Ottilie Schoenewald / 1883–1961

Kommunalpolitikerin, Leitfigur der deutschen Frauenbewegung, Patronin für ein Institut des Zweiten Bildungsweges

Am 21. Dezember 1883 wurde Ottilie Mendel in Bochum als siebtes Kind einer angesehenen Kaufmannfamilie geboren. Sie wuchs behütet von Dienstboten und Erzieherinnen auf, besuchte eine Höhere Töchterschule und wurde früh in das gesellschaftliche Leben der Stadt eingeführt. Nach dem Tode des Vater unterstütze sie ihre Mutter im elterlichen Geschäft.

Ihrem eigenen Bekunden zufolge gehörte ihr Elternhaus dem liberalen Judentum an, ihr Vater war lange Jahre Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde in Bochum. Seit ihrer Verheiratung mit dem angesehenen Bochumer Rechtsanwalt Dr. Siegmund Schoenewald im Jahre 1905 widmete sie sich sozialer Arbeit in diversen Frauenverbänden, auch im örtlichen jüdischen Frauenbund, deren „Mitgliedschaft … dazu berechtigte, … die Vorschläge der Herrn Vorsitzenden (Rabbiners) durch Kopfnicken zu bestätigen“, wie sie es im Rückblick ironisch formulierte. Ferner war sie schon vor dem 1. Weltkrieg für die Bochumer Frauenrechtsschutzstelle tätig.

Als in der noch jungen Weimarer Republik 1918 endlich nach langem Kampf das aktive und passive Wahlrecht für Frauen eingeführt wurde, entschied sich Ottilie Schönewald für eine Kandidatur bei der Deutsche Demokratische Partei. Sie gehörte zu den ersten Frauen im Bochumer Stadtrat, in dem sie zudem laut Bericht des „Volksblattes“ als erste Frau überhaupt das Wort ergriff. Es folgen Jahre intensiver politischer Ausschussarbeit, die sie ab 1926 gegen überregionales Parteiengagement und umfangreichere jüdische Verbandsarbeit eintauschte – auch weil sie im Stadtparlament Anfeindungen von neu gewählten Nationalsozialisten befürchtete.

1929 war sie in den Hauptvorstand des jüdischen Frauenbundes gewählt worden, dessen Leitung sie 1934 bis zu seiner Auflösung 1938 übernahm. Das vom jüdischen Frauenbund für die Zeit nach 1933 selbst gesetzte Ziel der Hilfe zur Selbsthilfe lässt sich gut an dem Wirken Ottilie Schoenewalds belegen: Das 1933 erlassene Schächtverbot hatte dazu geführt, dass rituelle Schlachtungen in Deutschland untersagt wurden. Für jüdische Familien, die koschere Mahlzeiten einhalten wollten, bedeutete dies, den Speiseplan auf vegetarische Gerichte umzustellen, wie man in etlichen Artikeln in den Blättern des jüdischen Frauenbundes verfolgen kann. So erklärt sich auch, warum das Jüdische Kochbuch 1935 eine dritte Auflage erlebte, in deren Vorwort Ottilie Schoenewald als Vorsitzende des Jüdischen Frauenbundes der Arbeit jüdischer Hausfrauen Respekt zollt.

Ottilie Schönewald wurde auch konkret aktiv, wie es ihrem Bericht über die Ausweisung der von den Nationalsozialisten so genannten Bochumer Ostjuden (es handelte sich um Nachfahren von polnischen Zwangsarbeitern des 1. Weltkrieges) vom Oktober 1938 zu entnehmen ist: So setzte sie alle Hebel in Bewegung, um Hilfsgüter zu organisieren, sorgte für die Herbeischaffung koscheren Essens zum Gefängnis, in dem die Männer inhaftiert waren, konnte schließlich für Frauen und Kinder bei der Gestapo Plätze im Wartesaal der 3. Klasse am Bahnhof erwirken und beruhigte sogar einige der Familien, indem sie über ihren Ehemann als Rechtsanwalt Formulare für geschäftliche Vertretungsvollmachten erstellen ließ. So können die Veröffentlichung eines Kochbuchs und die Organisation von Verpflegung als ihr ziviler, wenn nicht gar als ihr politisch motivierter Widerstand gegen die NS-Diktatur gelesen werden. Mit ihrem Bericht über die Bochumer Ereignisse hat sie darüber hinaus – es sind dies die ausführlichsten und eindringlichsten Aufzeichnungen über derartige Vertreibungen aus Städten – Geschichte geschrieben und so zur Erinnerung an den Holocaust beigetragen.

