Alleinerziehende türkische sog. Gastarbeiterin / XXX

Die Sorgen um alles, um den Tag, um den Abend, um das Morgen und das Gestern.

Erzähl‘ es ihnen1

„Söyle onlara. Onca muayneden geçtik, sağlıklıydık geldiğimizde hepimiz. Çoğu ölüp gitti. Baban da ölüp gitti. Bruckhausen ya da Meiderich, bugünkü şehir parkının etrafında bulunmuş olan yaşam alanları. Aslında yaşam alanları değillerdi. Bruckhausen, Meiderich, taşıyıcıları ve tekerlekleriyle kanlı canlı insanlardan mürekkep fabrikalardı. Bugünse fabrika borularının yerini minareler, camiler, artık kimseye yurt olmayan yurtlar ve kültür yerine hayatta kalma mücadelesi veren kültür merkezleri almış. İçerisi bembeyaz, dışarısı ise isten, zulümden kapkara. Sen sevgi dolu ailenin kanatları altında, bir kervana aitsin. Sana hep sahip çıkmış olan bir kervan bu. Biz diyerek. Aidiyeti eleme tehdidiyle koruyan bir sevgiyle. Şimdi biliyorum bunun böyle olduğunu. Gettolarda buna verilen ismi de. Biz mahalle derdik. Ve mahalle sevgi ve gurur ile ilgiliydi. Aidiyetle, isle. Her bir grup için böyleydi bu – öyle çoktu ki bu gruplardan, gerçekte hepsi birbirinin aynı olan.  Bu yüzden tüm Duisburg mahalle.“       

Erzähl´es ihnen: All die Untersuchungen mussten wir machen.  Beweisen, dass wir gesund waren, als wir hier ankamen. Die meisten sind gestorben. Auch dein Vater. Duisburg, Bruckhausen, Meiderich, Hochfeld waren keine Stadtteile, sondern Maschinen mit menschlichen Rädern und Trägerinnen aus Fleisch und Blut. Heute stehen dort nicht Fabrikrohre, sondern Kulturorte, in denen – sie sagen: Kultur drin ist. Jetzt stehen wir draußen.  In den Ghettos, wie sie hießen, wir nannten es Mahalle. Und es hatte mit Liebe zu tun. Mit Zugehörigkeit. Für jede Gruppe, denn es gab so viele von denen, die alle gleich waren im Grunde. Deshalb bleibt ganz Duisburg unsere Mahalle.

Von Ankara nach Deutschland

Ich bin in Ankara aufgewachsen. Meine Eltern habe ich mit 12 Jahren verloren. Meine vier älteren Geschwistern, besonders mein älterer Bruder haben die Geschäfte meines Vaters übernommen. Wir haben einen kleinen Einzelhandel geführt mit Lebensmitteln und Stoffen. Ich habe mich sofort in euren Vater verliebt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Wir haben geheiratet und sind kurz darauf nach Istanbul gezogen. 1970 standen wir am Haydarpaşa Bahnhof und haben ihn verabschiedet.

 Liegt im Anfang der Reise der Kern eurer Wut? Ist es die Reise? Der Anfang? Lag es an uns? Ist es meine Arbeit? Sein Tod? Den ersten Moment seiner Reise, den vergesse ich nie. Ihr anscheinend auch nicht. Obwohl Du ihn nur aus Erzählungen kennst. Ich stand mit Deinen Geschwistern am Bahnhof. Zwei waren dabei. Er war 6 als wir am Bahnsteig standen. ‚Weißt du noch, der Unfall…?‘, hatte Dein Bruder gesagt und es Dir erzählt, als Du sechs warst. Der Zug, in den Dein Vater gestiegen ist, hatte einen technischen Defekt und deswegen war ein junger Mann auf das Dach des Wagons gestiegen und dort muss er ein Kabel angefasst haben. Er ist vor unseren Augen verbrannt. Der Zug hatte stundenlang Verspätung. Das war der Zug nach Almanya, in den er gestiegen ist, mein Mann.

Die Sorgen um alles, um den Tag, um den Abend, um das Morgen und das Gestern.

