Äbtissin Mathilde / 949-1011

Eine starke Frau setzt Zeichen

Denken Einheimische und Besucher*innen an das Ruhrgebiet, denken sie meist an Kohle, Stahl, Strukturwandel – und oft an Fußball. Doch die Wurzeln des Ruhrgebiets reichen sehr viel weiter zurück als nur bis zur Zeit der Industrialisierung. Die lange Geschichte der Region wird zum Beispiel Mitten in der Essener Innenstadt eindrücklich erlebbar. In der Mitte der Stadt erinnert der Dom an eine ganz besondere Vergangenheit: Er war einst Stiftskirche des Essener Frauenstifts, das um 850 von einer Gruppe sächsischer Adliger rund um den Hildesheimer Bischof Altfrid gegründet wurde.1 Dieses Stift bot adeligen Mädchen und Frauen ein Zuhause, betrieb ein Skriptorium sowie eine Schule und spielte eine zentrale Rolle im religiösen und wirtschaftlichen Leben der Region. Ab dem 10. Jahrhundert war das Stift reichsunmittelbar, unterstand in allen weltlichen Angelegenheiten nur dem Kaiser, in geistlichen Fragen war man nur dem Papst Rechenschaft schuldig. Das Stift besaß zahlreiche Höfe in der Region des heutigen Ruhrgebiets und darüber hinaus und den Stiftsfrauen gelang es durch viel Geschick, den Besitz zu mehren und eine Landesherrschaft aufzubauen.2 Geleitet wurde das Stift von einer Äbtissin. Der ottonischen Äbtissin Mathilde wurde 2024 der erste Essener FrauenOrt NRW gewidmet.3

Äbtissin Mathilde leitete von 971/73 bis zu ihrem Tod im Jahr 1011 das Essener Frauenstift. Ihr Wirken prägte nachhaltig Macht, Einfluss und Ansehen des Stifts im Mittelalter. Mathilde wurde 949 geboren und war Tochter Liudolfs, Sohn Ottos des Großen.4 Ihre erste Erwähnung im Zusammenhang mit dem Stift Essen stammt aus dem Jahr 966, als ihr Großvater Otto I. den Hof Ehrenzell an das Stift schenkte. Ob Mathilde in diesem Jahr im Stift aufgenommen wurde oder schon einige Jahre zuvor zur Erziehung nach Essen gegeben wurde, ist nicht bekannt.5 Nach dem Tod ihrer Vorgängerin Ida wurde Mathilde Äbtissin, urkundlich belegt ist dies für das Jahr 973. Da Ida jedoch bereits zwei Jahre zuvor verstarb, ist es durchaus möglich, dass Mathilde bereits 971 das Äbtissinnenamt antrat.6

Mathilde bemühte sich während ihrer Amtszeit fortwährend darum, die Rechte und Privilegien des Essener Frauenstifts zu wahren und zu mehren. Dazu reiste sie mehrfach zu den Mächtigen des Reiches und nutzte ihre Verbindungen in die höchsten Adelskreise, um ihre Anliegen vorzubringen und auf Augenhöhe mit den Herrschenden zu verhandeln. Zahlreiche ‎Urkunden bezeugen ihre Reisetätigkeit, die sie meist direkt in die Hoflager führte. So weilte sie 973 bei ihrer ‎Ersterwähnung als Äbtissin in Aachen.7 Zur Beisetzung ihres Bruders Otto, Herzog von ‎Schwaben und Bayern, reiste sie nach Aschaffenburg. Otto war kinderlos verstorben und ‎Mathilde letzte Hinterbliebene der schwäbischen Linie der Ottonen. Das Erbe ihres Bruders ‎schuf die finanzielle Grundlage für ihre Schenkungen und Bautätigkeiten der kommenden ‎Jahrzehnte.8 Urkunden zeigen Mathilde in den nachfolgenden Jahren auch in Heiligenstadt, ‎Dortmund und Thorr. Letztmalig wird sie in einer Urkunde Heinrichs II. aus dem Jahre 1003 ‎erwähnt. ‎Zahlreiche Schriftstücke und sogar eine Münze Kaiser Heinrichs II. bezeugen ihre herausragende Stellung und das hohe Ansehen, das sie innerhalb wie außerhalb der kaiserlichen Familie genoss.9 Stärkend wirkte sich auf Mathildes Bemühungen aus, dass das Essener Frauenstift eine zentrale Memorialeinrichtung für das ottonische Herrscherhaus war. Es übernahm das Totengedenken für die Kaiserfamilie sowie für andere Herrschenden der Region und des Reiches. Diese Aufgabe legitimierte zugleich den Herrschaftsanspruch der Ottonen und stärkte die Stellung des Stifts im Reich.10