Die Reichspogromnacht vom neunten auf den zehnten November 1938 brachte für die Schoenewalds wie für alle anderen jüdischen Familien in Bochum eine tief greifende Zäsur: Siegmund Schoenewald wurde in das Konzentrationslager (KZ) Sachsenhausen verbracht und die Wohnung des Ehepaares verwüstet. Nach Siegmund Schoenewalds Rückkehr aus dem KZ fiel die Entscheidung, Deutschland zu verlassen. Über Holland emigrierten beide im Sommer 1939 nach England. Dort verstarb Siegmund Schoenewald 1943. Ottilie Schoenewald wanderte 1946 zu ihrer Adoptivtochter Doris (verheiratete Klaber) in die USA aus, wo sie bis zu ihrem Tode 1961 lebte. In all diesen Jahren arbeitete sie engagiert politisch weiter, u.a. während ihrer Zeit in England im Vorstand der „Association of Jewish Refugees“ und in den Staaten im „International Council of Jewish Women“. Jahrelang hat sie als Opfer des Nationalsozialismus ihr Wiedergutmachungsverfahren betrieben – allerdings erfolglos.

So mag man es als eine späte Wiedergutmachung ansehen, dass 1998 eine Straße im Stadtteil Wiemelhausen und 2005 eine Schule der Erwachsenenbildung nach ihr benannt wurden. Die Ironie der Geschichte: Das Ottilie-Schoenewald-Weiterbildungskolleg zog 2008 in das renovierte Gebäude der alten Bochumer Wirtschaftsakademie. Leiter jener Wirtschaftakademie war von 1954 bis 1967 Peter-Heinz Seraphim. Der Volkswirtschaftler machte sich in der NS-Zeit einen zweifelhaften Namen als Experte für das „Ostjudentum“. In den Zeiten des Kalten Krieges konnte er aufgrund seiner Kenntnisse über den osteuropäischen Raum unbeschadet eine neue Karriere starten. Dass nun genau dieses Bauwerk den Namen jener Bochumerin führt, die beherzt beim Abtransport der Ostjuden auftrat, und als Schule das Andenken an ihren Namen bewahrt, erscheint mehr als gerechtfertigt und ermöglicht eine andere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit als die der Verdrängungspolitik der 50er Jahre.

Ottilie Schoenewald kann aber nicht nur als Leitfigur der deutschen Frauenbewegung und der Bochumer Lokalpolitik gesehen werden, sondern hat mit ihrer Vita auch Zeugnis eines lebenslangen Lernens abgelegt: Als junge Frau bildete sie sich juristisch für ihre Beratungstätigkeit bei ihrem Mann weiter, als über Fünfzigjährige belegte sie in England Buchhaltungskurse, in Oxford studierte sie Englisch und Literatur und später in den USA Sozialwissenschaften. Wer wäre eine geeignetere Patronin für ein Institut des Zweiten Bildungsweges als diese Bochumerin?

Dr. Anja Wieber/ Ottilie–Schoenewald–Weiterbildungskolleg

Orte:

Ottilie-Schoenewald-Weiterbildungskolleg, Wittener Straße 61, 44789 Bochum
Ottilie-Schoenewald-Straße. 44789 Bochum

Literatur:

Schoenewald, Ottilie, Lebenserinnerungen. Für das Leo Baeck Institut, New York 1961, siehe http://digital.cjh.org//exlibris/dtl/d3_1/apache_media/407139.pdf
Schneider, Hubert, Ottilie Schoenewald. Kämpferin für Frauenrechte, soziale Rechte, Menschenrechte, Bochum 2008 
Kaplan, Marion, Der Mut zum Überleben. Jüdische Frauen und ihre Familien in Nazideutschland, Berlin 2001/ New York 1998
Gleisung, Günter u.a., Die Verfolgung der Juden in Bochum und Wattenscheid, Bochum 1993
Maierhof, Gudrun, Ottilie Schönewald. Jewish Women: A Comprehensive Historical Encyclopedia, 1 March 2009. Jewish Womens Archive, June 27, 2010, see: http://jwa.org/encyclopedia/article/schoenewald-ottilie

Zitation: Wieber, Anja, Ottilie Schoenewald, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/ottilie-schoenewald/

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