„Bleibt länger nicht die Betrogenen …“. Forschung zum Frauenwahlrecht im Ruhrgebiet

Mobilisierungen

Der Mobilisierungscharakter von Jubiläen ist nicht zu unterschätzen, vereinfacht er doch zum Beispiel die Bereitstellung von Fördergeldern. So konnte im Falle der Erinnerung an „100 Jahre Frauenwahlrecht“ die prominente Ausstellung „Damenwahl! 100 Jahre Frauenwahlrecht“ im wiedereröffneten Historischen Museum Frankfurt mit umfangreicher wissenschaftlicher Begleitforschung entstehen. Und auch das Frauenmuseum Bonn bearbeitete 100 Jahre Frauenwahlrecht in der Ausstellung „Aufbruch der Frauen in die Politik der Moderne – vom Frauenwahlrecht zum Frauenmandat“ und verknüpfte das Thema mit Aufbrüchen im Rheinland. Parteien, Universitäten, Vereine, Verbände, Volkshochschulen in Stadt und Land organisieren Exkursionen, Ausstellungsbesuche, Veranstaltungen. Gleichstellungsbüros und frauenbewegte Öffentlichkeiten in NRW lenken die Aufmerksamkeit auf „Die ersten Ratsfrauen in NRW“.

Unter wissenschaftlichen Aspekten deutet sich ein Paradigmenwechsel an, der das vermeintlich abgehangene Thema „Wahlrecht“ in aufregend anderen Bezügen und Zusammenhängen zur Geltung bringt. Die neue Forschung stellt bewährte Narrative zum Frauenwahlrecht in Frage, überschreitet abgezirkelte Forschungsfelder und weitet den Blick gleich in mehrfache Richtungen.

Eine neue Wahlrechtforschung

Sie orientiert sich an einem weiten Politikbegriff, der als citizenship – am ehestens mit „Bürgerschaftliches Engagement“ übersetzt – subjektive, selbstermächtigende Praxen zwischen Handlungsmöglichkeit, Handlungsfähigkeit und Handlungsmächtigkeit zu bestimmen sucht.1 Damit gesteht sie vielfältigem Engagement demokratiehistorische Dimensionen zu. Sie nimmt den Prozesscharakter von politischer Partizipation sowie die Formierung von Öffentlichkeiten in den Blick. Sie bezieht ihre Fragehorizonte aus einer kulturgeschichtlichen Erweiterung des Politischen.2 Sie untersucht Demokratieforschung transnational vergleichend und revidiert so die Meistererzählung von der „verspäteten“ deutschen Demokratie. Zudem interessiert sie sich dafür, „wie Demokratie geschlechtlich praktiziert und erzählt wird“3 und historisiert dabei vielschichtig den Demokratiebegriff selbst.4 Die aktuelle Forschung hinterfragt das politische Wahlrecht als Konstruktion von Männlichkeiten5 und erweitert unsere Bilder von Soldaten- und Arbeiterräten um Revolutionärinnen, Parteigründerinnen, Politikerinnen und Abgeordnete.6 Mit einem aus der Bewegungsforschung stammenden, neu akzentuierten Phasenmodell – Propagandistische Frühphase (1789-1890), Organisationsphase (1890-1914), Kampfphase (1917/1918)7 – lassen sich all diese Perspektiven und Kontexte zeitlich ordnen und aufeinander beziehen.8 Schließlich und endlich versteht sie die Geschichte des Wahlrechts von Frauen nicht als additive oder kompensatorische Erweiterung einer allgemeinen Geschichte, sondern perspektiviert durch sie Demokratiegeschichte neu: „Demokratiegeschichte als Frauengeschichte“9 – eine erstaunliche Inaugurierung der frauengeschichtlichen Perspektive, die die hegemoniale Fachöffentlichkeit schon lange als durch Geschlechterforschung und Genderstudies überholt rubriziert.

Ruhrgebiet und Frauenwahlrecht

Das heutige Ruhrgebiet, ehemals rheinisch-westfälisches Industrierevier, umfasst so traditionsreiche Städte wie Duisburg, Essen, Bochum, Dortmund am Hellweg als historisch bedeutendem Verkehrsweg, Städte früher Industrialisierung an der Ruhr wie Wetter, Witten und speziell Hagen, ein wichtige europäisches Zentrum für die Reformbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, sowie Landgemeinden, die sich wild wuchernd um neu abgeteufte Tiefbauschächte in der Emscherzone zu Großstädten ausbreiteten, wie Hamborn, Gelsenkirchen, Herne. Eine bezugnehmende Forschung, die die Besonderheiten dieser drei Wirtschaftsräume berücksichtigt, ist aufwändig: Jede Stadt, jede Gemeinde sowie die Landesteile Rheinland und Westfalen haben jeweils eigene Archive.

