Appolonia Pfaus war eine in Bochum lebende Sintezza, die 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Über ihr Leben wissen wir nur wenig. Um Appolonia Pfaus im Kontext ihrer Kultur und Geschichte besser zu verstehen, machen wir zunächst einen großen Sprung in die Vergangenheit.
Der Weg der Romvölker durch Europa war stets vor allem von Ausgrenzung und Armut geprägt und von einem großen Misstrauen der Einheimischen. Ihre Ankunft 8./9. Jahrhundert in Europa war Resultat von Krieg und Gewalt, Konstruktionen über ihre Herkunft und ihren Charakter begannen kurz danach, ebenso wie weitere Verfolgungen.1 Die Romvölker waren eine Gruppe von Menschen mit denen wenig und über die viel gesprochen wurde. Ihre Geschichte war immer auch Faszinationsgeschichte, und sie wurde ohne die Einbeziehung derer geschrieben, die sie betraf. Zuschreibungen und Fremdbestimmung gingen Hand in Hand. Da Geschichte(n), Gesetze, Traditionen und Wissen bei ihnen mündlich überliefert wurden, waren diese wichtigen kulturellen Leistungen aus europäischer Sicht schlichtweg nicht vorhanden. Sie wurden damit ebenso abgewertet wie Völker außerhalb Europas, die als „Wilde“ galten.2
Imaginationen und rassistische Wissenschaft
Anthropolog:innen um 1800 zeichneten ein vergleichsweise wertschätzendes Bild, was damit zusammenhing, dass sie den Ursprung der Romvölker in Indien ausgemachten und ihre Sprache als vom Sanskrit abstammend – damit identifizierten sie die Sinti und Roma als indo-europäisch, damit passten sie in eine Kategorie, und die große Frage nach dem „woher?“ war damit beantwortet. Wissenschaft, Behörden und Teile der Literatur ließen aber nicht davon ab, sie als parasitäres Pariavolk einzustufen und darzustellen. Gleichzeitig entstand das forthin populäre Literaturgenre der „Zigeunerromantik“ als Gegenentwurf zum bürgerlich-industriellen Lebensideal und Selbstbild Europas.3 Doch galten solche Gegenentwürfe zum „zivilisierten“ Europa für den Rest der Gesellschaft nicht als erstrebenswert, und der imaginäre Raum der Romantiker, in dem Geheimnisvolles und Wunderbares und damit auch die Romvölker eine theoretische Akzeptanz fanden4, war eben genau das: imaginär. Die negativen Zuschreibungen, von Tier bis Teufel, enthielten meist schlicht all das was dem (Selbst-)Bild des zivilisierten Europäers nicht entsprach. So wurde die Romvölker für grundsätzlich uneuropäisch erklärt, Naturwesen, dem Tier näher als dem Menschen, unnütz für die Gesellschaft, auf einer niedrigen Entwicklungsstufe über die man sie auch mit Mühe nicht hinausbekommen konnte.5
Binäre Vorstellungen und Projektionen von Natur vs. Kultur, Emotionalität vs. Rationalität begegnen uns im Verlauf der Geschlechtergeschichte auch immer wieder in Bezug auf Frauen und Mädchen. Da überrascht es nicht, dass das Bild der „Zigeunerfrau“ oder des „Zigeunermädchens“ zentral für die Faszination aber auch Abwertung gegenüber Romvölkern war: Schönheit, Wildheit, Verführung, Abgründigkeit, extreme Emotionalität waren hier dominante Motive.6 Und wie im Sexismus und im Anti-Ziganismus üblich liegen Verehrung/Verklärung und tödliche Verachtung gefährlich nahe beieinander. Ein intersektionaler Blick auf die spezielle Diskriminierung von Sintezza und Romnja hilft also dabei, ihre Situation in ihrer Tragweite besser zu verstehen.