Neben den Urkunden erzählen weitere beeindruckende Hinterlassenschaften von Mathilde, ‎ihrem Leben, Wirken und Selbstverständnis: Sie ließ zahlreiche Objekte für das Essener ‎Frauenstift und die Stiftskirche anfertigen. Die erhaltenen Objekte ‎ottonisch-salischer Goldschmiedekunst gehören zu den handwerklich Besten weltweit und ‎bilden ein einmaliges und herausragendes Ensemble. ‎Mit ihren zahlreichen Schenkungen legte Mathilde den Grundstein für die hochrangige ‎Goldschmiedeproduktion in Essen. Dank ihr siedelten sich Goldschmiedewerkstätten in ‎Stiftsumgebung an, in denen während Mathildes Amtszeit und zur Zeit ihrer Nachfolgerinnen ‎herausragende Objekte geschaffen wurden. ‎Zu Mathildes Schenkungen gehören das Mathilden-Otto-Kreuz, das sie um 982 zum Gedenken an ihren verstorbenen Bruder Otto, Herzog von Schwaben und Bayern anfertigen ließ und dessen Stifterinnentafel Mathilde neben ihrem Bruder als selbstbewusste und stolze Frau zeigt.11 Der siebenarmige Leuchter im Dom (um 980) weist sie durch eine Inschrift als schenkende Person aus und ist wichtigstes Zeugnis ihrer eigenen Memoria.12 Ebenfalls im Dom befindet sich die Goldene Madonna, die wie der Leuchter um 980 ‎geschaffen wurde. Die Skulptur ist die älteste vollplastische Marienfigur weltweit. Heute trägt ‎die Skulptur keinerlei Inschrift mehr, weshalb ihr Auftraggeberinnenkreis nicht sicher ‎feststellbar ist. Ob Mathilde allein oder gemeinsam mit den Stiftsfrauen Auftraggeberin war, ‎lässt sich daher nicht eindeutig sagen.13 In Mathildes Amtszeit kam vermutlich auch ein Schwert nach Essen, das sogar Eingang in das ‎Stadtwappen gefunden hat. Das Schwert mit einer kostbaren Klinge aus Damaszener-Stahl ‎wurde um 950 gefertigt. Wohl etwa um das Jahr 1000 wurde das ‎Schwert dem Essener Frauenstift übertragen und vermutlich auch hier mit Gold ummantelt. Die Handwerkskunst, mit der die Klinge gefertigt wurde, wie auch ‎die Tatsache, dass das Schwert einem mit der ottonischen Kaiserfamilie eng verbundenen Stift ‎übereignet, mit Gold ummantelt wurde und dann seinen Platz neben dem Altar fand, lassen ‎den Schluss zu, dass es sich um ein Schwert aus dem Kontext der ottonischen Kaiser ‎gehandelt haben könnte.14 Die Zeit nicht überdauert hat der Marsusschrein, ein großes Sammelreliquiar, dessen ‎Umsetzung Mathilde vermutlich für Kaiserin Theophanu (959–991) veranlasste, die den Schrein ‎wiederum ihrem verstorbenen Ehemann Kaiser Otto II. gewidmet hatte. Ähnlich wie auf dem Leuchter fand sich auch auf dem Schrein eine Inschrift, aus ‎der hervor ging, dass Mathilde den Schrein in Auftrag gegeben hat.15 Neben den Reliquien des Heiligen Marsus brachte Mathilde während ihrer Amtszeit zahlreiche ‎weitere Reliquien ins Stift. Durch ihre heilsstiftende Wirkung waren Reliquien der eigentliche ‎Schatz einer Kirche. Mathilde trug also durch die Vergrößerung des Essener Reliquienschatzes ‎nachhaltig zur Erhöhung der Bedeutung und der heilsstiftenden Wirkung des Kirchenschatzes ‎bei.16