Impulse für Regionalgeschichte

Die aktuelle Frauenstimmrechtsforschung bringt für die Lokal- wie Regionalgeschichte interessante Perspektiven – doch ganz neu sind sie denn doch nicht: die Stärke von Stadt- und Gemeindegeschichte10 als historisch-kritisches Projekt liegt seit jeher darin, dass sie Ereignisse und Wandlungsprozesse mit Orten, Praktiken, Repräsentationen11 verknüpft. Eine lokale Wahlrechtsgeschichte kommt ohne Raumbezüge nicht aus, doch genauso muss sie Kommunalverfassung, Kulturkampf, Vereinsrecht, Sozialistengesetze, Lagerbildungen, Burgfriedenspolitik, Nahrungsmittelversorgung, Mobilisierung, Demobilisierung, Revolutionsverlauf im Blick halten. Erfahrungshorizonte und Handlungsmöglichkeiten der Stimmrechtsaktivistinnen und -aktivisten wurden konkret durch Politik, Wirtschaft, Kultur, Klasse und Konfession bestimmt.

Im rheinisch-westfälischen Industriegebiet artikulierten sich alle Positionen der Frauenstimmrechtsbewegung – früh votierte Mathilde Franziska Anneke, der Aufklärung verpflichtet, für Frauen als Menschen und ihr Recht auf Mündigkeit und Selbstständigkeit, das selbstverständlich das Wahlrecht mit einschloss.12. Später kamen Positionen hinzu, die im Rahmen des Dreiklassenwahlrechts blieben, weil sie ein Wahlrecht „unter den gleichen Bedingungen wie Männer es haben und haben werden“ forderten. Die Sozialdemokratie hingegen vertrat seit 1891 das freie, gleiche, allgemeine Wahlrecht, wie es mit der Revolution 1918 eingeführt wurde.

Partizipation als politische Kategorie

Geht man mit einem weiten Politikbegriff an kommunale Partizipation von Frauen heran, so geraten als erstes die Überlieferungen der konfessionellen und vaterländischen Frauenverbände in den Blick. Diese besetzten erfolgreich das Feld der Fürsorge und stellten ihre Handlungsmächtigkeit unter Beweis, indem sie fehlende kommunale Sozialpolitik übernahmen und das ihnen in der bürgerlichen Geschlechterordnung zugewiesene Feld der familiären Sorge auf das Gemeinwesen als Familie übertrugen: Alles, was Rang und Namen hatte, Frauen von alteingesessenen Adels- und Bauerngeschlechtern, von Bergwerksdirektoren, städtischen Honoratioren und Fabrikbesitzern machte mit. Die Frage nach staatspolitischen Rechten spielte angesichts dieses Aktionsfeldes mit hohem symbolischen Kapital keine Rolle.

Während in Witten bürgerliche Frauenrechtlerinnen um Rebecca Hanf und Martha Dönhoff unbehelligt von der politischen Polizei 1902 den Verein Frauenwohl gründen konnten, verstieß noch 1906 der Arbeiterradverein „Einigkeit“ in Bergkamen und Overberge mit einer (wahlrechts-)politischen Manifestation gegen das Vereins- und Versammlungsgesetz gleichermaßen: denn man machte sich in Zweierreihen auf den Weg  zum Stiftungsfest des Vereins „Falke“ nach Dortmund – mit weiblichen Mitgliedern, die weiße Kleider und rote Schärpen trugen.13

Auf den Klosetts überwacht

Die Gründung der sozialdemokratischen Frauenbewegung in Essen tarnte sich 1904 als geselliges Beisammensein. Doch blieb dies der Obrigkeit nicht verborgen: „Beschlagnahme aller dort vorgefundenen Bücher und Schriftstücke, welche auf die Frauenbewegung Bezug haben.“14 Minna Deuper (1868-1937), Sozialdemokratin der ersten Stunde, berichtete von einer förmlichen Hetze gegenüber der sozialdemokratischen Frauenbewegung: „Sogar auf den Klosetts wurden unsere Frauen überwacht!“15 Auf dem SPD-Parteitag 1912 schilderte Lina Endmann aus dem katholischen Recklinghausen die Lage: „Ich komme aus dem schwärzesten Winkel, wo wir am allerschwersten zu kämpfen haben. Man nennt unsern Wahlkreis deshalb auch das schwarze Finsterland. Sogar die Kanzel wird dort zu politischen Zwecken gebraucht. Die Priester gründen Mütter- und Elisabethvereine, in die die Frauen eintreten müssen. Diese selbst müssen am Altare schwören, keinen Alkohol mehr zu genießen und der Sozialdemokratie nicht beizutreten.“ Während bürgerliche Wahlrechtsaktivistinnen Räumlichkeiten für Berufs- und Ausbildungsberatungsstellen bewirtschafteten, mussten die Sozialdemokratinnen „in kleinen Stübchen tagen.“16 

Politisch-konfessionelle Lager

Die wahlrechtspolitischen Aktivitäten lassen sich entlang politisch-konfessioneller Lager beschreiben. Nur wenige Frauen überschritten die Deutungsmuster und Frontstellungen ihres Milieus. Eine dieser Frauen war die Essenerin Frida Levy (1881-1942), die 1902 zu den Gründerinnen der Essener Abteilung des Vereins „Frauenwohls“ zählte. Sie stand der SPD nahe und war (jüdische) Vorsitzende des Essener Ortsvereins für Frauenstimmrecht. Als Jüdin wurde sie 1942 von den Nationalsozialisten verschleppt und ermordet.

