Zusammen mit Berta Schulz (SPD) aus Herne und Elisabeth Zillken aus Dortmund für das Zentrum vertrat Lotte Zinke dort den Wahlkreis Westfalen-Süd; die KPD war mit der Abgeordneten Barbara Esser aus Essen auch im Wahlkreis Westfalen-Nord vertreten.

Von den großen politischen Organisationen bereitete sich einzig die KPD frühzeitig auf eine  Fortsetzung ihres politischen Kampfes für den Fall einer Machtübernahme durch die NSDAP vor. Sie formierte sich als Geheimorganisation im Untergrund. Gemäss den Beschlüssen der Kommunistischen Internationale wurden Verstecke für Propagandamittel, Mitgliederkarteien und Waffen organisiert. Von den kleinsten Haus-Einheiten bis hin zum Zentral-Komitee sollte die Partei aus der Illegalität heraus operieren und den Nationalsozialismus im Alleingang überwinden können. Mit der Diffamierung als „Sozialfaschisten“ verschärfte die KPD ihre Frontstellung gegen die Sozialdemokratie: SPD und NSDAP galten gleichermaßen als politischer Feind.

Der Beschuldigung, die Kommunisten hätten den Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 gelegt, folgte eine landesweite Verhaftungswelle. Lotte und Willy Zinke entzogen sich der Verfolgung 1933 durch Flucht in die Niederlande. Trotz offensichtlicher Gefahr an Leib und Leben kehrten sie 1934 nach Essen zurück. Charlotte Zinke drohte dort gemeinsam mit zwei weiteren Genossen ein Parteiausschlussverfahren: Sie lehnte die illegale Arbeit der KPD ab und hatte durch ihre Flucht nach Holland angeblich Partei schädigendes Verhalten gezeigt. Im Ruhr-Echo, dem Organ der KPD Ruhrgebiet, hieß es dazu im März 1934: „Ihr Verhalten ist konterrevolutionär … Wir können in unseren Reihen nur Revolutionäre gebrauchen, die trotz Todesgefahr nicht ablassen, unermüdlich, kühn und zäh für die Errichtung unseres Zieles die Vernichtung der kapitalistischen Gesellschaft – die Errichtung der klassenlosen Gesellschaft – zu kämpfen.“

Das Ehepaar Zinke lebte von nun an unauffällig in Essen. Nach dem Attentat vom 20. Juni 1944 auf Hitler wurde die Verhaftung aller ehemaligen Reichstags- und Landtagsabgeordneten von KPD und SPD eingeleitet. Es ging dabei um eine seit langem geplante Ausschaltung von Mitgliedern demokratischer Organisationen, die das Attentat lediglich medienwirksam als Vorwand nutzte. Diese „Aktion Gitter“ begann am 22. August. Lotte Zinke wurde am 26. August 1944 verhaftet.

Sie war auf die Inhaftierung nicht vorbereitet. In mit Bleistift geschriebenen Mitteilungen gab sie Willy Zinke Anweisungen, sich um die nasse Wäsche zu kümmern. Sie verlangte nach ihrer Brille und nach Geld. Sie bat ihn, ihr den gewaschenen und zum Trocknen über den Stuhl gelegten Hüfthalter ins Gefängnis zu bringen. Am 25. September 1944 wurde Charlotte Zinke ins Konzentrationslager Ravensbrück verbracht. Am 15. Oktober gelang es ihr, eine Mitteilung aus dem Zug zu schmuggeln: … Man hört auch sonst nichts Gutes. Hoffentlich habe ich die Kraft, da alles auszuhalten…  Aus Ravensbrück erhielt Willy Zinke am 6. November 1944 die Mitteilung, dass seine Frau verstorben sei.

Nach der Befreiung stellte er für Lotte vor der gemeinsamen Wohnung an der Fängershofstraße einen Gedenkstein auf. Der SPD-Ortsverein Haarzopf/ Fulerum übernahm für das Gedenkbuchprojekt der Alten Synagoge Essen die Patenschaft für Charlotte Zinke, eine bemerkenswerte Entscheidung, erinnerte die SPD hier doch an eine kommunistische Stadt- und Reichstagsabgeordnete.  Am 15. Juni 1988 wurde das Gedenkblatt mit Charlotte Zilkes Lebens- und Leidensgeschichte in der Alten Synagoge unterzeichnet. Sie gehört damit zu einer der bis jetzt mehr als 300 Personen der insgesamt 3.500 während des Nationalsozialismus ermordeten Essener Bürgerinnen und Bürger, der aktiv gedacht wird.

Auf Fotografien ist Charlotte Zinke als stattliche Frau überliefert. Man traut ihr zu, dass sie uneigennützig zupackte im Kleinen wie im Großen. Auf den ersten Blick scheint es befremdlich und mit Bildern des Heldenhaften nicht vereinbar, dass die Spitzenpolitikerin der Arbeiterklasse im Gefängnis um ihren gewaschenen Hüfthalter bat. Praktisch gesehen befestigte man am Hüfthalter die Strümpfe. Er hielt die Figur in Form. Hier wird er in einem weit umfangreicheren Maße zu einer Metapher der Stütze: Er half Charlotte Zinke, nicht die Fassung zu verlieren. Er stützte real und im übertragenen Sinne ihr Rückrat.

Dr. Uta C. Schmidt /  frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Düsseldorfer-Straße 4, 45145 Essen-Frohnhausen.
Ständige Ausstellung im Haus der Essener Geschichte, Bismarckstraße 10, 45127 Essen

Literatur:

Archivalien zu Lotte Zinke im Archiv Ernst Schmidt/ Haus der Essener Geschichte

Zitation: Schmidt, Uta C., Charlotte Zinke, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/charlotte-zinke/

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Maria Ansorge

Einen weiten Weg hat die aus den Sudeten stammende Textilarbeiterin Maria Ansorge im Laufe ihres 75jährigen Lebens zurückgelegt. Aus der Dorfschule kam sie in die Fabrik und von da zur Parteiarbeit. Unermüdlich kämpfte sie für eine gerechtere Welt und für bessere Arbeitsbedingungen. Bis zur Machtübernahme durch die Nationalsozialisten gehörte sie dem Deutschen Reichstag an. Dann wurde sie in Gefängnisse und ins KZ gesteckt, musste aus ihrer schlesischen Heimat flüchten und gelangte nach dem Krieg nach Marl.

In der Dorfschule in Löchau, „einem kleinen Ort, wo die Handweberei daheim war und Gerhard Hauptmann den Stoff zu seinem Drama „die Weber“ geholt hat“, hat die Tochter eines armen Bauarbeiters nach ihren Erzählungen oft den Unterricht versäumt, weil sie bei der Betreuung der Geschwister und im Haushalt mithelfen und durch Feldarbeit Geld verdienen musste. Schmalhans war immer Küchenmeister, schrieb sie später. Wie ihre Mutter wurde sie Handweberin. Als sie heiratete, wusste sie, dass sie mitverdienen musste. Das störte sie nicht, denn durch ihre Fabrikarbeit war sie bereits mit politisch aktiven ArbeiterInnen konfrontiert und vermochte ein reges Interesse am politischen Geschehen zu entwickeln. Was sie störte, war, dass ihr Mann sie nicht zu Gewerkschaftsversammlungen mitnehmen wollte. Er behauptete: „Da seid Ihr [Frauen] zu dumm dazu.“ Sie trennte sich bald von ihm, wurde selbst Gewerkschafts- und SPD-Mitglied (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) und unternahm größere Versammlungstouren. Während des Ersten Weltkriegs übernahm sie „freiwillig“ die Leitung des Bäcker- und Fleischerverbandes und gab ebenso „freiwillig“ wieder ab, als die Männer vom Krieg nach Hause kehrten.

Als nach dem Sturz des Kaiserreiches 1918 das Frauenwahlrecht erkämpft war, gehörte sie zu den sozialdemokratischen Frauen, die für ein Reichstagsmandat aufgestellt wurden. Bis 1933 war sie Mitglied des Reichstags und ging „mit ihrem ganzen Wesen in der öffentlichen Arbeit für die arbeitenden Menschen auf“. Ganz offensichtlich waren es ihre „stringente Persönlichkeit“ und ihre Treue zur mehrheitlichen Parteilinie, dass sie die Auseinandersetzungen im Reichstag der Weimarer Republik überstand. In ihren Reden wurde sie nicht müde, immer wieder auf die niedrigen Löhne und schlechten Lebensbedingungen ihrer Landsleute hinzuweisen. Dabei nahm sie kein Blatt vor den Mund, wenn sie zum Beispiel Abgeordnete der Regierungsparteien aufforderte, sich die Elendswohnungen des Waldenburger Reviers einmal vor Ort anzusehen, anstatt immer bloß in den Wohnungen der (wohlhabenden) Landwirte Studien zu treiben.

Als die SPD-Fraktion 1933 geschlossen gegen das Ermächtigungsgesetz stimmte, war Maria Ansorge bereits zum zweiten Male vorübergehend verhaftet. Fortan wurde sie von den Nazis gut überwacht und ab und zu zur Gestapo und zur Kreisleitung der Nationalsozialisten bestellt, wie sie später schrieb. Es ging gegen ihren Gerechtigkeitssinn, dass man sie monatelang einsperrte, ohne ihr Gründe zu nennen: An ihre Familie schrieb sie im Dezember 1933: Wenn ich auch nur etwas getan hätte, könnte ich es verstehen, dass man mich monatelang einsperrt, aber wenn man politisch, noch sonst irgend etwas Strafbares getan hat, da fehlt einem das Verständnis dafür. Die „braunen Jahre“ waren wohl die schwerste Zeit ihres Lebens. Sie lebte überwiegend von Arbeitslosenunterstützung und Fürsorge. Ihre geringen Ersparnisse waren durch die Gestapo beschlagnahmt worden. Ihre letzte Verhaftung erfolgte im Rahmen der „Aktion Gitter“ nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Sie wurde ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück verschleppt und bis zum 3. November 1944 eingesperrt. Einem Antrag auf Beschädigtenrente vom 23.11.1948 ist zu entnehmen, dass sie infolge ihres KZ-Aufenthaltes Gesundheitsschäden erlitten hat: „… durch stundenlanges Stehen im Freien mit nacktem Körper und durch schlechte Ernährung“. Ihr einziger leiblicher Sohn ist am 7. Mai 1945, als er bereits auf dem Weg in die Heimat war, von einer Kugel aus sowjetischen Gewehren getroffen worden, die eigentlich einem flüchtenden Offizier der Hitlerarmee gegolten hatte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ihr von den Sowjets das Amt der Bürgermeisterin von Nieder-Salzbrunn (Niederschlesien) übertragen. Die Amtszeit dauerte nicht lange. Am 28.5.1946 wurde Maria Ansorge aus Schlesien vertrieben. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten, der ein Jahr später an Magenkrebs starb, ihrer Schwiegertochter und deren drei Töchtern verließ sie mit ihrer notwendigsten Habe Nieder-Salzbrunn. In einem Güterzug ging es gen Westen. Am 16.7.1946 kam sie mit ihren Angehörigen nach Marl, einem Bergbaugebiet mit einer starken Arbeitertradition. Dort wohnten bereits die Eltern ihrer Schwiegertochter seit den zwanziger Jahren. Schnell wurde die „fünfköpfige Frauenfamilie“ in Marl heimisch. Maria Ansorge wurde wieder in SPD und AWO (Arbeiterwohlfahrt) aktiv und sorgte sich fortan um ihre Schicksalsgefährten, die Flüchtlinge und Heimatvertriebenen. Als Mitglied des Rates der Stadt Marl bekam sie im Sozialausschuss und in vielen ehrenamtlichen Funktionen dazu Gelegenheit.

Als die Sozialdemokratin 1949 für den Bundestag kandidierte, war sie mit 68 Jahren die älteste der SPD-Kandidatinnen für dieses Amt. Als Nachrückerin zog sie 1951 in den Deutschen Bundestag ein, wurde Mitglied des Ausschusses für Heimatvertriebene und des Ausschusses für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen, kümmerte sich also weiter um die Versorgung der Kriegsopferfamilien, insbesondere der hinterbliebenen Frauen, denen sie sich bereits im Reichstag gewidmet hatte. Ihre Schwiegertochter und deren drei kleine Kinder lebten mit ihr zusammen. Aus den Vorträgen, die sie immer noch regelmäßig im Rahmen von Versammlungen hielt, sprach die profunde Kenntnis der sozialen Verhältnisse, die sie am eigenen Leib erlebt hatte.

Ihre erste und einzige Rede im Deutschen Bundestag galt der Kriegsopferversorgung und der Begründung eines Antrags der SPD-Fraktion auf Erhöhung der Elternrente. Leidenschaftlich geißelte sie die Unsinnigkeit von Kriegen und die Absurdität einer geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung, wie sie in fast allen Ländern der Welt vorzufinden war. Einfacher und klarer konnte das niemand ausdrücken als Maria Ansorge, die aus einer armen Arbeiterfamilie stammte, selbst Arbeiterin war, zwei Weltkriege erlebt und den Sohn sowie den Lebensgefährten verloren hatte: Die Frauen mussten damals in die Betriebe gehen, um Granaten zu drehen, mit denen sich draußen im Felde ihre Männer gegenseitig niedergeschossen haben. Nun stünden diese Frauen ohne Männer und Söhne und mit einer völlig unzureichenden Versorgung da. Sie verwies in ihrer Rede auch auf die Absurdität des Spruches, mit dem man die Frauen für dumm verkauft habe: Der Dank des Vaterlandes ist euch sicher! Ihre großen politischen Ideen hat sie bis zu ihrem Tode nicht aufgegeben: Wir Alten müssen den Jungen den richtigen Weg zeigen und ihnen die Schulung und das Wissen vermitteln, das sie brauchen, um unsere sozialistische Idee zu verwirklichen. Dazu sind wir nie zu alt!

Gisela Notz/ Berlin

Orte:

Siedlungsstraße 3, 45768 Marl

Literatur:

Notz, Gisela, Frauen in der Mannschaft, Bonn 2003.

Zitation: Notz, Giesla, Maria Ansorge, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/maria-ansorge/

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Luise Albertz

Mehr als drei Jahrzehnte regierte die emanzipierte Sozialdemokratin und Freidenkerin Oberhausen, eine Stadt, die durch viele Krisen erschüttert wurde. Als Kind einer typischen sozialdemokratischen Ruhrgebietsfamilie war Luise Albertz eine Frau, die ihre proletarische Herkunft und ihre Überzeugung, dass Ausgrenzung und Unterdrückung nicht hingenommen werden können, niemals verleugnet hat.

Gleich nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 bekam die gesamte Familie Schwierigkeiten, denn sie machte aus der Verachtung der neuen Machthaber keinen Hehl. Luise Albertz wurde nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aus dem städtischen Dienst entlassen. Zwölf Jahre lang wurden die Familienmitglieder überwacht, mit Hausdurchsuchungen in Atem gehalten und zu einer Vielzahl von Vernehmungen vorgeladen. Ihr Vater war nach dem Attentat auf Hitler 1944 im Rahmen der „Aktion Gitter“ von der Gestapo verhaftet, ins KZ Sachsenhausen und von da nach Bergen-Belsen gebracht worden, wo sich seine Spuren verlieren.

Unmittelbar nach Kriegsende wurde Luise Albertz Sekretärin des Oberbürgermeisters in Oberhausen. Sie wollte dafür arbeiten, dass sich das Los der Kumpel und der armen Menschen im Ruhrgebiet verbesserte. Deshalb baute sie die SPD (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) mit auf, bekleidete mehrere Funktionen im Ortsverein und wurde 1946 zur Stadtverordneten gewählt. Bald kam sie in die Schlagzeilen: Nachdem die SPD als stärkste Partei aus der Kommunalwahl hervorgegangen war, wählte man sie zur ersten Oberbürgermeisterin einer deutschen Großstadt. Das war eine Sensation – nicht nur, weil sie die einzige Frau unter 2.710 Bürgermeistern in der Bundesrepublik war, sondern auch, weil man die Ausübung eines so verantwortlichen Amtes in der von der Schwerindustrie geprägten, vom Bombenkrieg lädierten Industriestadt Oberhausen nur Männern zutraute.

Bald galt sie in der Kommunalpolitik als ausgesprochene Führungspersönlichkeit. Dass das oft weniger ihren eigenen politischen Fähigkeiten zugeschrieben wurde, als dem großen Ansehen, das ihr Vater in der Ruhrgebietsstadt genossen hatte, störte sie wenig, denn sie verehrte ihn. Auch aus geäußerten Vermutungen, dass die Arbeit für die allein lebende Frau einen Ersatz für die nicht vorhandene eigene Familie darstellte, machte sie sich nichts: Die ganze Stadt – das ist meine Familie, konterte sie. Mit aller Kraft sorgte sie dafür, dass die hungernden Menschen der in Trümmern liegenden Stadt das Nötigste zum Überleben bekamen. Trotz ihrer großen Beliebtheit und Popularität dauerte ihre Amtszeit (zunächst) nur zwei Jahre. Nachdem die CDU (Christlich Demokratische Union Deutschlands) sich mit dem Zentrum vereinigt hatte, bildete sie die stärkste Partei. Nach der Gemeindewahl 1948 wurde ein CDU-Kandidat Oberbürgermeister.

Am 12. November 1956 wurde Luise Albertz erneut zur Oberbürgermeisterin gewählt. Diesmal wusste die Presse zu berichten, dass man sich keine Sorgen zu machen brauche, ob Oberhausen durch eine Frau gut regiert würde: „Die Zügel sind hier ebenso straff wie anderswo. Nur die Hände, die sie halten, sind sanft und weiblich.“ Die Amtszeit des „Kumpelinchen“, wie sie von den Kumpels an der Ruhr zärtlich genannt wurde, dauerte bis zu ihrem Tod.