Ende des 19. Jahrhunderts gab die biologistische „Rassenlehre“ als „naturwissenschaftlicher“ Blick auf die Romvölker den ethnografischen Erkenntnissen über ihre verschiedene Gruppierungen einen neuen Rahmen, denn nun erhielt jeder Mangel an Anpassung, jede Gesetzesübertretung seitens Sinti und Roma einen angeblich wissenschaftlich bewiesenen Grund: die Biologie.7 Jede Diskussion über Armut, Ausgrenzung und Druck als Ursachen z.B. für Kriminalität mussten damit erst gar nicht geführt werde, das eigene Wahrnehmen und Handeln musste nicht mehr hinterfragt werden. Irrationale Ängste, Vorurteile und Machtinteressen erhielten damit einen pseudo-rationalen, pseudo-objektiven Anstrich mit dem Ruf nach staatlichem Eingreifen. So erreichte die Fremdbestimmung eine neue, in letzter Konsequenz tödliche Stufe.
Sinti:zze und Rom:nia in Bochum und Wattenscheid
Sinti:zze und Rom:nia im Ruhrgebiet gehörten zur Kirmeskultur, die sich rund um den Cranger Pferdemarkt seit dem späten Mittelalter entwickelt hatte. In der örtlichen Berichterstattung zur Cranger Kirmes lässt sich genau nachzeichnen, wie sich die romantisierende Verklärung des „fahrenden Volkes“ hin zum menschenverachtenden Rassismus im Nationalsozialismus verschoben hat.8 In Bochum und Wattenscheid wurden vor der Nazizeit Plätze an Sinti:zze und Rom:nia verpachtet, doch dies stieß oft auf großen Widerstand der Bevölkerung: Es wurde bemängelt, dass die Plätze keine Sanitären Anlagen hatten, behauptet, dass die Sinti:zze und Rom:nia Krankheiten verbreiten würden, ihre Kinder schmutzig seien, zu viele Menschen auf zu engem Raum lebten. Selbst wenn – trotz in der Tat fehlender sanitärer Anlagen – die Befürchtungen hinsichtlich Krankheiten, Reinlichkeit und Platzmangel widerlegt werden konnten, nahm der Druck zu, und die Menschen mussten umziehen, auf Plätze außerhalb der Stadt, was ihnen Handel und Produktion für ihren Lebensunterhalt erschwerte. Und sanitäre Anlagen hatten diese zugewiesenen Plätze erst recht nicht, aber das spielte dann für die besorgte Bevölkerung keine Rolle mehr. Auch, dass viele deutschstämmige Arbeiterfamilien in ihren Wohnungen zum Teil deutlich beengter lebten als Sinti:zze und Rom:nia in ihren Wagen und Hütten, kam nicht zur Sprache.9
Diskriminierungen
Wie sahen Abwertung und Vorurteile gegenüber Sinti:zze und Rom:nia aus im Vergleich zur Diskriminierung von Jüdinnen und Juden? Letztere wurden gesehen als das „Andere“, als das, was man nicht werden konnte und wollte: Eine Gruppe die fixiert ist auf wirtschaftliche Macht, ohne Bindung an Heimat oder Kultur. Die „Zigeuner“ dagegen wurden gesehen als etwas, das Angst vor einem Abstieg (z.B. durch extreme Armut, Krankheit oder Alter) machte: Eine Gruppe, deren Angehörige ohne Zivilisiertheit und Zugehörigkeit als Kreaturen der Natur ohnmächtig ihr Dasein fristeten. Beiden wurden unterstellt, als „Parasiten“ die Gesellschaft zu schädigen. In beiden Fällen wurde dass, was Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft an sich selbst ablehnten und nicht mit ihrem Selbstbild vereinbaren wollten, auf andere projiziert und in deren Vernichtung versucht auszulöschen.10 Damit verriet und verlor Europa letztlich alle Ideale von Zivilisiertheit, Menschlichkeit, Sitte und Anstand.11