Dass ich euch meine Gefühle und meine Gedanken, Vorstellungen und Bedürfnisse nicht schon früher mitteilen konnte, tut mir wirklich leid. Die Sorgen um alles, um den Tag, um den Abend, um das Morgen und das Gestern. Unsere Integration, die ehemaligen Gastarbeiterinnen mit Migrationshintergrund, das Provokationslevel des systematisierten Teilhabedefizits, Denkmäler solltet ihr bekommen habt ihr gesagt. Ich verstehe das heute.

Mir bleibt keine andere Wahl, als zu verdrängen. Ich müsste viel zu viel erklären, die Türkei, Kohl, den Hass, die Baseballschläger hier, das Militär dort und auf meine kompromisslose Erziehung eingehend, um Verzeihung bitten oder, um Nachsicht zu bekommen, eine Welt der Erinnerungen aufbauen, in der das logisch erscheint, was wir gemeinsam erlebt haben.

Ich möchte noch sagen, dass ich eure Wut immer erkannt habe, ihr aber keinen Platz geben wollte. Aus dem ganz einfachen Grund, weil ich auch meiner Wut keinen Platz geben konnte, während ich jede einzelne DMARK umdrehen, festhalten berechnen und zurücklegen musste, damit ihr hier leben könnt. In Freiheit und Sicherheit. Der Ausländerbehörde habe ich gesagt: ‚Mein Mann arbeitete als Schweißer, Möbelbauer hatte er in der Türkei gelernt. Er wollte hier  in der Nachbarstadt eine Werkstatt aufbauen. Er führte Tagebuch und organsierte und schrieb für türkische Zeitungen. Sieben Jahre nach seiner Einreise gab es einen Betriebsunfall. Er und alle unsere Leute, sie trugen keinen Atemschutz – lediglich Stiefel, die sie selbst bezahlen bzw. mieten  mussten – so wie unsere Mülltonnen in der Arbeiterwohnung. Wenige Monate nach dem Unfall in der Schweißerei stirbt er an Krebs. Die Kinder gehen hier zu Schule. Ich muss arbeiten.  Ich musste ihm am Sterbebett das Versprechen geben, in Deutschland zu bleiben.‘  Es hat nichts gebracht. Ich habe umsonst erzählt. Erzählt ihr es ihnen.

Strategien des Überlebens

Die Aufenthaltserlaubnis, immer nur befristet. Immer diese Angst und Sorge im Nacken, im Schweiß. Das ich das nur bewerkstelligen konnte, weil ihr bis zur Einschulung in der Türkei wart, war es ein Fehler? Heute tut es mir leid. Keine Arbeit, keine Arbeitserlaubnis, keine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, keine Unterstützung. Und so weiter. 

Du sollst wissen, dass es auch mich verletzt hat, schon vor Euch: ohne Euch zu sein, damit ihr hier sein könnt. Ich dachte, du würdest es heraushören, in den  leisen Stunden, wenn ich nachts das schneeweiße und nach Lavendel und Olivenölseife riechende Baumwolltuch um den Kopf gewickelt habe, locker doch? Leichtigkeit und Schutz lagen darin im Flüstern der Suren, im bedachten Umwälzen der schweren Seiten, die wie hauchdünne Holzschnitte kurz in der Handfläche liegen, bevor sie sich auf der nächsten Seite wiederfinden. Wie ich mit dem Finger den arabischen Buchstanden folgend immer für Euch gebetet habe. Immer auch deinen Vater informiert habe, mit ihm nachgedacht, gegrübelt, verzweifelt geweint, um mich dann wieder mit Dir beruhigen zu können.

Kulturelle Traditionen

Obwohl Du das Kopftuch geliebt hast, Du Dich in ilahis verliebt hast, sie Dir innere Ruhe – sei es auch kurz – geben konnten. Erst wolltest Du – Du warst 15 – mit dem hijab in die Schule. Ich habe es Dir verboten, so wie ich Dir verboten habe zu demonstrieren. Du hast es geliebt, tığ işi und beten. Du fandest Ruhe darin und dann… das Kommando Rolle rückwärts. Deine Distanz und Deine Wut erbitten sich Ähnlichkeit mit denjenigen, die Dich dazu veranlassen so wütend zu sein. Wie klärt man so etwas auf?