Ihre Aufgabe war nicht leicht, denn das Revier wurde von der Kohlenkrise erschüttert. Die Oberbürgermeisterin rotierte zwischen Bonn und Berlin, Oberhausen und Düsseldorf und zwischen Rathaus und Rednertribüne, um sich für den Erhalt der Arbeitsplätze im Bergbau und in den großen Metall-, Stahl- und Chemieunternehmen einzusetzen. Im Mai 1967 demonstrierte sie an der Spitze von 4.000 Bergarbeitern gegen die Stilllegung der Oberhausener Zeche „Concordia“. Als eine Demonstration von 15.000 wütenden Bergleuten im Oktober 1967 gegen geplante Zechenstillegungen an der Ruhr in einen Aufstand umzuschlagen drohte, appellierte sie an die Beteiligten, Ruhe zu bewahren und schützte so die anwesenden Spitzenpolitiker vor den aufgebrachten Kumpels. Das brachte ihr bei den Bergleuten freilich auch Kritik ein. Sie jedoch vertrat die Meinung, dass Proteste nur Sinn machten, wenn sie Kräfte zur Krisenbewältigung freilegten. Der Schlichtungserfolg gab ihr Recht. Von nun an wurde sie zur Symbolfigur, zur „Mutter Courage“ des Ruhrgebiets. In den folgenden Jahren konnte sie lediglich versuchen, die sozialen Folgen für die Bergleute und ihre Familien durch neue krisenfeste Erwerbsarbeitsplätze und kontinuierlicher Strukturverbesserungen im Ruhrgebiet zu mildern, denn die Zeit der Kohle gehörte der Vergangenheit an.

Neben ihrer Arbeit als Oberbürgermeisterin gelang Luise Albertz 1949 der Aufstieg in den Bundestag, wo sie sogleich Schriftführerin des Präsidiums und bis 1959 Vorsitzende des Petitionsausschusses wurde. Dort konnte sie ihr Anliegen, sich für die sozial Schwachen und Bedrängten einzusetzen, auf Bundesebene weiterführen. Sie gehörte dem Fraktionsvorstand der SPD und dem Vorstand des Deutschen Bundestags an. Weitere Schwerpunkte ihrer Arbeit waren Wohnungsbau-, Sozial- und Gleichstellungspolitik sowie der Kampf gegen die Erwerbslosigkeit. Für ihre Geschlechtsgenossinnen, die sie immer wieder ermutigte, sich am politischen Geschehen zu beteiligen, war sie Vorbild, denn sie war eine unabhängige und freie Frau, die ihre Anliegen mit Geschick und Härte, aber mit Güte und Verständnis durchsetzte.

Zu ihrem 65. Geburtstag am 22. Juni 1966 wollte sie keine Geschenke, keine Ehrungen und noch nicht einmal das ihr zugedachte Bundesverdienstkreuz. Politische Arbeit war für sie eine selbstverständliche Pflicht. Ihr Traum für das Ende des Jahrtausends war, so sagte sie es einem Reporter, „dass wir für die Schwächsten unserer Gemeinschaft, für Kinder, Kranke, Behinderte und auch Betagte, optimal gesorgt haben werden.“ Wenn sie die Jahrtausendwende erlebt hätte, wäre sie sicher enttäuscht gewesen. Willy Brandt wies zu ihrem Abschied darauf hin, dass sie diejenigen eines Besseren belehrt habe, die Politik immer noch für eine „Männersache“ gehalten hatten.

Dr. Gisela Notz / Berlin

Orte:

Rathaus Oberhausen, Schwartstraße 72, 46045 Oberhausen

Literatur:

Notz, Gisela, Frauen in der Mannschaft, Bonn 2003, S. 111-129. 

Zitation: Notz, Gisela, Luise Albertz, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/luise-albertz/

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Alma Kettig

Neunzehn Abgeordnete der SPD-Fraktion (Sozialdemokratische Partei Deutschlands) immten bei der entscheidenden Abstimmung gegen die Wiedereinführung der Bundeswehr am 6. März 1956 mit einem offenen „Nein“. Darunter waren drei Frauen: Lisa Albrecht aus München, Trudel Meyer aus Dortmund und Alma Kettig aus Witten.

Alma Kettig war 30 Jahre alt, als es nach dem Zweiten Weltkrieg galt, in Deutschland eine neue Demokratie aufzubauen. Die Erlebnisse des Zweiten Weltkrieges ließen sie nach 1945 klare politische Ziele formulieren:„Ausrottung des Nazismus, Vernichtung des Militarismus und Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft“. In die SPD – mit der sie gemeinsam diese Ziele verfolgen wollte – war sie im Dezember 1945 eingetreten. Sie war Sozialdemokratin, Pazifistin, Antifaschistin und Freidenkerin, gehörte der Gewerkschaft IG Papier, Chemie Keramik und der Arbeiterwohlfahrt an und sie stritt für den Frieden und die Rechte der Frauen: Als Sozialisten vertreten wir die Auffassung, dass der Krieg als Mittel der Politik aus rechtlichen, sittlichen und menschlichen Gründen aus dem Zusammenleben der Völker verschwinden muss, sagte sie im November 1950 in einer Rede.

Die Erfahrung, dass es nicht immer leicht war, in einem Männerbund Politik zu machen, sammelte sie 1952, als sie mit drei anderen Frauen ins Stadtparlament in Witten gewählt wurde: Wir waren so richtige Blümchen zwischen all den Männern, sagte sie später.
Nachdem bereits um die Jahreswende 1949/50 bekannt geworden war, dass die Adenauer-Regierung die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und deren Einbeziehung in die westlichen Militärbündnisse anstrebte, kämpfte sie leidenschaftlich gegen die Wiederaufrüstung. Der Gedanke, dass Nazigeneräle eine neue deutsche Wehrmacht aufbauen könnten, erschien ihr als „blanker Wahnsinn“. Alma Kettig war gegen jede Art des Krieges, auch gegen den in den 1950er Jahren tobenden kalten Krieg. Sie konnte und wollte Adenauers „Politik der Stärke“ nicht akzeptieren und war sich der Unterstützung durch „ihre“ Partei sicher.

1953 wurde sie in den Bundestag gewählt. Leicht hatte sie es als Bundestagsabgeordnete nicht. In der SPD-Fraktion war sie bald eine der wenigen, die ihren antimilitaristischen Auffassungen treu blieb und gegen den Willen der Mehrheit zu den Fragen der Wiederbewaffnung und der Notstandsgesetze, den wichtigen politischen Streitfragen der 1950er und 60er Jahre, eine entschiedene Gegenposition einnahm, von der sie trotz vielfältiger Interventionen, Pressionen, Verdächtigungen und Bespitzelungen nicht abwich. Die Abstimmung zur Ergänzung des Grundgesetzes und zur Remilitarisierung am 6. März 1956 wurde für Alma Kettig zum Schlüsselerlebnis. Das Ereignis führte zu einem tiefen Riss in der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion. Dass sich die Meinung vieler Parteifreunde zur Wiederaufrüstung geändert hatte, konnte sie nicht begreifen. Denn durch die Zustimmung zur Ergänzung des Grundgesetzes hatte die SPD alle Grundlinien aufgegeben, auf die die sozialdemokratische, die deutsche und die internationale Politik 1945 aufgebaut hatte: Es sollte ja abgerüstet und nicht aufgerüstet werden, es sollte Kooperation geben und nicht Konfrontation, sagte sie in einem Interview.

Sie bekam zahlreiche Briefe aus der Bevölkerung, auch aus der SPD-Mitgliederschaft, die ihr Abstimmungsverhalten begrüßten. Die meisten Verbündeten fand sie jedoch in der außerparlamentarischen Friedensbewegung. Am 21.7.1956 trat das Wehrpflichtgesetz nach einigen Auseinandersetzungen in Kraft. Alma Kettig sagte auch weiterhin zu allen Aufrüstungs- und Militärausgaben und zum Kauf von Atomwaffen ein klares „Nein“.

Als die NATO Ende des Jahres 1956 die mögliche Ausrüstung der Bundeswehr mit taktischen Atomwaffen aufwarf, unterstützte Alma Kettig einen Antrag der SPD-Bundestagsfraktion, darauf zu verzichten. Die Regierungsparteien lehnten das Anliegen ab. Alma Kettig wurde zum zweiten Mal in den Bundestag gewählt und amtierte dann sogar als Schriftführerin und Mitglied des Bundestag-Vorstandes. Als sich im Januar 1958 im ganzen Lande Komitees gegen die Aufrüstung der neugebildeten Bundeswehr mit Atomwaffen bildeten, schloss sich die SPD an. Alma Kettig hielt leidenschaftliche Reden im Rahmen von großen und kleinen Kundgebungen und auf Parteiversammlungen. Der Bundestag jedoch beschloss mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion, die Bundeswehr mit atomaren Waffen auszurüsten. Alma Kettig kämpfte nun in der außerparlamentarischen Friedensbewegung weiter. Ihre Arbeit in der SPD-Fraktion im Bundestag setzte sie fort.

Die engagierte Sozialdemokratin musste auch in anderen Punkten Opposition beziehen, wenn sie ihre antikapitalistischen und antimilitaristischen Positionen nicht aufgeben wollte. Nachdem 1959 das Godesberger Programm verabschiedet war, läutete Herbert Wehner am 30. Juni 1960 als stellvertretender Parteivorsitzender und führender außenpolitischer Kopf der SPD „die große politische Schwenkung“ der SPD zur positiven Position zur „Landesverteidigung“ sowie zur Westbindung und Nato-Integration der Bundesrepublik ein.   Alma Kettig trat weiterhin offen gegen die Wiederbewaffnung und die NATO auf. Als sie 1965 – gemeinsam mit elf GenossInnen – gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze stimmte, galt sie als „Abweichlerin“. Weder in der Parteispitze noch in der Fraktion hatte sie Rückhalt, selbst nicht bei denjenigen, die ihre antimilitaristische Gesinnung teilten. Im Sommer 1965 war sie die einzige, die gegen den Verteidigungsetat stimmte. Nun wurde sie diffamiert, diskriminiert, bedrängt und unter Druck gesetzt, ihren Sitz im Bundestag aufzugeben. Kurz vor Ende der Legislaturperiode legte sie alle Ämter nieder, weil sie die Politik der SPD nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte.

Sie verlagerte ihre Aktivitäten auf außerparlamentarische Tätigkeitsfelder, vor allem auf die Westdeutsche Frauenfriedensbewegung (WFFB), mit der sie schon länger kooperierte.
In der Zeitschrift der WFFB „Frau und Frieden“ machte sie den Vorschlag, in der BRD ein Ministerium für Frieden und Abrüstung nach schwedischem Vorbild einzurichten. Nachdem sich die WFFB 1974 aufgelöst hatte, gründete sie 1976, gemeinsam mit anderen Frauen die Demokratische Frauen-Initiative (DFI).Sie manifestierte damit ihre Vorstellungen einer neuen außerparlamentarischen links-politischen Frauenorganisation und arbeitete in deren Zeitschrift „Wir Frauen“ mit. Im Dezember 1980 beteiligte sie sich an großen Demonstrationen gegen die Rekrutierungspläne für Frauen. 1985 schied sie dann, fast siebzigjährig, aus der Arbeit der DFI aus. Im Wuppertaler Freidenkerverband, dessen Stellvertretende Vorsitzende sie seit 1981 war, blieb sie aktiv. Bis ins hohe Alter arbeitete sie in der Vietnamsolidarität, engagierte sich bei antifaschistischen Aktivitäten, beschäftigte sich mit Problemen der Länder des Südens und war mit den Naturfreunden unterwegs.

„Ein Leben für Freiheit und Menschenwürde ist zu Ende gegangen“ schrieben Angehörige und Freunde in ihrer Todesanzeige.

Dr. Gisela Notz / Berlin

Literatur:

Notz, Gisela, Frauen in der Mannschaft, Bonn 2003, S. 264 – 282.

Zitation: Notz, Giesla, Alma Kettig, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/alma-kettig/

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Helene Wessel

Vorbemerkung zur Biografie von Helene Wessel:

2021 regte Ina Scharrenbach als Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen eine Denkmalsetzung für Helene Wessel an, da sie als eine der vier Frauen im Parlamentarischen Rat 1949 an der Ausarbeitung unseres Grundgesetzes mitgewirkt und damit die Grundlagen heutiger Gleichstellungspolitik gelegt hatte, bei der Abstimmung stimmte sie allerdings gegen das Grundgesetz. Helene Wessel war zeitlebens eine überzeugte Pazifistin und kämpferische Demokratin. 1968 erklärte sie, dass sie „aus Gewissensgründen und nach reiflicher Überlegung gegen die Notstandsgesetze stimmen wird“. Sie begründete ihre Ablehung mit den Erfahrungen unter Hitlers „Ermächtgungsgesetz“ (Vgl. Friese, Elisabeth, Helene Wessel (1898-1969). Von der Zentrumspartei zur Sozialdemokratie, Essen 1993, S. 267). Lange vor Angela Merkel (Parteivorsitzende der CDU von 2000-2018) war sie die erste Frau an der Spitze einer Partei. Sie lebte mit einer Frau zusammen und setzte sich für Fauen in der Politik ein, nicht nur, weil diese die Mehrheit der Bevölkerung bildeten, sondern weil ihr Wirken allen zugute kommen würde – eine aktuelle Position, die im 21. Jahrhundert mit dem Argument der Diversität vorgetragen wird.

Die Denkmalsetzung wurde ausgesetzt, denn Helene Wessel hat als Sozialpolitikerin in den 1930er Jahren eugenische, „sozialhygienische“ Positionen vertreten, die heute als untragbar gelten. 1951 brachte sie als Fachpolitikerin in die Beratungen eines seit 1949 auf der Tagesordnung des Bundestages stehenden sogenannten „Bewahrungsgesetzes“ einen Initiativantrag ein und erläuterte ihn umfassend. Er beruhte, obwohl in Teilen überarbeitet, in Grundzügen auf einem Entwurf, der bereits in den 1920er Jahren vom Reichstag abgelehnt worden war, weil schon zu dieser Zeit „Verwahrlosung“ und „Bewahrung“ nicht ausreichend geklärt werden konnten und die große Gefahr des Missbrauchs gesehen wurde. Sie erläuterte 1951: „Die Gründe, die das Zustandekommen des Bewahrungsgesetzes im früheren Reichstag verhinderten, waren verschiedener Art. Vor allem zwei Gründe möchte ich erwähnen, da sie auch bei den Beratungen des vorliegenden Gesetzentwurfs der Zentrumsfraktion eine Rolle spielen werden: erstens die notwendige Beschränkung der persönlichen Freiheit der Bewahrungsbedürftigen und zweitens die Kostenfrage (Deutscher Bundestag, 163. Sitzung, Bonn, Dienstag, den 18. September 1951, S. 6605-6613, hier S. 6606, siehe auch https://dserver.bundestag.de/btp/01/01163.pdf [abgerufen 01.07.2023]).“ Es ging im Bundestag  letztlich um die „Erweiterung der Zwangserziehung für über 18 Jahre alte Menschen“ (Deutscher Bundestag, ebd., S. 6609).

In der Bundesrepublik wurde kein „Bewahrungsgesetz“ verabschiedet, weil es zu keiner genauen Abgrenzung des Personenkreises der als „bewahrungsbedürftig“ zu kategorisierenden Menschen kommen konnte, denen sich in den 1950er Jahren auch andere Fürsorgegebiete wie Fürsorgeerziehung, Arbeitshäuser, „Irrenpflege“, Vormundschaftsverfahren oder das Strafrecht widmeten (vgl. zu den zeithistorischen Begriffen ebd.) Im Bundestag 1951 – und auch bei Helene Wessel – herrschte ein Bewusstsein darüber, dass der Frage der freien Entfaltung und des Schutzes der Persönlichkeit in der Verfassung ein zentraler Stellenwert zukommt. 1950 hatte die Bundesrepublik die europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte unterzeichnet. Parlamentarische Verteterinnen und Vertreter wurden in der Frage der Zwangsverwahrung von einem Bewusstsein geleitet,  dass in Deutschland nach der Zeit des Nationalsozialismus – von der sozialdemokratischen Abgeordneten Lisa Korspeter in der  Debatte „böses Erbe der Vergangenheit“ genannt (ebd., S. 6611) – eine besondere Vorsicht gegenüber Eingriffen des Staates in die Freiheitsrechte herrschen müsse. Im Kalten Krieg mit der Systemkonkurrenz zum Staatssozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wurden die Freiheitsrechte besonders sensibel diskutiert.

Die folgende Biografie wurde 2012 in frauenr/ruhr/geschichte eingestellt und gibt den damaligen Wissensstand der Autorin wieder. Sie bezieht sich hauptsächtlich auf die 1993 von Elisabeth Friese vorgelegte Biografie Helene Wessels. Zu Beginn hat sich frauen/ruhr/geschichte mit dem Ziel, eine große Öffentlichkeit für Frauen in der Geschichte des Ruhrgebiets zu interessieren, gegen umfassende Nachweise bei den Biografien entschieden. Mittlerwerweile machen so genannte Fake News, Kommunikationsbedingungen der Sozialen Medien, Herauskopieren aus dem Zusammenhang, Künstliche Intelligenzen den Nachweis von Literatur und Informationen absolut notwendig. Die heute in frauen/ruhr/geschichte eingestellten Texte zeichnen sich deshalb durch umfassende Belege und Kontextinformationen in einem Fußnotenapparat aus. Dies ist nicht nur im Sinne seriöser Geschichtsschreibung unter den Bedingungen der Digitalität geboten, sondern auch als vertrauensbildender Beitrag zu einer kritischen historisch-politischen Bildung für die Demokratie. Auf dem Arbeitsprogramm von frauen/ruhr/geschichte steht eine Überarbeitung der hier eingestellten Biografie Helene Wessels unter Einbeziehung von Quellen und neuerer Literatur wie jene von Gisela Notz (Vgl. Notz, Gisela, Helene Wessel (1898–1969), in: Raasch, Markus/ Linsenmann, Andreas (Hg.): Die Frauen und der politische Katholizismus: Akteurinnen, Themen, Strategien, Paderborn 2018, S. 325-360) oder die vom Landtag NRW veröffentlichte Biografie, die die in Dortmund geführte Diskussion bereits aufnimmt, vgl.  unter von https://www.landtag.nrw.de/home/der-landtag/geschichte-des-landtags/verfolgungsbiografien/biografien/helene-wessel/lebensgeschichte-helene-wessel.html .