Der Essener Dom – die ehemalige Stiftskirche – zeugt von ihrer Tätigkeit als Bauherrin und lässt ebenso wie ‎die geschenkten Kunstwerke ihr großes Selbstbewusstsein und das Sendungsbewusstsein für ‎die Belange des Frauenstifts erkennen.‎ Weithin sichtbar und eindrucksvoll ist der Westbau der ehemaligen Stiftskirche. Mathilde ließ ihn um das Jahr 1000 erbauen. Besonders ‎auffällig ist die charakteristische Dreiturmgruppe aus einem hohen Mittel- und zwei niedrigeren ‎Seitentürmen. Im Inneren der Kirche öffnet sich der Westbau als zweigeschossiges Bauwerk ‎mit zahlreichen Bögen, Säulen und Gittern. Sein Grundriss beschreibt ein halbes Sechseck und ist ein ‎architektonisches Zitat des Oktogons der von Karl dem Großen erbauten Aachener ‎Marienkapelle. Mit dieser architektonischen Bezugnahme knüpfte Mathilde die ‎Kaiserherrschaft ihrer ottonischen Familie an die Karls des Großen sowie an seine Idee der ‎Erneuerung der römischen Kaiserwürde. Gleichzeitig verdeutlichte sie auch durch die ‎Gestaltung des Westbaus im Inneren der Kirche ihre und die stiftische Nähe zur ‎Herrscherfamilie.17

Am 5. November 1011 verstarb Äbtissin Mathilde. Bestattet wurde sie in der Krypta ‎unterhalb des Chorraums. Noch 350 Jahre später ‎bezeichnet der Liber Ordinarius, also das Buch, das die Gottesdienstordnung der Stiftskirche ‎enthält, Mathilde als „Mutter unserer Kirche“.‎18