Lokale Frauenstimmrechtsforschung mit ihrem Interesse an Vernetzungen und Bezügen lässt einzelne Persönlichkeiten in ihren Politisierungsschritten greifbar werden: zum Beispiel Albertine Badenberg (1865-1958), eine katholische Lehrerin aus Essen-Steele, die in ihrer Person alle zentralen Arbeitsfelder der bürgerlichen Frauenbewegung vereinte: das Engagement für eine außerhäusliche Berufstätigkeit der Frau und die rechtliche wie finanzielle Gleichstellung im Lehrerberuf, der Kampf für bessere Mädchen-, Frauen- und Lehrerinnenbildung und Forderungen für die politische Partizipation der Frauen. Als sie 1903 zusammen mit anderen den Katholischen Deutschen Frauenbund gründete, hatten sie ihre eigenständige Organisationsweise im katholischen Milieu hart zu verteidigen.

Verschränkung von Perspektiven

Lokale Frauenstimmrechtsforschung benötigt eine Verschränkung von diachronen und synchronen Ansätzen. Wenn Kerstin Wolff heute die widerstreitenden Meinungen in der Frauenstimmrechtsbewegung nicht mehr in „radikal“, „gemäßigt“, „konservativ“, „proletarisch“ sortiert wissen will, sondern stattdessen dem (partei-)politischen Hintergrund der Aktivistinnen eine „viel größere Rolle“ zuweist „als die gemeinsame Opposition gegen den Ausschluss vom Wahlrecht“,17 so möchten wir aus der lokalgeschichtlichen Forschung heraus zusätzlich die Kategorie „Konfession“ stark machen: in einer durch die Industrialisierung gemischtkonfessionellen Region wie dem rheinisch-westfälischen Industriegebiet konstituierte sie (partei-)politische Lager mit und prägte deutungsmächtig Habitus und Mentalitäten.

Susanne Abeck & Uta C. Schmidt frauen/ruhr/geschichte

  1. Gisela Bock, 2018, S. 404.
  2. Barbara Stollberg-Rilinger, 2005.
  3. Hedwig Richter und Kerstin Wolff, Demokratiegeschichte als Frauengeschichte, in: dieselben (Hg.), Frauenwahlrecht. Demokratisierung der Demokratie in Deutschland und Europa, Hamburg 2018, S. 7-34, hier S. 9.
  4. Hedwig Richter, 2017.
  5. Hedwig Richter, 2017, S. 17.
  6. Dorothee Linnemann (Hg.), Damenwahl! 100 Jahre Frauenwahlrecht das Buch, in: dieselbe, Damenwahl! 100 Jahre Frauenwahlrecht, Frankfurt 2018, S. 10-13, S. 11.
  7. Kerstin Wolff,  2018 (Wahlen), 11 f.
  8. Kerstin Wolff, 2018, S. 11-19.
  9. Hedwig Richter, Kerstin Wolff, 2018.
  10. Uta C. Schmidt, Kirche in der Stadt. Wattenscheider Barock – Gelsenkirchener Appell, Gelsenkirchen 2017.
  11. Roger Chartier, 1990.
  12. Karin Hockamp, „Von vielem Geist und großer Herzensgüte“ – Mathilde Franziska Anneke (1817-1884), Bochum 2012.
  13. Klaus-Peter Dreßel, Geschichte des Ortsvereins Bergkamen, o.O., o.J. [Bergkamen, 2004], S. 11.
  14. Bericht der Polizei-Verwaltung, Essen, 28.07.1906, LAV NRW BR 0007 Nr. 42789, Bl. 72 v.
  15. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Mannheim vom 13. bis 19. September 1908 sowie Bericht über die 5. Frauenkonferenz am 11. und 12. September 1908 in Nürnberg, S. 479 f.
  16. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Mannheim vom 13. bis 19. September 1908 sowie Bericht über die 5. Frauenkonferenz am 11. und 12. September 1908 in Nürnberg, S. 480.
  17. Kerstin Wolff, Noch einmal von vorn und neu erzählt. Die Geschichte des Kampfes um das Frauenwahlrecht in Deutschland, in:  Hedwig Richter und Kerstin Wolff, Frauenwahlrecht, S. 35-56,  S. 53.
Zitation: Abeck, Susanne/ Schmidt, Uta C., „Bleibt länger nicht die Betrogenen …“ (Mathilde Franziska Anneke, 1817-1884). Überlegungen zum Frauenwahlrecht im Ruhrgebiet, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, 22. 02. 2019, https://www.frauenruhrgeschichte.de/frg_wiss_texte/bleibt-laenger-nicht-die-betrogenen-mathilde-franziska-anneke-1817-1884-ueberlegungen-zum-frauenwahlrecht-im-ruhrgebiet/

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