Uta C. Schmidt

Vier „Mütter“ – neben 61 „Vätern“ – waren an der Ausarbeitung des Grundgesetzes beteiligt: Elisabeth Selbert, Frieda Nadig (Sozialdemokratische Partei, SPD), Helene Weber (Christlich Demokratische Union, CDU) und Helene Wessel für die Deutsche Zentrumspartei (DZP).

Die Katholikin Helene Wessel – Abgeordnete des preußischen Zentrums, diplomierte Fürsorgerin aus Dortmund, anerkannte Sozialexpertin, Mitglied des Dortmunder Frauenausschusses – entschied sich 1945 nicht wie die meisten ihrer politischen Freunde für die neu entstehende Christlich Demokratische Union. Diese neue Partei, die als Konsequenz aus der Zustimmung des Zentrums zum Ermächtigungsgesetz 1933 und aus den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus gegründet wurde, setzte in der Gemeinschaft von Protestanten und Katholiken auf einen parteipolitischen Neuanfang.

Als gläubige Katholikin, die eine Politik für Katholiken machen wollte, vertrat sie deutlich andere Positionen als der Katholik Adenauer. Ihre Gegnerschaft zur Wiederaufrüstungs- und Westintegrationspolitik Adenauers brachte sie schließlich in einen Gegensatz zu ihrer eigenen Partei, zu deren Parteivorsitzenden sie 1949 und 1951 gewählt wurde. Sie gab ihr Parteiamt auf und verließ das Zentrum, obwohl sie sich zuvor bis zur Selbstaufgabe für ein eigenständiges Profil der Partei in der politischen Landschaft der jungen Bundesrepublik eingesetzt hatte. Es war gerade ihre christlich-katholische Prägung, die sie zu einer Außenseiterin des Katholizismus mit unabhängigen politischen Positionen werden ließ.

Innerhalb der Zentrumspartei engagierte sich Helene Wessel energisch für die stärkere Einbindung der Frauen und forcierte den Aufbau von örtlichen Frauenausschüssen neben jeder bestehenden Ortsgruppe der DZP. Bereits in der Weimarer Republik hatten die Frauen im Katholischen Deutschen Frauenbund sich gegen eigene Frauenparteien ausgesprochen und stattdessen für das Zentrum geworben. Hier knüpfte sie an. Auf dem Parteitag 1948 in Recklinghausen setzte Wessel einen 20-Prozent Anteil von Frauen im Hauptvorstand durch und forderte sichere Listenplätze für die Kandidatinnen. Sie begründete ihren Vorstoß damit, dass Frauen in besonderem Maße für die DZP aktiviert werden müssten und außerdem die Mehrheit der Wähler stellten: „Gerade ihr besonderes Wesen muss die Frau in die Bereiche des Staates hineintragen – in die Härte der Welt ihr Herz‚“, argumentierte sie: nicht Gleichheit, sondern Gleichwertigkeit beider Geschlechter und einen schöpferisch-weiblichen Beitrag beim Aufbau des neuen Staates.

Die Katholikin Wessel gründete 1952 nach ihrem Parteiaustritt zusammen mit dem profilierten Protestanten Gustav Heinemann die Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP), die sich für eine Politik der Wiedervereinigung und gegen die Wiederaufrüstungspolitik einsetzte: „Weder Militarisierung von West- noch Sowjetisierung von Ostdeutschland, sondern Friedensvertrag für Gesamtdeutschland“. Die neue Partei sollte eine überkonfessionelle, von weltanschaulicher Toleranz geprägte Gemeinschaft bilden, in der die Freiheit der Gewissensentscheidung Vorrang vor Parteidisziplin und Fraktionszwang besaß: Nicht Konfrontation, sondern Diplomatie, nicht Ablehnung, sondern Toleranz mit eindeutigem Bekenntnis gegen eine Remilitarisierung Deutschlands: „Deutschland darf kein Festlandsdegen auf europäischem Boden weder für den Westen noch für den Osten abgeben. Deutschland muss aus den beiderseitigen Aufrüstungen ausgeklammert werden“, forderte sie.

Von Helene Wessel stammt die legendäre Formulierung: „Es nutzt uns nichts, dass die Amerikaner uns versichern, sie würden die letzte Schlacht gewinnen – wir Deutsche würden die erste Schlacht nicht überleben!“ Sie erkannte das kommunistische System hinter dem „Eisernen Vorhang“ als Realität an, obwohl es ihrer christlichen und demokratischen Überzeugung zutiefst widersprach. So konnte sie eine Politik der Annäherung und Verständigung entwerfen sowie einen über Westeuropa hinausgehenden politischen Zusammenschluss unter Einbeziehung auch ost- und mitteleuropäischer Länder denken. Damit stand sie als katholische Politikerin innerhalb des Katholizismus nahezu allein dar. Im Klima des Kalten Krieges wurde sie sofort als kommunistische Handlangerin diffamiert. Helene Wessel musste Wahlkampfveranstaltungen unter Polizeischutz verlassen, und sie wurde aufs Schärfste in der Presse angegangen. Das Scheitern der GVP im Bundestagswahlkampf 1953 und die Nichtdurchsetzbarkeit der außenpolitischen Forderungen führte 1957 zur Auflösung der GVP.

Erst als Helene Wessel sah, dass sich eine Widervereinigung nicht realisieren ließ, als sie die Entwicklung der SPD zu einer Volkspartei beobachtete, Übereinstimmungen in der Außen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik ausmachte und realisierte, dass sich ihre religiös fundierten gesellschaftlichen Vorstellungen nicht mit Unterstützung der Kirche realisieren ließen, entschied sie sich für einen Parteieintritt in die SPD. „Ich glaube auch, dass ich meinen Entschluß vor meinem Herrgott verantworten kann“, schrieb Helene Wessel 1957. „So war die SPD am Ende ihres Lebens die Partei, die ihre bereits frühzeitig formulierten politischen Vorstellungen letztlich auf den Weg brachte. Helene Wessel integrierte damit den Prozess des gesellschaftlichen Wandels in den Prozess ihres politischen Lebens. Dieses ist umso bemerkenswerter, als ihre Herkunft einem solchen Werdegang eher entgegenstand“, so fasste die Wessel-Biografin Elisabeth Friese den Weg dieser exponierten Politikerin der Nachkriegszeit zusammen.

Trotz oder wegen der Verwurzelung im katholischen Glauben ließ sich Helene Wessel auf keine der Frontstellungen der katholischen Seite ein, sondern suchte nach einem politischen Verband, der ihrer Vorstellung von „sozialem Ausgleich und gesellschaftlicher Harmonie“ entsprach. Helene Wessel zeigt uns, dass es im politischen Denken der 1950er Jahre Alternativen gab, die jedoch zum damaligen Zeitpunkt gesamtpolitisch nicht mehrheitsfähig waren.

Helene Wessel trat ganz und gar für ihre Überzeugung ein, nahm dabei auch den Bruch mit politischen WeggefährtInnen und eingespielten Netzwerken in Kauf. Ihrer langjährigen Freundin und politischen Gegnerin Christine Teusch – Zentrums- und CDU-Politikerin und von 1947 bis 1954 Kultusministerin des Landes Nordrhein-Westfalen – schrieb sie über ihren Eintritt in die SPD, um Verständnis und um die Erhaltung der Freundschaft bittend: „Aber das Leben hat mich hart im Nehmen gemacht, weil ich in der persönlichen Gewissensverantwortung und -freiheit mich geborgen weiß“. „Bei Helene Wessel verband sich das Private und das Politische zu dem Leben einer Frau, der die Politik ausschließlicher Beruf und gleichzeitige Berufung war“, so versuchte die Biografin Elisabeth Friese wenigstens ein wenig von der Privatperson Helene Wessel einzufangen, die sich, mit ihrer Lebensgefährtin Alwine Cloid zusammenlebend, seit ihrer ersten Anstellung 1915 im Parteisekretariat der Deutschen Zentrumspartei in Dortmund-Hörde ein Leben lang der Parteiarbeit widmete. Dabei blieb nur Zeit für ein Hobby: das Briefmarkensammeln.

Dr. Uta C. Schmidt / frauen/ruhr/geschichte

Literatur:

Friese, Elisabeth, Helene Wessel, Essen 1993.

Zitation: Schmidt, Uta C., Helene Wessel, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/helene-wessel/

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Hilde Hauck

Wie kann man sich „Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ vorstellen? Der Kommunistin Hilde Hauck verdanken wir aufgezeichnete Erinnerungen, die etwas von ihrem Alltag in der Verfolgung erzählen. Als langjährige Leiterin der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) in Lünen hat sie unermüdlich vor allem jungen Leuten von ihrer illegalen Arbeit gegen den Nationalsozialismus erzählt, um politisch aufzuklären.

Caroline Ernestine Hildegard Hauck, geb. Unglaube, arbeitete als gelernte Verkäuferin zunächst als Verwaltungsangestellte in Lünen. Als sie von den Arbeiter-Abiturienten-Kursen hörte, die der Sozialist Kurt Löwenstein als Stadtrat für Volksbildungswesen in Berlin-Neukölln einrichten konnte, machte sie sich ohne Erlaubnis der Eltern auf den Weg nach Berlin. Sie wollte immer studieren, doch das Geld reichte nur für die Ausbildung des Bruders mit dem Argument, er müsse schließlich später eine Familie ernähren. Vormittags besuchte Hilde Hauck in Berlin die Schule, nachmittags arbeitete sie in der Volksbibliothek zu Neukölln, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie machte als eine von zwei Frauen in einem Kurs mit 34 Männern ihr Abitur in neun Fächern. 1930 begann sie ein Studium der Volkswirtschaft. In Berlin trat sie auch in die KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) ein, mit der Hoffnung, aktiv dem immer stärker werdenden Nationalsozialismus etwas entgegensetzen zu können. Als es in Berlin zu gefährlich wurde, führte sie ihr Studium in der deutschen Wolga-Republik in der Sowjetunion fort. In Moskau arbeitete sie als Journalistin für die deutschsprachige Presse. 1935 wurde ihr Sohn Alfred geboren und 1938 kehrte sie als Kommunistin nach Deutschland zurück, nachdem ihr erster Mann, Kurt Neumann, bei den stalinistischen Säuberungen verhaftet worden war – er wurde später rehabilitiert.

In Berlin meldete sie sich bei den Behörden als Verfolgte in der Sowjetunion – ein wohlüberlegter Weg, sich unter den Augen der Verfolgungsbehörde in den Widerstand einzuschleusen, denn über kurz oder lang wäre sie verhaftet und verhört worden. In Berlin kam ihre Tochter zur Welt. Wenig später kehrte Hilde Hauck nach Lünen zu ihren Eltern zurück und bekam eine Stelle bei der Stadtverwaltung, unter anderem arbeitete sie als Dolmetscherin für die russischen Fremdarbeiter und Kriegsgefangenen. Über einen Schulfreund knüpfte sie sofort politische Kontakte zu Widerstandsgruppen. Die in Moskau ausgebildete und als „Trojaner“ – so ihre eigene Formulierung – ins Deutsche Reich eingeschleuste Kommunistin wollte aktiv den Nationalsozialismus bekämpfen. Über den Schulfreund Arnold Löbel fand sie zu einer Gruppe Gleichgesinnter: Bergleute, Sozialdemokraten, Unorganisierte, Kommunisten: Jeder von uns hatte seine Verbindungen und betreute andere Gruppen (…) Bei uns hat niemand gefragt, ob einer Kommunist, Sozialdemokrat oder Christ ist.

Die NSDAP meldete illegale Treffen: „Gerüchte über Zusammenkünfte ehemals marxistischer Frauen in Form von Kaffeekränzchen in der Sedanstraße fanden durch überraschenden polizeilichen Zugriff ihre Bestätigung.“ Zu kommunistischem Widerstand lautete die Einschätzung in den politischen Lageberichten der Partei:„Es konnte festgestellt werden, dass sich der größte Teil der ehemaligen Kommunisten an dem Winterhilfswerk beteiligte. Hiermit ist aber nicht gesagt, dass sie jetzt plötzlich auch schon ihre Gesinnung geändert haben, sondern in streng vertrauten Kreisen geben sie sich noch als Gegner des heutigen Staates zu erkennen und glauben immer noch, dass sich der heutige Staat aufgrund der Lebensmittelknappheit nicht mehr allzu lange halten kann.“ Bei Böttcher und Valenta, Kneipen auf der Langen Straße, trafen sich samstags und sonntags weiterhin Anhänger der KPD.

Hilde Hauck erinnerte sich: „Jeder Tag war für uns ein Balanceakt. Ich arbeitete auf dem Jugendamt. Regelmäßig kam ein kleines Mädchen zu uns und holte Unterhaltsgeld ab. Ihre Mutter war Jüdin. Da musste man immer taktieren. Man wusste nie, wann man abgeholt wird von der Gestapo. „Komisch sagte eines Tages ein Kriminalbeamter zu mir, ‚es flüchten so viele ausländische Zwangsarbeiter nach Lünen. Da soll es ein Gerücht geben: Wenn ihr weglaufen wollt, dann geht nach Lünen; da ist eine Frau, die hilft. Finden Sie das nicht auch komisch? Ich weiß nicht, ob er mich in Verdacht hatte.“

Die Gestapo verlangte von ihr, Namen preiszugeben. Die Gefahr, dass die Widerstandgruppe aufflog, war groß. Um den Verdacht abzulenken, entschieden sie, dass einer aus ihren Reihen – Hein Hauck, den Hilde später heiratete – in die NSDAP eintreten müsse. Sie besprachen diesen taktischen Zug mit ihrem Verbindungsmann in Dortmund. Hein Hauck ließ sich nur schwer überzeugen, doch letztlich ging es um die Gruppe und all ihre Verbindungen.

Gegen Ende des Krieges entkam Hilde Hauck nur knapp dem Tod: In Dortmund-Eving sollte eine Versammlung stattfinden. Diese Veranstaltung war jedoch eine Falle. Kurz vor Beginn wurde Hilde Hauck gewarnt. Doch nicht alle erhielten diese Warnung rechtzeitig. Die Widerständler aus Dortmund-Brechten wurden, als sie sich in Eving einfanden, sofort verhaftet.
Nach der Befreiung wurde Hilde Hauck von der Britischen Militärbehörde in den ersten Landtag des neu gegründeten Landes Nordrhein-Westfalen berufen und Mitglied in der Lüner Kommunalvertretung. Bis zum Verbot der KPD 1956 arbeitete sie als Journalistin für kommunistische Presseorgane. Sie wurde in der Gewerkschaft IG Druck und Papier aktiv und mit der Gründung 1968 Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP).

Dr. Uta C. Schmidt / frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Lange Straße, 44533 Lünen

Literatur:

Stadt Lünen, Fredy Niklowitz, Wilfried Heß (Hg.), Lünen 1918-1966. Beiträge zur Stadtgeschichte, S. 167f, S. 294-298.
Tappe, Elisabeth, Die andere Hälfte. Ein Beitrag zur Geschichte der Frauen in Lünen, in: a.a.O., S. 131-180.

Zitation: Schmidt, Uta C., Hilde Hauck, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/hilde-hauck/

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Auguste Heer

Als am 13. März 1920 in Berlin der rechtskonservative ostpreußische Generallandschaftsdirektor Kapp gegen die Regierung putschte, reagierte die Arbeiterschaft mit einem Generalstreik. Am 17. März wurde der Putsch niedergeschlagen. Im Ruhrgebiet führten Arbeiter- und Vollzugsräte den Aufstand mit Streiks, an Verhandlungstischen und mit Gewehren weiter. Neben dem ursprünglichen Ziel, die rechten Putschisten zu vertreiben, den Einmarsch von Freikorps ins Ruhrgebiet zu verhindern und die Demokratie zu stützen, identifizierten sich viele Arbeiter jenseits von Parteiprogrammen mit Zielen wie der Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse durch Sozialisierung des Bergbaus.

Die Ernährungslage war seit dem Krieg katastrophal, der „Steckrübenwinter“ 1916/17 noch nicht vergessen. Von dem Lohn eines Arbeiters mussten im Durchschnitt die Lebenshaltungskosten von fünf Personen bestritten werden. Deshalb kämpfte die Arbeiterschaft im Angesicht ihrer halb verhungerten Familien konkret für höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten, Beteiligungsstrukturen – kurz: ums Überleben.„Wir verlangen Eigentumsrecht an den Schätzen, die sich auf und unter der Erde vorfinden. Wir verlangen das Paradies auf Erden und lassen uns nicht länger mit der Hoffnung auf ein besseres Jenseits abspeisen“ – forderte der Vollzugsrat der Arbeiterschaft der Zechenkolonie Lohberg in Dinslaken.

Rund drei Wochen dauerte der Versuch der Arbeiter- und Vollzugsräte, die politischen Verhältnisse neu zu ordnen, dann wurde er in einem Blutbad von erneut einmarschierenden Reichswehrtruppen, bewaffneten Sicherheitskräften und Zeitfreiwilligen erstickt.

Im Raum Hamm agierte die Reichswehrbrigade 21 des Freiherrn von Epp. Am 23. März erreichte sie die Bereitstellungsräume, der Vormarsch begann. Am 31. März erschoss die Reichswehr in Herringen und Radbod die ersten Aufständischen. Am Gründonnerstag, dem 1. April, trafen gegen Mittag Teile des Korps Epp und der Roten Ruhr-Armee in einem blutigen Gefecht bei Pelkum aufeinander. Am 2. April rückten die Regierungstruppen von Pelkum aus weiter nach Westen vor. In den ersten Apriltagen wurden 150 bis 300 Arbeiter und Arbeitersamariterinnen getötet, darunter auch Anna Kalina, die am 2. April 1920 in Rünthe einen verwundeten Kämpfer der Roten Ruhr-Armee versorgte. Sie wurde kurzerhand vor der Scheune des Bauern Schulze-Elberg hingerichtet. Hausdurchsuchungen, Entwaffnungen, Standgerichte, Massenverhaftungen und Massentötungen begleiteten den Vormarsch der Reichswehrtruppen. Am 6. April rückte die Reichswehr in Dortmund ein, die letzten Reste der Roten Ruhr-Armee flohen.

