Überliefert ist nur eine Fotografie einer Mülheimer Politikerin aus den 1920er Jahren (es zeigt Oberin Seyfried von der Deutschen Volkspartei (DVP) im Jahr 1926), wie die Quellenlage mit Bezug zu den ersten Frauen in der Mülheimer Stadtverordnetenversammlung insgesamt dürftig ist. Zu diesem Thema sind in Mülheim – wie in allen anderen Städten des Ruhrgebiets – nur aufwändig recherchierbare Bruchstücke überliefert, die ich versuche, zu einem Gesamtbild der damaligen Situation zusammenzufügen.
Der Mülheimer General-Anzeiger schrieb am 22. März 1919: „Gestern war der Auftakt des neuen Stadtparlaments. … Die Sitzung wurde eröffnet vom Vorsitzenden, Herrn Oberbürgermeister Dr. Lembke, mit folgender Ansprache an die Mitglieder des Kollegiums: „Meine Damen und Herren! So begrüße ich heute die neue Stadtverordnetenversammlung. Neu wie die Versammlung ist auch die Art des Grußes. Zum ersten Male habe ich die Ehre, neben den Herren auch Damen in unserer Mitte willkommen zu heißen. Ich freue mich dessen und hoffe, daß sie uns eine wertvolle Hilfe bei mancher Art der Arbeit, die wir zu leisten haben, sein werden. …“ 1
Die Stadtverordnetenwahl –heute würde man Kommunalwahl sagen – hatte am 3. März 1919 in, so die damalige Mülheimer Tageszeitung, „größter Ordnung und Ruhe“ stattgefunden. Keine Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, dass der Krieg noch nicht lange zurücklag, die Zeiten unruhig waren und lange noch Lebensmittelknappheit herrschen sollte. Von 74.675 Wahlberechtigten hatte etwas weniger als die Hälfte ihr Wahlrecht ausgeübt. Die Mehrheitssozialdemokraten (MSPD) lagen einen Sitz vor der katholischen Zentrumspartei mit 18 Sitzen. Es folgten die der Republik ablehnend gegenüberstehende DVP (12 Sitze), die linke Koalition aus Unabhängiger Sozialdemokratischer Partei und Kommunisten (USPD und KPD) (9 Sitze), die protestantische, Interessen der alten Eliten im Kaiserreich vertretende Deutschnationale Volkspartei (DNVP) (8 Sitze), die liberale Deutsche Demokratische Partei (DDP) (5 Sitze) und die antisemitische Wirtschaftliche Vereinigung mit nur einem Sitz.2
Die Mülheimer Volkszeitung, die Zeitung des katholischen Zentrums für Mülheim a. d. Ruhr und Umgebung, schrieb dazu: „Das Resultat ist ein schöner Erfolg der Zentrumspartei, die als zweistärkste Partei in das Stadtparlament einzieht. Die bürgerlichen Parteien sind weitaus in der Mehrheit geblieben. Bemerkenswert ist die verhältnismäßig geringe Stimmenzahl der Unabhängigen und Kommunisten.“3 Die Letztgenannten zeigten sich enttäuscht: „Leider muß hier konstatiert werden, daß die Mitglieder der Kommunistischen Partei nicht mit dem nötigen Eifer die Vorbereitungsarbeiten betrieben.“ 4
Von 72 Abgeordneten waren nur rund 4 Prozent weiblich: neben Luisen Gertrud Margarethe Catharina Wilhelmine Blumberg für die Deutsche Volkspartei waren Maria Büßemeier und Maria Katharina Havermann für das Zentrum gewählt worden.