 Alle wichtigen Traditionen der Zusammenkunft waren dir dann, ab einem gewissen Alter, zuwider. Wie genau kann ich den Zeitpunkt festmachen? War es dieses WIR? Ich suche noch. Ist es Deine sture Entscheidung, nicht über DEINE Herkunft zu reden? Du willst nicht dem Integrationsmarkt dienen –  das sei alles Deine Sache. Ist damit eine Distanz oder eine Nähe zu mir verbunden?“

Unerzählte Geschichten

Frauen, mit denen ich gesprochen habe, alleinerziehende Frauen, die in den 1970er Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind, keine von ihnen hat je die Öffentlichkeit gesucht. Sie haben inspiriert und gestärkt, im Schatten von Demonstrationen für ihr Recht gekämpft, indem sie ihre Kinder mit zur Arbeit brachten und sich von ihnen helfen ließen. Frauen, mit denen ich gesprochen habe, sind Witwen und aus diesem Grund alleinerziehend in Deutschland. Ihre Männer sind an den Folgen ausbeuterischer Arbeitsbedingungen verstorben. Es ist eine unerzählte Geschichte, die in den 1940er Jahren in Anatolien beginnt. Diese Frauen gehen auf Handwerksschulen oder in die Dorfinstitute in Ankara und Umgebung. Sie heiraten mit Anfang zwanzig. Sie bekommen Kinder und ziehen nach Istanbul. Von Istanbul aus bewerben sich die Männer als Arbeiter und steigen 1970 am Haydarpasa Bahnhof in die Züge Richtung Deutschland. Die Familien kommen innerhalb der nächsten 3 Jahre nach, was offiziell als Familiennachzug beschrieben wird, bis zum Anwerbestopp im November 1970.

Die Bundesanstalt für Arbeit richtete ab den 1960er Jahren eine Zentralkartei für nichtdeutsche Arbeitnehmer ein, in der diejenigen ausländischen Arbeitnehmer:innen geführt werden, die arbeitsrechtlich auffallen. Mittlerweile sind Belegschaften mit bis zu 90 Prozent Ausländeranteil entstanden. Arbeitsrechtlich auffällig sind all jene, die sich gegen die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen oder gerechtere Urlaubsverteilung äußern.

Die Lebenssituation alleinstehender Elternteile war stark davon geprägt, ob sie selbst erwerbstätig waren oder nur die Ehepartner und ob sie noch vor dem Tod der Ehepartner eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis hatten oder nicht. Denn nach dem Tod des erbwerbstätigen Partners gab es kaum Möglichkeiten, eine Arbeitserlaubnis und eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu bekommen. Die Toten wurden zurückgeführt. Es gab keine muslimischen Friedhöfe. Und die Sorge vor Grabschändung war und bleibt groß. Vor allem Mütter standen nach dem Tod ihrer Ehepartner alternativlos vor dem Problem, als Hausfrauen keine Kinderbetreuung zu erhalten und – im Gegenteil zu deutschen Frauen – keine Sozialhilfe beantragen zu können. Sie schickten ihre Kinder bis zum dritten oder siebten Lebensjahr zu Verwandten in die Türkei. Sie putzen in den Finanzämtern, Banken, Kulturinstitutionen den Dreck der Industrialisierung und des Aufschwungs weg. Zur Einschulung kamen die Kinder aus der Türkei zurück. Durch die Schulpflicht der Kinder wurde die Aufenthaltsgenehmigung – stets befristet –  verlängert.

Von Anfang an bestand der Bleibewunsch bei unseren Müttern und Vätern, auch wenn es die Ausländer- und Wirtschaftspolitik in den 1970er Jahren gänzlich anders sah:  Sie sind gekommen um zu bleiben.

Zur Geschichte der alleinerziehenden sog. Gastarbeiterin

Die Geschichte der alleinerziehenden sog. Gastarbeiterin aus der Türkei ist oftmals eine andere Geschichte, als die der maximalen Ausbeutung der „klassischen“ sog. Gastarbeiter der großen Firmen. Die Geschichte der alleinerziehenden sog. Gastarbeiterin aus der Türkei ist eine Geschichte von Arbeits- und Lebens-UN-bedingungen, der illegalen Arbeit, derjenigen Arbeit, die ohne Anstellung, ohne Sozialversicherung „unterm Radar“ erledigt wurde und deren Arbeiterinnen – und ihre Kinder – keine Rechte hatten. Es ist die Geschichte der Drecksarbeit und des Mangels an allem, was mit kapitalistischen Werten messbar wäre. Und folglich ist es auch eine Geschichte eines bedingungslosen optimistischen Überlebenskampfes in einem zutiefst patriarchalen Umfeld.