Die im Ruhrgebiet zusammengezogenen Reichswehrsoldaten überlieferten in ihren Briefen, Erinnerungen und Berichten Bilder von proletarischen Frauen, die als keifende, kratzende, spuckende, beißende, hurende Flintenweiber die Gewalttätigkeit der männlichen Kämpfer noch übertrafen. Diese sexualisierten Bilder verweisen auf die Ängste der Reichswehr-Soldaten – die Realität in den Bergkamener Arbeiterkolonien sah anders aus. Hier lebten Frauen wie Auguste Heer. Mit 19 Jahren erwartete sie ihr zweites Kind. Am 4. April im Morgengrauen erschoss die Reichswehr ihren Vater, den Syndikalisten Karl Kammeyer auf der Zechenhalde. Er hatte im Verdacht gestanden, an der Sprengung der Eisenbahnbrücke in Pelkum durch die Aufständischen maßgeblich beteiligt gewesen zu sein. Am Abend des gleichen Tages wurde auch ihr Mann Fritz Heer in Oberaden an der heutigen Jahnstraße standrechtlich erschossen, weil er sich im Besitz eines beschlagnahmten Wagens befand. Ausgelöst durch den Schock bekam die hochschwangere Auguste Heer Wochenbettfieber. Sie erlebte weder die Beerdigungen der beiden Männer, noch die ihres kleinen Sohnes, der ebenfalls in dieser Zeit starb. Zwei Wochen später brachte sie ihr zweites Kind zur Welt, das überlebte. Mittellos stand sie nun da. Frauen und Kinder der Aufständischen erhielten keine Unterstützung.

1925 heiratete Auguste Heer den Bergkamener Sozialdemokraten Friedrich August Möller. Sie wurde Mitglied in der SPD und baute nach 1945 die Frauengruppe auf, die sie ab 1948 leitete.

Auguste Möllers Erfahrungen von Hunger, Widerstand, Verlust und Leid stehen stellvertretend für viele Frauen und Männer aus der Arbeiterschaft. Kaum reflektiert wurde bislang, wie diese Erfahrungen nach 1920 weiter im Familien- und Ortsgedächtnis präsent blieben und in die Gründung der Bundesrepublik hinein wirkten. Auguste Möller wohnte auch mit ihrem zweiten Mann weiterhin in der Kolonie Schönhausen. Ihre Erinnerungen blieben in der Organisation des Raumes und der Materialität des Milieus aufbewahrt, in denen sie sich täglich bewegte. Sie entschloss sich zu einem aktiven politischen  Engagement in der SPD und schuf damit über den Nationalsozialismus hinaus eine biografische Kontinuität.

Dr. Uta C. Schmidt / frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Bergmannskolonie Schönhausen, Hansemannstraße 14, Lentstraße 6, 59192 Bergkamen
BergkamenAWO-Seniorenheim, Marie-Juchacz-Str. 1, 59192 Bergkamen (letzter Wohnort von Frau Möller)
Die u.a. Publikation von Ludgar Fittkau und Angelika Schlüter ist ein politischer Reiseführer zu Erinnerungsorten des Ruhrkampfes. Sie verzeichnet Orte in Wetter, Witten, Bochum, Hattingen, Essen, Mülheim, Dorsten, Kirchhellen, Bottrop, Duisburg, Oberhausen, Dinslaken, Voerde, Wesel, Hünxe.

Literatur:

Dreßel, Klaus-Peter: Denkanstöße durch "Weiberröcke", hg. v. d. Stadt Bergkamen, VHS-Geschichtswerkstatt, Typoskript o.O. [Bergkamen] o.J.
Litzinger, Martin, Bergkamen im „Ruhrkrieg“ von 1920, in: Kreis Unna (Hg), Heimatbuch Kreis Unna, Unna 1991, S. 84-87.
Lange, Jürgen, Die Schlacht bei Pelkum im März 1920, Essen 1994.
Fittkau, Ludger/ Schlüter, Angelika (Hg.), Ruhrkampf 1920 – Die vergessene Revolution, Essen 1990.
Feldhoff, Pauline,„Nicht schießen, wir haben doch nichts getan!“ Ein Beitrag zur Geschichte der Märzunruhen von 1920 aus der Sicht eines Kindes, in: Frauengeschichtskreis Dinslaken (Hg.), Der andere Blick. Frauenleben in Dinslaken, Essen 2001, S. 123-126.
Lucas, Erhard, Märzrevolution 1920, Bd. 1-3, Frankfurt a.M. 1973.
Theweleit, Klaus: Männerphantasien, Bd. 1, Reinbeck b. Hamburg 1980.

Zitation: Schmidt, Uta C., Auguste Heer, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/auguste-heer/

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Else Vorwerks

Beginenkonvente waren im Mittelalter Gemeinschaften von Frauen, die, einer radikalen Armuts- und Apostolatsauffassung folgend, ein bescheidenes Leben durch ihrer Hände Arbeit führten. Sie waren Teil einer breiten religiösen Erneuerungsbewegung, die schon im 10. Jahrhundert eingesetzt hatte. Kirchenrechtlich bewegten sich diese Gemeinschaften zwischen dem weltlichen und geistlichen Stand. Sie durchbrachen mit dieser vita mixta das Ordnungsgefüge einer Gesellschaft, die bis dahin auf einer strikten Trennung von Religiosen und Laien beruhte.

Der älteste Beleg für Beginen in Kamen stammt aus dem Jahre 1411. Die Beginen in dem großen Hause auf der Vlotau kauften einen Garten an der Grünen Straße vor der Stadt. Bei entsprechender Interpretation der Quellen kann man davon ausgehen, dass es eine weitere Beginengemeinschaft nördlich des Kirchplatzes und südlich der Weststraße gegeben hat. Seit der ersten überlieferten Erwähnung tauchen die Beginen immer wieder in Quellen auf. Sie scheinen ihren Besitz kontinuierlich erweitert zu haben und erhielten somit eine hohe wirtschaftliche Selbstständigkeit. Auch tauchen einige Beginen in den Urkunden namentlich auf: Boleke von Bogelen, Mette Soeschen und Benedicte Wulfes wurden 1415 in einer Verkaufsurkunde genannt.

Wann das Beginentum in Kamen seinen Ursprung nahm, ist nicht nachweisbar. In einigen nordwestdeutschen Städten fanden sich Beginen im Umfeld der Hospitäler. Dem Ideal der caritas, der Nächstenliebe verpflichtet, übernahmen sie dort die Betreuung der Insassen. Anders als die Nonnen, die durch Memoria und Meditation das Seelenheil ihrer Auftraggeber mehrten, fühlten sich die Beginen als Dienerinnen und Haushälterinnen Gottes, die göttliche Berufung im Kranken-, Armen- und Totendienst sahen. Möglicherweise finden wir in der Urkunde vom 28. Mai 1343, in der ein Gerhard von Lo der im Kamener Hospital lebenden Gese von der Borg eine Geldrente vermacht, eine Begine, die dort wirkte. Häufig wurden den Beginen Leibrenten übertragen, die nach ihrem Tod den anderen Beginen weiter gezahlt wurden. Das susterhus op der Vlotwe verpflichtete sich 1477 zu einer jährlichen Rente für das Hospital, ebenfalls ein Indiz für Verbindungen zwischen Beginenkonvent und Hospital.

Im Jahre 1470 übernahmen die Beginen des Konvents op der Vlotwe die dritte Regel des Franziskus und gaben sich damit eine anerkannte Organisationsform. Herzog Johann I. von Kleve nahm den Konvent unter seinen Schutz. Er bestätigte den Übertritt zu einem päpstlich anerkannten Orden, so wie es Papst Pius IV. von allen nach eigenen Regeln lebenden Frauen gefordert hatte. Die Beginen erhielten durch diesen Anschluss Rechtssicherheit und Schutz angesichts zunehmender Bedrängnis durch Kirche und weltliche Macht. Damit wurden sie jedoch keine Nonnen, sondern blieben Schwestern, ihr Haus wurde weiterhin Konvent oder Süsternhaus bezeichnet. Auf Wunsch des Landesherrn genehmigte auch der Kamener Magistrat am 16. Januar 1473 die Konventsgründung. Die Regel sah vor, dass die Zahl der Konventualinnen auf zwölf beschränkt sein sollte, wobei sämtliche Schwestern Töchter Kamener Bürger oder im Besitz des Bürgerrechts befindlicher Burgmannen sein mussten. Die Aufnahme von Konventualinnen durfte nur auf Vorschlag des Bürgermeisters im Namen des Magistrats geschehen. Die Stadt Kamen verfügte über die Hälfte des Vermögens der eintretenden Schwestern, wofür sie die bauliche Unterhaltung der Konventsgebäude übernahm. Die Frauen sollten nur so viel weben und wirken, wie sie für den eigenen Bedarf benötigten. Hier wurde die Sorge der städtischen Zünfte vor einer starken Konkurrenz in der Textilherstellung deutlich.

Eine Moder – Mutter – leitete den Konvent, ihr standen mehrere Schwestern zur Seite. Als erste Mutter des neuen Konvents ist 1477 Else Vorwercks überliefert. Die berühmteste Mit-Schwester dürfte Katharina von der Mark gewesen sein, eine natürliche Schwester des verstorbenen Adolf VI. v.d. Mark und Schwester des regierenden Herzog Johann I. v. Kleve. Sie trat am 4. Oktober 1471 in den Konvent ein und starb dort am 20. Juli 1499. Sie vermehrte den Besitz des Konvents und errichtete eine Kapelle mit einem Marienaltar. Ein nicht mehr vorhandener Bronze-Epitaph trug die Inschrift:„Biddet voer Süster Katharinen“.

Als ab 1553 die Reformation in Kamen Einzug hielt, blieben die Konventsschwestern beim katholischen Glauben. Zuwendungen Kamener Bürger an den Konvent gingen zwar merklich zurück, doch zahlten einige auswärtige Bürger weiter. 1646 nahm der neue Landesherr die drei Tertiarinnen-Konvente in Kamen, Lütgendortmund und Rhynern unter seinen Schutz.

Der Konvent befand sich seit dem Dreißigjährigen Krieg in arger finanzieller Not, von der er sich erst am Ende des 18. Jahrhunderts erholte. Zunehmend geriet der Konvent auch in die Kritik, ob berechtigt oder aufgrund gewandelter gesellschaftlicher Vorstellungen mit beginn der Neuzeit  lässt sich nicht mehr feststellen. 1659 erhoben Bürgermeister und Rat der Stadt Protest gegen das Kloster wegen Satzungsverstößen: es würden auswärtige Schwestern dort leben und ein Franziskaner würde sich ständig dort aufhalten. 1699 wurde eine ordnungsgemäße Lebensweise und Klosterzucht angemahnt, 1703 verbot der zuständige Franziskaner-Provinzial den Gebrauch des Tabaks und des Tees, 1727 wurde dies erneut untersagt und zugleich auch Branntwein und Kaffee verboten. Eine ausgetretene Schwester, Rosa Affhüppe, wurde gar wegen ihres vagabundierenden Lebenswandels 1738 exkommuniziert.

Doch da nahte bereits das Ende durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803, der die Auflösung aller geistlichen Herrschaften – außer dem Bistum Mainz – vorsah, um die deutschen Fürsten für den Verlust ihrer Besitztümer am linken Rheinufer zu entschädigen, die an Frankreich abgetreten werden mussten. Auch die Besitztümer des Kamener Konvents wurden aufgelistet: Einschließlich der Immobilien ergab sich ein Vermögen von 13.415 Reichstalern. Nachdem die Preußen ihre westlichen Landesteile nach der napoleonischen Besetzung wieder in Besitz nahmen, lösten sie den Kamener Konvent am 14. Juli 1818 endgültig auf. Die letzten beiden Schwestern erhielten eine Pension.

Hans-Jürgen Kistner / Haus der Kamener Stadtgeschichte

Orte:

Kirchplatz, 59174 Kamen

Literatur:

Bahr, Heinz-Wolfgang, Geschichte des Klosters zu Kamen im Zusammenhang mit der katholischen Kirchengemeinde und ihre Didaktik an ausgesuchten beispielen. Examens-Arbeit Universität Dortmund 1973.
Buschmann, Friedrich, Geschichte der Stadt Camen, Kamen 1841.
Kistner, Hans-Jürgen, Vom Beginen-Haus zur Klostergemeinschaft, in: Kreis Unna (Hg.), Jahrbuch des Kreises Unna, 2003, S. 32-40.
Zuhorn, Wilhelm, Geschichte des Klosters und der katholischen Gemeinde zu Camen, Kamen 1902.

Zitation: Kistner, Hans-Jürgen, Else Vorwerks, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/else-vorwerks/

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Margaretha von Strünkede zu Strünkede

Eine der wenigen Frauengestalten der Familie von Strünkede, die dem westfälischen Historiographen Johann Diederich von den Steinen mehr als nur die dürren Worten wert war, derer er gewöhnlich die Frauen des Hauses für würdig erachtete, war Margaretha von Asbeck zu Gohr. Zu verdanken ist dies mutmaßlich dem Umstand, dass ihr Mann Jobst von Strünkede am 29. Mai 1529 einem Mordanschlag zum Opfer fiel und die Geschicke des Hauses Strünkede damit unerwartet in den Händen einer Frau ruhten.
Die biographischen Notizen zum Leben Margarethas sind spärlich. Am 30. November 1502 kam sie im heutigen Gelsenkirchen-Heßler als siebtes von 18 Kindern des Goddert von Asbeck zu Gohr und der Anna up dem Berghe zu Ripshorst zur Welt. Über ihre Kindheit und Jugend, ihre Erziehung und Ausbildung ist nichts bekannt.
In der Genealogie der Familie von Asbeck gibt es Hinweise auf eine früh geschlossene, jedoch nur kurz währende Ehe mit Johann von Beesten zu Sythen. Gesichert hingegen ist ihre Eheschließung mit Jobst, dem Erben der im heutigen Herner Stadtteil Baukau gelegenen Herrschaft Strünkede, den sie 1524 im Alter von 22 Jahren heiratete. Bis zum Tod ihres Mannes brachte Margaretha drei Söhne zur Welt: 1525 ihren ersten Sohn Jobst, der jedoch bei der Geburt starb, ein Jahr später Wilhelm und im Jahr 1528 Goddert. Ein weiterer Sohn namens Jobst wurde fünf Monate nach dem Tod seines Vaters im Oktober 1529 geboren; er wurde nur wenige Monate alt.

Margaretha übernahm die Verantwortung für Strünkede in unsicherer und unruhiger Zeit. Im Weinbuch der Stadt Recklinghausen wurde zwei Tage nach Jobsts Tod notiert, es sei „opror in dem Lande van der Marcke“, Aufruhr auf märkischem Gebiet also, der vermutlich mit den Bauernaufständen jener Zeit in Zusammenhang stand. Noch im selben Jahr hatte Strünkede Angriffe von Truppen aus Bochum und Wetter auszustehen, was Margaretha veranlasste, bei ihrem Lehnsherren, dem Herzog von Kleve, um Hilfe nachzusuchen.
Strünkede war zu Beginn des 16. Jahrhunderts noch nicht das barock geprägte Schloss, dessen Vollendung sich erst ihr Ur-Ur-Enkel Gottfried im Jahr 1664 rühmte. Zu Margarethas Zeit war Strünkede ein Lehen der Herzöge von Kleve und präsentierte sich als weitläufige Burganlage mit Haupt- und Vorburg, einem Torhaus, einem ausgedehnten Verteidigungssystem mit Wassergräben sowie einer auf dem Gelände befindlichen Burgkapelle und einer Kornmühle. Obgleich von zahlreichen Angriffen in seinem äußeren Erscheinungsbild in Mitleidenschaft gezogen, gehörte Strünkede zu dieser Zeit dennoch zu den großen und strategisch wichtigen Festungen der Herzöge von Kleve, die an dieser Stelle die Grenze zum Vest Recklinghausen sichern sollte. Bedingt durch jahrzehntelange Auseinandersetzungen bereits aus der Zeit von Margarethas Schwiegervater Reynar und dessen Bruder Johann mit der Stadt Recklinghausen um die Nutzung von Gemeinheitsflächen und das Fischereirecht in der Emscher, waren hier jedoch Ordnung und Friede in hohem Maße gefährdet. Durch weitere willkürliche Aktionen und Übergriffe ihres Mannes Jobst auf Recklinghäuser Ländereien, die ihm in späterer Zeit den Beinamen „toller Jobst“ eintrugen, waren diese Auseinandersetzungen gefährlich eskaliert, und Mord, Totschlag und Entführung waren an der Tagesordnung. Da Strünkede bei weiteren Kämpfen ohne männliche Führung vermutlich unterlegen wäre, bemühte sich Margaretha, die Differenzen auf dem Verhandlungswege beizulegen. Das Weinbuch der Stadt Recklinghausen weist mehrere Treffen mit dem Recklinghäuser Bürgermeister Jasper von Uhlenbrouck aus, bei denen Margaretha reguläre Pachtverträge für Weideflächen in Recklinghausen abschloss und Weide- und Holzrechte in der Recklinghäuser Mark für Strünkede sichern konnte. Allerdings hielt sich auch Margaretha nicht immer zuverlässig an die Vereinbarungen: Da sie mehr als die genehmigte Anzahl von Tieren zur Mast in die Recklinghäuser Mark eintreiben ließ, beschlagnahmte man ihre Herde, die sie erst auf Intervention des Herzogs von Kleve zurückerhielt.