Die im Kaiserreich und der Weimarer Republik praktizierte Idee, Sinti:zze und Rom:nia zur Anpassung zu zwingen – also Sesshaftigkeit, Aufgeben von Sprache, Traditionen und Kultur – wurde bald von drastischeren Maßnahmen abgelöst. Eine auf „Rassenlehre“ basierende Gesetzgebung gegen Romvölker gab es bereits 1926. Während der NS-Diktatur ereignete sich dann das dunkelste Kapitel ihrer Leidensgeschichte: Die systematische Ermordung von Sinti:zze, Rom:nia und anderen Romvölkern – in Romanes Porajmos genannt. Die Nationalsozialisten benutzen die rassistische Idee vom „Zigeuner“ als eine „minderwertige Rasse“ mit genetischer Veranlagung zum Stehlen und Vagabundieren, als „artfremdes Element, dass nie ein vollwertiges Glied eines Gastvolkes werden wird“.12 Anfang 1934 trat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft, das die Zwangssterilisation von Menschen aus Romvölkern legitimierte. Ihre körperliche Unversehrtheit war nicht mehr garantiert
In Bochum wurden die Menschen auf speziellen Plätzen und in Obdachlosensiedlungen in Stadtrandgebieten angesiedelt, dort waren sie leicht zu kontrollieren, Razzien waren an der Tagesordnung. Ab 1939 erfolgte die komplette Erfassung durch Gesundheitsamt und Arbeitsamt, die Einstufung lautete „asozial“, „arbeitsscheu“, und ohne medizinischen Befund auf soziale Ausmerzung zielend: „angeborener Schwachsinn“. Dies war die Grundlage für KZ-Haft, und damit Folter und Ermordung 13. Die weit verbreitete Sterilisation14 von Frauen und Mädchen in den Lagern wurde kostengünstig ohne Narkose durch Injektion von Säure vorgenommen, die oft bis in den Bauchraum gelangte und zu schweren Blutungen und Schmerzen führte.15 Ab dem Frühjahr 1939 wurden Sintezze und Romnia vor allem ins KZ Ravensbrück deportiert,16 Männer mehrheitlich nach Sachsenhausen, Buchenwald und Mauthausen.
Sinti:zze und Rom:nia waren auch immer wieder Forschungsobjekte. Eva Justin, stellvertretende Leiterin der „Rassehygienischen und Bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt“ hatte über über „Zigeunerkinder“ in einem Kinderheim promoviert, sprach sich deutlich für Sterilisation aus, und war in Ravensbrück für die „Begutachtung“ von jugendlichen Sintizze und Romnia zuständig17 Hinzu kamen Folter und Ermordung als Versuchsobjekte von KZ-Ärzten.
Porajmos – Genozid an den Romvölkern
Etwa 17.000 Sinti:zze und Rom:nia wurden zwischen 1938 und 1945 in Konzentrationslagern ermordet, viele Namen und Lebensdaten sind nicht mehr zu ermitteln. Informationen über die Opfer wurden in vielen Fällen komplett vernichtet. Wie kompliziert sich die Forschung zum Beispiel in Bochum gestaltete, wird im Vorwort der VVN-Veröffentlichung „Verachtet, vertrieben, verfolgt. Die Verfolgung der Sinti:zze und Rom:nia in Bochum und Wattenscheid“ dargestellt: Herausforderungen waren die schwierige Auffindbarkeit der Akten, ungenaue Angaben in den Unterlagen, Rechtschreibfehler, beschädigte, unleserliche Dokumente. Hilfreich waren neben Akten des Gesundheitsamtes vor allem die Entschädigungsakten. So konnten Informationen über Appolonia Pfaus18 gefunden werden, nach der seit 2007 auf Anregung der VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten) nach Beschluss des Rates der Stadt Bochum sogar ein Park an der Windmühlenstraße in der Bochumer Innenstadt benannt ist .