Halbes Brot

Kaum jemand hat sich der Geschichte von alleinerziehenden sog. Gastarbeiterinnen aus der Türkei und des Gedenkens an die Toten so angenommen wie der Schriftsteller Fakir Bayurt (1929-1999). Er ist aus unterschiedlichen Gründen zu nennen, wenn es um die Geschichte von alleinerziehenden sog. Gastarbeiterinnen aus der Türkei geht. Der Roman Yarım Ekmek (Halbes Brot) ist der letzte Band seiner Duisburg Trilogie. Er versammelt darin das absolutes Thema des Gedenkens und der Erinnerungskultur. Baykurt setzt mit diesem letzten Band der Trilogie ein Zeichen: Er schreibt nicht mehr ausdrücklich positiv über die Solidarität der Arbeiter:innen untereinander. Und es geht ihm detailliert darum, wie das geht: das Ankommen. Die Protagonistin des Romans, Kezik Acar, bringt die Überreste ihres in der Türkei begrabenen Mannes nach Deutschland zur Familie des Verstorbenen.

Baykurts Familiennachzug beschreibt genau das Gegenteil der deutschen Politik des Familiennachzugs, indem die Überreste eines Angehörigen aus der Türkei zu seiner Familie nach Deutschland geholt werden und zwar auch, um in Deutschland mit Ritualen an gesamtgesellschaftlichen Orten das Gedenken ausleben zu können.

Wichtig ist dabei – wie in allen Geschichten von Gruppen, deren Geschichte in der offiziellen Geschichtsschreibung bis zum Moment der Bearbeitung in der breiten Öffentlichkeit nicht präsent ist – dass jede noch so kleine Erzählung von Bedeutung ist. Dies gilt besonders, wenn dabei für unsichtbar erklärte Lebensmodelle erzählt werden, wie die der Witwen, der Alleinerziehenden.

Dr. Nesrin Tanç

  1. Anmerkung der Redaktion: „Erzähl‘ es ihnen“ – dieser Text sprengt den formalen Rahmen der bisherigen Porträts von  frauen/ruhr/geschichte. Er ist neu und notwendig, denn er versucht einen Weg zu finden, bisher nur im privaten Raum versprachlichte, angesprochene, erinnerte Erfahrungen zu einer öffentlichen Darstellung zu verhelfen. Nesrin Tanç hat mit alleinerziehenden türkischen sog. Gastarbeiterinnen gesprochen und ihre Schwierigkeiten zu existieren emblematisch zu einer Position verdichtet. Deshalb kann dieser Text auch nicht, der Ordnungsstruktur von frauen/ruhr/geschichte folgend, einem Namen oder einer Stadt zugeordnet werden.

    Obwohl sie zunächst Texte über das Leben in zugewanderten Familien seit den 1960er Jahren für frauen/ruhr/geschichte zugesagt hatten, sind Autorinnen und Gesprächspartnerinnen im Laufe des Projektes divers.postmigrantisch.kosmopolitisch. von der schwierigen Aufgabe zurückgetreten, weil sich die Arbeit an den Lebensgeschichten zu emotional, zu persönlich, zu nah, zu übergriffig, zu gewaltig – zu schambehaftet – erwies. Die Nähe zwischen den Interviewten und der Interviewerin, die familiären Verstrickungen mit all den darin abgelagerten Befangenheiten, die Vertrautheit mit den Lebensumständen der Befragten erschwerte das Vorhaben. Nesrin Tanç machte bei der Diskussion ihrer jeweiligen Textfassungen deutlich, wie schwierig es tatsächlich ist, das Politische im Privaten zu beschreiben, wenn die Bezeichneten selbst kaum Worte finden können. Zudem ist die Schreibposition von einem Spannungsverhältnis geprägt, die Konventionen historischer Biografien nicht bestätigen zu wollen und doch dem erzählten Leben einen Sinn abzugewinnen – „in der das logisch erscheint, was wir gemeinsam erlebt haben“ – heißt es im Text: An einem schweren Leben mit harten Bedingungen ist nicht unbedingt etwas Heldinnenhaftes, insbesonders wenn es eigentlich nicht um die Person geht, sondern um das Politische.