Wenige Jahre später machte sich Margaretha daran, die finanziellen Grundlagen Strünkedes zu stärken. In einem Schreiben vom 15. April 1534 an den Rat der Stadt Recklinghausen gab sie ihre Absicht bekannt, eine Ölmühle zu errichten. Der vorgesehene Baugrund lag „in der Coppenburg“, einem an der heutigen Herner Funkenbergstraße gelegenen Areal. Um den erforderlichen Platz für Mühle und Teich zu schaffen, ließ sie das dort befindliche Wohnhaus des Bauern Arndt Kruse niederlegen. Trotz der hohen Investitionskosten waren Amortisation und Rentabilität der Mühle gesichert, da sämtliche in der Umgebung ansässigen Bauern verpflichtet waren, hier ihre Ölfrüchte mahlen zu lassen. Margaretha sicherte Strünkede damit auch für die Zukunft solide und geregelte Einkünfte.
1535 starb Margarethas Schwiegervater Reynar von Strünkede. Er war wegen Landfriedensbruchs verurteilt und saß seit 1515 in lebenslanger Haft in Strünkede. Sein Sohn Jobst, Margarethas Mann, führte die Haftaufsicht – eine weitere Aufgabe, die Margaretha nach dem Tod ihres Mannes 1529 übernommen hatte. Der nächste Lehnsträger war ihr noch minderjähriger ältester Sohn Wilhelm. Er wurde 1536 unter der Vormundschaft Johanns von Virmund von Bladenhorst mit Strünkede belehnt, übertrug das Lehen jedoch, bedingt durch seinen Eintritt in den Deutschen Orden, 1544 auf seinen Bruder Goddert. Nach dessen offizieller Belehnung im Jahr 1548 zog sich Margaretha von Asbeck schließlich aus Strünkede zurück und heiratete zu einem nicht überlieferten Zeitpunkt in dritter Ehe Henrich von Loe zu Dorneburg.

In den Jahren um 1570 wurde Margaretha ein letztes Mal für Strünkede tätig. Die Auseinandersetzungen zwischen Strünkede und der Stadt Recklinghausen, die nach der Belehnung Godderts von Strünkede wieder aufgeflammt waren, sollten endgültig beigelegt werden. Goddert war zu diesem Zeitpunkt nach Auskunft der Quellen „verstandesblöde“ und nicht mehr geschäftsfähig. So trat Margaretha von Asbeck zusammen mit ihrem damals 23 Jahre alten Enkelsohn Jobst in die Verhandlungen ein und handelte einen Vergleich zur Beilegung der Streitigkeiten aus. Der Vertrag wurde am 5. Januar 1574 unterzeichnet und trugen seitens Strünkede die Unterschrift Margarethas von Asbeck und die ihres Enkelsohnes Jobst von Strünkede, in späteren Quellen als „gelehrter Jobst“ bezeichnet.
Danach liest man nichts mehr von Margaretha von Asbeck. Sie starb am 2. Februar 1587 und wurde im sogenannten Strünkeder Keller, dem Erbbegräbnis der Familie in der ehemaligen Herner Dorfkirche St. Dionysius, bestattet. Die Grabplatte befindet sich heute in der Schlosskapelle Strünkede.
Gabriele Wand-Seyer/ Emschertalmuseum Herne

Orte:

Emschertal-Museum der Stadt Herne, Schloss Strünkede und Schlosskapelle Strünkede, Karl-Brandt-Weg 5, 44629 Herne

Literatur:

Pennings, H., Die Beziehungen zwischen Recklinghausen und Strünkede im 15. und 16. Jahrhundert T. 2. Vestische Zeitschrift 33, 1926, S. 1-80.
Steinen, J. D. von den, Westphälische Geschichte. 3. Theil. Das XVII. Stück. Historie von den Gerichtern und Kirchspielen Mengede, Bodelschwingen, Langentreer, Witten, Castrop und Strünckede. Lemgo 1757, S. 793-795.

Zitation: , Margaretha von Strünkede zu Strünkede, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/margaretha-von-struenkede-zu-struenkede/

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Evelyn Serwotke

Evelyn Serwotke stammt aus Erfurt und hat während des Krieges an der Kunstschule Weimar Fotografie studiert. Sie trat damit in die Fußstapfen ihres Vaters, dessen Erfurter Atelier sie nach ihrer Meisterprüfung 1948 übernahm. Mag sein, dass sie an der Weimarer Kunstschule trotz des offiziell verordneten ganz anderen Kunst- und Bildverständnisses ihre Vorliebe für strukturell strenge Bilder mit klaren Linien und Kompositionen entwickelte. Von vielen ihrer späteren Schwarz-Weiß-Fotografien vermeint man spontan, Verbindungslinien in die Fotografie der zwanziger und frühen dreißiger Jahre ziehen zu können.

1953 kam Evelyn Serwotke nach Mülheim an der Ruhr und eröffnete dort ein Fotostudio. Ihr erster Kunde, der eigentlich wegen eines Porträts gekommen war, fragte sie, ob sie auch Industrieaufnahmen mache. Obgleich sie das bis dato nicht gemacht hatte, sagte sie „natürlich“ (E. S.) Ja und so begann mit dieser Nachfrage ihre ständige Beschäftigung mit einem Sujet, die über dreißig Jahre, von 1953 bis 1983, anhielt. Ihr Porträtkunde war bei einer der großen Schachtbau-Firmen des Ruhrgebietes beschäftigt und sorgte in der Folge für Aufträge in diesem männerdominierten Arbeitsgebiet. Andere Schachtbau-Firmen folgten und nutzten ihre wachsende Erfahrung in diesem technisch schwierigen Metier.

Bis in die 60er Jahre fotografierte Evelyn Serwotke ausschließlich in Schwarz-Weiß. Erst als ihr Thyssen-Schachtbau einen Auftrag abverlangte, der in Farbe ausgearbeitet werden sollte, begann ihre Beschäftigung mit der Farbfotografie.

Sie beschreibt diese Zeit, in der sie sich erstmals mit dem ihr ganz ungewohnten Farbmaterial und ohne Erfahrung mit dem Ausarbeiten der Farbabzüge beschäftigen musste, als außerordentlich anstrengend, da sie ihre Tätigkeit als Fotografin und als Mutter zweier Kinder koordinieren musste.

Da beim Fotografieren unter Tage im Steinkohlenbergbau wegen der Explosionsgefahr durch ungeschützte elektrische Kontakte nur unter großem Aufwand künstliches Licht eingesetzt werden kann, musste Evelyn Serwotke lernen, mit dem an den Baustellen vorhandenen Licht auszukommen. Zwar war in aller Regel zumindest eine minimale Baustellenbeleuchtung vorhanden, aber eine Ausleuchtung der Räume, Strecken und Schächte war so nicht zu realisieren. Die Fotografin entwickelte sich daher notgedrungen zu einer Expertin in der Praxis des sogenannten Wanderlichtes: Sie postierte Bergleute, die man ihr zur Begleitung und zur Bewältigung des Equipments mitgegeben hatte, so hinter Maschinenteilen, Wandvorsprüngen oder dem Streckenausbau, dass sie nicht im Sucher des Fotoapparates zu sehen waren; jedem hatte sie zuvor einen bestimmten Bereich des Raumes – Wand, Decke, Maschinen usw. – zugeteilt, die sie streifenförmig mit ihren Helmlampen abzuleuchten hatten.

Bei geöffnetem Verschluss des Fotoapparates „sammelte“ der Film das Licht aus den verschiedenen Quellen und gab es nach dem Entwickeln als einheitliche Beleuchtung wieder. Mit etwas Übung und Erfahrung konnten so faszinierende Beleuchtungseffekte erzielt werden, die auf einen großen Aufwand an künstlichem Licht schließen lassen und doch mit einfachsten Mitteln realisiert wurden. Allerdings ergaben sich auf diese Weise komplizierte Lichtmischungen aus den verschiedenen Lichtquellen, die bei der Ausarbeitung und Filterung eine klare Linie der Lichtinterpretation von der Fotografin verlangten. Häufig war die Lichtsituation extrem grünbetont, ganze Teile des sichtbaren Spektrums – vor allem rot und gelb – kamen fast nicht vor und mussten – wenn gewollt – hervorgearbeitet werden. Im Laufe der Zeit fotografierte Evelyn Serwotke in Dutzenden Untertage-Baustellen. Da der Steinkohlebergbau im Laufe seiner zunehmend krisenhaften Entwicklung weniger Baustellen einrichtete, wurden mehr und mehr auch andere untertägige Bauaufgaben ins Produktionsprogramm der Firmen genommen: Straßentunnel und vor allem die an Rhein und Ruhr in den 70er Jahren projektierte Verlegung vieler Straßenbahnen unter das Straßenniveau.

Die Fotogeschichte weist nicht allzu viele Fotografen auf, die professionell unter Tage fotografierten. Legt man das Augenmerk auf Fotografinnen, reduziert sich die Zahl noch einmal außerordentlich. Natürlich ist Ruth Hallensleben zu nennen, aber darüber hinaus sieht es so aus, als habe der durch und durch männliche Ort bis heute Fotografinnen kaum zugelassen
So reiht sich Evelyn Serwotke in die sehr kleine Zahl von Frauen ein, die Gelegenheit hatten, untertage zu fotografieren. Ihre Bilder, die alle aus Industrieaufträgen herrühren, faszinieren nicht nur durch die ungewöhnliche Szenerie, die sie zeigen, sie erlauben auch ganz unterschiedliche Betrachtungsweisen: Sie zeigen Technik, ungewöhnliche Höhlenbaue, unbekannte Maschinerie und rohe Bauzustände höchst artifizieller Raumkonstrukte.

Sie gewähren uns damit aber zugleich auch Einblicke in unverständliche, gefährliche, wenn nicht gar absurde Räume, in denen die uns normal erscheinende Aufenthaltsebene des mehr oder weniger Waagerechten in Frage gestellt wird; der ganze dreidimensionale Raum wird zum Aufenthalts- und Arbeitsort und ist zugleich oft mit Gestein und Geröll halb verschüttet, so dass wir uns durch ihn quasi hindurchwühlen müssen: Schächte nach oben und nach unten, Querschläge in die Tiefe vor uns, zur Seite und von unten herauf, gewaltig tiefe Löcher in die Erde hinein, die so solide aus dem Felsmassiv herausgeholt erscheinen und die dann doch ganz unten durch kleine Öffnungen Licht von noch tiefer gelegenen Sohlen durchlassen, schwindelerregend tiefe Löcher, in die gänzlich unverständlich seitlich schwarze Gänge münden.

Die Fotografin hat diese Höhlungen oft aus waghalsigen Positionen mit kühler Sachlichkeit und zugleich größtem Interesse am Entstehen eines ästhetisch geordneten Bildfeldes aufgenommen. Weder hat sie sich verloren im Augenmerk auf Details noch im bloßen Zugriff auf die technische Thematik des Auftrages. Es ist fast immer die Totale auf die engen Grenzen der Räume, aufgenommen aus unprätentiösen Standorten (die einzunehmen allerdings manches Mal halsbrecherische Aktionen erforderte). Entstanden sind so Bild-Flächen von strenger Ordnung. Der Blick kann hier kaum abschweifen oder ins Leere gehen, die Lineaturen der Räume scheinen wie für die Kamera gemacht.

Trotz aller Schönheit der Bild-Ordnung geben sie in Details aber auch fast immer Hinweise auf die Arbeit, der sich die Raumbauwerke verdanken. Irgendwo liegt noch ein Werkzeug, hängt ein Hilfsaggregat, ringelt sich ein Kabel oder Schlauch, nicht im Zentrum des Blickfeldes und des Interesses, aber leicht zu entdecken, wenn man den Bildern Aufmerksamkeit widmet. Hier und dort entdeckt man auch im Hintergrund oder am Rand Bergleute. Die Aufnahme-Orte sind nicht aufgeräumt, sondern werden uns auch als rauhe Arbeitsorte präsentiert. Die Fotografin entdeckt mit der Kamera nicht nur die abstrakte Schönheit, die sich aus den Ansichten der Räume heraus gestalten ließ, sondern betrachtete sie mit großer Anerkennung als Erzeugnisse menschlicher Intelligenz und Anstrengung.

Daniel Stemmrich / LVR-Industriemuseum Oberhausen

Orte:

Der industriefotografische Nachlass von Evelyn Serwotke befindet sich seit 2001 in der Fotosammlung des LVR-Industriemuseums Oberhausen.
LVR-Industriemuseum Oberhausen. Hansastr. 18, 46049 Oberhausen

Zitation: Stemmrich, Daniel, Evelyn Serwotke, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/evelyn-serwotke/

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Henriette Davidis

Johanna Friederika Henriette Davidis wurde als zehntes Kind des lutherischen Pfarrers Ernst Heinrich Davidis und seiner aus dem niederländischen Breda stammenden Ehefrau Maria Katharina Lithauer in Wengern (heute Stadt Wetter) geboren. Nach der Konfirmation, also mit dem Beginn des Erwachsenenalters, zog Henriette zu ihrer älteren Schwester Elisabeth, verehelichte Wichelhausen auf Haus Martfeld in Schwelm. Hier besuchte sie die höhere Töchterschule, auf der sie sich als äußerst begabte Schülerin erwies. Von Schwelm ging sie bereits zwei Jahre später nach Elberfeld, um an der dortigen Höheren Töchterschule als Gehilfin zu arbeiten.

Gründungen von privaten Höheren Töchterschulen setzten um 1800 ein. Eine Vorreiterrolle in der Region besaß das 1796 in Hamm gegründete „Töchter-Institut“, das Mädchen zu „moralischen Wesen“ gemäß ihrer kulturveredelnden Bestimmung als Gattin und Mutter bilden wollte. Die Schulgründung in Schwelm folgte schon 1804.

Eine offenbar familiäre Notsituation beendete Henriette Davidis Laufbahn als Lehrerin in Elberfeld. In Witten-Bommern übernahm sie, etwa 20jährig, die Erziehung der vier Kinder ihrer Schwester. Im Anschluss daran ging sie für weitere vier Jahre als Erzieherin nach Bremen. Es folgten für die unverheiratete, mittellose Davidis weitere Wanderjahre als Betreuerin, Erzieherin und Gesellschafterin, bis sie sich als 40jährige in Sprockhövel bei Verwandten niederließ. Über den Frauenverein Sprockhövel, der arme Kinder weiblichen Geschlechts in Handarbeiten unterrichtete, gelangte ihr guter Ruf als Pädagogin bis zum Bergamt Bochum, das in Sprockhövel die Einrichtung einer „Mädchen-Industrieschule“ plante. Das Interesse der staatlichen Bergbehörde an der Unterweisung von Bergmannstöchtern in sogenannten „Industrie-Schulen“ speiste sich aus einer profitmaximierenden Interpretation der geschlechtlichen Arbeitsteilung: Je effektiver die Frau Haushaltsführung, Vorratshaltung, Viehwirtschaft und Gartenbau einzusetzen wusste, umso geringer konnte der  Lohn des Bergmanns für die Existenzsicherung des Familienverbandes bemessen werden.

Zu dieser Industrie-Schule kam es nicht. Stattdessen stellte Henriette Davidis in Sprockhövel ihre Rezeptsammlung zusammen und ließ sie 1844/ 45 bei Velhagen & Klasing in Bielefeld drucken. Mit diesem 334 Seiten starken Buch wurde sie berühmt und hatte finanziell ausgesorgt. Für die erste Auflage, von der 1.000 Exemplare gedruckt wurden, erhielt sie 450 Taler, etwa so viel, wie Sprockhöveler Bergleute in drei Jahren verdienten. Noch im selben Jahr wurde die zweite Auflage in Höhe von 2.000 Exemplaren gedruckt, die dritte mit 3.000 Exemplaren erschien 1846. Als Henriette Davidis 1876 in Dortmund starb, war gerade die 21. Auflage mit einer Auflagenhöhe von 40.000 Exemplaren in Druck.

Neben dem Kochbuch in zahlreichen, jeweils überarbeiteten Auflagen publizierte Henriette Davidis weitere Schriften, die sich ebenfalls als Bestseller erweisen sollten – Der Gemüsegarten von 1850 erschien 1918 in der 22. Auflage,1856 Puppenköchin Anna, 1857 Der Beruf der Jungfrau, 1858 Puppenmutter Anna, 1861 Die Hausfrau. Praktische Anleitung zur selbständigen und sparsamen Führung eines Haushaltes. Sie arbeitete außerdem als freie Mitarbeiterin beim Christlichen Frauenblatt Daheim und beim Christlichen Volksblatt.

Henriette Davidis verstand es, die Wertvorstellungen der bürgerlichen Welt als Geschlechterarrangement zu formulieren und zu vermitteln, den kleinen Mädchen ebenso wie den angehenden und praktizierenden Hausfrauen. Ihre Bücher wurden deshalb auch vom männlichen Publikum verschenkt und gehörten zum festen Repertoire einer sich neu formierenden bürgerlichen Öffentlichkeit. Sie wirkte mit ihrem Rollenmodell, das Selbstverleugnung, Sparsamkeit, Ordnung, Häuslichkeit und Frömmigkeit von Frauen forderte, weit über bürgerliche Schichten hinaus auch normbildend für kleinbürgerliche und proletarische Milieus: Die wahre weibliche Bildung umfasst nicht nur das Wahre, Erhabene und Schöne; sie erstreckt sich auch auf die praktische Seite des Lebens und ihr ist nichts zu gering, was zu einer angenehmen Häuslichkeit dient, schrieb sie in ihrem Werk Der Beruf der Hausfrau.

Ihre Bücher erschienen zu einer Zeit, als sich die Region mit bisher nicht gekannter Dynamik veränderte. Die Industrialisierung überformte Produktionsweisen, Landschaften, Städte und Lebensläufe; sie brachte Güter, Menschen und Nachrichten an alle Orte. Das zunehmend selbstbewusster agierende Bürgertum in Unternehmen, Wissenschaft und Verwaltung suchte nach einem eigenen Selbstverständnis, nach gesellschaftlicher Form, nach Orten für Frauen, Männer und Kinder, Junge und Alte, Klassen und Schichten. Und so wurde an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auch das Geschlechterverhältnis neu positioniert: polar und hierarchisch. Während alte ständische Zuschreibungen durch göttlichen Willen seit der Aufklärung brüchig wurden, diente sich nun die Wissenschaft an, um die Unterordnung der Frau unter den Mann zu legitimieren. Henriette Davidis folgte emblematisch dem Geschlechterarrangement in Schillers Glocke:„ … Der Mann muss hinaus ins feindliche Leben. Muss wirken und streben … Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau, die Mutter der Kinder und herrschet weise im häuslichen Kreise …“ Beim weiblichen Weimarer Publikum war diese Sicht der Dinge bereits bei der Vorstellung des Gedichtes 1799 durchgefallen! Auch die aus Spröckhövel stammende Mathilde Franziska Anneke rechnete 1848 in ihrer Schrift Das Weib in Conflict mit den socialen Verhältnissen mit dem von Davidis postulierten Frauenbild ab und forderte, die Wahrheit zu erkennen:„Weil die Wahrheit uns befreit von dem trügerischen Wahne, dass wir oben belohn werden für unser Lieben und Leiden, für unser Dulden und Dienen. Weil sie uns zu der Erkenntnis bringt, dass wir gleich berechtigt sind zum Lebensgenusse wie unsere Unterdrücker, dass diese es nur waren, die die Gesetze machten und sie uns gaben …“

Das eigene Leben der Henriette Davidis zeigte wenig von dem selbstverleugnenden Frauenbild, das sie erfolgreich propagierte. Als Ratgeberautorin war sie nicht bescheiden, sondern energisch und durchsetzungsfähig. Sie agierte nicht im stillen Kreise des Hauses, sondern als öffentliche Autorität.