Appolonia Pfaus
Appolonia Pfaus wurde am 18. Januar 1878 oder 79 in der französischen Schweiz geboren. Ihr Mann war der Sinto Josef Winter. Die unterschiedlichen Nachnamen sind dadurch zu erklären, dass Sinti:zze nach eigenen Bräuchen und nicht standesamtlich heirateten. Die so geschlossenen Ehen wurden staatlich nicht anerkannt, ihre Kinder galten damit als unehelich. 19 Sie und ihr Mann Josef Winter hatten elf gemeinsame Kinder. Drei starben früh. Appolonia Pfaus zog nach dem Tod ihres Mannes zu ihrem Sohn Peter nach Bochum. Die Familie wurde in einem Obdachlosenheim in der Meesmannstr. 117 untergebracht20, dies war in Bochum eine übliche Maßnahme seitens der Behörden, da es anders als in Wattenscheid hier kein spezielles Lager für die ethnischen Minderheit gab.21 Sie war mittlerweile Großmutter von 13 Enkelkindern. Auch ihr Sohn Michael lebte mit seiner Familie in Bochum, sowie auch weitere ihrer Kinder. Appolonia Pfaus‘ Sohn Georg war Soldat in der deutschen Armee, Sinti und Roma wurden ab dem 1. September 1939 zunächst wie alle anderen wehrfähigen Männer eingezogen. 1941 und 42 wurde zwar ihr Ausschluss aus der Wehrmacht angeordnet wurde, doch dies wurde – einfach weil Soldaten gebraucht wurden und sicher auch Kameradschaft eine Rolle spielte – nicht konsequent umgesetzt. Georg Pfaus fiel 1942 in Russland. Ab 1943 wurden von Romvölkern abstammende Soldaten meist gegen den Widerstand ihrer Vorgesetzten und oft noch in Uniform von der Front weggeholt und nach Auschwitz gebracht.22
Appolonia Pfaus Sohn Peter war eigentlich Korbmacher. Auch er lebte in Bochum und arbeitete in der Rüstungsherstellung im Bochumer Verein. Dort wurden viele Sinti:zze und Rom:nia beschäftigt, doch wurden sie im Zuge von Deportationen schnell durch „billigere“ Zwangsarbeiter ersetzt.23
1943 wurden Sinti und Roma aus den umliegenden Städten nach Bochum gebracht um von hier aus nach Ausschwitz deportiert zu werden. Am 21. Oktober desselben Jahres wurden Peter Pfaus und seine Familie deportiert, ebenso Michael Pfaus mit seiner Familie. Appolonia Pfaus, die noch keinen Deportationsbescheid bekommen hatte, entschied sich, mit ihrer Familie mitzufahren. Die Ehefrauen von Peter Pfaus und von Michael Pfaus waren schwanger. Erika, geboren am 08.12. 1943, starb am 09.02.1944; Renate, geboren am 15.01.1944, starb am 12.02.1944. Beiden hatte man, so wie allen Neugeborenen im Lager24 bereits Häftlingsnummern tätowiert. Insgesamt haben nur drei der elf Kinder von Appolonia Pfaus und nur vier ihrer fünfzehn Enkelkinder den Genozid der Nazis an den Romvölkern überlebt. Wir wissen das, weil in einer weiteren wichtigen Quelle, dem größtenteils erhaltenen „Hauptbuch“ des sogenannten „Zigeunerfamilienlagers“ in Auschwitz Birkenau, unter anderem auch Menschen aus der Familie Pfaus registriert wurden.