    Und doch gehören diese für unsichtbar erklärten Lebensmodelle unbedingt erzählt und historisch-kritisch befragt, wenn wir wie frauen/ruhr/geschichte Ruhrgebietsgeschichte exemplarisch über Lebensgeschichten von Frauen erzählen wollen und vor allem: wenn wir uns für die Geschlechterordnung von Arbeit interessieren. Deutlich wird, wie diese Geschlechterordnung untrennbar verwoben ist mit der Klassengesellschaft und einem gewaltvollen chauvinistischen Zuwanderungsregime, das Frauen in Bezug auf den Mann und/oder die Kinder einen oder gar keinen Status zuweist.“Wer macht die Welt sauber?“ hat Françoise Vergès in ihrem Buch ‚Dekolonialer Feminismus‘ gefragt (Wien 2020). Und Ayşe Fatma Hayriye hat sich dieser Frage in einem prägnanten Text angenommen: „Putzfee kann fliegen, Putzfrau hart arbeiten. Erkenntnis: Wer nicht zufällig eine türkische Mutter hat, die Putzfrau ist oder eine osteuropäische Verwandtschaft, dem erscheint das Putzen wohl als eine Art Zauberei: warum sonst sprechen diese seltsamen Leute in den Wohnungsanzeigen von ihrer ‚Putzfee‘?! Auch wenn der Putzwedel ihrer Putzfrau manchmal so aussieht wie ein Zauberstaub, sei hiermit darauf hingewiesen, dass die so genannten ‚Putzfeen‘ (oder noch besser: ‚Putzperlen‘!!) den Dreck, der sich zum Großteil aus den Hautschuppen, Essensresten und Haaren der Bewohner zusammensetzt, mit körperlicher Arbeit wegputzen. Die Bezeichnung Fee oder Perle kann nur Leuten einfallen, die nicht dazu stehen möchten, dass sie ihren Dreck von anderen wegmachen lassen.“

    Nesrin Tanç hat die Tür einen kleinen Spalt weit aufgeschlossen, bislang unbeachtete Aspekte der Geschlechterordnung von Arbeit in den Blick zu nehmen: „Wichtig ist dabei – wie in allen Geschichten von Gruppen, deren Geschichte in der offiziellen Geschichtsschreibung bis zum Moment der Bearbeitung in der breiten Öffentlichkeit nicht präsent ist – dass jede noch so kleine Erzählung von Bedeutung ist. Dies gilt besonders, wenn dabei für unsichtbar erklärte Lebensmodelle erzählt werden, wie die der Witwen, der Alleinerziehenden“, heißt es in ihrem Text.

    Sie hat subjektive Sichtweisen und objektive Lebenslagen miteinander in Beziehung gesetzt, so dass diese als überindividuell und Ausdruck soziopolitisch-gesellschaftlicher Machtverhältnisse und Entwicklungen beschreibbar und diskutierbar werden. Ihre vielleicht ‚teilnehmende Objektivierung‘ zu nennende Herangehensweise in diesem kurzen Text erinnert an ein gewichtiges Werk, an Das Elend der Welt, das ein Kollektiv von Autorinnen und Autoren um den französischen Soziologen Pierre Bourdieu zum „alltäglichen Leiden an der Gesellschaft“ erarbeitet hat. Auch das von ihr angedeutete Verhältnis von Fragender und Befragten, ihr Bedürfnis, diese Erinnerungen aus der Geschichte des Ruhrgebiets „notwendig zu machen“, ihr Verständnis von Textarbeit als politischer Akt greift Impulse aus dieser französischen Studie auf (Bourdieu, Pierre et al.(1997), Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz: Universitätsverlag, S. 13). Das, was Nesrin Tanç beschreibt, ist nicht abgetrennt vom eigenen Leben und dem vieler anderer mit einer Zuwanderungsfamiliengeschichte. Dies wird deutlich an einer Passage, in der es um das höchst komplizierte, mithin paradoxe Verhältnis von Erfahrung, Erinnerung und kulturellem Gedächtnis geht: Um eine Hoffnung, die mitschwingt, in den Kindern die Gegenwart der Familiengeschichte zu bewahren, während sie eben diese Gegenwart im sozialen Aufstieg hinter sich lassen.

Zitation: Tanç, Nesrin, Alleinerziehende türkische sog. Gastarbeiterin, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/alleinerziehende-tuerkische-sog-gastarbeiterin/

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