Karin Hockamp / Stadtarchiv Sprockhövel

Orte:

Henriette-Davidis-Museum, Elbscheweg, 58300 Wetter-Wengern
Haus Heine, Hauptstraße 4, 45549 Sprockhövel
Grabstein auf dem Dortmunder Ostenfriedhof, Nähe Haupteingang, Robert-Koch-Straße 35, 44143 Dortmund
Deutsches Kochbuchmuseum Dortmund, An der Buschmühle, 44139 Dortmund  www.museendortmund.de/kochbuchmuseum

Literatur:

Framke, Gisela/ Marenk, Gisela (Hrsg.), Beruf der Jungfrau. Henriette Davidis und Bürgerliches Frauenverständnis im 19. Jahrhundert, Oberhausen 1988.
Hieber, Hanne: UNSER "Jettchen", in: Drutmunde, Tremonia, Dortmund, Geschichten von Dortmunder Weibsbildern, Dortmund 1999, S. 92-94.
Hockamp, Karin, Henriette Davidis und das Frauenleben im 19. Jahrhundert:„Das Leben der glücklichen Gattin und Hausfrau ist eine stete Selbstverleugnung“ (2001) , unter: www.sprockhoevel.de /Stadtinfo/Stadtgeschichte/Texte aus dem Stadtarchiv.
Kayser, Sigrid, Geschichte der höheren Mädchenbildung in Hamm 1796-1927, Hrsg.: Hammer Geschichtsverein e.V., Hamm 2001.
Killing, Anke, Henriette Davidis und ihre Zeit. Hrsg.: Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Landesbildstelle Westfalen, Münster 1998.
Methler, Eckehard und Walter, Henriette Davidis. Biographie, Bibliographie, Briefe. Hrsg.: Ev. Kirchengemeinde Volmarstein (Veröffentlichungen des Henriette-Davidis-Museums Bd. 10), Wetter 2001.
Timm, Willy, Henriette Davidis, in: Westfälische Lebensbilder, Bd. XII, Münster 1979, S. 88-103.
Treek, Hans-Dieter (Bearb.), Henriette Davidis - ein Online-Lesebuch, http://www.lwl.org/LWL/Kultur/westbibl/Davidis/, erschienen in der Reihe Bibliothek Westfalica, in der die wissenschaftliche Kommission des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) Buchschätze vergangener Jahrhunderte in Auswahlausgaben wieder verfügbar macht.

Zitation: Hockamp, Karin, Henriette Davidis, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/henriette-davidis/

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Hl. Barbara

„In unserem Gebiet wurde nach dem vorletzten und letzten Krieg das Barbara-Brauchtum intensiviert durch den Zustrom von Knappen aus den östlichen Gebieten, in denen St. Barbara seit langem verehrt wurde. Der schöne Brauch, ihren Namenstag am 4. Dezember festlich zu begehen, hat auch bei uns in den letzten Jahren einen erfreulichen Anklang gefunden.“ Das schrieb der Bergarbeiterdichter Willy Bartock, nach dem Krieg Kulturbeauftragter der Duisburger Zeche Walsum, 1951 in einem Artikel für die Werks-Zeitschrift Der Kumpel.

Zwar war die Heilige Barbara im Ruhrgebiet bislang keine Unbekannte gewesen. Als eine der 14 Nothelferinnen gehört sie seit dem 14. Jahrhundert zu den eher populären katholischen Schutzheiligen und wird zum Schutz vor jähem Tod sowie als Beistand der Sterbenden angerufen. Auch im Ruhrgebiet weihte man ihr eine Reihe von Kirchen oder Altären, so z. B. in Unna oder in Recklinghausen, oder sammelte Reliquien, so z.B. in Syburg oder in Essen. Eine Schutzheilige allein für Bergleute war sie hier allerdings weder vor der Industrialisierung noch im industriellen Aufschwung des 19. Jahrhunderts. Sie blieb Ansprechpartnerin auch für gefangene Mädchen, Architekten und Maurer, Dachdecker und Feuerwehrleute, Artilleristen und Waffenschmiede, Köche und Totengräber und viele andere Berufsgruppen, deren Arbeit gefährlich war oder die Bezüge zu ihrer Legende aufwiesen. Deren Kern ist, dass die zum Christentum übergetretene Tochter eines heidnischen Königs erst in einen Turm gesperrt und, weil sie ihrem Glauben nicht abschwören will, vom eigenen Vater enthauptet wird, der daraufhin postwendend einem Blitzschlag zum Opfer fällt.

Zur Schutzheiligen vor allem der Bergleute entwickelte sich die Heilige Barbara im 19. Jahrhundert vor allem in Oberschlesien – und als solche wanderte sie um die Jahrhundertwende, nach dem Ersten und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Arbeitsmigranten von dort ins Ruhrgebiet zu. „Den Anfang zu diesen großen Feiern der gesamten Werksfamilie machten unsere Männer, die aus den östlichen Kohlegebieten, aus der Slowakei, aus Schlesien und aus dem Sudetenland stammten. Ihr mitgebrachtes Brauchtum pflegten sie auch hier weiter, wo der Barbaragedanke in der junggewachsenen Bergbauindustrie noch nicht heimisch geworden war“, hieß es 1952 in der Zeitschrift Der Kumpel.

Immer mehr Zechen veranstalteten nun Barbarafeiern, immer mehr Heime, Straßen und Kirchen wurden nach der Heiligen benannt, ihr Bildnis breitete sich in immer mehr Kirchen und Vereinshäusern aus sowie auf Medaillen und Fahnen.

Dass die Verehrung der Heiligen Barbara als Schutzheilige der Bergleute im Revier vor allem nach 1945 einen bemerkenswerten Aufschwung nahm, war allerdings nicht nur der Traditionspflege der Zuwanderer geschuldet, sondern auch eine von Kulturpolitikern aus dem Bergbau gezielt gesteuerte und forcierte Entwicklung. Sie wollten den jungen und daher traditionsarmen Steinkohlenbergbau an der Ruhr kulturell aufwerten und die nach dem Zweiten Weltkrieg erneut überaus heterogen zusammengesetzten Belegschaften auf der Grundlage einer neuen Identität zusammen binden. Die Integration und Modernisierung der Barbara von der katholischen Heiligen zur ökumenischen Schutzpatronin aller Bergleute spielte hier eine wichtige Rolle.

Die entscheidenden Impulse dazu kamen aus Bochum, wo vertriebene Oberschlesier 1951 eine Landsmannschaft gegründet und 1952 ihre erste Barbarafeier veranstaltet hatten. 1953 war Heinrich Winkelmann, Direktor des Bochumer Bergbaumuseums und Vorstandsvorsitzender der Vereinigung der Freunde von Kunst und Kultur im Bergbau e.V., einer der Gäste und erkannte sogleich das kulturpolitische Potential, das der Barbaratradition und -verehrung der Oberschlesier innewohnte: Hier war das Brauchtum, das dem Ruhrkohlenbergbau fehlte, und Winkelmann sah es „deshalb als unsere heilige Pflicht an [sehen], all das zu fördern, was vom schlesischen Brauchtum ins Ruhrrevier gebracht worden ist, [damit] diese Tradition nicht nur im Rahmen schlesischer Feste gepflegt wird, sondern als schönes Brauchtum auch auf unsere Bergleute übergeht“, schrieb ein nicht namentlich zeichnender Autor 1954 in der Zeitschrift Der Anschnitt. Mit zahlreichen Auftragsarbeiten sorgten Winkelmann und die Vereinigung in den folgenden Jahren dafür, dass die Heilige Barbara im Ruhrbergbau populär wurde.

Zu diesen Auftragswerken gehörte auch das St.-Barbara-Spiel der Bergleute des Dichters Erwin Sylvanus, später Mitbegründer der Dortmunder Gruppe 61. Das Stück sollte „sinnfällig die Beziehung der Barbaragestalt zur bergmännischen Welt deutlich [machen]. Diese Beziehung ist in der ursprünglichen Legende nicht enthalten.“ Sylvanus löste diese Aufgabe, indem er die Heiligenlegende mit einer Sage aus der Region verknüpfte: Er ließ die Barbara auf der Flucht einen Hirten treffen, der ihr beisteht und den sie zum Dank später in einen Berg führt, ihm das schwarze Gold (die Kohle) zeigt und ihn mit der Übergabe einer Grubenlampe zum ersten Bergmann kürt. Das Hirten-Kohle-Motiv spielt auf die Sage an, der zu Folge Hirten im Mittelalter ihr nächtliches Holzfeuer an einer Stelle errichteten, an der es am nächsten Morgen immer noch glühte, woraufhin sie bei der Ursachenforschung ein austretendes Kohlenflöz entdeckten. Sylvanus Stück erfuhr zwischen 1955 und 1966 zahlreiche Aufführungen, meist im Rahmen von betrieblichen Barbarafeiern. Außerhalb der Betriebe brachten ökumenische Gottesdienste die Barbara-Tradition auch den Nicht-Katholiken nahe.

1969 wurde die Heilige Barbara aus dem liturgischen Heiligenkalender gestrichen, da ihre geschichtliche Existenz umstritten war. Dass sie im Rahmen von „Nachverhandlungen“ zumindest in den Regionalkalender für das deutsche Sprachgebiet wieder aufgenommen wurde, ist möglicherweise auch Ergebnis ihrer vor allem im Ruhrgebiet erfolgten Aktualisierung, Modernisierung und Popularisierung.

Dr. Dagmar Kift / LWL-Industriemuseum

Orte:

Barbara-Skulpturen, Fenster, Altäre oder Kirchen finden sich im gesamten Ruhrgebiet, desgleichen Barbara-Straßen oder Heime. Hier lohnt der Blick in die unmittelbare Umgebung. Wer an Sammlungen und Traditionspflege interessiert ist, wird vor allem in Bochum fündig:
Deutsches Bergbau-Museum Bochum, Europaplatz, 44791 Bochum (zeigt im EG des neuen Erweiterungsbaus die umfangreiche Barbara-Sammlung von Jutta und Rolfroderich Nemitz)
Im Dezember 2010 veranstaltete das Deutsche Bergbau-Museum Bochum in Zusammenarbeit mit dem Landesverband der Berg- und Knappenvereine den 13. Bochumer Knappentag. Traditionell nehmen jährlich ca. 45 Knappenvereine an der Bergparade zu Ehren der heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute, teil. Dabei ziehen etwa 600 Bergknappen, Fahnen- und Fackelträger in Tracht und sechs Spielmannszüge vom Bergbau-Museum über den Nordring und den Bongard-Boulevard zur Propsteikirche, in der ein ökumenischer Gottesdienst stattfindet. (angelehnt an: Projektbuch Bochum RUHR.2010, hg. v. Stadt Bochum, S. 51)
Dem „St.-Barbara-Spiel der Bergleute“ von Erwin Sylvanus widmet sich eine kleine Abteilung der Dauerausstellung „Keine Herrenjahre“ des LWL-Industriemuseums Zeche Zollern in Dortmund. Ausgestellt sind das Textbuch sowie Einladung und Szenenfotos von der Uraufführung am 4.12.1955.

LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, Grubenweg 5, 44388 Dortmund

Literatur:

Kift, Dagmar, "Die Bergmannsheilige schlechthin". Die Heilige Barbara im Ruhrgebiet der 1950er Jahre, in: Der Anschnitt 58.2006, H.6, S. 254-263.
Krins, Franz, Die neuere Barbaraverehrung in Nordrhein-Westfalen. Ein Beitrag des Ostens zur Volkskunde Westdeutschlands, in: Jahrbuch für Volkskunde der Heimatvertriebenen 2.1956, S. 154-166.
Nemitz, Rolfroderich und Thierse, Dieter, St. Barbara. Weg einer Heiligen durch die Zeit, Essen 1995.

Zitation: Kift, Dagmar, Hl. Barbara, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/hl-barbara/

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Charlotte Schneider

Als das LWL-Industriemuseum Dortmund Männer befragte, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Kleinzechen-Unternehmer arbeiteten, ergaben sich auch Kontakte zu den Ehefrauen. Ihre Berufsbiografien waren nicht minder interessant, zeigten sie doch, dass weibliche Erwerbstätigkeit in den Nachkriegsjahren nicht die Ausnahme, sondern vielfach wirtschaftliche Notwendigkeit und alltägliches Leben darstellten. Auch der Mann von Charlotte Schneider verdiente mit dem dringend benötigten Heizmaterial, dem „schwarzen Gold“ seiner Kleinzeche in Witten, das Startkapital für den Wiederaufbau einer neuen Existenz.

Die Kleinzechen-Unternehmer werden in der Dauerausstellung „Zeche Eimerweise“ des LWL-Industriemuseums Zeche Nachtigall in Witten a.d. Ruhr vorgestellt. Das Lebenswerk ihrer Frauen wurde 2009 im Salon „Frauenbilder“ präsentiert und soll demnächst auch in der Dauerausstellung Platz finden. 

Charlotte Schneider, 1920 in Herbsleben/Thüringen geboren, stammt aus einer zunächst gut situierten Familie. Der Vater ist Baumeister, die Mutter Hausfrau. Die Weltwirtschaftskrise, die die Familie in schwierige finanzielle Verhältnisse stürzt, verhindert die geplante Lyzeumsausbildung für Charlotte. Sie beendet die Volksschule und macht eine Ausbildung zur Kindergärtnerin.

Durch äußere Umstände bedingt, gibt es in ihrem Leben viele Brüche, die immer wieder berufliche Neuorientierungen mit sich bringen. Ihr Wahlspruch, den sie als junges Mädchen aussuchte: „Herr, lass mich niemals feige sein!“, hat ihr dabei sicher geholfen. Sie drückt es im Interview so aus: „… immer wieder habe ich gedacht, verdammt noch mal, wirf die Flinte nicht ins Korn, irgendwie geht\s weiter…“. 1948 kommt sie mit zwei Kindern aus zwei Ehen unter schwierigsten Umständen aus der sowjetisch besetzten Zone nach Westfalen. Mit ihrem dritten Ehemann, Karl-Ernst Schneider, den sie 1949 heiratet, baut sie sich in Rheine und später in Münster eine neue Existenz auf.

Die staatlich geprüfte Kindergärtnerin, die bis zur Geburt ihres ersten Sohnes, 1944 in Weimar in einer großen Kindertagesstätte arbeitet, wird während des Krieges und danach Geschäftsfrau im Groß- und Einzelhandel. Nach dem frühen Tod ihres ersten Mannes sichert sie damit sich und ihrer Familie den Lebensunterhalt. Frau Schneider schreibt in ihren Erinnerungen: Wir belieferten Textilgeschäfte mit Kurzwaren … aber auch mit Modeschmuck … Zu Weihnachten lieferten wir handgearbeitete Puppen oder Christbaumschmuck … Absatzschwierigkeiten hatten wir nie … Im Büro hielt eine junge Frau die Verbindung zu unseren Kunden aufrecht. Für die Betreuung ihrer Kinder beschäftigt sie damals ein Kindermädchen und eine Hausangestellte. Auch später, in ihrem weiteren Berufsleben, muss sie diese oft aufwändig zu organisierende „Fremdbetreuung“ nutzen, inklusive der kostenlosen Hilfe von Familienangehörigen oder Nachbarn. Andere Möglichkeiten stehen nicht zur Verfügung.

Angekommen in Westfalen macht sie nach ihrer Heirat mit Karl-Ernst Schneider den Führerschein, das Hochzeitsgeschenk ihres Ehemannes. Damit kann sie für die Näherei, die ihr Mann in einem gemieteten Saal des ehemaligen Zisterzienserinnen-Klosters  Gravenhorst in  Hörstel betreibt, als Einkäuferin tätig werden. Sie fährt nach Gildehaus und Nordhorn um Köper und Cord zu kaufen, der von den zwölf Näherinnen gleich zu Arbeitsanzügen oder Cordhosen vernäht wird. In den 1950er Jahren, als ihr dritter Ehemann als Kleinzechen-Unternehmer mehrere Jahre in Witten tätig ist, betreibt sie gemeinsam mit ihrem Schwiegervater eine Kaffeerösterei mit mehreren Filialen in Rheine. Sie übernimmt mit dem Geschäftsauto den Außendienst: die Belieferung für Gasthäuser, Kaffeehäuser und Einzelhändler. Sie ist auch für die Büroarbeit zuständig oder bastelt die Fensterdekoration. Aufgrund der starken Konkurrenz der Großröstereien muss das Unternehmen 1960 schließen. Frau Schneider übernimmt, als es für das Familieneinkommen notwendig ist, auch Aushilfstätigkeiten.