Die Hauptbücher des sog. „Zigeunerfamilienlagers“
Die Hauptbücher wären, wie viele andere Unterlagen gegen Kriegsende beinahe von den Tätern vernichtet worden, das ganze „Zigeunerlager“ sollte dem Erdboden gleich gemacht werden. Doch zwei polnische Häftlinge, Roman Frankiewicz und Tadeusz Joachimowski, die als Schreiber im Lager arbeiten mussten und so Zugang zu den Büchern hatten, retteten die wichtige Dokumente. Sie vergruben sie in einem Eimer neben der Baracke Nr. 31. Dort blieben die Bücher etwa vier Jahre verborgen. Dann wurden sie, Auschwitz war mittlerweile eine staatliche Gedenkstätte, von Mitarbeitern der Gedenkstätte ausgegraben. Anwesend war dabei auch Tadeusz Joachimowski. Damit konnten zumindest einige Menschen vor dem Vergessen bewahrt werden. Appolonia Pfaus ist im Hauptbuch mit dem Sterbedatum 12. Mai 1944 verzeichnet. Vier Tage später wurde das „Zigeunerfamilienlager“ geräumt, gegen den Widerstand der Häftlinge, der erbarmungslos niedergeschlagen wurde.25
Nach dem Krieg bemühten sich überlebende Angehörige um eine Entschädigung, die ihnen als Verfolgten des NS-Regimes zustand. Wie diese Prozesse häufig verliefen, und welchen Erfolg die Angehörigen der Familie Pfaus hatten, schildern die Autor:innen der VVN-Broschüre: „Da wurden für Appolonia Pfaus […] nur 2.700 DM als Entschädigung gezahlt, weil anzunehmen war, daß in einem Vernichtungslager eine mehr als 65-jährige höchstens fünf Monate zu leben hatte. Und das erst nach 1960, so lange dauerte dieser unwürdige Prozeß. Für die schwierige Beschaffung des Erbscheins sind allein 3.500 bis 4.000 DM fällig gewesen. In diesen Verfahren sind die Sinti und Roma ein zweites Mal ermordet worden.“26
Rassismus heute
Und heute? Viele Angehörige der Romvölker sind längst in Verbänden organsiert, zum Beispiel im Bundesromaverband und im Zentralrat der Sinti und Roma, auf deren Internetseiten https://www.bundesromaverband.de/ und https://zentralrat.sintiundroma.de/ es viele spannende Informationen gibt. Die Vorsitzende des Romaverbandes, Anwältin Nizaqete Bislimi, hat ein Buch über ihr Leben geschrieben, dass mit Vorurteilen aufräumt. Die Sängerin Marianne Rosenberg überraschte viele, als sie in ihrer Autobiografie „Kokolores“ 2006 über ihre Sinti-Wurzeln erzählte.[erfn_note]Vgl. Roseberg, Marianne: Kokolores. Autobiografie, Berlin 2006.[/efn_note] Und Dotschy Reinhard, Enkelin des legendären Gitarristen Django Reinhardt, liefert in „Everybody‘s GYPSY. Popkultur zwischen Ausgrenzung und Respekt“ aufschlussreiche Analysen. Nach Jahrhunderten der Zuschreibungen werden Stimmen von Angehörigen der Romvölker endlich stärker wahrgenommen.
Doch neben all dieser Fortschritten ist die Situation von Sinti und Roma in vielen europäischen Ländern immer noch von Diskriminierung und Gewalt geprägt.27 Auch ohne Rassentheorien sind Vorurteile gegen sie äußerst lebendig: Urvolk, romantischer Mythos mit Gypsy- oder Boho-Style, Bohéme-Ideal, generationenübergreifend kriminelle Banden, Asoziale28. Bis in die 1980er Jahre mussten Romvölker darum kämpfen, dass ihre Erfahrungen in der Nazizeit als rassistische Verfolgung (und nicht nur als simple Strafverfolgung) anerkannt wurde, obgleich dies eigentlich schon in den Entschädigungsunterlagen zu lesen war29. In osteuropäischen Ländern beobachtet Klaus-Michael Bogdal, dass deren niedriger Status innerhalb der EU-Hierachie oft durch Abwertung von Sinti und Roma kompensiert wird – ein Aufwerten der eigenen Identität also auf Kosten anderer.30
Aus dem Kosovo flohen 1999/2000 nach Morden und Vergewaltigungen durch albanische Nationalisten im Rahmen von ethnischen „Säuberungen“ ca. 100.000 Roma und Aschkali31. Sie waren dort 650 Jahre lang sesshaft gewesen, waren gesellschaftlich gut integriert und meist wohlhabend.