Dr. Katharina Hülscher

  1. Thomas Schilp, Gründung und Anfänge der Frauengemeinschaft Essen, in: Essener Beiträge. Beiträge zur Geschichte und Stadt Essen Bd. 112 (2000), S. 30–63; Ders.: Altfrid oder Gerswid? Zur Gründung und den Anfängen des Frauenstifts Essen, in: Herrschaft, Bildung und Gebet. Gründung und Anfänge des Frauenstifts Essen, hrsg. von Günther Berghaus, Thomas Schilp, Michael Schlagheck, Essen 2000, S. 29–42.
  2. Helmut Weigel, Studien zur Verfassung und Verwaltung des Grundbesitzes des Frauenstifts Essen (852-1803). Beiträge zur Geschichte von Stift und Stadt Essen, 76 (1969), S. 11-12.
  3. Zum FrauenOrt siehe https://www.frauenorte-nrw.de/aebtissin-mathilde-essen/ (abgerufen am 4.12.2025).
  4. Eodem anno (949) Liudolf filio regis Mahthildis filia nascitur.“ (In diesem Jahr (949) wird Liudolf, dem Sohn des Königs, eine Tochter Mathilde geboren.“)  Continuatio Reginonis, ed. Friedrich Kurze, MGH SS rer. Germ., 1891, a. 949, S. 164.
  5. Andrea Wegener, Äbtissin Mathilde (949-1011). „Begabte und wahre Dienerin Gottes“, in: Christen an der Ruhr (Bd. 6), hrsg. v. Reimund Haas, Jürgen Bärsch, Münster 2018, S. 7; Ina Germes-Dohmen, Mathilde von Schwaben, in: Internetportal Rheinische Geschichte, https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/mathilde-von-schwaben/DE-2086/lido/57c9499b6215d2.00447883 (abgerufen am 04.12.2025).
  6. Germes-Dohmen, Mathilde (wie Anm. 5).
  7. Wegener, Mathilde (wie Anm. 5), S. 10.
  8. Klaus Gereon Beuckers, Das Otto-Mathilden-Kreuz im Essener Münsterschatz. Überlegungen zu Charakter und Funktion des Stifterbildes, in: Herrschaft, Liturgie und Raum. Studien zur mittelalterlichen Geschichte des Frauenstifts Essen Bd. 1, hrsg. v. Katrinette Bodarwé, Thomas Schilp, Essen 2002, S. 56; Klaus Gereon Beuckers, Kaiserliche Äbtissinnen. Bemerkungen zur familiären Positionierung der ottonischen Äbtissinnen in Quedlinburg, Gandersheim und Essen, in: Frauen bauen Europa. Essener Forschungen zum Frauenstift Bd. 9, hrsg. v. Thomas Schilp, Essen 2011, S. 65-88. Wegener, Mathilde (wie Anm. 5), S. 7–9; Germes-Domen, Mathilde (wie Anm. 5); Hedwig Röckelein: Der Kult des heiligen Florinus in Essen, in: Essen und die sächsischen Frauenstifte im Frühmittelalter, hrsg v. Jan Gerchow, Thomas Schilp, Essen 2003, S. 77, 83.
  9. Thorsten Femer, Äbtissin Theophanu und das Stift Essen: Gedächtnis und Individualität in ottonischer Zeit, Bottrop 2002, S. 39; Röckelein, Florinus (wie Anm. 8), S. 84; Heinz Josef Kramer, Ein Mathilden-Denar aus Masowien – Chronik einer Entdeckung, in: MaH 65,2012, S. 26-33.
  10. Wegener, Mathilde (wie Anm. 5), S. 8–9; Ludger Körntgen, Zwischen Herrschaft und Heiligen. Zum Verhältnis von Königsnähe und Eigeninteresse bei den ottonischen Frauengemeinschaften Essen und Gandersheim, in: Bodarwè, Schilp, Herrschaft (wie Anm. 8), S. 7-23.
  11. Beuckers, Das Otto-Mathilden-Kreuz (wie Anm. 8), S. 57–60; ders., Otto-Mathilden- Kreuz, in: Der Essener Domschatz, hrsg. v. Birgitta Falk, Essen 2009, Nr. 6, S. 64-65; Wegener, Mathilde (wie Anm. 5), S. 11-12.
  12. Wegener, Mathilde (wie Anm. 5), S. 13, Ina Germes-Dohmen, Siebenarmiger Leuchter, in: Falk, Domschatz, (wie Anm. 11), Nr. 7, S. 66-67; Vera Henkelmann, Der Siebenarmige Leuchter des Essener Münsters und die Memoria der Äbtissin Mathilde. „Äbtissin Mathilde befahl mich anzufertigen und weihte mich Christus, in: …wie das Gold den Augen leuchtet. Schätze aus dem Essener Frauenstift. Essener Forschungen zum Frauenstift Bd. 5, hrsg. v. Birgitta Falk, Thomas Schilp, Michael Schlagheck, Essen 2007, S.151-153.
  13. Birgitta Falk, Goldene Madonna, in: Falk, Domschatz (wie Anm. 11), Nr. 5, S. 62-63; Wegener, Mathilde (wie Anm. 5), S. 13-14; Essen sein Schatz. Die Goldene Madonna, hrsg. v. Andrea Wegener, Essen 2019.
  14. Birgitta Falk, Essener Schwert, in: Falk Domschatz (wie Anm. 11), Nr. 8, S. 68-69; Wegener, Mathilde (wie Anm. 5), S. 13; Alfred Pothmann, Das Zeremonialschwert in der Essener Lokaltradition, Münster 1995, S. 6-8.
  15. Wegener, Mathilde (wie Anm. 5), S. 14.
  16. Röckelein, Florinus (wie Anm. 8), S. 76; Wegener, Mathilde (wie Anm. 5), S. 10-11; Germes-Dohmen, Mathilde (wie Anm. 5).
  17. Wegener, Mathilde (wie Anm. 5), S. 11; Klaus Lange, Der Westbau des Essener Doms. Architektur und Herrschaft in ottonischer Zeit, Münster 2001, S. 63; Körntgen, Herrschaft (wie Anm. 10), S. 22-23.
  18. Der Liber Ordinarius der Essener Stiftskirche, hrsg. v. Franz Arens, Paderborn 1908, S. 120; Wegener, Mathilde (wie Anm. 5), S. 16; Germes-Dohmen, Mathilde (wie Anm. 5).
Orte:

Essener Dom, An St. Quintin 3, 45127 Essen

 

Zitation: Hülscher, Katharina, Äbtissin Mathilde, Version 1.0, in: frauen/ruhr/geschichte, https://www.frauenruhrgeschichte.de/biografien/aebtissin-mathilde/

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