Mit 51 Jahren, das jüngste ihrer sechs Kinder ist 13 Jahre alt, macht sie eine kaufmännische Ausbildung und arbeitet danach ganztags, bis sie 65 Jahre alt ist, als Angestellte in der öffentlichen Verwaltung. Die finanzielle Versorgung im Alter ist sie immer ein wichtiger Aspekt der Berufstätigkeit gewesen. Zumeist war die Arbeit notwendig, aber darüber hinaus, bedeutete sie Selbstverwirklichung und finanzielle Unabhängigkeit von ihrem Mann. Arbeit ist für sie bis heute selbstverständlich und wichtig. Fast nebenbei zieht sie sechs Kinder groß und organisiert Haushalt und Familie, mit hohen Ansprüchen an sich selbst. Im Alter absolviert Charlotte Schneider ein Geschichtsstudium in Münster und arbeitet bis heute ehrenamtlich die Geschichte ihrer Heimatstadt Herbsleben auf. Ihr Lebensmotto im Alter: „Alt werden kann schön sein, wenn man teilhaben darf.“

Charlotte Schneider, die ihr Leben lang berufstätig war, passt so gar nicht zu dem von den Medien aufgebauten Stereotyp und Ideal der hübschen, adretten Hausfrau und Mutter, die in den 1950er und 1960er Jahren ausschließlich in der Sorge um Mann, Kinder und Haushalt aufgingen, sondern bestätigt die vorliegenden Zahlen aus dieser Zeit. 1950 waren 31,3 Prozent und 1957 34,2 Prozent der Erwerbspersonen Frauen und der Anteil der verheirateten Frauen bei der Erwerbstätigkeit stieg in den 50er Jahren sogar an.

Zum Vergleich: Heute arbeiten fast zwei Drittel aller Frauen im erwerbsfähigen Alter, allerdings sind fast 40 Prozent von ihnen nur Teilzeit beschäftigt.

Ingrid Telsemeyer / LWL-Industriemuseum

Orte:

LWL-Industriemuseum Zeche Nachtigall, Nachtigallstraße 35, 58453 Witten

Literatur:

Hervé, Florence (Hg.), Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Köln, 2001.
Interviews und Gespräche mit Charlotte Schneider geführt von Ingrid Telsemeyer 2007-2009, LWL-Industriemuseum, Dortmund.
"Lebenslauf in Prosa“ von Charlotte Schneider, Münster,2008, Typoskript im LWL-Industriemuseum, Dortmund.
Presse Info der Bundesagentur für Arbeit vom 7.4. 2009.

Zitation: Telsemeyer, Ingrid, Charlotte Schneider, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/charlotte-schneider/

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Ingeborg Hopp

Erwerbstätigkeit der Frauen war in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg nicht die Ausnahme, wie uns die Familienideologie der 1950er Jahre weiszumachen versuchte, sondern alltägliches Leben.

Das zeigt auch die Biografie von Ingeborg Hopp aus Dortmund, die im Rahmen eines Interviewprojektes des LWL-Industriemuseums Dortmund dokumentiert wurde. Sie hat sich in der Nachkriegszeit als Friseurmeisterin ihre eigene Existenz erarbeitet und einen Sohn großgezogen. Sie passt nicht so recht zu den medialen Stereotypen der Trümmerfrauen und ebenso wenig zu denen der hübschen, adretten Hausfrau und Mutter, die in den 50er und 60er Jahren ausschließlich in der Sorge um Mann, Kinder und Haushalt aufgingen.

Ingeborg Hopp wird 1929 in Bottrop „Am Venn“, in einem Zechenhaus geboren. Ihr Vater arbeitet als Schlossermeister auf der nahe gelegenen Zeche Rheinbaben, ihre Mutter kümmert sich um Haushalt und drei Kinder. Frau Hopp erlebt Krieg und Nachkriegszeit im Ruhrgebiet. Ihre Ausbildung ist überschattet vom Bombenkrieg. Sie besucht die Volksschule und anschließend mit der Zwillingsschwester die Haushaltsfachschule der Zeche Rheinbaben in der Aegidistrasse. Diese auf zwei Jahre angelegte Ausbildung mit ganztägigem Unterricht zur Haushaltsführung (Lehrinhalte z.B. : Gemüseanbau, Kaninchen- und Ziegenpflege, Einkaufsplanung, Nähen, Flicken), wird mehrmals unterbrochen durch Evakuierungen, die kurz vor Kriegsende zuletzt den Abbruch dieser Ausbildung zur Folge haben. Erste Arbeitserfahrungen macht Ingeborg Hopp dann während ihrer Evakuierung auf einem Gutshof bei Paderborn, den die Gutsbesitzerin alleine führt, weil ihr Mann Soldat ist. Gegen Kost und Logis hilft sie zusammen mit ihrer Zwillingsschwester und ihrer Mutter bei der Haushaltsführung.

Ingeborg Hopp beginnt 1946 im Februar 17jährig die Lehre in ihrem Wunschberuf Friseurin. Lehrmeisterin ist Thea Schröder im Salon an der Gladbeckerstrasse in Bottrop. Der karge Lohn wird aufgebessert durch großzügige Trinkgelder. Frau Hopp erinnert sich: Ich habe eigentlich meine ganze Aussteuer zusammengespart von dem Trinkgeld. Auch nach der Heirat bis zur Geburt ihres Sohnes arbeitet Frau Hopp weiter in verschiedenen Salons in Bottrop. Ihr Wunsch, in ihrem Beruf selbstständig zu sein, das war so ein geheimer Wunsch von mir, sagt Frau Hopp Jahrzehnte später, ist aus ihren Einkünften nicht zu verwirklichen. Darin bestärkt von ihrem Vater, der den Berufswunsch „Friseuse“ anfangs nicht guthieß, und von ihrem Ehemann, den sie 1951 heiratet, nicht nur mental, sondern auch materiell unterstützt, wird der Wunsch Wirklichkeit. Sie erzählt im Interview: … der hat immer gesagt, \ich kauf dir einen Friseursalon.\ Ihr Mann ermöglicht ihr die Einrichtung eines eigenen Geschäfts. Das Geld dazu stammt aus dem Gewinn, den er in der Zeit der Kohlenknappheit, als Kleinzechen-Unternehmer, mit „dem schwarzen Gold“, u.a. mit seiner Zeche Ingeborg in Witten erwirtschaftet hat.

Frau Hopp eröffnet 1954 ihren eigenen Salon in der Lessingstrasse 46 in Dortmund, der Heimatstadt ihres Mannes. Ihre Meisterprüfung legt sie 1956, nach einjährigem Meisterkurs, als einzige Frau unter sieben Männern ab, noch war der Friseurmeister eine Männerdomäne. Die Betreuung ihres einzigen Sohnes, der 1953 geboren wird, übernehmen in dieser Phase ihre Eltern in Bottrop. Ihr Mann arbeitet zu dieser Zeit meist in Witten. Später ist die Familie wieder in Dortmund, in der Schützenstrasse, vereint. Frau Hopp stemmt die Familienarbeit und die Betriebsführung des „Geschäfts“ – wozu sowohl die Einrichtung wie der Einkauf und auch das zunächst noch sehr mühsame Waschen der Handtücher im Waschkeller gehörte – weitgehend allein. Die dem Salon benachbarte Wohnung erleichtert den „Spagat“. Der Sohn besucht den Kindergarten und nachmittags betreut ihn eine Nachbarin.

Frau Hopp ist erfolgreich und eröffnet knapp zehn Jahre später schräg gegenüber auf der Lessingstrasse 35a einen größeren Salon mit neun Frisierplätzen. Die Wohnung der Familie ist jetzt im Haus. Frau Hopp beschäftigt nun in der Regel zwei Friseurinnen, eine Aushilfe und zwei bis drei Lehrlinge, die außer der Aushilfe in Vollzeit arbeiten. Fast alle Mitarbeiterinnen sind verheiratet und haben zum Teil auch Kinder. Die Belegschaftsstruktur und -größe liegt damit im bundesweiten Durchschnitt dieser Zeit. War der Friseurberuf zu Beginn des Jahrhunderts eher männlich besetzt, wächst der Anteil der „Friseusen“ stetig: 1949 sind 57,4 % und 1956 mehr als 80 % der Auszubildenden weiblich. Dieser Trend hält bis heute an.

Frau Hopp übt ihren Beruf mit Begeisterung aus. Kreativität und die Freude am Umgang mit Menschen bringt sie mit. Fortbildungen besucht sie regelmäßig, um auf dem neuesten Stand der Frisuren-Technik zu sein und ihre Mitarbeiterinnen schulen zu können. Das in der Jugend gelernte Ondulieren und die Wasserwelle weicht beispielweise dem Papilottieren, neuartige Dauerwelltechniken und Strähnchen müssen erlernt werden.

Als sie mit Anfang 50 die geliebte Berufstätigkeit – vor allem auf Wunsch ihres Mannes – aufgibt, findet sie ein neues Betätigungsfeld in der ehrenamtlichen Tätigkeit für „ihren“ Sportverein. Die Betreuung ihres kranken Mannes, den sie bis zum Tod pflegt, beendet diese Arbeit. Heute genießt Frau Hopp, dank gemeinsamer finanzieller Vorsorge für das Alter, ihren Ruhestand, der ihr Zeit für Muße, Freunde und ihren Garten gibt.

Bei jedem Interview und persönlichen Gespräch drückt Frau Hopp ihre Verwunderung darüber aus, dass sie zu Wort kommt und dass ihr Lebenswerk öffentliche Anerkennung findet. Sie und ihre Schwester haben in der eigenen Wahrnehmung innerhalb ihrer Familie immer im Schatten des älteren Bruders gestanden, der Professor der Theologie wurde, und der schon als Schüler ein „Überflieger“ war. Der Vater traute seinen Töchtern intellektuell nichts zu, seinen Spruch „Ihr seid so dumm wie sieben paar Ochsen“ hat sie ihr Leben lang nicht vergessen. Nach bestandener Meisterprüfung entgegnet sie ihm: Siehst du, so dumm wie sieben paar Ochsen, aber ich habe es geschafft.

Nach Bottrop fährt Frau Hopp heute noch zum Besuch des Nordfriedhofs, wo ihre Eltern begraben sind.

Bekannt geworden ist ihr Lebensweg durch ein Interview-Projekt des LWL-Industriemuseums zu Kleinzechen an der Ruhr. Der Ehemann von Frau Hopp verdiente nach dem Zweiten Weltkrieg als Kleinzechen-Unternehmer in Witten das Startkapital für den Wiederaufbau einer neuen Existenz und wurde zu dieser Tätigkeit vom Museum befragt. Daraus ergab sich der Kontakt zu Frau Hopp. Die Kleinzechen-Unternehmer werden in der Dauerausstellung „Zeche Eimerweise“ des LWL-Industriemuseums Zeche Nachtigall in Witten a.d. Ruhr vorgestellt. Das Leben von Frau Hopp wurde 2009 im Salon „Frauenbilder“ des Museums vorgestellt und soll demnächst auch in der Dauerausstellung präsentiert werden.

Ingrid Telsemeyer / LWL-Industriemuseum

Orte:

Am Venn, 46240 Bottrop
Lessingstraße 45, 44147 Dortmund
LWL-Industriemuseum Zeche Nachtigall, Nachtigallstraße 35, 58452 Witten

Literatur:

Interviews und Gespräche mit Ingeborg Hopp geführt von I. Telsemeyer 2009/2010, LWL-Industriemuseum, Dortmund.
Rilling-Linde, Godela/ Schmude-Fritz, Martina, "Hüte Dich vor allem Bösen, Krankenschwestern und Friseusen.", in: Frauen in Marburg, hrsg. vom Deutschen Gewerkschaftsbund, Landesbezirk Hessen, Marburg, 1993, S. 252-272.

Zitation: Telsemeyer, Ingrid, Ingeborg Hopp, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/ingeborg-hopp/

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Sibylla van Niephusen

Majestätisch erhebt sich, umgeben von barocker Gartenpracht, das 1123 gegründete Kloster Kamp auf dem Kamper Berg. Im Spätmittelalter galt es als das bedeutendste Zisterzienserkloster im gesamten Ordensverband.

In direkter Beziehung zum Kloster Kamp bestand seit dem ersten Drittel des 14. Jahrhunderts ein Beginenkonvent. Wo genau dieser Konvent in Altfeld lag, kann nicht mehr sicher beschrieben werden. Eine Urkunde gibt jedoch Einblick in die Verfassung und Arbeitsbeziehungen der Beginengemeinschaft: So erhielt 1432 der Beginenkonvent vom Kamper Abt gegen eine jährliche Zahlung von 14 Schillingen Rheinberger Währung die Besitzung als Pachtgut. Drei Pächterinnen sollten gegenzeichnen, eine davon war Sybilla von Niephausen, eine Verwandte des Abtes Heinrich von Niephausen, die auch das Vorschlagsrecht für die anderen beiden besaß. Die Beginen standen unter der Leitung des Kamper Abtes oder seines Stellvertreters, der auch über Neuaufnahmen entschied. Erst nach Ablauf eines Probejahres konnte eine Novizin ihr Gelöbnis ablegen. Ihr Vermögen ging dabei in das Eigentum des Beginenkonventes über. Bei Verstößen gegen die Konventsordnung konnten Schwestern binnen sechs Wochen ohne weitere Ansprüche des Konventes verwiesen werden. Die Leitung des Konvents – moeder off regiester des susterhuysse – wurde unter Mitwirkung des Kamper Abtes bestimmt. Die Schwestern hatten „den vernünftigen Anordnungen“ ihrer „Mutter“ zu folgen, wie es auch in anderen Schwesternhäusern üblich war. Die Beginen verpflichteten sich, dem Kloster Dienste zu leisten. Dafür erhielten sie vom Kämmerer einen Lohn, wie er in der Gegend üblich war. Sollte der Konvent seinem Arbeitsauftrag nicht weiter nachkommen, so wurde er aufgelöst und die Abtei konnte wieder frei über das Haus verfügen.

Im Jahre 1440 verlegten die Beginen mit Zustimmung des Abtes ihren Konvent zu den gleichen Bedingungen auf den Hof Lomoelen, zwischen der Abtei und dem Dachsberg gelegen. Das Haus wurde zu einem Konventsgebäude ausgebaut und erhielt eine Kapelle. Am 25. August 1451 fand die Einweihung eines Altares statt, wie in Beginenhäusern üblich zu Ehren der Gottesmutter Maria, denn der Kamper Beginenhof wurde später auch „Marienhöfken“ genannt. Den Gebäudekomplex sicherten Mauer, Gräben, Zugbrücke. Ein breiter Weg verband den Konvent mit dem Kamper Berg. Er fiel der Fossa Eugeniania zum Opfer, jenem Kanal zwischen Rhein und Maas, der ab 1626 von den spanischen Habsburgern angelegt wurde, um die um Autonomie kämpfenden niederländischen Provinzen vom Rheinhandel abzuschneiden und der nach der spanischen Regentin in Brüssel, Isabella Clara Eugenia, benannt wurde.

Im 15. Jahrhundert sollen 40 Schwestern im Beginenkonvent gelebt und für das Kloster gearbeitet haben. Im truchsessischen Krieg zwischen 1583 bis 1588 verließen die Beginen – wie die Mönche – aus Angst um Leib und Leben den Kamper Berg. 1667 verpachtete die Abtei eine Mühle zusammen mit dem sogenannten „Beginenhaus“, ein Beleg, dass das Gebäude nicht wieder von Beginen bezogen wurde.

Seit Beginn des 13. Jahrhunderts verließen überall Frauen ihre Lebenszusammenhänge, um einzeln oder gemeinsam ein keusches, gottesfürchtiges Leben in der Nachfolge Mariens zu führen. Kirchenrechtlich bewegten sich diese „Beginen“ genannten Frauen zwischen dem weltlichen und geistlichen Stand. Sie durchbrachen mit dieser vita mixta das Ordnungsgefüge einer Gesellschaft, die bis dahin auf einer strikten Trennung von Religiosen und Laien beruhte. Sie nahmen die Armut Christi und der Apostel als Vorbild und führten ein bescheidenes Leben durch ihrer Hände Arbeit: “ … lieben ohne Haß, Geduld üben im Ertragen von Widerwärtigkeiten, Gott und die Heilige Kirche achten, bereit sein zu leiden um Gottes Willen: all dies ist Béguinage.“

Die im Beginentum gelebte Religiosität entwickelte sich seit dem 12. Jahrhundert im Kontext geänderter Frömmigkeitsvorstellungen, die als vita apostolica auch Laien und vor allem ungewöhnlich viele Frauen anzog. Wege zu Gott konnten nun ohne professionelle Mittler, als eine Sache der eigenen Verantwortung gefunden werden. Damit löste sich die tradierte gesellschaftliche Arbeitsteilung zwischen Betenden und Arbeiten auf, aber auch die Grenze zwischen männlicher Lehr- und Verkündigungsautorität und den „unwissenden“ Frauen: „Ihr haltet Lesungen, wir lesen aus. Ihr sprecht, wir handeln […]. Ihr erleuchtet, wir brennen. Ihr führet, wir haben Gewissheit. Ihr verlangt, wir empfangen. Ihr sucht, wir finden …“, setzte eine Begine selbstbewusst ihr religiöses Begehren gegen die herrschende Theologie.

Das Kamper Beginenhaus besaß alle Immunitäten des Klosters. Seine Verfassung orientierte sich mit Probezeit, Gelübte und mit dem Verzicht auf personelles Vermögen an Ordensregeln und gab dem Zusammenleben eine feste Organisationsstruktur. Die familiären Verflechtungen zwischen Kloster und Beginenkonvent verweisen auf die gesellschaftliche Anerkennung der Kamper Beginen. Kloster und Beginengemeinschaft hatten sich hier in einer geschlechtlichen Arbeitsteilung eingerichtet: Während die Beginen dem Kloster zu Diensten standen – Beginen arbeiteten allerorten in der Textilherstellung und –pflege, brauten Bier, zogen Kerzen und kümmerten sich um die kultischen Gegenstände für den Gottesdienst – sicherte das Kloster durch einen angemessenen Lohn das Fortbestehen der beginischen Lebensweise und die religiösen Entfaltungsmöglichkeiten der dort lebenden Frauen. Der Dienst am Nächsten im Antlitz des Todes wurde ein bevorzugtes Arbeitsfeld der Beginen, die sich als ancillae die, als „Mädge Gottes“ verstanden. So könnten sie auch die Insassen des Kamper Krankenhauses versorgt haben.