Die DVP-Abgeordnete Luise Blumberg war Mutter von zwei Kindern und mit 29 Jahren bereits Witwe eines Juristen. Sie gehörte als Mülheimer Politikerin dem Ausschuss für Garten- und Friedhofsverwaltung an und war „Stellvertreter“ im Ausschuss für Leibesübungen und Bildungswesen. Zudem war sie von 1923 bis 1930 Mitglied im Rheinischen Provinziallandtag, dem Vorläufer der heutigen Landschaftsverbände.5 In den Jahren 1923, 24, 1931 und 32 äußerte sie sich dort als Sprecherin des Fürsorge-Ausschusses und trug z. B. im Juni 1923 die Ausschussablehnung eines MSPD-Antrags auf Aufhebung der Prügelstrafe für männliche „Zöglinge“ in privaten Fürsorgeanstalten vor.6
Die 2. Abgeordnete Maria Büßemeier war katholisch und 1876 in Soest geboren. Die 43-Jährige war mit „Fräulein“ anzusprechen, da sie als Lehrerin – einem der wenigen Berufe, die Frauen aus dem Bürgertum damals ergreifen konnten – nicht heiraten durfte. Sie unterlag dem sogenannten Lehrerinnenzölibat, d. h. dass ihr mit einer Verheiratung umgehend gekündigt worden wäre. Diese Bestimmung wurde in der Weimarer Republik für einige Jahre aufgehoben und hatte dann bis 1951 Bestand. Büßemeier hatte im Königlichen Lehrerinnen-Seminar in Xanten ihre Ausbildung absolviert, und war von 1904 bis 1936 Lehrerin im Mülheimer Stadtverband, ab 1930 Kon-Rektorin an der katholischen Schule Bruchstraße.7 Bereits in der ersten Sitzung der Stadtverordnetenversammlung ergriff sie das Wort und plädierte für die Rechte der Volksschule. Ich unterlasse hier einen Exkurs in die Schulpolitik der Weimarer Republik und verweise lediglich darauf, dass dieser Redebeitrag selbst der kommunistischen FREIHEIT eine Erwähnung wert war. Ich vermute daher, dass Fräulein Büßemeier Eindruck gemacht hat.8 Sie war für zwei Wahlperioden, bis 1929, Mitglied der Mülheimer Stadtverordnetenversammlung.
Ansonsten ist über die damals 43-Jährige (noch) nichts weiter bekannt, außer dass sie 1925 „infolge schwerer seelischer Erschütterungen durch Familientrauer und durch die 28 jährige Dienstzeit in ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit und Widerstandskraft so wesentlich erschüttert“ war, dass ihr der Mülheimer Stadtmedizinalrat „eine Auszeit in klimatisch günstiger Gegend (Gebirge, an der See, auf dem Lande) bei guter Pflege und völliger Ruhe“ verordnete.9
Die dritte Frau im Stadtrat, Maria Katharina Havermann, war die 36-jährige Frau eines Fabrikschlossers, Mutter von vier Kindern, die noch im selben Jahr ihrer Wahl nach Oberhausen zog. Dort kandierte sie bei der Wahl im Jahr 1924 erneut für das Zentrum (Beruf: „Ehefrau“), wurde jedoch mit Listenplatz 25 nicht in den Stadtrat von OB gewählt.10 Alle drei Politikerinnen saßen neben 12 Ratsmitgliedern im „Ausschuß für Wohlfahrtspflege“.11
Es lag nicht nur an der Stärke der jeweiligen politischen Lager, sondern auch an dem Listenplatz, den die Parteien ihren Frauen einräumten, wie hoch der weibliche Anteil in den jeweiligen Kommunalvertretungen war. Dies wurde schon in der zeitgenössischen Presse festgestellt, so im Duisburger Generalanzeiger, der prognostiziert hatte, dass weder eine Kommunistin noch eine Kandidatin der deutschnationalen oder der polnischen Partei in das dortige Stadtparlament einziehen würde, da „diese Parteien nicht sehr galant gegen ihre Damen waren, sondern sie ziemlich ins Hintertreffen sortiert haben.“12 So hatte die DNVP in Mülheim ihre drei Kandidatinnen auf die Plätze 18, 24 und 31 gesetzt und bei der MSPD stand die Hausfrau Bredenbröker sogar erst auf Platz 29 – das Zentrum wies in einer Anzeige zurecht mit dem Finger darauf. Die beiden Zentrums-Abgeordneten hatten auf den Plätzen 15 und 18 der insgesamt 18-köpfigen Liste gestanden. Und Luise Blumberg stand an 10. Stelle von insgesamt 12 Kandidaten der DVP-Wahlliste.13 Was sich für uns so selbstverständlich anhört – und zwar so selbstverständlich, dass leider viele ihr Stimmrecht gar nicht mehr wahrnehmen – war 1919 eine Sensation! Frauen konnten wählen und konnten gewählt werden!