Und hier in Deutschland ermordete Tobias Rathjen am 19. Februar 2020 in Hanau aus rassistischen und rechtsextremistischen Motiven elf Menschen32, darunter die Romni Mercedes Kierpacz sowie die Roma Vili Viorel Păun und Kaloyan Velkov. Filip Goman, der Vater von Mercedes Kierpacz, brachte die furchtbare Kontinuität jahrhundertelangen Hasses gegen unschuldige Menschen auf den Punkt als er sagte: „Mein Opa wurde im KZ vergast, meine Tochter in Hanau erschossen.“
Einige Jahre bevor die Situation von geflüchteten Menschen an den Außengrenzen Europas als moralische Katastrophe benannte wurde, stellte Klaus-Michael Bogdal 2011 ein ähnliches Versagen in Bezug auf die Romvölker in Europa fest, die mit 10 Millionen Menschen ein zentrales Thema der politischen, sozialen und kulturellen Gestaltung unseres Kontinents sind. „Nicht zuletzt wird sich die Zukunftsfähigkeit des geistigen Konstrukts Europa am Umgang mit den Romvölkern messen lassen müssen.“33 Der Weg scheint noch lang, zu lang – und wir als Mehrheitsgesellschaft müssen uns in den Worten des afroamerikanischen Autors und Aktivisten James Baldwin fragen lassen: „It’s taken my father’s time, my mother’s time, my uncle’s time, my brothers’ and my sisters’ time. How much time do you want for your progress?“34
Linda Unger
- Berger, Lutz et al.: Verachtet, vertrieben, verfolgt. Die Verfolgung der Sinti und Roma in Bochum und Wattenscheid, Heft Nr. 7 der Schriftenreihe zur antifaschistischen Geschichte Bochums. Herausgegeben von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten, Kreisvereinigung Bochum, Bochum 2002, S. 6.
- Bogdal, Klaus-Michael: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, Berlin 2011, S. 11.
- Bogdal S. 13 f.
- Bogdal S. 25.
- Bogdal S 13 f.
- Bogdal S. 330 ff.
- Bogdal S. 13 f.
- Braßel, Frank: „Lustig ist das Zigeunerleben“. Roma und Sinti auf der Cranger Kirmes und ihre Ermordung, in: ders./ Clarke, Michael/ Objartel-Balliet, Cornelia (Hg.): „Nichts ist so schön wie …“ Geschichte und Geschichten aus Herne und Wanne-Eickel, Essen 1991, S. 237-240.
- Berger S. 9 ff.
- Bogdal S. 321.
- Bogdal S. 482.
- Berger S. 23.
- Berger S. 26.
- Berger S. 21.
- Berger S. 44.
- Berger S. 43.
- Vgl. zur Biografie Eva Justins Gilsebach, Reimar: Wie Lolitschai zur Doktorwürde kam, in: S. 101-134.Ayaß, Wolfgang/ Gilsebach, Reimar/ Körber, Ursula/ Scherer, Klaus/ Wagner, Partick/ Winter, Mathias: Feinderklärung und Prävenation. Kriminalbiologie, Zigeunerforschung und Asozialenpolitik, Berlin 1988.
- Berger S. 48 ff.
- Florian, Reinhard: Ich wollte nach Hause, nach Ostpreußen! Das Überleben eines deutschen Sinto. Berlin 2012, S. 10.
- Berger S. 39.
- Berger ebd.
- Berger S. 39.
- Berger S. 45.
- Berger S. 50.
- Berger, S. 55.
- Berger S. 5.
- Eine hörenswerte Sendung über die gesellschaftliche Wahrnehmung von Rom:nja und Sinti:zze sowie ihren Kampf gegen Rassismus in: Machiavelli, der Podcast über Rap und Politik, bis zum 7.4.2026 verfügbar in der ARD-Mediathek, https://www1.wdr.de/radio/cosmo/podcast/machiavelli/machiavelli-sinti-roma-100.html
- Bogdal S. 336.
- Berger S 69 ff.
- Bogdal S. 481
- Untergruppe der Roma mit Albanisch als Muttersprache, Berger S. 77.
- Spotify Studios: Spotify Original Podcast 190220 – Ein Jahr nach Hanau: https://open.spotify.com/show/0Z2UJwgGfDnxrIhJpefINW
- Bogdal S.10.
- https://time.com/4680673/james-baldwin-documentary-history/
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