Beginengemeinschaften existierten auch an anderen Orten des Ruhrgebiets: in Sonsbeck und Dinslaken, Wesel und Essen. Auch für Bochum, Dorsten, Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen, Hamm, Recklinghausen und Wattenscheid sind bis heute Beginenkonvente belegt. In Lütgendortmund, Rhynern, Kamen und Unna existierten Häuser, die ihre Gemeinschaft nach den Statuten der Tertiarinnen verfassten. Die Frauenbewegung ab den 1970er Jahren knüpfte mit der Gründung von alternativen, gemeinschaftlichen Wohnprojekten an das mittelalterliche Beginentum an und initiierte zur Stärkung der historischen Identität auch weitere Forschungen.

Dr. Uta C. Schmidt / frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Kloster Kamp, Abteiplatz 13, 47475 Kamp-Lintfort

Literatur:

Hoßbach, Heike, Die Kamper Beginen, in: Stadt Kamp-Lintfort/ Gleichstellungsstelle im Auftrag des Frauengeschichtskreis Kamp-Lintfort, Frauen bewegen etwas - in Kamp-Lintfort, 3. Aufl., Kamp-Lintfort 2003, S. 8-11.
Schultheis, Norbert, Fromme Frauen, die Beginen genannt werden, in: Seibt, Ferninand et. al. (Hg.), Vergessene Zeiten. Mittelalter im Ruhrgebiet. Katalog zur Ausstellung im Ruhrlandmuseum Essen 26. September 1990 bis 6. Januar 1991, Bd. 2, Essen 1990, S. 157-162.
Dicks, Mathias, Die Abtei Camp am Niederrhein. Geschichte des ersten Cisterzienserklosters in Deutschland (1123-1802), Moers 1913.
Ruhr, Kurt, Geschichte der abendländischen Mystik, Bd. 2,: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit, München 1993.
 "… que Begine appellantur", oder: die Beginen als Frauenfrage in der Geschichtsschreibung, in: Kuhn, Annette/ Lundts, Bea (Hg.), Lustgarten und Dämonenpein. Konzepte von Weiblichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit, Dortmund 1997, S. 54-77.

Zitation: Schmidt, Uta C., Sibylla van Niephusen, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/sibylla-van-niephusen/

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Helene Pfingsten

Eine große Bimmel in der Hand, so fuhr Helene Pfingsten durch die Zechenkolonie von Friedrich-Heinrich in Lintfort. Die Frauen kamen mit Milchkannen und Milchtöpfen angelaufen, und sie füllte mit einem Litermaß die Milch für ihre Kundschaft aus einer großen Kanne ab. Schichtkäse, Butter, lose Buttermilch, Eier und Milch in Flaschen mit Gold- und Silberverschluss hatte sie in ihrem Angebot. Ihr ambulantes Geschäft fungierte auch als aktuellstes Kommunikationsmedium: Über und bei Helene Pfingsten wurden die frischesten Nachrichten ausgetauscht.

Helene Pfingsten, geborene Tomberg, stammte aus Repelen. Schon ihre Eltern verkauften an die zugezogenen Koloniefamilien Milch, Butter, Eier, Quark – Nahrungsmittel, die sie von Bauern aus dem Umland bezogen. Drei Pferdewagen besaß das elterliche Geschäft, in dem alle sechs Töchter mithalfen. 1925 machte sich Helene Tomberg selbstständig. Mit ihrem Mann baute sie das Geschäft auf und aus. Zuerst fuhr sie mit einem Fahrrad zur Kundschaft, am Lenker links eine 20-Liter Kanne, rechts eine 8-Liter Kanne. Später spannte sie einen Schäferhund vor die Karre. Dann erwarb sie ein Pferd mit großem Verkaufswagen. Helene Pfingsten machte ihren Führerschein für den 1937 angeschafften Opel mit Anhänger. 1948, mitten im Wiederaufbau, kaufte sie einen „Goliath“, ein Dreirad mit Verkaufsfläche.

Helene Pfingsten führte ein Familienunternehmen. Als die Tochter, erst 24 Jahre alt, starb, halfen Schwestern und Nichten. Das erste Nichtfamilienmitglied trat nach dem Tode des Ehemannes 1951 ins Geschäft ein: Sie war die Tochter einer Kundin aus der Kolonie. Aus einer Übergangszeit bis zur gewünschten Lehrstelle als Schneiderin von zunächst einem Jahr als Aushilfe wurden 33 Jahre. Niemand im Ort kannte den eigentlichen Namen von Anni Grotz, sie wurde als die Anni „von Pfingsten“ in eine Art Adelsstand erhoben.

Als der ambulante Verkauf von Milch behördlich verboten wurde, baute Helene Pfingsten einen Teil ihres Wohnhauses um und legte ein Kühlhaus mit einem Milchtank an. Auch musste sie sich zur Einzelhandelskauffrau zertifizieren lassen. Doch weiterhin stand sie um 5:15 Uhr in der Früh auf, holte um 6 Uhr in der Molkerei Vierquartieren Milch und Milchprodukte. Sie öffnete um 7 Uhr das Geschäft. Da in der Kolonie noch niemand Kühlschränke für längere Vorratshaltung besaß, öffneten Helene Pfingsten und Anni Grotz, verheiratete Goßens, jeden Tag das Geschäft, an Sonntagen war es von 8 Uhr bis 10 Uhr geöffnet. Nur am zweiten Weihnachts- und Osterfeiertag blieb es geschlossen. Langsam entwickelte sich das Milch- zu einem Lebensmittelgeschäft mit größerem Sortiment, so dass ein Neffe zusätzlich angestellt wurde.

Der Umgang mit dem sensiblen Lebensmittel „Milch“ erforderte sehr große Sorgfalt und Sauberkeit. So befanden sich anfangs im Keller des Hauses große Bassins aus Ziegelsteinen, in denen die Milchkannen mit Wasser gekühlt wurden. Die schweren Kannen mussten von den Frauen aufwändig mit einem speziellen Desinfektionsreiniger und einer Bürste mit heißem Wasser ausgeschrubbt und dann zweimal heiß aus- und nachgespült werden, bevor sie zum Trocknen an einen Haken kamen. Helene Pfingsten wuchtete die Milchkannen auf die jeweiligen Verkaufswagen und beförderte sie auch am Lenkrad ihres Fahrrades – eine körperlich schwere Arbeit. Im festen Verkaufsgeschäft legte sie großen Wert auf eine blitzende Theke und ständig frisch gestärkte Kittel und Schürzen, gleichsam als Garanten für Sauberkeit und Kundenorientierung.

Milch ist ein schnell verderbliches Nahrungsmittel, sie muss entweder rasch getrunken oder weiterverarbeitet werden. In den Wirtschaftsrechnungen von städtischen Arbeiterhaushalten um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurden als Getränke Bier, Zichorienkaffee und Wasser aufgeführt, Milch dagegen selten. Eine Untersuchung zeigte 1913, dass in vielen Hamborner Arbeiterhaushalten das Geld nicht für Milch reichte und dass stattdessen den Kleinkindern gezuckertes Zichorienwasser gegeben wurde, wenn nicht eine eigene Ziege im Garten für Milch sorgte. Sie blieb in den Industrieregionen lange ein diätisches Lebensmittel für Säuglinge, Kleinkinder, Wöchnerinnen und Kranke.

Erst mit der Einführung der Pasteurisierung, ein Verfahren zur Haltbarmachung von Milch, die bei Kühlung dann etwa drei Tage „frisch“ blieb, sowie dem Aufbau von Molkereien – in Kamp-Lintfort gab es die Molkerei Vierquartieren an der Rheinberger-Straße – nahm der Konsum von frischer Trinkmilch auch in Städten zu. Milch gehörte zu den Grundnahrungsmitteln, für die Anfang der 1950er Jahre noch rund 46 Prozent des monatlichen Haushaltsbudgets ausgegeben wurde. 1950 trank ein 4-Personen-Arbeitnehmerhaushalt durchschnittlich 36 Liter Milch, dies entsprach in etwa dem Vorkriegsverbrauch. Von 1954 an sank der Verbrauch von Frischmilch kontinuierlich auf nur noch 27 Liter im Jahre 1963 ab, stattdessen stieg im gleichen Zeitraum der Kondensmilch-Verbrauch exorbitant, ein Zeichen für zunehmende Varietät und den Gebrauch industriell hergestellter Lebensmittel. Helene Pfingsten reagierte darauf mit der Erweiterung ihres Verkaufsangebots. Anfangs ließ sie sich die Waren liefern. Später kaufte sie einen VW-Bus, um sie selber günstiger einkaufen zu können. In den 1950er Jahren gingen (hauptsächlich) die Frauen noch jeden Tag einkaufen, morgens Milch, Brötchen und Nahrungsmittel für das Mittagsessen, nachmittags für das Abendessen. Noch besaßen kaum Familien einen Kühlschrank für die Vorratshaltung: Mit der 1953 erhobenen Forderung des Bundeswirtschaftsministers Ludwig Erhard „Ein Kühlschrank in jeden Haushalt“ wuchs die Quote auf 10 Prozent im Jahre 1955, auf 21 Prozent 1958 und auf rund 63 Prozent 1962/63.

Der Geschäftserfolg der Helene Pfingstens in der Zwischenkriegszeit, während des Krieges, der Zusammenbruchs- und Wiederaufbauzeit war eng mit den Konsumhorizonten der Arbeiterfamilien verbunden, die sie belieferte. Als sie 1982 an einer Herzerkrankung starb, übernahm ihr Neffe das Geschäft und führte es noch eine Zeitlang weiter. Doch das Zeitalter der kleinen Milch- und Lebensmittelläden, wie ihn Helene Pfingsten als Ort der Kommunikation und Versorgung auf- und ausgebaute, ist vorbei.

Dr. Uta C. Schmidt / frauen/ruhr/geschichte

Orte:

Kolonie zwischen Moerser-, Ring-, August- und Franzstraße, 47475 Kamp-Lintfort
Lebensmittelgeschäft der Helene Pfingsten in der Brandshofstraße 25, 47475 Kamp-Lintfort 

Literatur:

Fischer-Eckert, Li, Die wirtschaftliche und soziale Lage der Frauen in dem modernen Industrieort Hamborn im Rheinland, Hagen 1913.
Nammek, Elke, Die Buttermeierin Marga Schneppenheim, in: Frauen bewegen etwas in Kamp-Lintfort, Bd. 3: Frauen und Beruf, hg. v. d. Gleichstellungsstelle der Stadt Kamp-Lintfort, red. betreut v. Heike Hoßbach, [o.O.] [o.J.], S. 8-17.
Vorpeil-Adamek, Anita, Die Milchlen Helene Pfingsten, geb. Tomberg, in: Frauen bewegen etwas in Kamp-Lintfort, Bd. 3: Frauen und Beruf, hg. v. d. Gleichstellungsstelle der Stadt Kamp-Lintfort, red. betreut v. Heike Hoßbach, [o.O.] [o.J.], S. 38-41.
Wildt, Michael, Am Beginn der „Konsumgesellschaft“. Manglerfahrung, Lebenshaltung, Wohlstandshoffnung in Westdeutschland in den fünfziger Jahren, Hamburg 1994.

Zitation: Schmidt, Uta C., Helene Pfingsten, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/helene-pfingsten/

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Johanna Melzer

Johanna „Hanna“ Melzer gehörte dem kommunistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus an. Ihre Politisierung wurzelte in einem tiefen Gerechtigkeitssinn und in der Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben mit Arbeit und Brot. Die Hagener Staatsrechtlerin Li Fischer-Eckert kam 1913 in ihrer beispielhaften Analyse der wirtschaftlichen und sozialen Stellung der Frauen im Industrierevier zu dem Schluss: „Überhaupt trat mir das Bedürfnis nach Gerechtigkeit in auffälliger Weise häufig entgegen. Die Leute haben ein Gefühl der durch keine höhere Notwendigkeit gerechtfertigten Zurücksetzung und Benachteiligung ihres Daseins, das sie, glaube ich, viel tiefer quält, als das Hungerleiden, als die materielle Not.“

Johanna Melzer kam der Arbeit wegen mit der Familie von Schlesien ins Ruhrgebiet. Sie besuchte die Volksschule in Rünthe  und die Handelsschule in Hamm, ihre Arbeitsstelle auf dem Gemeindeamt in Hamm musste sie für einen Kriegsinvaliden räumen. Die Erfahrungen  beim Generalstreik gegen den Kapp-Putsch und in den darauf folgenden März-Aufständen führten sie 1924 in die Kommunistische Partei Deutschland (KPD). Gleich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurde sie ein halbes Jahr in der Dortmunder Steinwache inhaftiert und gefoltert, doch nach ihrer Freilassung  nahm sie die illegale Tätigkeit für die KPD sofort wieder auf. Am 1. März 1935 wurde Hanna Melzer in Hamm zu 15 Jahren Zuchthaus wegen „Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“ verurteilt. Amerikanische Truppen befreiten sie 1945.

Schon am 20. Januar 1946 arbeitete Johanna Melzer wieder aktiv in der KPD. Nach der Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen wurde sie sowohl Mitglied des ersten, von der britischen Militärverwaltung berufenen Landtags, als auch der ersten, demokratisch gewählten politischen Vertretung im Land. Sie setzte sich hier vor allem gegen Militarisierung und für die Interessen der Frauen ein: Wenn wir in den Betrieben und in den Büros die gleiche Arbeit leisten, dann ist es ungerecht, uns mit einem Bruchteil des Männerlohnes entschädigen zu wollen. Gleiches Recht für gleiche Arbeit muß endlich Wirklichkeit werden.

1947 brachte sie für die KPD-Fraktion im Landtag den Gesetzesentwurf für einen bezahlten Hausarbeitstag ein. Die Forderungen nach einem Hausarbeitstag für beschäftigte Frauen fußten auf Denktraditionen, die bis in die kaiserzeitliche Arbeitsschutzpolitik zurückgingen. Die Nationalsozialisten formten ihn – zwanzig Monate nach der Proklamation des „Totalen Krieges“ und neun Monate nach der fehlgeschlagenen Mobilisierung der letzten weiblichen Arbeitskräfte – zum Disziplinierungsinstrument um: konnten sich Frauen doch nun nicht mehr mit dem Verweis auf ihre häuslichen Pflichten den kriegswirtschaftlichen Anforderungen an ihre Arbeitskraft entziehen.

Insofern war der Hausarbeitstag ein problematisches frauenpolitisches Erbe des Nationalsozialismus, das angesichts der Zeiterfordernisse für die Überlebensarbeit in den Nachkriegsjahren in allen Zonen neu diskutiert wurde. Die KPD traf mit dem Gesetzesantrag so sehr den Nerv der Zeit, dass sich öffentlich geäußerte Kritik am Hausarbeitstag von selbst verbot – und hatte damit in einem mehrheitlich aus Frauen bestehenden Staatsvolk die Wählerinnen fest im Blick. Ihre Argumentationen wurden überlagert von der zunehmenden deutschlandpolitischen Konfrontation. Sie fand aber auch Unterstützung in Behörden und Arbeitsverwaltungen, die mit „Volksgesundheit“ und rassebiologischen Argumenten den Hausarbeitstag befürworteten. Helene Wessel begleitete den Vorstoß ihrer Landtagskollegin Melzer hingegen mit soliden volkswirtschaftlichen Argumenten. Am 27. Juli 1948 passierte das „Gesetz über Freizeitgewährung für Frauen mit eigenem Hausstand“ den nordrhein-westfälischen Landtag und trat 1949 in Kraft.

Am 28. Februar 1949  formulierte Hanna Melzer im Landtag den Antrag, eine Unterschriftensammlung gegen den Einsatz von Atombomben zu fordern. Sie schlug folgenden Gesetzestext vor: „Der Landtag von Nordrhein-Westfalen begrüßt die Sammlung von Unterschriften aller Frauen, welche die Vernichtung vorhandener und das Verbot der Herstellung neuer Atombomben, ferner die Einsetzung einer internationalen Kontrollkommission zur Überwachung und Durchführung dieses Verbots fordern.“ Sie erläuterte diesen Antrag in der Landtagssitzung vom 13. April 1949 u.a. mit den Worten: Die Militärstrategen diskutieren die Frage, ob die Atomwaffe kriegsentscheidend sei oder nicht. Aber eines ist sicher: Die Atomwaffe ist die furchtbarste Angriffswaffe. Wegen dieses Engagements gegen die Re-Militarisierung hatte sich Hanna Melzer 1952 erneut einem Gerichtsverfahren zu stellen. Sie wurde beschuldigt, Flugblätter mit der Überschrift „Alliierter Plan für Wehrmacht fertig“ gedruckt zu haben, in denen zur Durchführung einer Volksbefragung aufgerufen wurde. 1953 entzog sie sich einem erneuten Haftbefehl, bevor sie 1956 in die DDR übersiedelte. 1956 erfolgte das Verbot der KPD.

In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1960 starb Hanna Melzer. Ihre Schwester Klara versuchte vor dem Regierungspräsidenten in Düsseldorf, Entschädigungsansprüche geltend zu machen. Der Antrag wurde jedoch komplett abgewiesen. Zur Begründung hieß es, Johanna Melzer habe versucht,„durch strafbare Handlungen die verfassungsmäßige Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen.“ Belege für diese Verfassungswidrigkeit führte das Regierungspräsidium nicht an, stattdessen hieß es:„Durch die Flucht ist bewiesen, dass sich die Erblasserin auch noch nach dem Verbot der KPD für diese Partei betätigt und ihren Kampf in der sowjetisch besetzen Zone gegen die demokratische Grundordnung in der Bundesrepublik fortgesetzt hat.“

Dr. Maria Perrefort / Gustav-Lübcke-Museum Hamm

Orte:

Herringen, 59077 Hamm 

Literatur:

Dornemann, Luise, Alle Tage ihres Lebens, Frankfurt 1981. 
Högl, Günther, Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1933-1945. Katalog zur ständigen Ausstellung des Stadtarchivs Dortmund in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache, Dortmund 1992, S. 200-2003.
Perrefort, Maria, Links liegengelassen. Das rote Herringen, hrsg. Von Maria Perrefort im Auftrag des Hammer Geschichtsvereins e.V., [Hamm], o.J.
Sachse, Carola, Der Hausarbeitstag. Gerechtigkeit und Gleichberechtigung in Ost und West 1939-1994, Göttingen 2002.

Zitation: Perrefort, Maria, Johanna Melzer, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/johanna-melzer/

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