Denn erst am 12. November 1918 hatte der sechsköpfige Rat der Volksbeauftragten aus Mehrheitssozialdemokraten und Unabhängigen Sozialdemokraten entschieden, das Wahlrecht zu reformieren, nein: zu revolutionieren. Nun hieß es: „Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht auf Grund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen.“ Jahrzehntelang hatten viele Frauen genau dafür gekämpft, wenn auch vermutlich nicht diejenigen, die nun in der Mülheimer Stadtverordnetenversammlung saßen. Denn noch im Mai 1918 war das allgemeine und gleiche Wahlrecht vom preußischen Abgeordnetenhaus abgelehnt worden. Alle Parteien – abgesehen von der SPD – hatten dies getan. Nur die Sozialdemokraten hatten das Frauenwahlrecht bereits 1891 in ihrem Parteiprogramm verankert und auch in Mülheim entsprechende Versammlungen organisiert.14 Daher ist es umso erstaunlicher, dass beide sozialdemokratischen Parteien in Mülheim, weder die MSPD noch die USPD, keine Frau so gut auf ihren Wahllisten platzierte, dass diese am 22. März 1919 in das neue Stadtparlament einziehen konnte. Schaut man nämlich etwas östlich, in Richtung Essen, dann zeigt sich dort ein anderes Bild: zu den 102 Stadtverordneten zählten gleich neun weibliche Abgeordnete, drei Sozialdemokratinnen, je zwei Frauen der DDP und des Zentrums und eine Frau aus dem Nationalen Verein.
Die drei Frauen Blumberg, Büßemeier und Havermann hatten es in das erste demokratisch gewählte Mülheimer Stadtparlament geschafft – nicht, weil man ihnen wie andernorts einen guten Listenplatz eingeräumt hatte, sondern weil das Zentrum und die DVP ihre Wählerschaft selbst noch bei der 3. Wahl in Folge motivieren konnte.15 Die Linken hatten dies zwar auch geschafft, auch ganz ohne Frauen an der Spitze, doch patzten sie, deren Programm jahrelang das Wahlrecht für Frauen gefordert hatte, in Mülheim genau in dem Moment, als es darum ging, hehren Worten der Gleichberechtigung – so hieß es im Erfurter Parteiprogramm von 1891 „gleiche Rechte und Pflichten aller ohne Unterschiede des Geschlechts und der Abstammung“ – auch Taten folgen zu lassen.
Susanne Abeck frauen/ruhr/geschichte
- Die zitierten Zeitungsartikel und -anzeigen befinden sich alle im Mülheimer Stadtarchiv
- Mülheimer Zeitung, 03.03.1919, StA MH 1430/55.
- Mülheimer Volkszeitung. Organ der Zentrumspartei für Mülheim a. d. Ruhr und Umgebung, 03.03.1919, Nr. 56, 22. Jg., StA MH 1430/30
- Freiheit. Organ der Kommunistischen Partei, 04.03.1919, Nr. 51, 2. Jg., StA MH 1180/3/6.
- Zu Luise Gertrud Margarethe Catharina Wilhelmine Blumberg siehe StA MH 1550/119.
- Stenographischer Bericht über die Verhandlungen des 68. Rheinischen Provinziallandtags vom 23. bis 27. Juni 1924 im Ständehause zu Düsseldorf, http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/ihd/periodical/structure/385121 (Zugriff am 28.02.2019).
- Zu Maria Büßemeier siehe StA MH 1550/262 und 1212/83.
- Freiheit, Organ der Kommunistischen Partei, 24.3.1919, StA MH 1430/11.
- StA MH 1212/83, Blatt 59.
- Zu Maria Katharina Havermann, geb. Ullrich, siehe StA MH 1550/295.
- Stadtverordnetenversammlung, 21.03.1919, StA MH 1180/3/6.
- Duisburger Generalanzeiger, 24.2.1919, StA DU.
- Siehe hierzu in den diversen, dem Stadtarchiv MH vorliegenden Tageszeitungen.
- Siehe dazu z. B. die den aktuellen (2018/2019) Forschungsstand spiegelnden Beiträge in dem informativen Ausstellungskatalog „Damenwahl! 100 Jahre Frauenwahlrecht“, hrsg. v. Dorothee Linnemann, Frankfurt a.M. 2018.
- Der Kommunalwahl war die Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar und die Wahl zum verfassunggebenden preußischen Landtag am 26. Januar 1919 vorausgegangen.
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